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Fremder Feind

von

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Zeitreise

Stillschweigend blickte Shuichi auf die Akte, die vor ihm auf dem Tisch lag. Einst hatte er sie aus dem Archiv geholt, stillheimlich kopiert und die Auszüge in seinem Schrank verwahrt. Nachdem er zurück in die Staaten kam, hatte er die Seiten immer und immer wieder studiert – solange, bis er alle Sätze auswendig kannte. Und trotzdem gab es etwas in ihm, das jedes Mal auf einen anderen Ausgang hoffte. Aber dem war nicht so. Die Geschichte endete immer gleich: Agent Starling und seine Frau wurden in ihrem Haus ermordet, ihre Tochter Jodie verschwand und alle Erinnerung, alle Hinweise auf die Organisation wurden im Feuer verbrannt. Nichts erinnerte mehr an das glückliche Leben der Familie.

Akai ballte die Faust. Die Organisation nahm ein Leben und spielte damit. Sie hatten Jodie zu ihren eigenen Zwecken missbraucht und sie zu einer der ihren gemacht. Dennoch hatten sie das Mädchen von damals nicht gänzlich gebrochen. Sie hegte immer noch Hoffnung auf ein normales, einfaches Leben. Daran hatte sie bis zum bitteren Ende geglaubt.

Hätte das FBI nur damals…und hätte Agent Starling seine Informationen mit den anderen geteilt…vielleicht wäre alles anders ausgegangen und sie hätten sofort in Japan mit der Suche begonnen. Stattdessen hatten sie alle stillschweigend zugesehen, wie Jodies Leben den Bach runter ging. Shuichi schüttelte den Kopf. Er durfte nicht dem FBI die Schuld geben. Sie taten damals, wie auch jetzt, ihr bestes. James Black hatte die Suche nach dem Mädchen nie aufgegeben und als sie sie endlich gefunden hatten, endete es in einem Desaster. Trotzdem schwelgte er noch immer in der Vergangenheit. Nicht nur, dass er immer wieder sein eigenes Handeln in Frage stellte und die Situation mehrfach durchspielte, er versuchte auch die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Jeder Satz in der Akte konnte einen neuen Anhaltspunkt liefern – irgendetwas um die Organisation zu zerschlagen. Problematisch war nur, dass keiner genau wusste, wie sich die damalige Nacht abgespielt hatte.

Dennoch musste Shuichi zugeben, dass es problematischer war, als Anfangs gedacht. Das FBI hatte in Japan keine Befugnisse zum Ermitteln. Wie sollten sie dann eine so mächtige Organisation zerschlagen? Konnten sie überhaupt mit der Hilfe der Japaner rechnen oder gab es auch dort Verräter?

Shuichi seufzte leise auf. Frustriert wanderte sein Blick zur Uhr. Die Zeit stand gegen ihn. Wieder einmal hatte er nichts geschafft und war keinen Schritt weiter gekommen. Der FBI Agent schloss seine Augen und lehnte sich nach hinten. Er brauchte ein paar Minuten um zur Ruhe zu kommen. Sofort sah Jodies lebloses Gesicht vor sich und öffnete unverzüglich seine Augen. Akai atmete schwer. Er sah auf die Akte und schlug sie zu. Schnaufend stand er auf und zog seine Jacke an. Wenigen Sekunden später befand er sich auf den Straßen New Yorks.

Seine Beine fühlten sich bei jedem Schritt schwer wie Blei an und eigentlich hatte er keine bestimmte Richtung eingeschlagen. Dennoch zog es ihn an jenen Ort. Erst als die Dunkelheit einbrach, blieb er stehen. Er hatte die Gegend noch nie aufgesucht, aber Haus, welches direkt vor ihm lag, wirkte vertraut.

Er hatte bereits so viel darüber gelesen und sich Jodies Kindheit bildlich vorgestellt. Auch das Haus kam darin vor. Aber dann passierten die schrecklichen Ereignisse und es blieb nur noch eine Ruine aus Backsteinen und Asche über. Nichts hatte mehr auf das fröhliche Familienleben hingewiesen und doch… Irgendjemand hatte das Haus wieder aufgebaut und wohnte darin. Shuichi schüttelte den Kopf. Was hatte er sich auch gedacht? Dass niemand das Grundstück kaufen würde? Dass man das Haus nicht wieder aufbaute und dass keine Familie darin einziehen würde?

Melancholie übermahnte ihn. Auch Jodie hätte hier mit ihrer Familie weiterleben können, aber die Organisation hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wie in Trance ging der FBI Agent auf das Haus zu und spähte ins Wohnzimmer. Ein kleines Mädchen saß auf dem Sofa und spielte mit ihrem Teddybären. Ihr Lachen schien das Einfamilienhaus zu erhellen. Und auch wenn er nicht wusste, wer sie war oder was sie sagte, so schien sie wenigstens glücklich zu sein.

Shuichi schüttelte den Kopf. Was hatte er sich nur dabei gedacht, durch das Fenster zu schauen und sich wie ein Spanner zu fühlen? Seine einzige Verbindung zu diesem Haus war seit einem Jahr abgerissen und auch wenn es neu aufgebaut wurde, gab es keinen Hinweis mehr, der zur Organisation führen würde. Shuichi drehte sich um und ging zurück zur Straße.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Akai musterte den Mann. Sein Gesicht kam ihm bekannt vor, doch er konnte ihn nicht einordnen. „Hab mich verlaufen“, gab Shuichi von sich und ging weiter. Kurz darauf blieb er stehen und drehte sich um. Konnte das sein…?

Der fremde Mann öffnete die Haustür und ging rein. Shuichi blinzelte irritiert drein, dann schüttelte er erneut den Kopf. Er musste sich die Ähnlichkeit nur eingebildet haben. Akai machte ein paar Schritte und sah aus dem Augenwinkel eine schwarz gekleidete Person – eine Frau. Sie beobachtete das Haus und schien ihn nicht zu bemerken.

Als sie auf die Eingangstür zuging, legte sich eine Gänsehaut auf seinen Körper. Er spürte die Dunkelheit, die von ihrer Präsenz ausging und nachdem er sich gefangen hatte, lief er zurück zum Haus.

Shuichi klopfte an die Tür. „FBI“, rief er. „Ich komm jetzt rein“, fügte er an und öffnete die Tür. Ein Knistern lag in der Luft. Niemand antwortete. Akai zog seine Dienstwaffe hervor und sicherte den Flur. Danach ging er in die Küche und fand die erste Leiche. „Oh nein“, murmelte er leise. Shuichi lief in den Flur und sah zum oberen Stockwerk. Wie oft hatte er sich bereits vorgestellt, wie damals alles abgelaufen war?

„Hoffentlich ist es bald vorbei“, murmelte er.

„Das wird es, Ryan.“

Agent Starling sah nach oben. Seine Augen weiteten sich. „Sharon…wie kommst du…“ Er stand auf und griff nach seiner Waffe.

„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Du möchtest doch nicht, dass ich Jagd auf dein kleines Töchterchen machen werde.“

Der Agent knurrte. „Lass sie aus dem Spiel.“

„Unter einer Bedingung. Sag mir wo die Akten sind.“

„Im Büro“, antwortete er.

„Treib keine Spielchen mit mir“, begann sie wütend. „Du weißt ganz genau, dass ich dort meine Leute habe. Du wärst dumm, wenn du dort Akten lagern würdest. Also? Wo sind sie?“

Der Agent verengte die Augen. „Wenn ich dir sage, wo ich die Informationen aufhebe, lässt du Jodie und meine Frau dann in Ruhe?“

„Bei deiner Frau kann ich es nicht mehr versprechen“, entgegnete die Schauspielerin.

Agent Starling ließ sich unweigerlich in seinen Stuhl zurück fallen. „Du hast…du hast…sie…“

„Aber deinem kleinen Töchterchen muss es nicht so ergehen. Gib mir die Informationen und ich lass sie in Ruhe.“

Der Agent schluckte. „Sie sind im Keller“, murmelte er. „Der Zugangscode ist 1-6-0-5.“ Er würde ihr alles geben, wenn sie Jodie nichts antäte. Eigentlich schien Vermouth Kinder zu mögen, aber was würde sie tun, würde sie Jodie auf dem Flur oder im Haus antreffen? Starling hoffte inständig, dass seine Tochter in ihrem Zimmer bleiben und warten würde.

„Danke sehr. Du bist ein schlauer Mann, du weißt, dass ich zurück komme und dein Kind jagen werde, wenn deine Informationen falsch waren“, antwortete Vermouth und drückte ab. „Jetzt brauch ich dich aber nicht mehr.“

Der Agent sackte in sich zusammen und rutschte vom Stuhl.

„Sayonara“, murmelte sie. Jetzt war es vollbracht, jetzt war sie von ihm befreit. Sie ging zu ihm, nahm ihm seine Brille ab und drapierte sein Gesicht in die richtige Position. Die Brille war eine Trophäe, die sie immer an diesen Verrat erinnern sollte.

Langsam öffnete sich die Tür des Arbeitszimmers. Ein kleines Mädchen, mit Teddybären in der Hand, blickte mit großen Kulleraugen auf die Schauspielerin. „Wer sind Sie?“

Vermouth war überrascht, fing sich aber schnell. „Das ist ein großes Geheimnis. Ich kann es dir nicht verraten….“

„Das ist Papas Brille“, kam es von dem Mädchen.

„Oh. Entschuldige“, sagte sie. „Hier, nimm sie.“

Jodie sah zu ihrem Vater. „Was ist mit ihm? Ist er eingeschlafen?“, fragte sie in ihrer kindlichen Art. „Dabei hat er mir eine Gute-Nachtgeschichte versprochen.“

„Es tut mir leid. Bleibst du an seiner Seite, bis er wieder aufwacht?“

„Ja“, nickte Jodie und lief zu ihm. Sie setzte sich neben ihren Vater. „Können wir die Tischlampe anlassen? Ich habe Angst im Dunkeln.“

„Natürlich“, antwortete Vermouth. In dem Licht würde das Mädchen die Verletzungen ihres Vaters nicht wahrnehmen.

Langsam verließ die Schauspielerin den Raum und ging nach unten. Aus dem Wohnzimmer holte sie ihre Tasche und einen Kanister mit Benzin. Danach ging sie in den Keller.

Wie gebannt war Akai in Deckung gegangen und hatte beobachtet, wie die Frau nach unten in den Keller ging. Dort würde sie schon bald den Brand legen, der als Ursache für das Feuer identifiziert wurde. Sie würde alle Akten über sich und die Organisation vernichte, aber das war nur nebensächlich. Jodie. War. Oben. Am. Leben.

Er schluckte. Warum erlebte er ausgerechnet jetzt das Geschehen von damals? Und konnte er tatsächlich die Vergangenheit verändern? Shuichi hatte keine Zeit um darüber nachzudenken und lief sofort die Treppen nach oben. In seinem Wahn achtete er nicht einmal darauf, ob er ein Geräusch machte. Das Licht im Arbeitszimmer von Starling wies ihm seinen Weg. Er riss die Tür auf und sah das kleine Mädchen neben ihrem Vater sitzen. Es konnte nur Jodie sein. Sie war kaum älter als sieben und wirkte gar nicht verängstigt.

Sie sah sofort zu ihm. „Wer bist du?“, fragte sie leise.

„Jo…Jo…die…“, murmelte er ihren Namen. „Ich…“, wisperte er kaum hörbar.

„Bist du ein Freund von meinem Papa? Oder kennst du meine Mama? Bist du Japaner?“, sprudelte es nur so aus ihr heraus.

Shuichi biss sich auf die Unterlippe. Was machte er hier überhaupt und wie sollte er dem Mädchen alles erklären? „Ich…“, fing er erneut an. Er brach ab, als er das Knarzen auf der Treppe hörte. Sie kam wieder nach oben. Sofort positionierte er sich vor dem Mädchen. „Versteck dich unter dem Schreibtisch“, wies er sie an.

Jodie sah traurig auf ihren Teddy. „Ich darf nicht mit Fremden…“, sagte sie leise.

„Jodie! Bitte! Versteck dich unter dem Schreibtisch. Ich erkläre dir danach alles“, gab er ruhig von sich. „Nimm deinen Teddy mit und halte dir die Ohren zu, ok?“

Jodie blickte auf ihren Vater. „Papa…“

„Dein Papa möchte auch, dass du dich versteckst.“

Nur langsam krabbelte das Mädchen unter den Tisch.

Shuichi beobachtete die Tür und auf einmal stand sie da. Sharon Vineyard. Sie sah ihn irritiert an. „Oh.“ Sie legte den Kopf schief. „Haben wir einen ungebetenen Gast hier. Gehörst du etwa auch zum FBI?“

Sofort richteten Beide ihre Waffe auf den jeweils anderen. Vermouth schoss. Shuichi schoss. Sie duckte sich. Er duckte sich und schoss erneut.

„Wie kann das…“, murmelte Vermouth und hielt sich die Wunde am Bauch. „Nein…das darf…nicht…“

„Dein Spiel ist aus“, kam es von Akai. „Du wirst dem Mädchen nichts antun, dafür sorge ich.“

Dann wurde alles schwarz.

Shuichi sah sich um und verengte die Augen.

„Dai.“

Eine vertraute Stimme rief nach ihm. Er blickte sich erneut um.

„Dai.“

Langsam nahm er ihre Silhouette wahr.

„Dai.“ Sie lächelte. „Nein, Shuichi.“

„Jo…jodie…“, gab der Agent von sich. Sie war erwachsen geworden und lächelte.

„Es ist lange her, Shuichi“, fing sie an.

Der Agent schluckte. Seine Hand schnellte nach vorne. Er versuchte sie zu berühren, aber es funktionierte nicht.

„Es ist noch nicht so weit, dass wir uns wiedersehen“, sagte sie. „Du wirst woanders gebraucht, Shuichi. Dein Kampf ist noch nicht vorbei.“

„Jodie, ich…ich hätte damals nicht gehen dürfen. Ich hätte in Japan bleiben und weiter machen sollen. Es tut mir leid…ich hätte dafür sorgen müssen, dass du entkommst, stattdessen…“

Jodie schüttelte den Kopf. „Es ist in Ordnung“, fing sie an. „Du hast nichts Falsches getan. Deine Chancen waren höher als meine und außerdem, habe ich es so gewollt.“

„Jodie“, wisperte er ihren Namen.

„Es ist Zeit für dich zu gehen, Shuichi. Du gehörst hier nicht her. Du musst weitermachen. Hast du verstanden?“

Er schluckte. „Jodie, ich…“

„Jodie!“ Shuichi schreckte aus seinem Stuhl hoch. Er hatte die Augen geweitet und sein Herz klopfte schneller. Der Agent sah auf die Akte, die auf seinem Tisch lag. Es war ein Albtraum. Ein furchtbarer Albtraum. Und eine Warnung zugleich. Es war noch nicht vorbei.



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