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Berlin macht das Leben auch nicht leichter

von

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Als ich endlich am Bahnhof ankam, hatte ich das Gefühl, stundenlang gelaufen zu sein. Meine Beine waren schwer wie Blei. Auf dem Weg hatte ich noch zwei Mal die Ameisen in meinem Mageninhalt ersäuft. Doch jetzt fühlte ich mich dafür wenigstens ein bisschen besser. Das schlimmste war definitiv überstanden. Es war mittlerweile halb 4. In Spandau war es nicht wie im Rest Berlins. Die Straßen waren ruhig um diese Uhrzeit mitten in der Woche. Hier standen die meisten Menschen tatsächlich morgens auf um arbeiten zu gehen. Nur ein paar wenige mehr oder minder lautstark Gröhlende irrten noch durch die Straßen.
 

Kalter Novemberwind kündigte den Winter an und drang durch bis zu meinen Knochen. Beschissen kalt. Vielleicht sollte ich auf dem Heimweg doch noch einen heben, um nicht zu erfrieren. Miese Idee. Schon bei dem Gedanken daran wurde mir wieder schlecht. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich keine Jacke dabei hatte. Nicht mehr. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Typ im Ballhaus damit jetzt gerade meine Kotze vom Boden aufwischte, war wohl ziemlich hoch. Ich war klitschnass. Shit. Nach Hause. Einfach nur nach Hause. Es nützte ja nichts. Meine Beine trugen mich widerwillig weiter bis zur Tür des Sbahnhofs. Bis vor ihre Füße. Dort, direkt vor den schweren Eingangstoren, saß eine Gestalt unter dem Schutz der Markise des noch geschlossenen Bäckerladens. Mitten in der erbarmungslosen Kälte dieser Nacht, nur mit einer dünnen Lederjacke bekleidet, hatte sie es sich auf einer Decke bequem gemacht und spielte Gitarre. Leise und wunderschön.
 

Ich hatte den Song noch nie zuvor gehört, doch die Melodie nahm mich voll und ganz ein. Sanft schlug sie die Saiten an und lies jeden Ton wie einen Zauber in der Dunkelheit verklingen. Die Dose vor ihren Füßen lud zur Spende ein und erst jetzt bereute ich den Verlust meiner Jacke richtig. Nicht mal einen Pfennig hatte ich dabei, obwohl ich ihr so gern diesen Gefallen getan hätte. Stattdessen lauschte ich nur fasziniert dem Klang ihres Instruments und wippte die Hände in den Hosentaschen im Takt vor und zurück. Die Musik durchfloss mich wie ein Strom und ich schloss die Augen, um den jeden Ton in mich aufzunehmen. Wenn man beschwipst war, funktionierte das. Richtig gut sogar.
 

Das Frösteln hatte aufgehört. Nachdem die letzten Töne erklungen waren, hatte sie mich noch nicht bemerkt. Vertieft in ihr Spiel, hatte sie stumm auf den Boden gestarrt und so ihr Gesicht hinter den langen braunen Haaren vor mir versteckt gehalten. Jetzt blickte sie auf und sah mich verwundert an. Immer noch fasziniert starrte ich sie an und merkte nicht, wie seltsam das wohl auf die Brünette wirken musste. Akute Bewegungslosigkeit in Kombination mit dümmlichem Gestarre machte wahrscheinlich keinen besonders guten Eindruck. Ich stand da wie ein Trottel. Skeptisch fragend hob sie eine Augenbraue. „Alles okay?“ Ihre Stimme riss mich aus meiner Starre. „Ähm...ja. Ick meine...“ Rumgetrukse. Ja, sie musste mich für einen Idioten halten. Eindeutig.
 

„Dat war echt spitze.“, brachte ich schließlich doch noch heraus. „Danke.“ Ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. „Wat warn dat fürn Song? Sollte man den kennen?“ „Nee. Hab ick selbst geschrieben.“ „Ehrlich?“ „Jup. Stammt ganz allein aus meiner Feder.“ Jetzt wurde ihr Grinsen noch breiter. Wäre es hell genug gewesen, hätte ich sicher Stolz in ihren Augen blitzen sehn. Ich wollte ihr nun noch ein paar Komplimente machen. Hatte man einmal damit angefangen, ging es ganz leicht von der Hand. „Echt ne klasse Nummer. Du ick würd dir ja echt gern bisschen Kohle da lassen, aber ich hab grad gar nix dabei. Hab meine Jacke liegen lassen und da war dat drin.“ „Macht nix. Vielleicht ja ein anderes Mal.“
 

„Du sitzt wohl öfter hier rum was?“ „Mh. Ist doch gemütlich. Und vorallem trocken.“, schmunzelte sie mit einem Blick auf meine Haare, welche mir triefend ins Gesicht hingen. Es regnete immernoch wie aus Eimern. War inzwischen aber auch egal. Ich war sowieso schon nass bis auf die Knochen. Versucht lässig fuhr ich mir durch meine Matte. Hätte ich lassen sollen. Durch die Tonnen an Haarspray gemischt mit der Feuchtigkeit hatte ich nur noch ein fitziges Etwas auf dem Kopf. Meine Finger verhakten sich und ich brach die coole Geste ab. „Dat is halb so wild. Wollte sowieso grad nach hause.“ „Wo solls denn hingehn?“ „Charlottenburg.“ Die Brünette lachte kurz auf und widmete sich ihrer Blechbüchse. „Da wirste wohl noch ein bisschen brauchen wa? Die nächste Bahn fährt doch erst in ner halben Stunde, wenn ich mich nicht täusche.“ Oh nein, es war Mittwoch. Mittwochnacht. Sie hatte Recht. Ich versuchte mir auszurechnen, wann ich wohl zu Hause sein würde und kam zu dem Ergebnis, dass Berufsschule heute eindeutig nicht mehr drin war.
 

„Mach dir nix drauß. Mein Bus fährt auch erst um 4.“ „Können wer uns ja zusammen bisscken die Zeit vertreiben.“ Sie unterbrach die Geldzählerei und warf mir einen amüsierten Blick zu. „Soll dat ne Anmache sein?“ „Nee! Wieso denkt ihr Mädels immer gleich um die Ecke. Ick bin en anständiger Junge.“ „Dat habt ihr Männer euch schon selbst zuzuschreiben.“ „ Du hast doch damit angefangen. Dat sind deine unanständigen Gedanken.“ Mit einem herausfordernden Grinsen stand ich ihr gegenüber. „Na wenn dat so is, kannste dich gern zu mir setzen, wenn de dich traust.“ Das Angebot schlug ich nicht aus. Ein bisschen Unterhaltung würde die Wartezeit verkürzen. Außerdem minderte es die Gefahr, wieder einzuschlafen und die Bahn zu verpassen. Ich setzte mich neben die Brünette auf die Decke, lehnte mich gegen die Wand und streckte meine Beine aus. War sogar ganz bequem. Wer hätte das gedacht. „Schöne Gitarre.“, bestaunte ich das tiefschwarze Instrument in ihren Armen. „Is vom Flohmarkt. Ziemlich ramponiert, aber sie erfüllt ihren Zweck.“ Das tat sie allerdings. Davon hatte ich mich vor wenigen Minuten selbst noch überzeugen können. Mir fiel auf, dass die Straßen jetzt abgesehen von ein paar vorbeifahrenden Autos fast leer waren. Wie ihre Sammelbüchse. „Sag ma, wieso spielst du eigentlich hier mitten in der Nacht? Hier is doch kein Schwein. Meinste nich, da gibtet bessere Plätze für?“ „Na sicher. Bin hier eigentlich auch gar nich so richtig zum Geld machen. Eine schlaflose Nacht. War gerade in der Nähe und hab den letzten Bus verpasst. Ich hatte keine Lust im Regen zu laufen. Meine Gitarre hab ich eh fast immer dabei.“ „Und da haste dir gedacht, setz ich mich vorn Bäckerladen in Spandau und schau ma, ob die Straßenlaternen bisschen Kleingeld über haben.“ „Hey nich so sarkastisch. Schau, ich hab immerhin 10 Pfennig verdient. Hättest du deine Jacke nich liegen lassen, wäre es sogar noch mehr geworden.“
 

„Und wo spielste sonst so?“ „Manchmal fahr ich zum Kudamm. Is mir aber meistens zu weit. Außerdem dauert es da oft ne lange, bis se dich vertreiben, weil deine Musik scheinbar eine Belästigung der Schönen und Reichen is. Dann spiel ick lieber hier. Also nachmittags dann. Kann man ganz jut verdienen.“ „Dat Kudamm-Problem kenn ick. Die Ordnungsfuzis kennen uns mittlerweile schon beim Vornamen.“, grinste ich fast stolz über diesen kleinen Anflug von Rebellismus und bemerkte daher zunächst ihren überraschten Blick nicht. „Du machst auch Musik?“ „Mh. Ick spiel Schlagzeug in ner Band. Also jedenfalls so wat ähnliches wie ne Band. War

bis vor kurzem noch bei Soilent Grün. Weiß nich, ob de die kennst. Haben uns aufgelöst. Mein Kumpel Jan und icke sind gerade dabei, ne neue Band auf die Beine zu stellen.“ „Und wat spielt ihr so? Sing ma wat!“
 

Damit hatte ich nicht gerechnet. Doch es lag wohl am Alkohol, dass ich mich darauf einlies. Ich war einfach immer noch betrunken genug. Fröhlich stimmte ich zu Mr. Sexpistols ein. Der Song war gerade erst geboren und ich war nicht nüchtern genug, alle Textteile abrufen zu können. Lücken füllte ich mit begeistertem „Lala“. Als ich fertig war, blickte ich der Brünetten erwartungsvoll in ihre grünen Augen. „Is dat Popmusik, was ihr macht?“ „Kann schon sein. So genau wissen wer dat selber noch nich.“ Das fand sie scheinbar komisch. Ihr Lachen verunsicherte mich. „War dat jetzt so schlimm?“ Sie sah meinen überforderten Blick und legte mir eine Hand auf den Arm. „Nee keine Angst. Ick glaube sogar, dass du eine echt tolle Stimme hast.“ „Du glaubst?“ Ich sah, wie die Brünette kurz überlegte. „Lass uns mal bisscken zusammen spielen. Ist eh noch viel Zeit totzuschlagen. Ick spiel Gitarre und du singst.“ Ich wusste zwar nicht so wirklich, ob ich jetzt gekränkt sein sollte, weil sie mich ganz offensichtlich ausgelacht hatte, doch die Idee fand ich gut.
 

„Wat spielste?“ „Die Beatles? Let it be?“ „Wat! Oh gott nee bitte nich!“ Schon aus der Übung der heutigen Nacht heraus, machte ich ein perfektes Würgen nach. „Ick kann leider nich so viel. Die meisten Songs, die ick spiele, sind meine eigenen. Jetzt stell dich nich so an Mensch!“ Sie puffte mir mit dem Ellenbogen in die Seite. „Is kein Mensch auf der Straße. Ich erzähls auch keinem versprochen.“ Den letzten Satz flüsterte sie mir ins Ohr und ein Schauer zog meinen Rücken entlang und hinterlies eine Gänsehaut auf meinen nakten Armen. Wer konnte da schon nein sagen. „Najut. Aber dat bleibt ne einmalige Angelegenheit.“ Mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht fing sie an zu spielen. Und ich sang. Natürlich nur den Refrain. Der Strophentext wäre beim besten Willen zu viel verlangt gewesen. Vor meinen Augen tauchte immer wieder Jans selbstzufriedenes Grinsen auf. Wie gut, dass ich heute ohne ihn unterwegs war. Das hätte der mir ewig unter die Nase gerieben.
 

Wir hatten gerade ein paar Songs gespielt, als sie plötzlich aufsprang, ihre Gitarre umhängte und hektisch ihren Kram zusammenpackte. „Scheiße!“ Ungläubig schaute ich mit großen Augen zu ihr auf. „Wat hattn dich gestochen?“ „Mein Bus!“ Und tatsächlich stand dieser wirklich schon an der Ampel vor der Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite. „Oh.“, murmelte ich überfordert. „War lustig mit dir. Machs gut!“ Dann fing sie schon an, über die Straße zu rennen. „Ja aber...“. Fragend hielt ich eine Hand in die Luft, doch es war zu spät. Keine 10 Sekunden später war sie im Bus verschwunden. Vollkommen perplex saß ich plötzlich allein auf ihrer Decke. Die hatte sie vergessen. Ich kannte nicht mal ihren Namen. Einen Moment lang war ich mir nicht einmal sicher, ob das eben gerade wirklich passiert war. Dann kam mir ein Gedanke und ich sprang auf wie die Brünette wenige Augenblicke zuvor. Es war um 4. Meine Bahn. Schon auf dem Weg in die Eingangshalle machte ich noch einmal kehrt und kramte ihre Decke zusammen. Eigentlich ziemlich überflüssig. Ich würde sie wohl sowieso nicht wiedersehen. Ein wenig betrübt und doch voller Vorfreude auf mein Bett, rannte ich die Treppen nach oben, sprang in die Sbahn, als sich die Türen schon schlossen und lies Spandau hinter mir.



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