Ballet d’action
05. Ballet d’action
Ballet d‘action: frz. „Handlungsballett“, Choreografien, bei denen die Handlungen, Motive und Gefühle der Charaktere im Mittelpunkt stehen, aber nicht durch Dialoge, sondern durch tänzerischen und körperlichen Ausdruck vermittelt werden
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Wäre die Situation eine andere, hätte Karyu sie vielleicht als angenehm ruhig oder gar verträumt empfunden. Vielleicht wäre er vollkommen in den Anblick der wenigen Schneeflocken vertieft gewesen, die wie in Zeitlupe durch sein von gelbem Laternenlicht erhelltes Sichtfeld schwebten. Obwohl es nicht wirklich still war – er konnte vereinzelte Gesprächsfetzen von Menschen auf dem Nachhauseweg ebenso hören, wie Geräusche auf der anderen Seite der Tür, vor der er wartete – wirkte die Szenerie auf den ersten Blick fast idyllisch.
Oder hätte sie zumindest, bekäme er nicht immer mehr das Gefühl sich beim Warten nicht ganz unwichtige Körperteile abzufrieren. Und wäre ihm nicht geradezu übel vor Nervosität.
Mit einem Seufzen sank er auf der kleinen Mauer, auf der er saß, in sich zusammen. Er legte den Kopf in den Nacken und sah in den dunkel bewölkten Nachthimmel, aus dem ihm weiter vereinzelte Schneeflocken entgegenkamen. Mit einem bewusst tiefen Atemzug schloss er die Augen und versuchte seinen viel zu hektischen Puls zu verlangsamen. Mittlerweile konnte er nicht einmal mehr sagen, ob sein Plan gut oder schlecht war oder ob es besser wäre, einfach zu gehen. Vielleicht war das auch nicht so wichtig. Er war schließlich hier, trotz aller Bedenken, die ihn plagten. Einfach, weil er Zero hatte sehen wollen. Weil er zumindest einen winzig kleinen Moment von Weihnachten mit ihm teilen wollte, egal ob er sich dabei bis auf die Knochen blamierte oder nicht. Und allein, dass er den anderen heute Abend hatte tanzen sehen, war es wert gewesen.
Egal was zwischen ihnen noch passieren würde, ob sie Freunde bleiben oder auseinanderdriften würden, es würde keine Rolle spielen. Diese Handvoll Minuten, in denen er bisher hatte sehen können, wie Zero sich zu Musik bewegte, in ihr aufging und ihr Bedeutung verlieh, würden ihn vermutlich nie mehr loslassen.
Selbst Tatsurou schien von dem, was sie heute Abend gesehen hatten, milde beeindruckt zu sein. Das, oder er hatte sich Yukke zuliebe, der sich über die Einladung tatsächlich gefreut hatte, zusammengerissen. Der einzige Wermutstropfen war gewesen, dass Zero selbst nur in zwei Stücken auf der Bühne mitgewirkt hatte. Diese hatten ihn dann allerdings so beeindruckt, dass er auch noch länger darauf gewartet hätte.
Schon als die ersten Töne des Liedes erklangen, dessen Choreografie er Zero in der Tanzschule hatte üben sehen, hatte ihn Gänsehaut gepackt. Selbst wenn er sich bewusst gewesen war, dass er sich in einem Raum mit Hunderten von Menschen befand, war es auch diesmal so, als wäre Zero das Einzige, was für ihn in diesem Moment existierte. Er war sich selbst nicht sicher, ob dieser Gedanke unerträglich kitschig oder auf eine gänzlich andere Art und Weise grenzwertig war, aber die Ausstrahlung des anderen nahm ihn immer aufs Neue einfach vollkommen gefangen.
Oder vielleicht erst recht jetzt, wo er das Stück in vollkommener Perfektion gesehen hatte, ohne dass es auch nur einen Bruchteil seiner Emotionen eingebüßt hätte.
Schaudernd zog Karyu die Schultern nach oben, nahm dann eine Hand aus seiner Jackentasche, um sich durch die Haare zu fahren. Hätte er sich mehr Gedanken um das Warten an sich gemacht, wäre ihm vielleicht die durchaus kluge Idee gekommen, eine Mütze aufzusetzen. Oder einen Schirm mitzunehmen, der ihn vor den nassen Schneeflocken schützen konnte.
Hoffentlich wartete er nicht umsonst.
Er hatte sich zwar beeilt, rasch den Saal verlassen und sich nur kurz von Tatsue und Yukke verabschiedet, um zum Hinterausgang zu kommen, aber hier stand er nun schon eine ganze Weile, ohne dass viel passiert wäre. Vielleicht hatte Zero sich ja ebenso beeilt, um zumindest eine Nacht in dieser Woche entspannt in seinem eigenen Bett, statt im Hotel, verbringen zu können. Vielleicht machte er sich hier gerade vollkommen zum Affen und wusste es nur noch nicht. Wäre schließlich nicht das erste Mal in seinem Leben. Dennoch konnte er sich nicht dazu aufraffen einfach zu gehen.
Selbst, wenn ihm kalt war und die niedrige Mauer, auf der er saß, nicht eben bequem. Er hatte das Gefühl, dass das hier eine Chance sein könnte, die er so nicht mehr bekommen würde. Und so feige er prinzipiell auch war – er würde sich vermutlich ewig Vorwürfe machen, wenn er es nicht wenigstens versuchte.
Mit kalten Fingern zog er sein Handy aus der Jackentasche, um die Uhrzeit zu überprüfen. Und anscheinend war er einmal mehr in seinem Leben lediglich nur zu ungeduldig – er wartete seit knapp zwanzig Minuten. In Anbetracht der Tatsache, dass Zero sich umziehen und seine Sachen packen und vermutlich noch einiges anderes erledigen musste, keine wirklich lange Zeit. Zumal bisher höchstens ein halbes Dutzend Menschen das Gebäude durch diese Tür verlassen hatte. Keiner von ihnen war ihm von der Bühne bekannt vorgekommen, also hatten sie vielleicht nur hinter den Kulissen an der Veranstaltung mitgewirkt. Nicht, dass diese rationale Erklärung irgendetwas dazu beigetragen hätte, dass er ruhiger geworden wäre.
Karyu schüttelte, sich gedanklich rügend, den Kopf, musste einen Schauer unterdrücken, als dadurch die kalte Dezemberluft in seinen Nacken streifte. Erneut nahm er ganz bewusst einen tiefen Atemzug. Er musste einfach noch ein bisschen Geduld haben und hoffen, dass er hier nicht festfror.
Fast ungebeten huschte die Eingebung – die sich irgendwie sehr nach einem von Tatsurous dummen Sprüchen anhörte – durch seinen Kopf, dass er sich ja warme Gedanken machen konnte. Er stieß ein in der relativen Stille deutlich hörbares Schnauben aus. Anscheinend war er mittlerweile also an dem Punkt, an dem sein bester Freund nach all der Zeit, die sie sich kannten, doch noch auf ihn abfärbte. Vermutlich sollte ihm das zu denken geben, hätte er dafür gerade die Kapazitäten gehabt.
Aber auch, wenn dies vielleicht nicht die Art von ‚warmen Gedanken‘ war, die die Tatsue-Stimme in seinem Kopf gemeint hatte: Wirklich weg von Zero kam er in seinen Überlegungen nicht. Dazu steckten ihm der Abend und vor allen das letzte Stück der Show noch zu sehr in den Knochen.
Er würde es hoffentlich nie vor jemandem, außer sich selbst, preisgeben müssen, aber dieses Lied, diese Performance hatten ihn irgendwie mitgenommen. Es hatte ihn nicht einfach nur berührt, sondern ihn etwas ungleich Komplexeres fühlen lassen. Selbst in Gedanken fiel es ihm schwer, in Worte zu fassen, was genau das war – abgesehen von einer unwillkommenen Eifersucht, die stärker geworden war, je länger das Lied angedauert hatte.
Es war ein wunderschönes Stück, langsam und romantisch und nach dem, was er im Programmheft gelesen hatte, war Zero hier nicht nur Tänzer, sondern auch Choreograf. Allein deshalb hatte er diesem Teil des Abends entgegengefiebert und vielleicht war seine Reaktion auch deswegen so emotional gewesen. Selbst, wenn er versucht hatte, sich nichts anmerken zu lassen.
Zu Beginn war da nur Zero auf der Bühne gewesen, barfuß, gekleidet in helle, über die Knöchel hochgekrempelte Jeans und ein schlichtes T-Shirt, bevor nach wenigen Sekunden seine Partnerin ebenfalls die Bühne betreten hatte. Und wo in dem Solo, das er eher am Abend getanzt hatte, aus jeder Bewegung Stärke und Kraft gesprochen hatten, war dieser Tanz nichts als pure Hingabe. Als Vertrauen und Zärtlichkeit und jede Sekunde davon hatte ihm einen neuen Stich in sein Herz gegeben.
Er erinnerte sich noch gut an Zeros scherzhafte Antwort auf seine Frage nach der Nähe zwischen Tänzern, dennoch war es auf den ersten Blick schwer zu glauben, dass ihn und die junge Frau, mit der er tanzte, nichts weiter als diese Choreografie verband.
Sie bewegten sich nicht einfach nur zusammen zur Musik, sie wurden zu einer Einheit, die in vollkommener Harmonie existierte. Und auch, wenn ihm bewusst war, dass all das ein Teil der Show war, dass die verträumten Blicke und das Lächeln, das sie einander immer wieder schenkten, schlicht zur Choreografie gehörten, konnte er die aufkeimende Eifersucht in seinem Inneren nicht unterdrücken.
Schon allein deswegen war er beinahe erleichtert, als nach und nach weitere Paare die Bühne betraten und die intensive Atmosphäre, die sich vielleicht nur für ihn so anfühlte, durchbrachen. Es war, als könnte er erleichtert aufatmen, selbst wenn es natürlich nichts an der perfekten Harmonie zwischen Zero und seiner Partnerin geändert hatte. Und tatsächlich war ihm erst fast zu spät aufgefallen, dass sich unter den Paaren auch gleichgeschlechtliche befanden, was ihn das erste Mal, seit das Lied begonnen hatte, ehrlich lächeln ließ. Einfach, weil es eine unerwartete und schöne Überraschung war, sich selbst so repräsentiert zu sehen. Wenn nicht als Mensch, der zum Tanzen fähig war, dann doch zumindest als jemand, der nicht der heterosexuellen Norm seines Heimatlandes entsprach.
Auch jetzt schlich sich die verträumte Melodie des Liedes wieder in seinen Kopf, brachte ihn dazu, leise zu seufzen. So, wie er sich kannte, würde sie ihn noch eine ganze Weile nicht loslassen – genauso wenig, wie das geradezu liebevolle Lächeln, das während der gesamten Choreografie Zeros Lippen nicht verlassen hatte. Es fiel ihm schwer, sich nicht zu wünschen, dass der andere irgendwann ihn so ansehen würde, selbst wenn der Gedanke ihn innerlich den Kopf schütteln ließ. Vor sich hinträumen konnte er auch später noch, erst einmal musste er das hier über die Bühne bringen.
Ein weiteres Mal sah Karyu auf die Zeitanzeige seines Handys, bevor er es endgültig wieder in seiner Hosentasche verschwinden ließ und sich vorsichtig von dem Rucksack befreite, den er bisher auf dem Rücken getragen hatte. Seine Hände zitterten leicht, als er den Reißverschluss öffnete und noch konnte er zumindest versuchen sich einzureden, dass das ausschließlich wegen der herrschenden Temperaturen der Fall war. Mit den Fingerspitzen strich er vorsichtig über das Geschenk, das sich im Inneren der Tasche befand. Zu seiner großen Erleichterung schien es den Abend bisher gut überstanden zu haben. Er wollte sich gerade daran machen, alles wieder zu verpacken, als sich die Tür vor ihm erneut öffnete und ein deutlich erschöpfter, aber auch sehr zufrieden wirkender Zero nach draußen trat. Karyus Herz begann sofort schneller zu schlagen. Einen Moment lang sahen sie sich schweigend an, bevor der andere den Kopf leicht schief legte.
„Was machst du denn hier?“, wollte er wissen. Und auch die routinierte Geste, mit der er sich seine Strickmütze über den Kopf zog, konnte das Erstaunen und das Lächeln, das an seinen Mundwinkeln zupfte, nicht verbergen.
„Ich wollte dich überraschen“, gab Karyu zu seinem eigenen Erstaunen unumwunden zu, entlockte Zero damit ein leises Lachen.
„Das hast du geschafft.“ Das heimliche Lächeln von eben wurde zu einem schiefen Grinsen, als sein Gegenüber einige Male auf seinen Fußballen vor und zurück wippte. „Ich hätte nicht gedacht, dass du dir die Show antust.“
„Ich war neugierig.“
„Und?“ Zeros Augenbrauen wanderten fragend ein kleines Stück nach oben, während er sich jetzt an die Wand neben dem Ausgang lehnte und ihn abwartend ansah – selbst nach einem so anstrengenden Abend schien es ihm unmöglich zu sein, stillzustehen.
„Ich würde sagen, es hat sich gelohnt.“ Eine Sekunde lang rang Karyu mit sich selbst, versuchte jedes Quäntchen Mut, das er gerade in sich finden konnte, zusammenzukratzen. Dann griff er erneut vorsichtig in seinen Rucksack und zog eine einzelne, langstielige Blume daraus hervor. „Ich hab mal gehört, dass man das so macht“, brachte er leise hervor und streckte sie Zero entgegen, in dessen Gesicht sich nun ein Ausdruck vollkommener Überraschung abzeichnete.
Ohne seine Augen von den ausladenden dunkelroten Blütenblättern zu nehmen, die sicher hinter einer durchsichtigen Folie verborgen waren, kam er näher, bis er schließlich mit leicht erhobenen Händen verharrte. Selbst im schwachen Laternenschein, der hier herrschte, schienen Zeros Augen geradezu zu leuchten.
„Danke.“ Die beiden Silben waren ungewöhnlich sacht und zurückhaltend ausgesprochen, während sein Blick nun wieder auf ihm ruhte. „Spätestens jetzt ist die Überraschung definitiv gelungen“, fügte er noch hinzu. Und vielleicht bildete Karyu sich das nur ein, aber er klang beinahe ein bisschen heiser.
„Ich hoffe, sie gefällt dir?“, hakte er vorsichtshalber noch einmal nach, bekam seine Antwort ohne Zögern in Form eines kräftigen Nickens.
„Ich mag Amaryllis wirklich gern.“
Ohne, dass er es hätte verhindern können, stieß Karyu ein erleichtertes Lachen aus, während er sich wieder gegen die Mauer sinken ließ. Einfach weil es bequemer war und nicht etwa, weil er gerade weiche Knie bekommen hätte, keinesfalls. Zumindest hätte er sich das gern eingeredet. Und vielleicht hätte es sogar funktioniert, wäre Zero in diesem Moment nicht näher gekommen und hätte seinen freien Arm um Karyus Nacken geschlungen, um ihn an sich zu ziehen.
Er hätte liebend gern auf diese gleichermaßen überraschende wie überwältigende Geste reagiert, aber leider schien sich die ohnehin schon schwache Verbindung, die bei ihm zwischen Hirn und Körper herrschte, nun gänzlich in Luft aufgelöst zu haben. Ganz, als wären seine Synapsen mit der plötzlichen Nähe zu Zero vollkommen überfordert, konnte er nur starr dastehen, den angenehm herben Duft seines Parfüms in der Nase, und hoffen, dass jetzt nicht auch noch seine Atmung aussetzte.
„Dankeschön. Wirklich“, hörte er nun die weiche Stimme des anderen so dicht an seinem Ohr, dass jeder Silbe eine Welle aus Gänsehaut auf dem Fuße folgte. Spätestens jetzt war er definitiv froh, dass er sich auf den Mauerabsatz hinter sich stützen konnte.
„Gern. Auch wirklich“, brachte er stockend hervor und war plötzlich unheimlich froh, dass Tatsurou und Yukke nicht gemeinsam mit ihm gewartet hatten. Denn spätestens jetzt hätte sein bester Freund nicht mehr mit Kommentaren über Karyus entrücktes Grinsen hinter dem Berg halten können.
Und trotzdem fiel es ihm nicht schwer, Zero anzusehen, als dieser wieder ein bisschen auf Abstand ging. Für einen Sekundenbruchteil wirkte er ebenfalls etwas verlegen, fing sich aber rasch, als seine Aufmerksamkeit an etwas anderem hängenblieb.
„Ich mag deinen Pin“, kommentierte er scheinbar zusammenhangslos und ließ seinen Daumen über den kleinen pink-lila-blau gestreiften Anstecker streichen, der am Schulterriemen von Karyus Rucksack befestigt war.
Mit Blicken folgte Karyu der Bewegung, fühlte sich jetzt unerklärlicherweise noch ein bisschen erleichterter, als ohnehin schon und wagte es Zero ein kurzes Grinsen zuzuwerfen.
„Danke. Die wenigstens nehmen das Ding überhaupt wahr.“
„Mh … Ich bin eben ein sehr aufmerksamer Mensch.“
Es schien etwas beinahe Nachdenkliches in Zeros Blick zu liegen, als dieser ihn noch einmal eingehend musterte. Schließlich trat er einen Schritt zurück, brachte so mehr Raum zwischen sie und Karyu erschauderte, als er nun wieder vollends der kalten Dezemberluft ausgesetzt war. Sein Herz schlug noch immer viel zu schnell, aber während er sein Gegenüber dabei beobachtete, wie er versonnen die Blume in seiner Hand studierte, konnte er nicht anders als unendlich dankbar dafür zu sein, dass Ayasa ihm mit diesem Teil seines kleinen Vorhabens geholfen hatte.
„Amaryllis stehen für Erfolg, Stärke und Entschlossenheit“, erklärte er leise. „Zumindest hat eine gute Freundin mir das gesagt. Und ich dachte, das passt zu dir.“
„Du scheinst dir viele Gedanken darüber gemacht zu haben.“ Es lag ein Hauch von Erstaunen in dieser Feststellung, aber irgendwie klang sie auch zufrieden. Als wäre diese Tatsache etwas, was Zero freuen würde oder als würde er ihr eine gewisse Bedeutung beimessen.
„Ich mach mir im Zweifelsfall immer mehr Gedanken, als nötig“, wiegelte Karyu automatisch ab. Weniger, weil er keinen falschen Eindruck erwecken wollte, sondern, weil andere seiner bisherigen Erfahrung nach von dieser Eigenschaft oftmals recht schnell überfordert waren.
„Lieber zu viele, als zu wenige, würde ich sagen.“ Zeros Fingerspitzen tanzten an der leise knisternden Folie entlang, die die Blume schützten. Dann schien er zu einem Entschluss zu kommen – und Karyu fand es faszinierend, dass man selbst so etwas an seiner Körpersprache ablesen konnte, wenn man einmal begann, darauf zu achten. Seine Haltung straffte sich und als er wieder zu Karyu aufsah, war da etwas in seinen dunklen Augen, was förmlich danach schrie, dass er es nun war, der einen Plan hatte.
Ehe er danach hätte fragen können, wurde er umstandslos am Handgelenk gefasst, fühlte sich allein durch diese Geste zu dem Abend im Club zurückversetzt, an dem sie sich das erste Mal wiedergesehen hatten.
„Hast du noch ein bisschen Zeit?“, wollte Zero wissen, setzte sich aber in Bewegung, noch bevor er hätte reagieren können. „Ich hab mega Lust auf Süßkram.“
~*~
Er war nicht sicher, was er erwartet hatte, als Zero von ‚Süßkram‘ gesprochen hatte, aber er hatte zugegebenermaßen nicht damit gerechnet in einem kleinen, unglaublich gemütlichen Café zu landen. Anscheinend war es für den Laden, der versteckt in einer Seitengasse nahe dem Bahnhof lag, nicht ungewöhnlich so spät geöffnet zu haben, da sie bei Weitem nicht die einzigen Gäste waren, die es um diese Zeit hierher verschlagen hatte.
Anfangs hatte Karyu noch versucht sich verstohlen umzusehen, aber je länger sie hier waren, desto wohler fühlte er sich und umso mehr Details nahm er wahr. Wie beispielsweise die mindestens sechs, wie selbstverständlich ins allgemeine Dekor eingebrachten Regenbogenflaggen, die er entdeckt hatte und die vielleicht zumindest zu einem Teil dazu beitrugen, dass er sich in der unbekannten Umgebung halbwegs entspannen konnte. Alles andere schrieb er den absolut fantastischen Cupcakes zu, die Zero ihnen bestellt hatte und von denen nun nur noch Krümel auf ihren Tellern zu sehen waren. Abwesend drehte er sein Bierglas zwischen den Fingern hin und her, fand die Kühle, die es ausstrahlte angenehm – anscheinend war er aber so in seine Gedanken und das Betrachten seiner Umgebung abgedriftet, dass er nicht gemerkt hatte, dass er selbst beobachtet wurde.
„Welches Lied spielst du gedanklich?“, unterbrach Zero seine Grübeleien, ließ ihn innehalten und auf seine Hände hinuntersehen.
„Keine Ahnung“, musste er schließlich zugeben, zog die Nase kraus, als sein Gegenüber leise lachte. „Hast du immer eine Choreografie im Kopf?“, stellte er die Gegenfrage.
„Wieso?“
„Na ja, du bist auch unfähig ruhig zu halten.“ Er konnte ein Schmunzeln nicht zurückhalten, als Zero sich ertappt auf die volle Unterlippe biss. Karyu zwang sich dazu, nicht mit Blicken an dieser reizvollen Stelle hängenzubleiben, sondern seine Überlegungen weiterzuführen. „So wie du anscheinend unbewusst immer ein bisschen Tanzen musst, wollen meine Finger eben unbewusst Gitarre spielen.“
„Mh …“ Mit nachdenklich schief gelegtem Kopf stützte Zero sich mit einem Arm auf dem Tisch ab, bettete schließlich sein Kinn in die Handfläche. „Das macht erstaunlich viel Sinn. Stößt mich allerdings auch mal wieder darauf, dass ich dich noch nie habe spielen sehen. Oder hören. Und irgendwie finde ich, dass sich das unbedingt ändern muss.“
„So, findest du?“
„Ja, ganz definitiv.“ Karyu beobachtete, wie der andere sich noch etwas näher zu ihm lehnte, bevor er weitersprach. „Schon allein aus Gerechtigkeitsgründen ist das spätestens nach heute Abend nötig.“
„Na, wenn du das sagst, lohnt es sich vermutlich nicht, da zu diskutieren.“
„Absolut nicht.“ Das Lächeln auf Zeros Lippen hatte mittlerweile einen offen verspielten Zug bekommen. Nicht unbedingt, als wollte der andere sehen, wie weit er gehen konnte – Karyu hatte eher den Eindruck, als wäre es eine Art Einladung und hoffte inständig, dass er hier nicht etwas vollkommen fehlinterpretierte.
„Erwarte aber bitte nicht, mich auf irgendeiner Bühne zu sehen, das wird nämlich unter Garantie nicht passieren“, ließ er sich auf den Gedankengang des anderen ein, der ihm immerhin mehr gemeinsame Zeit zu versprechen schien. „Ich bin eher so der Typ, der zu Hause auf dem Sofa ein bisschen vor sich hin klimpert.“
„Klingt perfekt.“ Das Grinsen, das sich jetzt über Zeros Gesicht zog, ließ einmal mehr seine Grübchen zum Vorschein kommen und gleichzeitig die Schmetterlinge in Karyus Magen aufflattern. „Ein Konzert nur für mich, quasi. Und das, ohne, dass ich irgendwo in der Kälte anstehen muss. Darauf komm ich im neuen Jahr definitiv zurück.“
„Na, wenn du dir da mal nicht zu viel erwartest.“ Karyu musste unwillkürlich lachen, spiegelte dann die Haltung des anderen, indem er sich ebenfalls mit dem Ellenbogen aufstützte. „Aber, sag mal, kann es sein, dass du Winter nicht besonders magst?“
„Winter schon, nur die Kälte nicht“, tat Zero diese Feststellung mit einem Schulterzucken ab. „Aber irgendwas hab ich am Wetter vermutlich immer auszusetzen, wenn ich so darüber nachdenke.“
„So nach dem Motto: Winter zu kalt, Sommer zu warm, Regenzeit zu nass?“
Nun war es Zero, der ein Lachen nicht unterdrücken konnte und heftig nickte.
„Genau so. Und im Frühling hab ich Heuschnupfen, das ist sowieso furchtbar. Also ist eigentlich nur der Herbst irgendwie erträglich und da fällt mir dann auch noch was ein, was ich doof finden kann.“ Sein Blick hing noch einen Moment an Karyu fest, dann griff er nach seinem Handy, das bisher vergessen auf dem Tisch gelegen hatte. „Fuck.“ Er verzog leidend das Gesicht. „Ich hab die Zeit komplett vergessen“, erklärte er mit einem tiefen Seufzen.
„Du musst los?“
„Ja, tut mir leid-“ Ehe hätte weitersprechen können, winkte Karyu ab. Für eine Sekunde wunderte er sich selbst darüber, dass er nicht wirklich enttäuscht war – vielleicht, weil das hier schon mehr war, als er überhaupt erwartet hatte.
„Mach dir keinen Kopf. Ich schätze, du musst morgen früh zeitig wieder los?“, wollte er wissen und sah zu, wie Zero sich in einer fließenden Bewegung erhob und in seine Jacke schlüpfte, ehe er es ihm gleichtat.
„So sieht‘s aus. Unser Zug fährt kurz nach acht Uhr und ich müsste irgendwann auch noch neu packen …“
„Da bist du echt nicht zu beneiden …“
Während sie sprachen, waren sie zum Tresen des Cafés gegangen, um zu bezahlen, aber noch ehe Karyu sein Portemonnaie auch nur aus der Tasche gezogen hatte, winkte Zero ab.
„Lass mal. Du kannst dich bei Gelegenheit revanchieren.“ Und damit wandte er sich an den Kellner, der sie vorhin bedient hatte, schien den Blick, den der andere Mann zwischen ihnen hin und her wandern ließ, nicht zu bemerken. Oder er ignorierte ihn einfach, auch das lag im Bereich des Möglichen.
Karyu auf der anderen Seite war für den Moment tatsächlich ein bisschen sprachlos. Und ein bisschen glücklich. Egal wie Zero es genau gemeint hatte, er hätte nicht viel deutlicher machen können, dass er ihn wiedersehen wollte. Und das nicht nur durch irgendeinen Zufall, sondern tatsächlich und wirklich. Er biss sich auf die Unterlippe, während er dem anderen aus dem Café folgte, wickelte sich im Gehen noch in seinen Schal.
„Musst du zur Bahn?“, wollte Zero wissen, sobald sie auf der Straße standen. Wie vorhin schon hielt der die dunkelrote Amaryllis vorsichtig so, dass die schweren Blüten in seiner Armbeuge ruhen konnten.
„Ja. Du?“ Wenn ihn seine plötzliche Einsilbigkeit verwunderte, ließ er es sich nicht anmerken.
„Ich werd von hier laufen und mir einbilden, dass das irgendwie meinen Muskelkater besser macht.“ Mit dieser Erklärung kam Zero näher, doch bevor er Anstalten machen konnte, Karyu zu umarmen, setzte er noch einmal zum Sprechen an.
„Kann ich dich etwas fragen?“, wollte er wissen und war mit einem Mal so nervös, dass er sich nicht einmal über das Zittern in seiner Stimme aufregen konnte.
„Klar.“ Zero schien ein Gespür dafür zu haben, wie unsicher er gerade war, denn wie schon das ein oder andere Mal zuvor, schlich sich jetzt eine gewisse Wärme in seinen Gesichtsausdruck.
„Hast du … Silvester schon was vor?“
„Nicht wirklich, wieso?“
„Na ja, das … ich hoffe, das kommt jetzt nicht blöd, weil es vielleicht ein komischer Anlass ist, aber ich würde mich total freuen, wenn du mitkommst und-“ Er hielt inne, zwang sich, kurz durchzuatmen, als er der seichten Belustigung gewahr wurde, die von Zero auszugehen schien. Mit einem Räuspern verschaffte er sich eine winzige Gnadenfrist, ehe er weitersprach. „Meine Schwester feiert ihre Verlobung und ich weiß, dass das jetzt total dumm klingt, aber auf der Party werden Unmengen von Menschen sein, die ich auch nicht kenne. Und ich würde eh nur in der Gegend herumstehen, wie bestellt und nicht abgeholt, und da dachte ich, vielleicht hättest du ja Lust mitzukommen?“ Noch während er sprach, konnte er spüren, wie sich Hitze in seinem Gesicht ausbreitete. „Ich glaube, sie haben irgendeinen angeblich supertollen DJ engagiert und es gibt vermutlich ziemlich gutes Essen?“, setzte er noch halb scherzhaft hinterher.
„Na, wenn das Essen mal kein Totschlagargument ist.“ Für einen kurzen Augenblick betrachtete Zero die Amaryllis in seinem Arm, sah ihn dann wieder direkt an. „Du willst mich also als deine Begleitung? Für die Verlobungsfeier deiner Schwester?“, hakte er noch einmal nach.
„Das klingt furchtbar, wenn du das so sagst.“
„Finde ich nicht.“ Selten hatte Karyu sich durch vier Silben so erleichtert gefühlt.
„Ehrlich?“
„Ehrlich.“ Während Karyu noch immer bewegungsunfähig dastand, kam Zero näher, schlang wie schon früher am Abend einen Arm um seinen Nacken, um ihn an sich zu ziehen. „Ich finde, das klingt sogar ziemlich gut.“ Allein die Tatsache, dass der andere die Worte so nah an seinem Ohr sprach, ließ seinen Atem stocken. Als er eine Sekunde später Zeros warme Lippen auf seiner Wange spürte, hatte er das Gefühl, dass sein Herzschlag kurz aussetzte.
Die einzige Reaktion, zu der er fähig war, war ein abgehacktes Nicken, das Zero allerdings zu genügen schien. Als wäre nichts gewesen, brachte er wieder Abstand zwischen sie und warf Karyu ein fröhliches Grinsen zu.
„Sag mir einfach Bescheid, wann ich wo sein muss und ob es einen Dresscode gibt, und ich stehe dir zur vollen Verfügung“, meinte er schlicht, während er sich schon zum Gehen wandte. Mit der freien Hand zog er ein Paar Kopfhörer aus seiner Jackentasche und winkte ihm kurz zu. „Komm gut nach Hause, Karyu.“