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Höllenfeuer

von

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Kapitel 20

Kapitel 20
 

Als Ethos dastand und auf den leblosen Körper des Dämons hinunter starrte, blendete er aus, was hinter ihm geschah.

Chino befand sich noch immer in der Auseinandersetzung mit dem weißen Löwen. Nachdem er das Ungetüm auf dem Boden hatte festhalten wollen, damit Roth es mit seiner Hellebarde niederstrecken konnte, hatte es geschafft, sich aus seinem Griff zu befreien. Noch immer hielt Chino die Mähne fest, weshalb der Löwe kräftig den Kopf hin und her schüttelte. Dazu brüllte er laut, was die hinteren Gardisten, die sich inzwischen die Armbrust zurückgeholt hatten, zusammenzucken ließ.

Der Löwe preschte nach vorne, wodurch er mit den Pranken auf Chinos Schultern landete. Der vergleichsweise kleine Spanier, der unter der schieren Masse des Tieres beinahe zu verschwinden drohte, hielt diesem Ansturm allerdings stand. Er griff unter die Vorderbeine des Löwen, um diesen davon abzuhalten, einfach über ihn hinweg zu springen. Als der Löwe bemerkte, dass er weiterhin festgehalten wurde, senkte er den Kopf und wollte gerade zubeißen, als er spürte, wie Chino ihn zur Seite drängte. Daraufhin ließ der Löwe los und setzte sein gesamtes Gewicht ein, damit er sich auf die linke Seite werfen konnte. Durch den plötzlichen Verlust des Widerstandes überrascht, verlor auch Chino das Gleichgewicht und fiel, zusammen mit dem Löwen, auf den Boden. Nun war Chino derjenige, der sich seinen Weg freikämpfen musste, denn der Löwe war auf seinem Arm und dem rechten Bein gelandet. Indem er drückte und schob, versuchte der Dämon, sich zu befreien.

Allerdings war die Bestie zuerst auf den Beinen.

Sofort sprintete der massige, von feinen Muskeln und Sehnen durchzogene Körper los, direkt auf Ethos zu. Auch Chino versuchte, schnellstmöglich wieder auf die Beine zu kommen, was ihm im ersten Moment jedoch misslang.

Fauchend stürmte das Tier mit dem weißen Fell auf Ethos zu, auf den letzten drei Metern setzte es zu einem Sprung an. Die langen Krallen ausgefahren und die türkisen Augen auf sein Ziel gerichtet, hechtete der Löwe in die Luft. Nur noch wenige Zentimeter trennten die riesigen Pranken und den Geistlichen voneinander, als Roth ausholte.

Mit seiner Hellebarde traf er den Löwen im Gesicht, wodurch er von seinem eigentlichen Ziel abgebracht wurde, aber dennoch mit allen Vieren sicher auf dem Boden landete. Indem er einige Male den Kopf schüttelte, versuchte der Löwe, das Blut, welches ihm aus den Augen lief, abzuschütteln. Vergeblich, denn Roth hatte ihn so getroffen, dass sich ein langer Schnitt, ausgehend von dem linken Auge, quer über den unteren Teil des rechten Auges und die Schnauze verlaufend, über das gesamte Gesicht des Löwen zog. Somit einem seiner wichtigsten Sinne beraubt, wand sich das Tier von Roth und Ethos ab. Es lief auf jenen Ausgang zu, welchen es sich selbst vor dem Angriff von McKenzey freigelegt hatte und war innerhalb weniger Sekunden verschwunden.

Einen lauten Seufzer ausstoßend, schulterte Roth seine Hellebarde, dazu zog er ein Tuch aus seiner Hosentasche, um die Klinge zu säubern.

Ethos stand nach wie vor da, ohne sich zu rühren. Der blutverschmierte Rosenkranz, der an seiner rechten Hand herunterbaumelte, war das einzige, das sich in diesem Augenblick bewegte. Die bläuliche Energie, die kurz zuvor noch durch seinen Körper gewandert war, war verschwunden. Chino hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und sich neben Roth begeben. Zusammen blickten die beiden auf Ethos.

„Was ist mit dem Fänger?“, fragte Ethos.

Einer der Gardisten reagierte recht schnell und griff auf den Boden in die Mitte der übrigen Männer.

„Alles in Ordnung, Pater Turino“, rief er hinüber und hielt eine kleine Kiste nach oben. Es handelte sich um die Schatulle, welche Ethos‘ Mutter gehört hatte.

Niemals wäre der Priester so töricht gewesen, einen echten Fänger so schutzlos zu präsentieren. Die Holzkiste war zwar alt, aber wertlos gewesen. Weder für die Kirche, noch als Antiquariat war sie mehr als ein paar Lire wert gewesen. Der einzige Fänger des Vatikans war sicherer untergebracht, als jeder andere Gegenstand, den die Kirche besaß. Ethos hatte, da es sich um einen persönlichen Gegenstand handelte, nicht nur das Vorrecht, die Schatulle bei sich zu behalten, sondern sah darüber hinaus auch eine gewisse Notwendigkeit darin.

Endlich drehte Ethos sich um, um weitere Instruktionen zu geben.

„Ich möchte zwei Fahrzeuge hier haben. Eines davon sollte groß genug sein, um die Leiche des Dämons unentdeckt unterbringen zu können. Nachdem wir die Leiche entsorgt haben, werden wir auf die Fähre gehen und zurück nach Rom fahren.“ Für einen kurzen Augenblick schaute Ethos zu Chino und Roth hinüber, die ihm beide zunickten. „Und ich möchte, dass das schnell geht“, setzte Ethos hinzu und wand sich erneut dem toten McKenzey zu.

Einer der Gardisten kam auf Roth zu und übergab diesem die Schatulle.

„Passen Sie auf, der Löwe könnte noch immer in der Nähe sein“, erklärte Roth dem Gardisten bei der Gelegenheit. Der Angesprochene nickte, danach verschwand er, zusammen mit den anderen, nach draußen.

Einige Zeit lang passierte nichts. Niemand sagte etwas, keiner bewegte sich.

Dann, als ihn die Anspannung auseinanderzureißen drohte, trat Chino einen Schritt nach vorne, so dass er ebenfalls auf den toten Dämonen sehen konnte. Seine Augen besaßen wieder ihren natürlichen Braunton. Traurig schauten sie auf McKenzey hinab. Zwar empfand Chino keine tiefgreifende Verbundenheit mit dem Dämon, doch er hatte ein zumindest ähnliches Schicksal zu tragen, wie Brooklyn. Nur mit dem Unterschied, dass er sich rechtzeitig dazu entschieden hatte, seine übermenschliche Kraft in den Dienst des Guten zu stellen. Wäre er nicht im richtigen Moment Maria begegnet, hätte genauso gut sein Körper dort liegen können, blutverschmiert und ohne jegliches Leben.
 

„Er wollte sich ergeben“, sagte Chino und rutschte mit dem Rücken tief in den Beifahrersitz.

Ethos erwiderte nichts darauf, sondern schaute stur auf die Straße, welche vor ihm lag. Es war stockfinster, er hatte sich dazu entschlossen, die letzte Fähre zu nehmen. So war es gewährleistet, dass sie im Schutz der Nacht operieren konnten und somit weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden.

Lediglich Chino und Ethos waren losgefahren, um die Leiche des Dämons an einem abgelegenen Teil des Hafens im Meer zu versenken.

Zwar hasste Ethos es, sich hinter dem Steuer eines motorisierten Fahrzeuges wiederzufinden, doch zum gegenwärtigen Zeitpunkt besaß er kaum eine Wahl. Auf dem Rücken eines Pferdes hätte er sich niemals unbemerkt mit der hoch brisanten Fracht fortbewegen können. Dementsprechend wenig Übung besaß der Priester, was sich unmittelbar in seinen Fahrkünsten niederzuschlagen schien und die Fahrt entsprechend holprig machte. Zudem wurde er langsam müde. Es war nicht so, dass er das volle Ausmaß seiner Kräfte hatte auffahren müssen, um McKenzey zu töten, aber wann immer er sich der göttlichen Macht bediente, fühlte er sich hinterher entkräftet und beinahe völlig ausgelaugt.

„Verdammt, Ethos, er war bereit, mit uns zu kooperieren.“

„Stehst du neuerdings wieder auf der Seite deiner Artgenossen?“, fragte Ethos ruhig, während er in eine Kurve fuhr.

Verärgert lehnte Chino sich wieder nach vorne, damit er Ethos in die Augen schauen konnte. Bei den spärlichen Lichtverhältnissen, die durch die vereinzelten Straßenlaternen gegeben waren, kam dies einer kleinen Herausforderung gleich. In seiner blutverschmierten Kleidung und dem streng geradeaus gerichteten Blick sah Ethos aus wie ein Psychopath. Chino hätte darauf schwören können, dass der Priester das Blut seiner Feinde wie eine Trophäe mit sich trug. Wann immer er einen Dämon getötet hatte, hatte Chino beobachtet, dass Ethos seine Kleidung erst mehrere Stunden später wechselte.

„Ich fasse es nicht, dass du mir so eine Frage stellst!“

„Du weißt, wie ich zu Dämonen stehe, die unsere Leute verletzen.“

„Darum geht es also?“ Chino seufzte schwer, dann beruhigte er sich wieder und schaute auf die dunkle Straße. „Natürlich kann ich es verstehen, dass du jemanden, der deine Kollegen verletzt, nicht unbedingt in deiner Nähe haben willst. Aber davon abgesehen, wüssten wir jetzt vielleicht, wo sich Esrada aufhält. Und damit wahrscheinlich auch Maria.“

„Du machst dir immer noch große Sorgen um sie. Das habe ich nicht vergessen.“

„Aber warum hast du denn sein Angebot nicht angenommen? Warum bist du nicht über deinen Schatten gesprungen?“ Die offene Verzweiflung, mit der Chino ihn dies fragte, versetzte Ethos einen Stich in die Brust.

„Es tut mir leid, Chino. Das Risiko war einfach zu groß.“

Anstatt sich darüber zu äußern, lehnte sich Chino gegen das Fenster des Autos und guckte nach draußen. Hinter ihm lag, unter einer Plane, die wenige Stunden zuvor noch eine der Figuren aus dem Museum abgedeckt hatte, die Leiche von Brooklyn und der Geruch des getrockneten Blutes stieg ihm in die Nase.

Chino erinnerte sich daran, wie wenig er selbst einst von Gnade verstanden hatte. Nachdem er sich seinen Wirt ausgesucht hatte, hatte er dessen Praktiken nach der Übernahme noch eine ganze Weile weitergeführt.

Er hatte Menschen in Käfige gesperrt, ihnen tagelang nichts zu essen gegeben und sich dann notiert, wie sich dies auf ihre Psyche ausgewirkt hatte. Die Vorstellung, Angst und Demut bei jemanden auslösen zu können, wann immer es ihm danach verlangte, hatte einen besonderen Reiz auf ihn ausgeübt, dem er sich nicht zu entziehen vermochte. Das war aber nur eines der Nebenprojekte gewesen, die sein Wirt betrieben hatte. Hauptsächlich hatte der Arzt, den er als neuen Körper ausgesucht hatte, nach dem ewigen Leben geforscht. Dies hatte er getan, indem er den gefangenen und gefolterten Menschen mit der Hilfe einer eigens von ihm konstruierten Maschine das Blut aus den Venen gesaugt hatte. Die Überreste hatte er verbrannt. Genau das richtige für einen Dämonen, der Fähigkeiten wie er besaß.

Der Geist eines Menschen war leichter zu verdrängen, wenn dieser sich dem Dämon im Moment der Übernahme ergab. Was wiederum einfacher wurde, je größer die Affinität zum Bösen generell war, gepaart mit den individuellen Verbrechen, die der Mensch zuvor begangen hatte. Eine Vorliebe für Blut, die mit der Annahme einherging, dadurch die eigenen Fähigkeiten zu steigern, war ein Versprechen, das Chino seinem Wirt mit Leichtigkeit hatte machen können. Jedoch ohne ihn vor den anstehenden Konsequenzen zu warnen.

Um die Gedanken, die ihn noch immer quälten, abzuschütteln, suchte Chino erneut das Gespräch.

„Warum hast du deine Klamotten nicht gewechselt, bevor wir losgefahren sind?“

„Es ist das Blut meiner Feinde, nicht das meiner Freunde.“ Für Ethos schien das Thema damit erledigt zu sein. Chino verstand zwar nicht, was ihm der Geistliche damit sagen wollte, doch er beließ es bei dieser knappen Erklärung.

„Du hast mir versprochen, mir bei der Suche nach Maria zu helfen.“

„Ich werde dieses Versprechen auch halten. Nur kann ich nicht auf der einen Seite mein Versprechen dir gegenüber halten und all die anderen, die ich gegeben habe, dadurch brechen.“ Mit einem Mal wirkte Chino überrascht, was auch Ethos zu spüren schien. „Es gibt so viele Menschen, denen ich etwas schuldig bin. Allen voran Artemis. Er hat mir das Leben gerettet. Was soll ich tun? Diesen Dämon aufnehmen und riskieren, dass er uns hintergeht? Würdest du deine Hand dafür ins Feuer legen, dass er beispielsweise Artemis in Ruhe lassen würde, nachdem er einmal gegen diesen im Kampf unterlegen war?“

Ethos schaute kurz zu Chino hinüber. In der Dunkelheit meinte Chino so etwas wie Wehmut in den blauen Augen des Priesters erkennen zu können. Wenig später konzentrierte Ethos sich wieder auf die vor ihm liegende Straße.

„Nein, das würde ich natürlich nicht tun“, seufzte Chino geschlagen.

„Im Grunde genommen ist es ja nicht nur Artemis, mit dem McKenzey noch ein Hühnchen zu rupfen hatte. Du wärst genauso betroffen gewesen.“

Es entstand eine Stille zwischen den beiden, die drückender nicht hätte sein können. Tief in seinem Innersten wusste Chino, dass Ethos Recht hatte, doch er musste die ganze Zeit über an Maria denken. Wahrscheinlich war sie allein und nicht mal in seinen größten Albträumen wollte Chino sich ausmalen, was Blackcage mit ihr machen könnte.

Umso erleichterter war der Spanier, als Ethos endlich in das Hafengelände einbog und einen langen Steg hinunter fuhr, an dessen Ende er das Fahrzeug zum Halten brachte. Zusammen stiegen sie aus, um die Leiche aus dem Auto zu holen.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, wuchteten die zwei den Körper die letzten Meter, damit sie McKenzey im Meer versenken konnten. Zusätzlich hatten sie Steine in die Plane gelegt, um sicherzustellen, dass er auch wirklich auf den Grund sinken würde.

„Ein sehr unwürdiges Begräbnis“, murmelte Chino, während er dabei zusah, wie die Plane langsam vom Wasser verschluckt wurde. „Wie schaffst du das nur immer wieder, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben?“

„Wer sagt, dass ich mit einem reinen Gewissen leben würde?“

Noch während er diese Frage stellte, drehte Ethos sich um und marschierte zurück zu dem Wagen. Chino folgte ihm mit leichten Abstand.

Gerade, als Ethos in den Wagen steigen wollte, hielt er inne und lauschte. Ihm war, als habe er ein Geräusch vernommen. Plötzlich spürte er etwas an den Beinen und als Ethos nach unten schaute, lief ein Strom Katzen an ihm vorbei. Leise schnurrend liefen sie bis an den Rand des Steges, wo sie sich hinsetzten und in ein herzzerreißendes Miauen einstimmten. Immer mehr Katzen bahnten sich ihren Weg nach vorne und rissen die kleinen Mäuler auf.

„Lass uns gehen“, flüsterte Ethos Chino zu, der sich schnellstens daran machte, ebenfalls einzusteigen.

Schweigend fuhren sie zurück zu dem Hotel, um Roth und die Gardisten abzuholen. Ethos wollte so schnell wie möglich zurück nach Italien. Als er auf den toten Dämonen geschaut hatte, war ihm ein Gedanke gekommen. Und wenn er mit diesem richtig lag, wusste er nun, wer der Verräter im Vatikan tatsächlich war.
 

„Musst du denn wirklich schon wieder gehen“, raunte Gemini, als Marylin sich von dem Sofa erhob, um sich anzuziehen.

„Ja. Ich bin zwar frei in dem, was ich tue, aber ich muss mich trotzdem regelmäßig im Vatikan blicken lassen. Es ist zum Kotzen. Als wäre ich ein kleines Mädchen.“

Mit einem lauten Gähnen erhob auch Gemini sich und streckte sich ausgiebig. Dabei rutschte ihr die Decke von dem Oberkörper und entblößte ihre nackten Brüste. Marylin blieb daraufhin kurz stehen und musterte Gemini kurz. Sie selbst hatte sich bereits ihre Unterwäsche übergestreift und war gerade dabei, ihre Hose und die dazugehörige Bluse zu suchen.

Erst als Gemini zur Seite gegriffen und sich ihr Kleid übergezogen hatte, konnte Marylin ihre Augen von der Südländerin lösen.

„Warum bleibst du nicht einfach bei mir?“, flüsterte Gemini der Blondine ins Ohr und legte ihre Hände auf dessen Schultern. „Du kannst doch auch hier schlafen. Ist bestimmt angenehmer, als zwischen den ganzen Priestern.“

„Ach, mach dir da mal keine Sorgen. Die einzigen beiden, die mit mir geredet haben, sind nicht anwesend.“

„Fühlst du dich da nicht alleine?“

„Nicht mehr als sonst. Wie du ja jetzt weiß, kann ich Männern ohnehin nichts abgewinnen.“

„Wo sind die beiden denn?“

Gemini hatte ihre Hand in die von Marylin gelegt und führte sie zu dem Wohnzimmertisch. Dort setzten sich die beiden und Marylin zog ihre restlichen Klamotten an.

„Auf irgendeiner Mission. Sie wurden beide ungefähr gleichzeitig losgeschickt, aber wohin, das weiß ich nicht. Ist mir aber auch egal. Wir wollen uns doch nicht über Priester unterhalten oder?“

Gemini legte daraufhin ein wohlwollendes und gewinnendes Lächeln auf.

„Nein, das wollen wir nicht. Ich mache mir nur etwas Sorgen um dich. Du hast mir ja jetzt schon öfters davon erzählt, wie allein du dich hier in Italien fühlst. Ich möchte nicht, dass du traurig bist.“

Wieder fasste Gemini nach Marylins Hand und streichelte langsam über ihren Handrücken. Auch Marylin konnte sich nun zu einem Lächeln durchringen.

„Jetzt bin ich ja nicht mehr alleine, ich habe ja dich.“

Sie beugte sich noch einmal vor, um Gemini einen Kuss zu geben, dann erhob sich Marylin, damit sie die Wohnung der Zigeunerin verlassen konnte. In der Eingangstür blieb sie noch einmal stehen.

„Wann werde ich dich wiedersehen?“, fragte Gemini und legte einen Schmollmund auf.

„Bald. Sehr bald“, antwortete Marylin, dann war sie in der Gasse und zwischen den vielen Touristen verschwunden.

Gemini blieb noch einige Zeit gegen den Türrahmen gelehnt stehen und blickte der Polizistin hinterher. Dann ging sie zurück in ihre Wohnung. Dort sammelte sie einige ihrer Bücher zusammen, um diese draußen zu verkaufen. Hoffentlich würde sie die nächsten Tage endlich wieder mehr Umsatz machen können. In der letzten Zeit hatte sie sich zu sehr anderen Dingen gewidmet, anstatt sich darauf zu konzentrieren, wie sie ihre nächste Miete würde bezahlen können. Sie konnte es sich nicht leisten, unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Marylin hingegen trottete die Hauptstraße entlang, völlig in ihre eigenen Gedanken versunken.

Innerlich war sie hin und her gerissen. Einerseits freute sie sich darüber, eine neue Bekanntschaft gefunden zu haben, mit der sie sich von ihrer Einsamkeit ablenken konnte, andererseits war ihr nicht entgangen, dass Gemini sehr viele Fragen stellte. Das Interessante daran war, herauszufinden aus welchem Grund sie das tat. Nur zu gern wollte Marylin glauben, dass es wirklich reines Interesse an ihrer Person war. Immerhin hatte Gemini sie bisher weder angegriffen, noch zu sehr dazu gedrängt, etwas von ihren Kontakten im Vatikan preiszugeben. Trotzdem sollte sie auf der Hut bleiben. Doch der Wunsch, endlich mit jemanden reden und sich beschäftigen zu können, war inzwischen so stark in ihr herangereift, dass sie nicht umher kam, sich zu der Zigeunerin hingezogen zu fühlen.

Marylin war so sehr mit sich und ihren Überlegungen beschäftigt, dass sie nicht bemerkte, wie eine Pferdekutsche an ihr vorbeizog. Hätte sie genauer hingesehen, hätte sie das Logo des Vatikans darauf erkennen können.

Im Inneren der Kutsche befand sich Prälat Nikolas, er war gerade auf dem Weg von seinem Arzt zurück in den Vatikan. Ebenfalls schwer mit sich selbst beschäftigt, schaute er auf das Stück Papier, das der Arzt ihm mitgegeben hatte. Nikolas konnte sich nicht innerhalb des Vatikans untersuchen lassen, da die dort praktizierenden Ärzte nichts für ihn tun konnten. Dafür war sein Leiden bereits zu fortgeschritten. Bald hatte er allerdings feststellen müssen, dass kein Arzt der Welt noch etwas für ihn zu tun vermochte.

Mit zitternden Händen ging er noch einmal jeden einzelnen Buchstaben durch, als könne er allein dadurch ändern, was dort niedergeschrieben stand. Schwer seufzend ließ der Prälat das Papier sinken, dazu rieb er sich über das Kinn. Sein Blick wanderte nach draußen. All die jungen Menschen, die dort umherliefen, sorgenfrei und nicht den geringsten Gedanken daran verschwendend, was das Alter irgendwann mit sich bringen würde. Einmal war er wie sie gewesen, doch das lag lange zurück. Draußen hörte Nikolas eines der Pferde schnauben. Das Klappern der Hufe beruhigte ihn, besser als der laute Motor der Autos, die sich immer stärker ihren Platz auf den Straßen sicherten.

Ein letztes Mal schaute Nikolas auf das Blatt herunter.

Plötzlich ertönte ein lauter Knall.

Die Pferde begangen zu scheuchen und wenig später durchzugehen.

Der Kutscher wurde von seinem Sitz geschleudert und schlug, einige Meter entfernt, auf dem Kantstein auf. Sofort stoben die Touristen auseinander, einige von ihnen schreiten in heller Panik aufgrund des Feuerballes, der sich mitten auf der Straße gebildet hatte.

Marylin wurde, da die Druckwelle sie erfasste, ebenfalls von den Füßen gerissen. Als sie sich wieder aufrichten konnte, sah sie auf ein brennendes Gefährt, von dem sich die Pferde gelöst hatten und in blinder Panik durch die Masse preschten. Irgendwo hinter der Menschenmasse, die sich angesammelt hatte, hörte sie, wie jemand die Tiere einfing und zu beruhigen versuchte.

Menschen liefen an ihr vorbei, in der Ferne ertönte eine Sirene.

„Geht es dir gut? Ist alles mit dir in Ordnung?“ Nach und nach drangen die Worte in Marylins Kopf. Sie brauchte einige Zeit, um sich zu orientieren. Ihr Blick wanderte nach oben und sie sah, dass Gemini sich neben sie gekniet hatte und sie panisch aus großen dunklen Augen anstarrte. „Ist dir etwas passiert?“

„Nein, es geht schon…“

Langsam richtete Marylin sich auf.

Ohne auf die Beruhigungsversuche von Gemini einzugehen, schritt sie auf die Kutsche zu. Eine Explosion hatte sie völlig zerrissen.

Hoffentlich hat sich niemand darin befunden, dachte Marylin bei dem Anblick des zersprengten Gefährts. Die Chance, solch eine Explosion zu überleben, war mehr als gering.

Einige Polizisten waren gerade dabei, die eingetroffene Feuerwehr zu unterrichten. Noch war der Bereich nicht abgesperrt, weshalb Marylin sich ungehindert bücken und eine der Holzlatten aufsammeln konnte, die noch nicht von dem Feuer zerstört worden waren.

Sie erkannte das Logo, welches sich auf dem Holz befand, sofort.

Die Welt um sie herum schien aufzuhören, sich zu drehen. Langsam ließ Marylin das Holz wieder sinken und auf den Pflasterstein fallen. Mit leeren Augen drehte sie sich zu Gemini, die etwas abseits stand und besorgt zu ihrer Freundin hinüber schaute.

„Ich glaube, es wäre gar keine so schlechte Idee, wenn ich erst einmal bei dir bleiben würde.“

Sofort kam Gemini Marylin zur Hilfe, als diese einzuknicken drohte.

Als sie auf dem Boden saß, die Arme der Zigeunerin um sich geschlungen, realisierte Marylin erst, was gerade passiert war.

Irgendjemand, der im Vatikan arbeitete, war gerade ermordet worden. Die Explosion war ein Attentat gewesen, da war sie sich sicher. Die Frage war nun, wo sie sich noch sicher fühlen konnte. Sie wusste zwar nicht, wer oder was sich in der Kutsche befunden hatte, doch das war im Grunde genommen auch egal.

Vorsichtig legte sie ihre Hand auf die von Gemini, welche ihr beim Aufstehen half.

„Komm mit zu mir, ich mache dir erst einmal einen Tee“, redete Gemini auf Marylin ein, um sie vor den anrückenden Polizisten abzuschirmen. „Mit denen kannst du später noch reden, erst einmal ist es wichtig, dass du dich wieder beruhigst.“

Da sie nach wie vor unter Schock stand, ließ Marylin sich von Gemini ohne Widerstand von dem Tatort weg führen. Die Polizisten stürzten sich somit auf andere Passanten, die sie zu der Explosion befragten. Zufrieden schaute Gemini über ihre Schulter. Falls Marylin doch noch vorhaben sollte, sich mit den Beamten in Verbindung zu setzen, hatte sie sich zumindest einen Vorsprung verschaffen können.
 

„Es ist einfach nicht fair! Wie konntest du nur! Du bist die widerwärtigste Kreatur, welcher ich jemals begegnet bin!“ In einer Mischung aus Zorn und Trauer stürmte Hildegard auf Blackcage zu. Um sie herum hatten sich einige Schatten gebildet, deren Köpfe fast genauso hohe Schreie ausstießen wie die, die Hildegard dem schwarzhaarigen Dämonen entgegenbrache. Ihre Augen glühten rot, als sie kurz davor war, Blackcage anzugreifen. Dieser blieb gelassen stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und wartete darauf, dass die Dämonin vor ihm zum Stehen kam. „Du warst derjenige, der sich darum kümmern sollte! Nicht Brooklyn!“

Zusätzlich zu der roten Färbung waren Hildegard Tränen in die Augen gestiegen, die ihr die Sicht nahmen. Anstatt Blackcage mit all dem Groll und der Abneigung, welche sie für diesen empfand, anzugreifen, blieb sie auf halben Wege stehen und brach in sich zusammen.

Mehrfach schlug sie mit der Faust auf den Boden, wodurch dieser an einigen Stellen einzureißen begann. Voller Zufriedenheit schaute Blackcage zu Hildegard hinunter.

Auf diese Art der Erniedrigung hatte er eine halbe Ewigkeit warten müssen. Und er würde sie in vollen Zügen genießen, so viel stand fest.

„Aber, liebste Hildegard. Wäre Brooklyn stärker gewesen, hätte er auch als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen können.“

„Du wusstest, dass Ethos vor Ort sein würde. Und nicht Artemis.“

„Vielleicht“, raunte Blackcage beiläufig, während er auf Hildegard zuschritt. „Vielleicht aber auch nicht. Wer will mir das nachweisen?“

„Du wirst schon sehen, was du davon hast“, knurrte Hildegard und kam wieder auf die Beine. Mit einem schnellen Sprung stand sie plötzlich vor Blackcage. Dieser schaute sie verwundert an, doch da hatte sich bereits Hildegards Hand um den Hals des Dämons geschlossen. Die Wut, welche sie gerade verspürte, ließ Hildegard die Kehle von Blackcage so stark zusammen drücken, dass dieser keine Luft mehr bekam.

Mit Genugtuung erkannte sie, dass er sie voller Angst anstarrte. Um sich aus dem Griff befreien zu können, legte Blackcage seine Hände um die von Hildegard. Doch noch bevor er dazu in der Lage war, einen seiner Feuerbälle zu formen, spürte er, wie sämtliche Kraft aus ihm zu weichen schien.

Seine Haare verfärbten sich plötzlich, das kräftige Schwarz wich aschfarbenen Grau. Die straffe Haut alterte mit jeder Sekunde, bis sie in losen Falten von seinen Knochen herunter hing, Muskeln und Sehnen bildeten sich zurück, so dass sie nicht einmal mehr das Eigengewicht des Dämons tragen konnten. Die vorher noch so selbstsicheren Augen verschwanden nahezu in dem immer stärker hervortretenden Schädel.

Ein zufriedenes Lächeln auflegend, sah Hildegard ihrem Widersacher direkt in die Augen. Die Schatten, die sich um sie herum gebildet hatten, kamen immer näher und drohten, sie zusammen mit Blackcage aufzufressen.

„Hildegard! Hör‘ sofort auf!“

Von dem wütenden Ruf aufgeschreckt, ließ Hildegard Blackcage los.

Dieser rutschte auf den Boden, innerhalb weniger Sekunden war sein jugendliches Aussehen zurückgekehrt. Schwer keuchend richtete sich der Dämon wieder auf.

Währenddessen blickte Hildegard abschätzend zu Esrada hinüber. Noch immer standen ihr Tränen in den Augen. Die rote Farbe war allerdings aus ihnen heraus gewichen.

„Warum ist Nathan hiergeblieben, während Brooklyn gegen Ethos kämpfen musste?“

„Seit wann muss ich mich dir gegenüber erklären“, erwiderte Esrada kühl und kam einige Schritte auf die beiden anderen Dämonen zu. „Außerdem wusstet ihr, dass es gefährlich werden würde, für mich zu arbeiten.“ Hildegard wusste nichts darauf zu erwidern. Als der mächtige Dämon genau vor ihr zum Stehen kam, atmete sie tief ein. Sie wollte keine Schwäche vor ihm zeigen. Noch weniger, als vor Blackcage. „Ich will, dass du Brooklyns Löwen wieder einfängst. Er läuft immer noch frei herum und ich will nicht, dass er von den Priestern gefunden wird. Hast du das verstanden?“

„Ja“, antwortete Hildegard knapp und presste ihre Lippen aufeinander.

Der Hass, den sie für jeden einzelnen in dieser Gruppe aus Dämonen verspürte, wuchs in ihrem Herzen wie ein Samen, der vor langer Zeit in dieses eingepflanzt worden war. Jede Sekunde, die sie mit Esrada oder Blackcage verbrachte, war wie Nahrung für diesen Hass, dessen Früchte sie schon bald ernten würde. Dass sie ihren Mann verloren hatte, hatte das Fass nun zum Überlaufen gebracht. Eigentlich hatte sie vorgehabt, mit Brooklyn zusammen ihre Schwester ausfindig zu machen und sich dann still und heimlich davon zu machen. Selbst wenn Esrada sie hätte ausfindig machen können, wusste Hildegard um die Macht, welche in ihr schlummerte. Selbst andere Dämonen fürchteten ihre Fähigkeiten.

Ein Duell gegen Esrada und Blackcage zur gleichen Zeit, möglicherweise mit der Gefahr, dass sich auch Kyro einmischen würde, wäre jedoch selbst für sie zu schwer einzuschätzen, als dass es einen Versuch wert gewesen wäre. Alle Pläne, die sie bisher geschmiedet hatte, hatten auf Geduld und Vorsicht basiert.

Diese Geduld war nun, mit dem Tod von Brooklyn, an ihrem Ende angelangt.

Da ihre Gedanken zurück in die traurige Gewissheit fanden, dass sie Brooklyn niemals wiedersehen würde, wand Hildegard sich von Esrada ab und entfernte sich. Sie würde nun den letzten Auftrag für diesen ausführen, denn auch ihr lag etwas daran, Leo zurückzuholen.

„Ach ja“, rief Blackcage Hildegard hinterher, die schon fast zur Tür hinausgegangen war. „Deine Schwester… Sie ist wirklich ein süßes Ding. Schade, dass ich ihr wehtun musste, aber ich glaube, sie hat es auch gar nicht anders gewollt.“

Ein leises Knurren ausstoßend, zog Hildegard die schwere Tür hinter sich zu. Ihre Augen glühten bereits erneut vor Raserei. Und diesmal würde sie diese nicht mehr herunterkämpfen.



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