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Drei Seiten der Medallie

Un vericueto al destino
von

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Bevor sich das Grauen erhoben hatte, war Arina nichts von alledem gewesen. Sie hatte eine Identität verkörpert, die nicht unterschiedlicher hätte sein können.

Ihr ganzer Name war Arina Sinele Eldanas und das war ein guter Name. Sinele war der Name ihrer Großmutter gewesen, die sie nie auf Bildern, sondern nur in ihren eigenen Vorstellungen aus den Geschichten über sie gesehen hatte. In den Geschichten war ihre Großmutter Sinele eine sehr freundliche, aber ebenso strenge Person gewesen, und sie war eine Elfe reiner Abstammung gewesen.

Ihr Nachname Eldanas zeugte davon. Seit vielen Generationen war die Familie Eldanas nicht mit Menschen verkehrt und noch weniger mit Halbelfen – sie legten wert darauf, dass andere dies zur Kenntnis nahmen, aber es war nicht das, was ihre Familie in den Köpfen der anderen ausmachte.

Das, was ihre Familie ausmachte, war das, was auch ihre Großmutter Sinele verkörpert hatte. Ein grundliegend freundlicher und höflicher Charakter, fern von List und Betrug, der sich weder heldenhaft noch patriotisch, aber fleißig an seine Pflichten in der Gesellschaft hielt. Sie waren eine Familie, deren ferne Vorfahren einst reich und mächtig gewesen sein mochten, aber heute war nur sehr wenig von diesem Glanz übrig geblieben.

Als ihre Welt noch völlig in Ordnung gewesen war - mit 12 Jahren – hatte Arinas Vater als sehr geschickter und dadurch sehr gefragter Töpfer gearbeitet. Er töpferte kunstvolle Vasen und Urnen für die Verstorbenen und ihren Blumenschmuck, aber ebenso gern töpferte er handliche und praktisch geformte Teller und Tassen. Beides verkaufte er zu guten Preisen und deshalb konnte sich Arinas Familie ein gutes und glückliches Leben in einem ruhigen Viertel der Stadt leisten, umgeben von vier gemauerten Wänden, die zwei Stockwerke einschlossen.

Ihre Mutter war für Arina eine der wichtigsten Personen ihres Lebens gewesen. Sicherlich war allein die Tatsache, dass es ihre Mutter war, dabei ausschlaggebend – aber dort, wo Großmutter Sinele Strenge und Ordnung hätte walten lassen, war ihre Mutter Nanja feinfühlig und erklärend gewesen. Das war gut gewesen, denn Arina war ein furchtbar weinerliches Mädchen – vielleicht war sie auch erst dadurch weinerlich geworden, dass ihre Mutter so viel freundlicher gewesen war, als Großmutter Sinele es zu ihr gewesen war.

Arina hatte bei jeder Gelegenheit geweint. Sie hatte geweint, als sie ihren Finger am Brennofen ihres Vaters verbrannt hatte und sie hatte geweint, als es an ihrem Geburtstags geregnet hatte – ebenso, wie sie geweint hatte, dass ihre selbst gepflanzten Blumen nicht blühten, sondern nur grün wucherten und wie sie geweint hatte, als ihr Bruder sie geschubst hatte.

Letzteres kam allerdings nicht oft vor. Obwohl sie und ihr Bruder Taras 4 Jahre auseinander lagen, und das für Kinder ein beträchtlicher und wahnsinnig bedeutend großer Zeitunterschied war, waren sie im Großen und Ganzen immer gut miteinander ausgekommen. Mehr noch – Taras beschützte Arina gern wie selbstverständlich vor allen großen Gefahren, die das Leben für sie barg. Große, hässliche Spinnen, als sie vier und er neun Jahre alt gewesen waren und große, hässliche Linkfinger, als sie elf und er 16 gewesen war. Im Gegenzug dafür behielt Arina jedes Geheimnis ihres Bruders für sich. Absolut jedes.

Sie verriet ihn niemals. Nicht, als er mit sieben Jahren ein Stück Kuchen vom Bäcker geklaut hatte, und auch nicht, als sie ihn dabei erwischte, wie er sich mit 15 selbst berührte, obwohl das für einen brav erzogenen Elfen etwas Verbotenes war – das wusste auch sie bereits.

Taras hatte einmal gesagt, dass er ihr immer etwas schuldig sein würde, weil ein paar Schläge in die Gesichter unangenehmer Zeitgenossen nie das aufwiegen würden, was sie für ihn tat. Arina war stolz gewesen, das zu hören und hatte sich sehr, sehr erwachsen und wichtig gefühlt. Und sie hatte auch ein bisschen geweint, aber vor Freude.

Zu ihrem Vater hatte Arina eine Beziehung, die sie nie so richtig erklären konnte. Es war offensichtlich, dass ihr Bruder und ihr Vater sich sehr nahe standen – Arinas Mutter Nanja nannte das oft „Das typische Männergetuschel“, wenn die beiden zusammen hockten und über alles mögliche redeten, was man wahrscheinlich einfach nicht verstand, oder wofür man sich nicht genug begeistern konnte, um es zu verstehen, wenn man kein Mann war.

Aber obwohl ihr Vater ihr immer etwas fremd gewesen war, liebte Arina ihn natürlich dennoch – schließlich konnte man sich seine Eltern vielleicht nicht aussuchen, aber auch niemals leugnen.

Dass ihr Vater sie ebenfalls liebte, merkte Arina an dem Tag, als ihre heile Welt zerbarst und ihre Tränen nicht mehr kindisch, sondern tragisch wurden.
 

Es war ein Sonntag. Und es war Arinas 13er Geburtstag. Und es regnete.

Deshalb hatte das Mädchen bereits den gesamten Tag verteilt über geweint und gejammert. Es war gemein, dass es gerade an diesem Tag regnete, und es war noch gemeiner, dass es generell so oft an ihrem Geburtstag regnete. Dummerweise war sie nun einmal im Herbst geboren worden – was ja eigentlich gar nicht schlimm war, denn wenn im Herbst schönes Wetter war, dann leuchtete alles in den schönsten Farben. Außerdem konnte ihre Mutter im Herbst herrliche Früchtekuchen backen, Kürbissuppe kochen und allerlei andere wunderbar leckere Dinge hervorzaubern.

Der Herbst war also eigentlich die ideale Jahreszeit – außer wenn es eben regnete, so wie heute. Der Himmel war stahlgrau und auf den Straßen trieben sich nur wenige Leute herum, die eilig von Ort zu Ort liefen, fluchend und sich über das Wetter ärgernd. Der Regen prasselte auf das Kopfsteinpflaster der Stadt, in der Arina mit ihrer Familie lebte und es floss in kleinen Bächen über den Weg bergab.

Die Stadt hieß Anula und lag auf einem Hügel. Alle Häuser klammerten sich auf dem gewölbten Rücken dieses Hügels, angefangen mit den schäbigen Hütten der Armen und Kranken am Rande der Stadt, bis hin zu den wunderschönen Herrenhäusern der Hochelfen am Gipfel des Hügels. Genau in der Mitte der Stadt stand die Villa des Elfenfürsten Halnar von Orath, ein Elf von edelster Abstammung, seit Generationen floss das blaue Blut durch die Adern seiner Familie und seit Generationen bewohnten sie dieses Haus und beherrschten die Stadt Anula. Arina wusste, wie schön diese Villa war, denn manchmal – an ganz besonderen Tagen im Jahr – war es auch dem gemeinen Volk erlaubt, die Mauer, welche das Haus des Fürsten umringte, hinter sich zu lassen und sich der herrlichen Villa mit seinen wunderbaren Gärten und Blumenanlagen zu nähern. Am Geburtstag der schönen Elfenfürstin und Gemahlin von Halnar im Sommer war ein solcher Tag, und es war definitiv einer der schönsten Tage, die man jedes Jahr auf der Villa verbringen konnte.

Zur Feier ließ der Fürst jedes Jahr zahlreiche Beerenküchlein backen und an jeden verteilen, außerdem gab es Pfirsischsaft aus mannshohen Fässen für alle. Der Duft der Blumen in den Gärten, zusammen mit dem Geschmack von Beerenkuchen und Pfirsischsaft – das war etwas einzigartig Schönes. Sogar die Menschen durften an diesem Tag frei in der Stadt umherwandeln und wurden von keiner Wache angehalten und fortgejagt – es sei denn natürlich, sie taten etwas Unrechtes. Und das war schließlich keine Selbstverständlichkeit, denn wie jeder Elf wusste, war einem Menschen bei weitem nicht zu trauen.

Ein Mensch war nicht mit den Gaben des Elfengeschlechts gesegnet, er hatte weder die Gabe der Magie, noch die Gabe des Sternensehens. Und so etwas konnte einem schließlich nicht wirklich geheuer sein. Bisher hatte Arina noch keinen einzigen Geburtstag der Fürstin erlebt, an dem kein herrliches Wetter gewesen wäre.

Und heute wünschte sie sich, dass sie selbst ebenfalls, wie die Fürstin vielleicht einmal im Sommer Geburtstag haben könnte, bei strahlendem Sonnenschein und Vogelgezwitscher. Aber so war es leider nicht und mittlerweile war Arina auch alt genug, um das einzusehen. Wunder geschahen nur zu außergewöhnlichem Zweck und sie geschahen ebenfalls nur außergewöhnlichen Helden – meistens leider auch nur in Geschichten.

Das blonde Elfenmädchen seufzte schwer und starrte lustlos aus dem Fenster des Wohnraums. Sie saß am hölzernen Esstisch, die Arme verschränkt, die Beine übereinander geschlagen und obwohl ihr der Geruch von frisch gebackenem Apfelkuchen in die Nase stieg, den ihre Mutter einzig für ihren Geburtstag gebacken hatte, hatte sie keine Lust sich umzudrehen und eine fröhliche Miene aufzusetzen.

Es war doch wirklich gemein!

„Taras, hol noch etwas Holz für das Feuer! Und ruf deinen Vater dann aus seiner Werkstatt, der Kuchen ist in ein paar Minuten fertig!“, hörte sie ihre Mutter rufen. Sie hörte, wie ihr Bruder den Wohnraum verließ und die Treppen hinab stieg, zum Erdgeschoss wo Laden und Werkstatt ihres Vaters waren.

Aber sie hatte keine Lust, ihm hinterher zu sehen, oder sich über den bald fertigen Kuchen zu freuen. Sie hatte auch keinen richtigen Hunger auf Apfelkuchen.

Sie schniefte einmal heftig und ein paar Tränen liefen ihr über das Gesicht.

„Arina?“, fragte ihre Mutter, „Geht es dir nicht gut?“ Im nächsten Moment spürte sie die Hände ihrer Mutter auf ihren Schultern.

„Du weinst ja, mein Schatz.“

Arina seufzte leise und wischte sich die Tränen weg. Jetzt schämte sie sich ein wenig – denn eigentlich war es unfair, so traurig zu sein, obwohl sich ihre Mutter solche Mühe gab, ihr einen schönen Tag zu bereiten. Sie drehte sich zu ihrer Mutter um.

„Ich hätte einfach nur gern schöneres Wetter gehabt an meinem Geburtstag.“, meinte sie betrübt. Arinas Mutter musste lächeln. Ihr Gesicht sah schön aus, wenn sie lächelte. Ein wenig alt geworden, von den Anstrengungen des Lebens, aber schön.

„Die Wetterfee ist leider ziemlich eigensinnig, das weißt du doch. Aber vielleicht wird es morgen schöner, dann können wir nachmittags einen Spaziergang machen. Was hältst du davon?“, fragte sie.

Arina nickte. Dieser Vorschlag war eine gute Idee – Herbstspaziergänge waren immer aufregend. Jetzt hatte sie doch wieder gute Laune und als ihre Mutter sie fragte, ob sie schon einmal den Tisch decken wollte, sprang sie gut gelaunt auf und holte Teller und Tassen.

Der Regen fiel weiterhin auf das Dach des Hauses und schlug gegen die Fenster, es kam starker Wind auf, der an den Scheiben rüttelte und ein paar herrenlose Dinge über die Straße fegte. Ein Blechtopf klapperte über die Straße und rollte bergab. Der Tisch war gedeckt und Arinas Mutter hatte gerade den noch dampfenden Kuchen darauf gestellt. Eigentlich fehlten nur noch Taras und ihr Vater, die wohl immer noch unten in der Werkstatt waren.

„Wahrscheinlich ist dein Bruder mit deinem Vater wieder im Gespräch versackt.“, meinte ihre Mutter, „Er hat nicht einmal das Holz gebracht. Meine Güte...“ Sie grinste und Arina musste lachen.

„Aber wir sollten den Kuchen trotzdem schon einmal anschneiden – dann kühlt er etwas ab. Und wenn sie eben zu lange brauchen...dann kriegen sie nichts ab! Arina, möchtest du deinen Kuchen selbst anschneiden?“

Das Mädchen nickte freudig. Sie war nicht besonders geschickt mit einem Küchenmesser in der Hand. Beim Kartoffelschälen blieb bei ihr meistens nur ein daumengroßer Rest übrig, der Rest der Kartoffel war an der Schale. Und wenn sie Brot schneiden musste, konnte man entweder durch die Scheiben durchsehen, oder sie waren so dick wie eine Tischplatte. Oder beides.

Aber es gab einem so ein schönes Gefühl von „Erwachsensein“, wenn man ein großes Küchenmesser in die Hand nehmen durfte, um damit zu helfen.

Ihre Mutter gab ihr das Messer und Arina schnitt. Kein einziges Stück Kuchen war ordentlich, alle waren unterschiedlich groß, krumm und buckelig. Aber was machte das schon – der Dampf, der aus dem Inneren des Kuchens kam, ließ einem trotzdem das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Der Regen an den Scheiben wurde lauter, während sie auf die beiden warteten und der Kuchen abkühlte.

Gerade wollte Arina fragen, ob sie nicht doch mal nach unten gehen sollte, um die beiden Trantüten zu rufen, als sie polternde Schritte hörte, welche die Treppe hinauf eilten.

„Na endlich!“, sagte sie und drehte sich erwartungsvoll zur Treppe um. Ihr Bruder betrat keuchend den Raum und sie wollte ihm schon im Scherz sagen, dass der Kuchen bereits komplett in ihrem Bauch gelandet war – als sie den entsetzten Ausdruck auf seinem Gesicht sah. Er rang um Atem, drehte sich hektisch nach hinten um, als hätte er Angst, von einem Monster verfolgt zu werden und eilte dann zum Tisch.

Ihre Mutter stand hastig auf. „Taras, was ist passiert!“, fragte sie und jegliche Geburtstagsstimmung war aus ihr verschwunden.

„Wir müssen hier raus...“, keuchte ihr Bruder. Seine Stimme war zittrig vor Aufregung und Anstrengung. Jetzt konnte man von unten laute Rufe hören. Eine Stimme gehörte ihrem Vater, die anderen erkannte Arina nicht. Sie hörte, wie ein Tonkrug zerbarst.

„Wer ist das!“, fragte ihre Mutter laut, „Was ist mit deinem Vater?“ Sie wollte zur Treppe eilen und rief nach ihrem Mann, erreichte bereits die erste Stufe, als Taras sie festhielt.

„Die bringen uns um!“, sagte er laut, „Sie sind bewaffnet!“

Arina hörte ihr Herz laut klopfen. Sie hielt immer noch das Küchenmesser in der Hand und zitterte am ganzen Körper, unfähig aufzustehen oder irgendetwas zu sagen.

Banditen. Es waren sicherlich Banditen.

Oh Götter. Sie kamen hier her und sie würden alle umbringen.

Der Atem des Mädchens beschleunigte sich und schon wieder musste sie weinen, aber niemand bemerkte es – sie selbst ebenso nicht.

Sie konnte sehen, wie ihre Mutter hektisch mit ihrem Bruder sprach, aber war nicht imstande, ihnen zu hören. Das Blut rauschte in ihren Ohren und die Knöchel der Hand, die das Messer immer fester umschlossen, wurden schneeweiß. Ihr Bruder hastete auf sie zu und sagte ihr etwas, er schüttelte sie, aber Arina verstand ihn nicht.

Dann zog er sie einfach mit und rannte mit ihr in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Das Messer ließ sie fallen. Ein relativ kleiner Raum mit nur einem Fenster und einem Bett für zwei Personen in der Mitte. Ihre Mutter lief nach unten, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie hatte das große Messer vom Fußboden aufgehoben. Jetzt erwachte das Mädchen aus seiner Starre.

„Mama?“, rief Arina, aber ihr Bruder schloss die Tür bereits und lief zum Fenster des Raumes.

„Die kommt nicht mit. Schnell, wir müssen hier raus!“, sagte er, ließ die Hand seiner Schwester los und öffnete das Fenster. Arina keuchte ängstlich.

„Nein, warte! Sie muss mitkommen!“ Sie lief zurück zur Tür, aber bevor sie die Klinke berühren konnte, umklammerte ihr Bruder sie mit beiden Händen und trug sie zum Fenster.

Arina schrie und trat um sich. Das konnte er nicht machen! Das konnten sie nicht machen! Ihre Eltern waren da unten in Gefahr, die Banditen würden sie töten! Verbrennen!

„Halt den Mund, Arina! Halt den Mund, oder sie finden uns! Komm schon! Sei ruhig!“, fauchte ihr Bruder sie an und hielt sie grob fest, während er sie durch das geöffnete Fenster zwängte.

Arina verlor den Kampf gegen ihren Bruder, natürlich war er viel stärker als sie und ehe sie sich versah, landete sie auf dem Dach des Ladens, der etwas weiter hin zur Straße ausgebaut war. Es war rutschig und sofort durchnässte der Regen ihre Kleider und ihr Haar. Ihr Atem ging schneidend und sie wimmerte vor Angst.

Was war hier nur los?

Taras sprang ebenfalls aus dem Fenster, wesentlich geübter, als sie und griff sofort wieder nach ihrer Hand.

„Komm schon, Arina. Lauf!“, sagte er und wollte los rennen, aber das Mädchen hielt ihn zurück.

„Was ist mit Mama und Papa?“, fragte sie laut, „Die Banditen werden sie töten! Sie werden sie töten!“ Unter ihnen im Laden zerschellte wieder etwas und es polterte heftig. Arina konnte ihre Mutter schreien hören, wie sie sie noch nie gehört hatte. Wie ein wildes Tier.

Taras sah seine Schwester an und konnte ihr keine Antwort geben und erst jetzt erkannte Arina, dass auch er Tränen in den Augen hatte. Und Angst.

„Komm schon!“, sagte er und dieses Mal leistete sie keinen Widerstand. Sie liefen über das Dach des Ladens und sprangen auf das nächste, immer weiter und weiter, die Straße rechts neben ihnen wie ein reißender Abgrund. Arina traute nicht, sich umzudrehen, oder anzuhalten. Sie hörte, dass jemand hinter ihnen war und wild rief. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Noch ein Dach weiter, noch eins weiter. Das Mädchen rechnete jeden Moment damit, dass die lockeren Schindeln unter ihren Füßen wegbrachen, dass das Dach unter ihnen nachgab oder sie ausrutschten und auf die Straße stürzten. Der Regen war so dicht und sie rannten so schnell, dass Arina kaum imstande war, etwas deutlich zu sehen.

Noch ein Dach weiter. Ihr Bruder sprang, sie sprang mit, immer noch hielten sich beide an den Händen. Sie konnte das nächste Haus sehen, Taras erreichte das Dach – Arina nicht.

Das Mädchen schrie und fiel hinunter, beinahe hätte sie ihren Bruder mit sich gerissen, aber im letzten Moment konnte er sie festhalten. Die polternden Schritte ihres Verfolgers hinter ihr kamen immer näher.

‚Jetzt sterben wir. Wir sterben. Oh Götter!’

„Halt dich fest!“, schrie ihr Bruder. Seine Stimme überschlug sich. Arina klammerte sich an die nasse Hand, die sie zwischen den beiden Häusern baumeln ließ, unter ihr die Straße. Langsam konnte Taras sie nach oben ziehen, schon hielt sich Arina an der Kante des Daches fest und kletterte nach oben. Sie schürfte ihre Knie an den Schindeln auf, fiel in die Arme ihres Bruder, der sie sofort wieder hochzog.

„Weiter! Los!“, rief Taras, doch in der nächsten Sekunde sprang noch jemand über die Lücke zwischen den beiden Häusern. Ihr Verfolger hatte sie eingeholt.

Es war ein Mensch – eine Frau, soweit Arina es im dichten Regen sehen konnte. Sie trug eine Rüstung aus schwarzem Eisen, ein Helm auf ihrem Kopf ließ nur wenig von ihrem Gesicht erkennen. In der rechten hielt sie ein Schwert, auf die beiden Geschwister gerichtet. Schnell hatte sie sich den beiden in den Weg gestellt und drängte sie an die Kante des Daches. Der Regen klirrte auf ihrer Rüstung. Sie sah nicht aus, wie ein Bandit – aber wonach sie aussah, konnte Arina im Moment nicht entscheiden, die Angst brachte sie um den Verstand.

„Keinen Schritt weiter! Das Spiel ist aus!“, sagte die Frau. Ihre Stimme klang rau und dunkel. Das Mädchen spürte, wie Taras die Arme schützend um sie schlang.

„Verschwinde!“, schrie er, „Lass uns in Ruhe!“ Die Frau lächelte kurz und Arina erkannte, dass sie hilflos waren. Sie standen nur wenige Zentimeter entfernt vom Abgrund, wenn sie sprangen, würden sie sich wahrscheinlich alle Knochen brechen. Und vor ihnen stand die bewaffnete Frau. Sie saßen in der Falle.

„Ich werde euch nicht töten.“, sagte sie. Jetzt erkannte Arina einen leicht südlichen Akzent in ihrer Stimme und sie bildete sich einen dunklen Teint auf dem sichtbaren Teilen ihres Gesichts ein.

„Lügnerin!“, rief Taras, „Verarsch mich nicht, Mensch!“

Die Frau antwortete nicht mehr, sondern bewegte sich noch einen Schritt näher auf die beiden zu. Arina wimmerte.

Plötzlich hörte das Mädchen einen weiteren Schrei. Ein Mann sprang auf das Dach, woher er gekommen war, konnte sie nicht sagen. Er lief auf die bewaffnete Menschenfrau zu, zog ebenfalls ein Schwert und schlug sie zurück. Sofort verwickelten sich beide in einen Kampf.

Die Geschwister liefen ohne Zögern weiter, die Frau in der Rüstung hatte keine Zeit mehr, sie zu beachten, als ein Elf sie abfing und festhielt. Er hatte rotes Haar, ohne Zweifel ebenso durchnässt, wie seine leichte Stoffrüstung. Auch er trug ein Schwert bei sich.

„Rasch! Ihr könnt mir vertrauen!“, sagte er zu ihnen. Ohne ihnen Zeit zu geben, um Misstrauen zu schöpfen, griff er nach Arina und warf sie vom Dach. Das Mädchen schrie laut vor Angst, aber statt auf dem steinharten Straßenboden zu landen, fiel sie in die Arme eines weiteren Elfen, der sie auf ein weißes Pferd hievte, danach ihren Bruder auffing und ebenfalls auf das Pferd setzte. Er war größer als der rothaarige, hatte dunkles Haar und trug ähnliche Rüstung, aber für eine genauere Betrachtung blieb keine Zeit.

Im nächsten Moment sprang auch der rothaarige Elf vom Dach, stieg auf ein weiteres Pferd, der größere Elf saß ebenfalls auf, nachdem er dem Pferd von Arina und Taras einen Klaps auf den Hintern verpasst hatte und alle drei Tiere stürmten los.

Arina wusste, dass ihr Bruder erst ein einziges Mal auf einem Pferd gesessen hatte – und das war Jahre her. Sie hatten sich nachts zusammen auf die Weide eines Pferdehändlers weiter unten in der Stadt geschlichen, weil Taras unbedingt Ritter spielen wollte. Zurück musste er sich mit einem gebrochenen Arm schleichen.

Wie er das Pferd unter Kontrolle halten konnte, wusste das Mädchen nicht. Sie kniff die Augen zusammen, klammerte sich so fest es ging, an ihn, spürte den schnellen Galopp des Pferd und die harten Regentropfen auf ihrem Kopf und Rücken.

Sie konnte Geschrei hören. Weiteres Hufgeklapper hinter ihnen – Götter sie wurden immer noch verfolgt!

Das Geklapper des Kopfsteinpflaster wandelte sich in das Geräusch von matschiger Erde, sie hatten die Stadt verlassen. Die Hetzjagd ging weiter und weiter, keine Zeit um einen klaren Gedanken zu fassen.

Arina glaubte, ihr Herz würde zerspringen. Der Albtraum hörte und hörte nicht auf.

Nach einer halben Ewigkeit, wie es schien, hörte das Mädchen, wie sie wieder über steinigen Untergrund ritten. Sie wurden langsamer und die Elfen riefen etwas.

War es vorbei?

Endlich wagte sie es, die Augen wieder zu öffnen. Es regnete immer noch. Wie sie vermutet hatte, hatten sie die Stadt verlassen, nun befanden sie sich auf einem Gutshof irgendwo auf den Ländereien, die um Anula lagen. Ein Haus, mit Stroh gedeckt lag vor ihnen. Es waren nun mehrere Elfen zu Pferd, die hier auf dem Hof vor dem Haus standen, als sie zuvor gesehen hatte. Sechs Elfen, alle in der gleichen Rüstung – ganz offensichtlich eine Art Uniform, vielleicht waren es Soldaten eines fremden Fürsten? – stiegen von ihren Tieren ab und ließen sie von Stallburschen abführen. Unter ihnen waren die zwei, die sie und ihren Bruder gerettet hatten.

Taras stieg ebenfalls ab. Er sah vollkommen fertig aus. Die Kleider klebten an ihm wie eine zweite, schwere Haut. Keuchend half er Arina, von dem Pferd abzusteigen.

Obwohl sie angehalten hatten, herrschte immer noch Hektik unter den fremden Männern. Der Rothaarige eilte auf sie beide zu und instinktiv nahm Arina die Hand ihres Bruders.

„Mein Name ist Shayan. Wir sind Ritter des Königs von Sanarya.“, sagte er, „Ihr seid hier in Sicherheit.“ Er wollte einen weiteren Schritt auf die Geschwister zugehen, da zog Taras Arina an sich und wich zurück.

„Was ist hier los!“, rief er aufgebracht, „Fasst uns nicht an! Ich will wissen, was zum Teufel hier los ist!“

„Beruhigt Euch. Kommt mit mir, ich werde Euch alles erklären.“, antwortete Shayan. Er hielt ihnen die Hand hin.

Einige Sekunden noch starrte Taras den Elfen noch misstrauisch an, das Mädchen glaubte sogar, ihn knurren zu hören. Dann lockerte er zögerlich den schützenden Griff um Arina und gab Shayan die Hand.

„Folgt mir. Ein Hundewetter!“, sagte der Rothaarige und lächelte beide an. Er führte sie in das innere des Hauses, wo sie die wohlige Wärme eines Kaminfeuers empfing.

Draußen zogen die übrigen Elfen ihre Waffen und umstellten den Hof, fest entschlossen, jedem Verfolge ihr Eisen durch das Herz zu stoßen.
 

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