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Zählung der Flaschen

von

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Grantaire konnte nicht mit Sicherheit sagen, wie viel er getrunken hatte. Da waren zwei Flaschen Rotwein vor ihm und eine Flasche Absinth, aber – und hier lag das Problem – er konnte mit seinen Füßen mindestens drei leere Flaschen undefinierbaren Alkohols unter dem Tisch fühlen. Falls er sie getrunken hatte – und auch nur falls, denn sie hätten auch unter seinen Tisch gerollt sein können – und es wären alles Weinflaschen, wäre es nicht so schlimm. Übertrieben, aber nicht fatal. Aber falls eine – oder mehrere – dieser Flaschen Absinth war, könnte es erklären, warum er sich so fühlte, wie er es tat.
 

Natürlich konnten auch noch mehr Flaschen unter dem Tisch liegen und er war bloß nicht in der Lage, sie zu fühlen.
 

Also war er sich nicht sicher, wie viel er getrunken hatte.
 

Auf lange Sicht war es sowieso egal. Selbst wenn er gewusst hätte, wie viel er getrunken hatte, wäre es egal gewesen. Er fühlte sich erhaben. Er fühlte sich nur halbwegs lebendig. Er war noch nie so betrunken gewesen.
 

Da war jemand, der in einer der Ecken sprach. Jemand mit blondem Haar.
 

Das Haar war zu blond. Es sah eher aus wie ein Heiligenschein. Die Person unter diesen Haaren musste ein Heiliger sein. Er musste zu ihm gehen und nachsehen. Falls ein Heiliger auf die Erde gekommen war und das Café Musain ausgesucht hatte, um etwas zu trinken, war es Grantaires christliche Aufgabe, ihm ein Getränk auszugeben.
 

Er stolperte zu dem Tisch, an dem der Heilige saß. Um ihn herum saßen noch anderen Männer. ›Cherub und Seraphim‹, erkannte Grantaire. ›Und einer hat seinen Heiligenschein zu Hause vergessen‹, entschied er, da er kein bisschen Haar erkennen konnte.
 

Die Konversation stoppte, als er sich näherte.
 

»Ja?«, sagte der Heilige nach einem Moment des Schockes. »Wollen Sie etwas?« Die Stimme war ebenfalls wunderschön. Genau wie die Augen. Wie die Eier eines Blaukehlchens. Wie sahen die Eier eines Blaukehlchens aus? Waren sie blau? Er konnte sich nicht daran erinnern, je ein Blaukehlchen gesehen zu haben, geschweige denn, ein Blaukehlchenei, aber er hatte den Gedanken, dass sie blau waren. Immerhin waren Hennen weiß und sie legten weiße Eier.
 

›Aber einige Hennen sind braun‹, erinnerte er sich. Dieser Gedanke machte ihm für einige Momente zu schaffen.
 

›Aber es gibt auch braune Eier‹, realisierte er schlussendlich und spürte, wie ein Gewicht von seinen Schultern fiel.
 

›Aber einige Hennen sind schwarz.‹
 

›Es gibt keine schwarzen Eier.‹
 

Grantaire war noch immer am Grübeln, als der Heilige erneut sprach.
 

»Was wollen Sie? Können wir Ihnen helfen?«
 

Die Stimme des Heiligen brachte ihn zurück auf die Erde.
 

»Ich will... ich will...«, stotterte er, seine Stimme fast unverständlich, »ich möchte Ihnen etwas zu trinken spendieren.«
 

»Hast du das gehört, Enjolras?«, fragte einer der Cherubim, »er möchte uns etwas zu trinken spendieren!«
 

»Kennen wir Sie?«, fragte der Seraphim, »ich kann mich nicht erinnern, Sie hier schon einmal gesehen zu haben.«
 

»Ich glaube, ich kenne ihn«, meinte der größte Seraphim, »er besucht von Zeit zu Zeit häufiger das Café Voltaire. Um genau zu sein, habe ich ihn schon in diversen Cafés gesehen.«
 

»Wir danken Ihnen für Ihr Angebot, Bürger«, sagte der Heilige, »aber im Moment sind wir beschäftigt.«
 

»Wir kommen ein anderes Mal darauf zurück, seien Sie sich da sicher!«, ergänzte der Cherub mit dem lockigen Haar.
 

Grantaire blieb an dem Tisch stehen. Er war fasziniert davon, wie der Heiligenschein des Heiligen im Kerzenlicht leuchtete. Wie Feuer. Versuchte er, das Feuer zu berühren, würde er dann auch wie Prometheus an einen Felsen gefesselt werden und den Heiligen nie wieder sehen?
 

Wenn Zeus ihn an einen Felsen fesselte, konnte der Mann vor ihm überhaupt kein Heiliger sein. Er musste ein Gott sein.
 

Apollo.
 

Ja, er sah aus wie Apollo.
 

Und wenn Apollo ins Café Musain herunter gekommen war, musste er ihm ein Getränk spendieren.
 

Und ihm Fragen stellen.
 

Über Musik.
 

Wo war seine Lyra?
 

Apollo brauchte eine Lyra. Er hatte sie vielleicht auf dem Olymp vergessen.
 

»Keine Lyra«, sagte Grantaire. Die Männer – sie konnten nicht Cherub und Seraphim sein, wenn der Blonde Apollo war. Der Große könnte Ares sein. Er war beängstigend genug. Die Männer drehten sich herum und starrten ihn an.
 

»Entschuldigung?«, fragte einer. Sie hätten scheinbar nicht bemerkt, dass er noch dort stand.
 

»Keine Lyra«, wiederholte Grantaire. »Hast du deine Lyra auf dem Olymp vergessen, Apollo?«
 

»Was hat er gesagt?«
 

»Er ist betrunken, Bossuet, ignorier ihn.«
 

»Ich glaube, er hat dich Apollo genannt, Enjolras!« Apollo lächelte.
 

»Ich fürchte, ich habe nicht wirklich ein Ohr für Musik, und meine einzigen Versuche, in die Zukunft zu sehen, lagen in dem Bereich dessen, was sein könnte, nicht was sein wird«, sagte er.
 

»Es ist trotzdem ein guter Name für dich! Ich habe nie daran gedacht. Du bist ziemlich apollinisch, Enjolras.«
 

»Wie auch immer, wie ist Ihr Name, Bürger?« Das kam von dem Lockenschopf mit dem hübschen Lächeln. Es könnte Eros sein.
 

»Grantaire«, murmelte Grantaire. Eros war ziemlich fett. Wie flog er mit diesem ganzen zusätzlichen Gewicht? Er hatte vielleicht eine breite Spannweite. Grantaire fiel in einen Stuhl. Er fing ihn auf. Die Armlehnen waren zu groß. Und weich. Und kahl. Und trugen einen grünen Mantel.
 

»Joly, Hilfe, hol ihn da weg!«, sagte der Stuhl. Jemand zog ihn von dem Stuhl und auf einen anderen. Dieser hatte die richtige Größe. Gab es nicht ein Märchen darüber? Stühle, die genau richtig waren.
 

Apollo sprach. Grantaire war gefesselt.
 

»Hören Sie mir zu, Bürger. Es ist nicht so, dass wir etwas an Ihnen auszusetzen haben, aber wir sind ziemlich beschäftigt im Moment und das mit Angelegenheiten, die Sie nicht interessieren würden, da bin ich mir recht sicher.«
 

»Ein anderes Mal, alter Freund!«, sagte Eros. Grantaire starrte Apollo an.
 

»Möchte Apollo etwas zu trinken ausgeben«, beharrte er.
 

»Ein anderes Mal, Grantaire. Bitte, geh jetzt«, sagte Apollo. Apollos Haar floss um seinen Kopf. Grantaire musste etwas davon haben. Er musste es mit nach Hause nehmen und an seiner Wand befestigen.
 

Dann verstand er.
 

»Oh«, sagte er, »Keine Ambrosia in Paris. Das ist der Grund, warum du nichts willst.« Er hielt inne, um nachzudenken. »Zumindest glaube ich, dass sie keine Ambrosia in Paris haben. Vielleicht in Marseilles. Warst du jemals in Marseilles? Meine Heimatstadt. Ich hab da gewohnt. Bin bei einem Maler in die Lehre gegangen. Gezeichnete-Saffen.« Das Wort klang nicht richtig. Was waren Saffen? »Sachen«, realisierte er. »Keine Ambrosia hier, entschuldige.«
 

»Ist in Ordnung.« Apollo sah verwirrt aus.
 

»Er hat den Verstand verloren!«, sagte der mit der Arbeiterkappe. Seine Hände waren befleckt von Farbe und Tinte. Hephaistos? Hephaistos sollte hässlich sein. Grantaire wusste, dass er hässlich war. Nase zu groß. Augenbrauen zu dick. Er könnte Hephaistos sein. Aber der mit der Kappe sah aus, als könnte er eine wunderschöne Waffe abgeben.
 

»Hab keinen Verstand«, murmelte Grantaire und versuchte, von seinem Stuhl aufzustehen. Er fiel zurück. Er versuchte es erneut. Dieses Mal, Erfolg. Er stand.
 

Da waren Karten auf dem Tisch. Xe waren auf den Karten. Grantaire betrachtete sie.
 

»Was ist all das?«, fragte er und deutete auf die Karten.
 

»Nichts«, erwiderte Apollo heftig.
 

»Verirrt?«
 

»Nein.«
 

»Sucht ihr nach-«
 

»Nein. Bitte, Bürger, wir möchten dich nicht zwingen müssen. Lass uns alleine.«
 

»Er ist zu betrunken, um ein Wort dessen zu verstehen, was einer von uns sagt, Enjolras«, sagte der mit der Brille. Das musste Homer selbst sein. Homer war blind. Dieser konnte ein wenig was sehen. Im Land der Blinden war der Einäugige ein König.
 

Falls Polyphem im Café Musain auftauchte, würde er ihm kein Getränk ausgeben.
 

Aber auf der anderen Seite, wenn er es nicht tat, könnte Polyphem versuchen, ihn zu essen.
 

Also würde er ihm ein Getränk kaufen, aber kein teures.
 

Dann würde er sich herausstehlen, an der Unterseite eines Tisches festgebunden.
 

Vielleicht würde Polyphem einen laufenden Tisch bemerken.
 

Warum sollte er? Tische hatten immerhin Beine.
 

Da waren drei Flaschen, die er getrunken haben musste, unter seinem Tisch. Was war in ihnen?
 

»-kriegen heute eh nichts hin. Warum belassen wir es nicht dabei für heute Nacht und treffen uns morgen erneut«, schlug Homer vor. Er hatte wahrscheinlich schon eine ganze Weile geredet. Homer tat das. Gab es nicht ein ganzes Buch in der Ilias, das der Beschreibung von Achilles' Schild gewidmet war? Wie groß war dieser Schild, dass Hephaistos so viel darauf unterbringen konnte?
 

Warum dachte er darüber nach, Hephaistos war hier, also warum sollte er ihn nicht fragen?
 

»Wie groß war der Schild?«, fragte er Hephaistos.
 

»Der was?«, antwortete Hephaistos und blinzelte wild.
 

»Der Schild, den du für Achilles geschmiedet hast. Wie konntest du so viel darauf unterbringen? Hast du alles sehr klein eingraviert?« Hephaistos sah die anderen Götter an.
 

»Mein Name ist Feuilly. Ich bemale Anhänger. Ich schmiede keine Schilder. Worüber redest du?«
 

»Anhänger... Es ist heiß hier drin.« Vielleicht verströmten die Götter Hitze. Er hatte das Gefühl, es war einige Grad wärmer geworden, seitdem er sich gesetzt hatte.
 

»Sehr«, sagte Ares. »Schau mal, Combeferre hat Recht. Wir kriegen heute nichts fertig, Enjolras, und wir werden es wohl auch nicht, bis wir vom Drucker hören. Warum denn nicht verschieben?«
 

»Wir schaffen sowieso nichts, wenn Herodot hier ist«, sagte Eros. Herodot war hier? Grantaire sah sich um. Warum waren all die alten Griechen plötzlich in Paris?
 

Vielleicht war er nicht mehr in Paris. Vielleicht waren die Griechen nicht nach Paris gekommen, sondern er nach Griechenland gegangen. Das würde mehr Sinn ergeben. Aber er konnte sich nicht daran erinnern, nach Griechenland gegangen zu sein. Er konnte sich auch nicht daran erinnern, was in den Flaschen unter seinem Tisch gewesen war, die er getrunken hatte, also erklärte das nicht viel. Er hatte sie getrunken, auch, wenn er sich nicht daran erinnerte.
 

Wenn man es genau bedachte, konnte er sich an nicht viel erinnern. Er war aufgestanden, ins Café gegangen, hatte eine Weinflasche bestellt – er fing jedes Mal mit Wein an, es war unsinnig zu hetzen – und dann-
 

Apollo sprach.
 

»Morgen zur selben Zeit. Bis dann.« Die Götter gingen. Grantaire konnte das nicht ertragen. Er versuchte, hinter ihnen her zu laufen und stolperte. Ein Tisch krachte zu Boden. Eine Flasche Absinth rollte vor sein Gesicht. Also hatte er zwei Flaschen Absinth getrunken – oder war es die gleiche wie die erste? Wie viele Flaschen waren da?
 

Arme hoben ihn auf. Zu viele Arme. Bei Gott, das war ein Hundert-Händer! Er war in Tartaros! Wie war er dort hingekommen?
 

Nein, da war Apollo. Apollo und seine Freunde hatten ihn aufgehoben.
 

»Bist du in Ordnung?«, fragte Apollo. Grantaire sah ihm in die Augen.
 

»Ich bin es nicht wert, vor den Göttern zu stehen«, sagte er.
 

»Trink ein wenig Kaffee. Werd nüchtern«, riet Apollo. »Und trink niemals, unter keinen Umständen, wieder so viel Absinth auf leerem Magen.«
 

»Woher- woher weißt du, dass ich nichts gegessen habe?« Apollo lächelte ihn an.
 

»Ich kam an diesem Morgen, als das Café öffnete – ich war der Erste hier. Ich sah dich kurz nach mir hereinkommen. Du bist seitdem nicht wieder gegangen und hast eine beeindruckende Menge an Wein und Absinth getrunken, und nichts gegessen. Außer, du hast etwas gegessen, bevor du hergekommen bist, was ich nicht ausschließe, hast du vielleicht den ganzen Tag nichts im Magen gehabt.«
 

Er war wirklich Apollo. Er hatte die Zukunft vorhergesehen. Na ja, die Vergangenheit, aber Zeit war für Götter nicht linear. Die Vergangenheit war schwerer vorherzusagen als die Zukunft.
 

Apollo ging. Grantaire wollte ihm folgen, aber er war nicht in der Lage, sich in die Richtung zu bewegen. Jemand hatte ihn verzaubert. Er war an etwas gefesselt. Er konnte sich nicht rühren. Zu dem Zeitpunkt, in dem die Kraft wieder in seine Gliedmaßen zurückkehrte, und er sich ausreichend gesammelt hatte, um sich zu bewegen, hatte er Apollo komplett aus den Augen verloren und zwei der anderen Götter sprachen in einer Ecke miteinander. Der Rest schien verschwunden zu sein.

»Schon zurück im Olymp?«, fragte er und stolperte aus dem Café.

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Am nächsten Tag war er an seinem üblichen Tisch zurück. Er hatte gegessen, aber bisher noch nicht getrunken. Nicht einmal Wein. Er wollte sehen, ob seine absinth-gesteuerten Halluzinationen irgendetwas bedeutet hatte. Hatte er wirklich diesen wunderschönen Mann gesehen, von dem er nur als Apollo gedacht hatte? Die grüne Fee konnte Wunder vollbringen, doch er hatte sie noch nie so gekannt, als dass sie dafür sorgte, dass er sich eine gesamte Konversation mit mindestens acht Männern einbildete.
 

Er wusste noch immer nicht, wie viel er am Tag zuvor getrunken hatte.
 

Er hatte gehört, wie Apollo den anderen gesagt hatte, sie würden sich am nächsten Tag treffen. Er hoffte, sie meinten, sie würden sich am gleichen Ort treffen, oder Grantaire könnte seinen Apollo für immer verloren haben. Der bloße Gedanke daran ließ ihn die Münzen in seiner Tasche befühlen und sich nach einem Glas eau-de-vie sehnen.
 

Doch um Punkt zwölf kam das Haar, das niemand verwechseln konnte, durch die Tür, unter ihm Apollo.
 

»Apollo!«, rief Grantaire. Er realisierte, dass es albern wäre, ihn so zu nennen, aber er konnte sich nicht an den Namen des Mannes erinnern. Er wusste, dass einer der Götter – Männer – ihn genannt hatte, aber verdammt, wenn er sich bloß erinnerte.
 

Apollo ignorierte ihn. Natürlich sollte er das. Wenn ein verrückter Betrunkener ihn mitten bei der Arbeit belästigte, würde er ihn auch ignorieren. Grantaire stand auf und griff nach Apollo, trieb ihn in die Enge. Apollo sah überrascht aus, sagte jedoch nichts.
 

»Schauen Sie – hören Sie zu, ich meine – das mit gestern tut mir Leid«, sagte er. »Ich kann mich nicht daran erinnern, wie viel getrunken habe – es muss eine Menge gewesen sein. Das hat dafür gesorgt, dass ich halluziniert habe. Ich bin nicht immer so – ich möchte nicht, dass Sie schlecht von mir denken. Mein Name ist Grantaire. Ich bin aus Marseilles. Und SIe?« Apollo lächelte ihn an.
 

»Marcellin Enjolras«, erklärte er. Es war der schönste Name, den er je gehört hatte.
 

»Schön, dich zu treffen«, meinte er. »Hör mal, um das wieder gut zu machen, kann ich dir ein Getränk ausgeben?« Apollo senkte die Augen.
 

»Ich habe nicht die Zeit dafür«, sagte er und begann, auf den Tisch zuzugehen, an dem er gestern gesessen hatte. Grantaire folgte ihm.
 

»Morgen?«
 

»Ich hab auch morgen nicht die Zeit dafür.«
 

»Den nächsten Tag?«
 

»Nein.«
 

»Dann wann?«, fragte Grantaire. Er war sich bewusst, dass er diesen Mann anbettelte. Er wusste nicht warum.
 

»Ich habe nie die Zeit dafür. Es tut mir Leid.«
 

»Du hast nie die Zeit zu trinken? Was ist deine Arbeit?« Apollo – Enjolras – hielt inne und packte die Tasche aus, die er bei sich trug.
 

»Freiheit«, sagte er. Grantaire war sprachlos. »Nebenbei, hast du politische Meinungen?« Grantaire dachte nach.
 

»Ich war republikanisch. Ich war früher sogar ein bisschen Hébertist.«
 

»Ah!«, rief Enjolras, eindeutig aus Bewunderung.
 

»Sonst aber nicht wirklich etwas«, stellte Grantaire klar. Er hasste es, das zu tun, da Enjolras die Antwort so deutlich zu gefallen schien, aber er fand es schwierig, diesen Mann anzulügen.
 

»Warum nicht?«, fragte Enjolras.
 

»Ich war gelangweilt«, erklärte Grantaire. »Ich war gelangweilt davon, für etwas zu hoffen, das nicht existierte und niemals existieren würde.« Enjolras wirkte aufgewühlt.
 

»Glaubst du das wirklich? Dass die Republik nie existieren wird?«, fragte er.
 

»Ich glaube an gar nichts«, sagte Grantaire. »Außer an ein volles Glas.« Enjolras nickte und fuhr damit fort, seine Tasche auszupacken. Grantaire legte impulsiv eine Hand auf Enjolras' Arm. Enjolras hielt inne und sah ihn an.
 

»Ich könnte an dich glauben«, meinte Grantaire.
 

»Bürger Grantaire«, seufzte Enjolras verärgert. »Du weißt nicht mehr von mir als das, was du unter dem Einfluss von Absinth gesehen hast.«
 

»Na ja, ich würde gerne mehr herausfinden!«, stieß Grantaire aufgeregt aus. Enjolras packte weiter seine Tasche aus. »Enjolras, hör mir zu!«
 

»Ich bin, was ich tue, Grantaire«, sagte er ruhig. »Wenn du nicht so glauben kannst, wie ich es tue, wirst du mich nicht verstehen.«
 

»Vielleicht kann ich es«, bettelte Grantaire. Enjolras starrte in weite Ferne. Er sah aufgewühlt aus, auch wenn Grantaire nicht, um sein Leben, sagen konnte, warum.
 

»Sehr gut. Setz dich. Bleib nüchtern. Die anderen werden jeden Moment da sein.«
 

»Andere?«
 

»Die, die du gestern gesehen hast. Die Gemeinschaft der Freunde des ABC.«
 

»Abaissé? Wie in, die Erniedrigten?« Enjolras sah ihm in die Augen.
 

»Das ist richtig. Siehst du nun, was unsere Arbeit ist?«
 

»Ich glaube.«
 

Drei der ›anderen‹, geführt von dem, den Grantaire Eros getauft hatte, platzten in diesem Moment herein. Sie waren lauter, als sie es gestern gewesen waren. Grantaire erwischte sich dabei, wie er sich nach etwas zu trinken sehnte, aber eine von Enjolras' expliziten Anweisungen war es gewesen, nüchtern zu bleiben. Es stand außer Frage.
 

»Ah, wen haben wir hier!«, rief Eros aus. »Bist du nicht der, der -«
 

»Grantaire ist ein Neuling«, erklärte Enjolras. »Ich denke, dass er ein Freund ist.« Eros klopfte ihm freundlich auf den Rücken.
 

»Gut, das zu hören. Ich bin Courfeyrac, das sind Joly und Bossuet.«
 

»Lesgle«, erklärte Bossuet. Er war derjenige ohne Haare. »Bossuet ist ein Spitzname.«
 

»Ein Spitzname, den er nicht los wird!«, sagte Joly lachend.
 

»Bossuet, hast du Nachricht vom Drucker bekommen?«
 

»Ich habe ihn diesen Morgen besucht – er hat sich eine Entschuldigung ausgedacht und ist verschwunden. Ich weiß nicht, ob er überhaupt—«
 

Und sie waren fort. Für den Rest des Nachmittags, hörte Grantaire zu, als sie verschiedene republikanische – verräterische – revolutionäre – Aktivitäten diskutierten, auf die sie aus waren. Es gab ein Flugblatt, das gedruckt wurde, was ihren ersten richtigen Arbeitsauftrag darstellte, doch der, den er Ares genannt hatte – Bahorel – betrieb außerdem Nachforschungen, wo sie Schießpulver bekommen konnte, und der Kleine mit den langen Haaren – Jehan – arbeitete daran, die Männer am Haus der Freimaurer zu überzeugen.
 

Grantaire konnte dem nicht folgen. Ihr Enthusiasmus, ihr Idealismus, ihr Antrieb, es war alles zu viel. Das war eine Welt, die er nicht nachvollziehen konnte, eine Welt, von der er sich nicht sicher war, ob er sie nachvollziehen können wollte. Sie glaubten an ihre Revolution, mehr als sie an ihre eigenen Leben glaubten. Sein Kopf drehte sich. Er fühlte sich schlimmer, als er es am Tag davor getan hatte, nachdem er eine unsichere Menge an Absinth und Wein getrunken hatte. Er fühlte sich verloren – verwirrt.
 

Er wollte etwas zu trinken.
 

Als das Treffen beendet war, und die Männer auseinander gingen, um zu trinken, sich zu unterhalten und ihrer Arbeit nachzugehen, drehte sich Enjolras zu ihm.
 

»Was denkst du, Bürger?«, fragte er. Grantaire senkte den Blick.
 

»Ich glaube noch immer an dich«, sagte er. Enjolras runzelte die Stirn, doch er nickte.
 

»Dann glaubst du nicht an die Republik?«
 

»Nein«, gab Grantaire zu.
 

»Dann kannst du nicht an mich glauben. Ich habe mein Leben für die Republik gegeben. Ich habe keinen Platz für etwas anderes. Es tut mir Leid.« Grantaire erkannte eine Kündigung, als er das hörte. Er schlich sich fort zu einem Tisch, sterbend für etwas zu trinken. Er war nicht lange allein, bis Courfeyrac, Bossuet und Joly sich zu ihm gesellten.
 

»Du bist still«, bemerkte Courfeyrac mit einem blendenden Lächeln. »Enjolras muss eine Zuneigung dir gegenüber entwickelt haben – er läd niemals, als eine Regel, Außenseiter zu unseren Treffen ein. Ich bin in der Regel dafür verantwortlich, Neulinge mitzubringen und Enjolras erwärmt sich ihnen gegenüber im Laufe der Zeit. Du musst ihn wirklich beeindruckt haben.«
 

»Unter dem Einfluss von Alkohol«, murmelte Grantaire elend und fing bereits seine zweite Flasche an.
 

»Muss mehr sein als das«, kommentierte Joly. »Dächte er, du wärst bloß ein weiterer Betrunkener, hätte er dich ignoriert. Du musst etwas zu ihm gesagt haben, oder etwas getan. Werden wir dich hier öfter sehen?« Grantaire schüttelte den Kopf.
 

»Enjolras mag mich nicht.«
 

»Das ist es nicht«, erklärte Bossuet. »Er ist sehr kalt von Zeit zu Zeit – sehr –, aber es ist nicht, weil er dich nicht mag. Es ist, weil er-« Er verlor sich. Alle vier Männer starrten kurz zu ihrem Anführer, der noch immer über ein Papier gebeugt dasaß, während der Rest von ihnen bereits zum frivoleren Zeitvertreib übergegangen waren.
 

»Enjolras ist«, beendet Bossuet seinen Satz, offensichtlich keine anderen Worte für den Mann mehr findend.
 

»Ich glaube an ihn«, erklärte Grantaire, der sonst nichts mehr zu sagen hatte und trank weiter.



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