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Der letzte Wunsch des alten Mannes

von

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Der letzte Wunsch des alten Mannes

„Großvater wird bald sterben.“
 

Regen prasselte auf das Autodach. Natalie blickte stur geradeaus, fixierte einen Punkt jenseits der hin und her huschenden Scheibenwischer. Die Luft gefror.
 

„Ich weiß, du hasst ihn, aber er wünscht sich so sehr, dass du ihn am Sonntag noch einmal besuchst. Ein letztes Mal. Danach hast du deine Ruhe.“ Annas Stimme kämpfte gegen die aufkommenden Tränen.
 

Natalie reagierte nicht. Ihre Schwester bog in die Seitenstraße ein, parkte vor ihrem Elternhaus. Das Trommeln des Unwetters wurde immer lauter. Anna sah ihre Zwillingsschwester stumm weinend von der Seite an. Aber Natalie zeigte keinerlei Rührung, schnallte sich ab, legte die Hand auf den Türöffner.
 

„Geh’ du an meiner Stelle, wenn es so wichtig ist. Er wird es nicht merken.“
 

Damit stieg sie aus. Die Tür knallte.
 

*
 

Am Sonntag stand Anna vor der Haustür ihres Großvaters. Sie sah sich um. Natalie würde nicht mehr auftauchen. Ihr Herz war bleischwer bei dem Gedanken. Früher hatten sich die drei so gut verstanden. Er hatte ihnen ganz nach Großvaterart Geschichten vorgelesen, bei den Hausaufgaben geholfen, Drachen gebaut und das Gospielen beigebracht – eine Leidenschaft, die sie bis heute gemeinsam hatten. Aber Natalie schien das alles vergessen zu haben. Natalie hatte ihren Opa aus dem Herzen verbannt. Für sie war er nur noch ‚der alte Mann’.
 

Anna hielt den Atem an, als sie das vertraute Wohnzimmer betrat. „Hallo.“

„Ich habe gedacht, du würdest nicht kommen, Natalie.“

Anna konnte nichts erwidern. Der Kloß in ihrem Hals war übermächtig.

Auf dem Wohnzimmertisch stand das edle Kirschholzbrett. Anna schob den Rollstuhl des Alten näher heran.

„Spielen wir eine Partie.“

Anna hob die Deckel der rundbäuchigen Holzschalen ab. Die weißen Perlsteine blinkten ihr entgegen. In der zweiten Dose warteten die schieferschwarzen Steine auf ihren Einsatz. Der letzte Wunsch dieses Mannes war eine einfache Go-Partie. Etwas so simples. Sie kämpfte erneut gegen die Tränen. Ihr Großvater sollte denken, dass Natalie wenigstens das noch für ihn übrig hatte.
 

Sie atmete tief ein, nahm den ersten Stein zwischen Zeige- und Mittelfinger. Das leise Klacken des Steins auf dem Holz signalisierte dem Großvater, dass das Spiel begann.

„Sechzehn-sechzehn.“, sagte Anna.
 

Go war eine der wenigen Leidenschaften, die ihm die Blindheit nicht vollständig genommen hatte. Er sah das Brett mit seinen neunzehn mal neunzehn Linien und den dreihunderteinundsechzig Schnittpunkten vor seinem inneren Auge. Die Züge tauschten sie in Koordinatenform aus.
 

Geduldig wartete Anna jeden Zug ab, setzte die Steine behutsam auf die angesagten Punkte. Mehrmals sah sie zu ihm auf, blickte in die grauen Augen und fragte sich, wie schlimm es wohl sein musste, nichts mehr sehen zu können. Sie war froh, diesem unzufriedenen Mann, der in seinem Leben so viel durchgemacht hatte, eine letzte Freude gönnen zu können – wenn Natalie schon zu erkaltet dafür war. Es war einer der wenigen Momente im Leben, in dem sie dankbar für die gottgegebene Ähnlichkeit war.
 

Tack. Tack. Tack.
 

Das Brett füllte sich langsam mit schwarzen und weißen Steinen. Ihr Großvater spielte noch immer wie ein alter Meister. Er griff mit taktischer Rafinesse ihre Stellungen an. Anna versuchte, den Konflikt weitgehend friedlich abzuwenden.

„Zwölf-drei“, säuselte sie und wollte den Stein setzen.
 

„Es reicht Anna.“

Stille trat ein und schmeckte so bitter, wie der Tee den Großvater immer trank. Der Kloß in Annas Hals hinderte sie am Sprechen. Sie war aufgeflogen. Wie sollte sie Natalie entschuldigen? Wie sollte sie sich selbst entschuldigen? Sie hatte ihn betrogen.

Anna erhob sich zitternd, um Worte ringend, die Hände zu Fäusten geballt.
 

„Anna wollte nicht, dass du enttäuscht wirst, alter Mann.“
 

Wie gebannt starrte Anna zur Tür. Natalie stand dort - mit unwilliger Miene.

„Lass uns nun spielen!“ Ohne weitere Umschweife schritt sie auf den Tisch zu, schob die gespielten Steine lautstark in die Schalen zurück. Anna machte ihren Platz frei und stand noch immer zitternd und gefangen zwischen Verzweiflung und Überraschung daneben.

„Fang an.“

Natalie griff nach den schwarzen Steinen. Wie lange hatte sie nicht mehr ernsthaft gespielt? Aber sie würde sich anstrengen. Verlieren kam nicht in Frage.

„Sechzehn-siebzehn.“, verkündete sie mit fester Stimme und setzte ihren schwarzen Stein laut auf den Schnittpunkt.
 

So warfen sie sich die Züge an den Kopf. Anfangs sah Natalie immer wieder auf die Uhr. Das hier war nur ein Zugeständnis an die Menschlichkeit. Eine Beruhigungstablette für ihr Gewissen. Und für das ihrer Schwester.
 

Tack. Tack. Tack.
 

Je weiter die Partie voranschritt, umso weniger dachte Natalie an andere Dinge. Ihr Blick war hochkonzentriert auf das Spielfeld gerichtet. Sie rechnete vor jedem Zug ihre Möglichkeiten aus, schätzte den Punktestand, taktierte und zog mit viel Selbstsicherheit. Eines musste sie dem alten Mann lassen – er spielte noch immer sehr gut. Damals war sie ihm immer weit unterlegen gewesen. Heute hatte sie die letzte Chance, ihm etwas zu beweisen. Auf dem Go-Brett würde er sie nicht herum schubsen wie ein Dienstmädchen.
 

Auf seine Angriffe reagierte sie mit Gegenangriffen. Aggressiv verteidigte sie ihre Stellungen, griff seine an; Stein für Stein kämpfte sie um jeden einzelnen Punkt. Immer komplizierter wurde das schwarz-weiß Muster auf dem Kirschholzbrett.
 

Tack. Tack. Tack.

Die Partie war ein kunstvoller Kampf voller Eroberungen, Rückschläge und Täuschungsmanöver, wie sie ihn seit Jahren nicht gesehen hatte. Siegeswille glänzte in ihren Augen. In den Augen des alten Mannes glänzte gar nichts. Der Gedanke daran, dass dieser Mann sich das ganze Spielbrett nur anhand seiner Vorstellungskraft sichtbar machte, forderte ihren Respekt. Sie schloss einen Moment lang die Augen, um es selber auszuprobieren. Sie kniff die Augen zusammen. Unmöglich!
 

Tack. Tack. Tack.
 

Die Zeit hatte sie ganz vergessen. Schließlich bauten sie gerade das Universum. Und es war verdammt knapp. Ihre linke Hand hatte sich fest in das Kissen verkrallt, auf dem sie saß. Es musste doch noch irgendwo einen Punkt geben, den sie sichern konnte.
 

Tack. Tack. Tack.
 

Schließlich waren alle Gebiete sauber voneinander abgetrennt. Neutrales Territorium existierte nicht.

 

„Ich passe.“

„Zähle die Punkte!“

Natalie kam gar nicht darauf, sich über das fehlende ‚Bitte’ aufzuregen. Sie war zu gefesselt von der Frage, wer den Sieg davongetragen hatte.

Ihre verschwitzten Finger hinterließen feucht glänzende Abdrücke auf den Steinen, die sie auf dem Brett herum schob, während sie die Punkte berechnete.
 

„Sechsundsechzig zu vierundsechzigeinhalb. Schwarz gewinnt.“, flüsterte Natalie. Das Bild des Spielfeldes brannte sich in ihr Gedächtnis.

„Ich bin froh, dass du noch gekommen bist.“

Langsam hob sie den Blick, starrte den Alten ungläubig an.

„Und ich bin stolz auf dich, du hast klug gekämpft und gesiegt!“

Natalie blieb sprachlos. Das waren seit sechs Jahren die ersten netten Worte, die sie aus dem Mund dieses Mannes hörte.

„Du darfst jetzt gehen. Ich kann nun beruhigt sterben, da ich weiß, dass ich zumindest eines an dich weitergeben konnte.“

Er machte eine kurze Pause. Natalie stand auf, die Hände in ihren Pullover verkrallt, die Augen fest zusammengekniffen.

„Verliere diese Leidenschaft nicht. Mach nicht denselben Fehler, wie ich. Meine Krankheit hat mich verändert. Ich nehme es dir nicht übel, dass du diesen alten Mann nicht mehr sehen wolltest.“
 

Eine Träne löst sich aus ihrem Augenwinkel.
 

„Es tut mir so leid, Opa.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: Lupus-in-Fabula
2020-08-16T20:59:56+00:00 16.08.2020 22:59
Hallöchen :)



Beim Stöbern ist mir deine Geschichte ins Auge gesprungen. Der Titel und die minimale Kurzbeschreibung haben mich neugierig gemacht.
Kein Cover oder unnötiger Schnickschnack schmückt die Geschichte. Sie steht für sich.
Du hast mit Worten eine unglaubliche Geschichte erschaffen. Eine Geschichte, die einen fesselt. Und dies auf zwei Arten.


Ich muss nun ehrlich sein.
Beim ersten Mal lesen musste ich einige Tränen unterdrücken. Ich sass mit einem Kloss im Hals vor dem Bildschirm des Computers. Dachte darüber nach, was ich da lass. Deine Geschichte hat mich unglaublich berührt. Wie du die Beziehung zwischen den Dreien beschrieben hast, ist einer der Gründe, weshalb ich gefesselt war.

Man kennt die Schwestern und den blinden Grossvater nicht, aber trotzdem habe ich ein Bild vor meinem Auge. Während des Lesens hofft man mit Anna mit. Kann ihren Zwiespalt richtig fühlen. Das sie ihre Zwillingsschwester versteht und doch den Wunsch ihres Grossvaters erfüllen möchte.
Dieser hatte wohl ein schweres Leben. Dennoch ist seine Leidenschaft nicht erloschen. Dies macht ihm für mich für einen interessanten Charakter.
Natalies Groll gegen ihren eigenen Grossvater wird nicht aufgeklärt. Das muss es auch nicht, weil man sich da selbst Gedanken machen kann.
Darf ich fragen, was du dir als Autor für einen Grund ausgedacht hast? Verzeih die Frage, ich bin eben neugierig :)

Der andere Grund, weshalb mich deine Geschichte so sehr faszinierte, ist deine Art zu schreiben. Ja, deine Geschichte ist ein älteres Werk von dir, aber du hast mit deinen Worten gezaubert.
Stille trat ein und schmeckte so bitter, wie der Tee den Großvater immer trank.
Die Zeit hatte sie ganz vergessen. Schließlich bauten sie gerade das Universum.
Das sind zwei Beispiele, die mich völlig gefesselt haben und ich einfach weiterlesen musste.
Kein Wort scheint unnötig oder den Lauf der Erzählung zu stören. Fast habe ich mich so gefühlt, als würde ich daneben sitzen und die Szenen persönlich miterleben.
Ich kann gar nicht beschreiben, was ich nach dem Lesen fühle. Ist es Trauer oder doch Freude? Es fällt mir schwer. Genau wegen diesen Gefühlen ist deine Geschichte für mich ein kleines Meisterwerk.

Da ich Angst habe weitere Leser zu Spoilern, gehe ich nicht zu viel auf den Inhalt ein.
Aber mit deinem Schreibstil zusammen ist es eine Geschichte, die einem nahe geht. Der Schlusssatz ist einer, der mir eine kleine Gänsehaut gab. Ich sitze hier und überlege mir, wie ich meine Gefühle richtig beschreiben kann und das Review nicht zu sehr in die Länge ziehe.
Wie schon gesagt, sollte mehr Leute diese Geschichte lesen. Es ist ein Meisterwerk.


Mit grosser Freude empfehle ich diese Geschichte weiter und sie kommt in meine Favos.
Dazu werde ich sie der YUAL empfehlen!


Zum Schluss habe ich nochmal eine kleine Frage. Spielst du selbst Go?
Ich nicht, ich spiele auch nicht Schach. Für diese Spiele fehlt mir das Talent.



Grüsschen aus der Schweiz

Helfer der KomMission


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