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Droßelmeier GmbH

Von Uhrwerken, Gentlemen und der Wissenschaft
von

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Der Mord am eigenen Gewissen

Die Nacht war dunkel, und die Winde, die sie aussandte, so schneidend kalt, dass jeder Tropfen Wasser, der in ihren Griff geriet, auf der Stelle gefror. Alberic zitterte entsprechend erbärmlich – doch was sollte er tun, außer seinen Mantel enger um seinen schlanken, fast hageren Leib zu ziehen und die Zehen in den ausgetretenen Schuhen etwas zu bewegen? Egal wie eisig es um ihn her sein mochte, er war dazu verdammt zu warten, bis die Uhr des nahen Glockenturms endlich Mitternacht verkündete... Zum ersten Mal in seinem Leben verdammte er innerlich seinen Hang zur Überpünktlichkeit, während der Minutenzeiger unerbittlich auf der Elf verharrte. Und vermutlich kam der Mann, den er hier treffen sollte, obendrein noch zu spät.

Das Knirschen von Schnee ließ den Jüngling zusammen zucken, und unwillkürlich schmiegte er sich tiefer in die schattige Ecke hinter einem Gebüsch, die ihm bereits Schutz vor neugierigen Blicken bot. Er hatte großes Glück, dass der boshaft kalte Wind frische Flocken mit sich führte, die seine Spuren von vorhin emsig verwischten und verwehten, denn tatsächlich hatte ein Gendarm das Knirschen verursacht und trabte nun ohne Verdacht an Alberics Versteck vorbei.
 

Alberic hasste seinen neuen Beruf inzwischen. Halt, nein – das war nicht ganz korrekt. Er liebte das Uhrhandwerk. Er liebte es, die aus Zahnrädern und winzigen Spiralen geschaffenen, zarten Mechanismen zu betrachten und sie an den Wänden ticken oder beim Öffnen der Spieldosen lieblich klingen zu hören. Er liebte das Gefühl eines pulsierend pendelnden Unruhs in seiner Hand, während das Metall des Uhrwerks sich darin erwärmte – als hielte er ein winziges Leben in den Händen. Und für seinen schier grenzenlosen Hunger nach Wissen fand er mehr als genügend Futter im Genie seines Arbeitgebers, mehr als genug. Aber im Segen lag auch der Fluch: Sein Arbeitgeber.

Shoggotho Elias Scoundrel war ohne Zweifel ein eindrucksvoller Mensch. Alles an ihm war irgendwie eindrucksvoll, von seinen körperlichen Ausmaßen (die davon kündeten, mit welcher Hingabe sich die Kundschaft auf seine Schöpfungen warf) bis hin zu den großen Worten, in die er seine eindringliche und zuweilen donnernde Stimme wickelte. Obendrein wirkte er stets, als läge hinter seinem Sein noch eine weitere Person – wie ein Bild, das hinter einem anderen liegt und von der einem abgewandten Seite beleuchtet wird. Manchmal hatte Alberic das Gefühl, einen deutlicheren Eindruck von dieser anderen Person zu erhaschen, und was er sah, jagte ihm viel zu tiefe Angst ein als, dass er je gewagt hätte, gegen sie anzumucksen. Ja, natürlich hatte er dann und wann Einwände. Er äußerte Bedenken, aber er tat das stets sorgsam in einer Weise, die eher nach einem Tagtraum als einem tatsächlichen Abraten von Scoundrels Plänen klang.

Doch diese ungewöhnliche Wesensart war nicht alles, was Alberic an seinem Meister verfluchte. Dieser war nun einmal ein Mann der Wissenschaft, und wie alle wirklich guten Wissenschaftler – und wohl auch alle wirklich guten Künstler – hatte er eben ein wenig einen Schatten. Dafür war er ja auch ein Genie, wie es seinesgleichen suchte. Seine Uhren waren so präzise, klug und liebevoll gefertigt und so herrlich verziert, dass viele der kleinen Kinder im Dorf keinen größeren Wunsch hegten als einmal eine davon besitzen zu dürfen. Aus aller Herren Länder schienen Menschen anzureisen, nur um ein Uhrwerk Scoundrels besitzen zu dürfen, und sie überließen ihm selbst die kostbarsten Materialien ohne mit der Wimper zu zucken dafür – um hernach wahre Schätze in Empfang zu nehmen. Wie sein berühmter Erbgroßonkel Christian Elias Droßelmeier, der hier einst gelebt hatte, besaß Scoundrel die Fähigkeit herrlichstes Spielzeug mit Uhrwerken zu beleben, und so brachte er die Augen von Klein und Groß gleichermaßen zum leuchten. Allein – er hatte seine Allüren.
 

Wann immer er etwas Besonderes baute, so wollte er, dass auch die Teile besonders waren. Zu Beginn hatte er nur nach ungewöhnlichem, teurem Material verlangt. „Bring mir Granate, Alberic!“, hieß es dann, oder „Besorge mir Silberfäden!“ Für jemanden, der in einer Goldschmiede arbeitete und mehr Geld verdiente, als er wohl je wieder ausgeben konnte, war das kein Problem. War das Gewünschte nicht vorrätig, so wurde es eben von wohlbekannten Händlern erstanden, und schon war der Meister zufrieden.

Doch dann wurden die Produkte ausgefallener, und mit ihnen mussten es auch die Materialien sein. Der materielle Wert war das Eine, doch Scoundrel schien urplötzlich von der tiefen Überzeugung besessen zu werden, dass auch der ideelle Wert eines Materials seinen Nutzen für den Mechanismus mitbestimmte. „Schmilz diese alte Kirchenglocke ein, wir wollen daraus Spieldosen machen, die schöner tönen als sie es je taten!“, tönte er dann, und es wurde zu: „Bring er mir diese Porzellanpuppe – ihre Keramik wird meiner neuen Uhr das beste Gehäuse!“ Und dann hatte es begonnen, wirklich bedenklich zu werden.

Scoundrel verlangte immer öfter Dinge, die bereits irgendwem gehörten. Oft musste der arme Alberic ausschwärmen, um neben seiner dürftigen Redegewandtheit auch noch Unsummen ihrer Einnahmen auf Wildfremde zu verwenden, und zurück kehrte er mit Dingen, die zwar wertvoll waren ohnegleichen – aber von Scoundrel sofort zerstört wurden, um damit etwas Neues zu schaffen. Das Handwerkerherz schmerzte dem Jüngling dabei immer wieder, doch was sollte er tun? Die Liebe zu den Uhrwerken fesselte ihn an seinen seltsamen Meister, genauso wie die aufregende Freiheit, ein eigenes kleines Büro und alle Chemikalien zu besitzen, die er sich erträumen konnte. So eigen Scoundrel war, wenn es um Mechanik ging, so hoch schätzte er Alberics Kenntnisse der Alchemie, und er stellte ihm zur Verfügung, was auch immer der Lehrling begehrte.

Dennoch hätte ein Satz, das Lehrverhältnis zwischen den beiden beinahe beendet:

„Die Zahnräder für dieses Werk müssen aus der Analytical Engine stammen.“
 

Die Analytical Engine, ein von Charles Babbage entwickeltes Gerät zur Erfüllung vor allem rechnerischer Aufgaben, nur durch einen glücklichen Zufall vom Komitee der British Association for the Advancement of Science empfohlen und von Letzterer gebaut... Ein Wunder der Wissenschaft, Grundlage des mechanischen Standards ihrer Welt – und Museumsstück in England.

Die Analytical Engine gehörte nicht nur irgendjemand anders – sie gehörte dem britischen Volk und seiner Königsfamilie.

Um diesen Auftrag zu erfüllen, wovon sein Unterhalt und sein Lebenstraum abhingen, ging Alberic zum ersten Mal an die Grenzen der Legalität. Er bestach einen Gutachter, der daraufhin die Analytical Engine als Fälschung „entlarvte“, und während man fieberhaft nach dem vermeintlich gestohlenen echten Stück suchte hatten Leute, die so etwas für Geld taten, das falsche Kuckucksei schon längst an sich gebracht und Alberic übergeben. Dem jungen Liebhaber der Mechanik tat es in der Seele weh, als er den ersten Computer der Welt an seinen Herren übergab. Die darauf folgende Nacht drückte er sich sein Kissen fest auf die Ohren, damit das Geräusch der demontiert werdenden Teile ihm das Herz nicht ganz so leicht zerriss.
 

Die folgenden Aufträge waren leichter für sein Gemüt, aber schwerer für seinen Verstand gewesen. Scoundrel schien mit der Analytical Engine genügend grundlegend mechanische Teile zu haben, um seinen Lehrling wenigstens nicht mehr nach Maschinen auszusenden. Stattdessen verlangte er hauptsächlich Kunstgegenstände und historische Artfakte, die schwierig und nicht auf legalem Wege zu beschaffen waren. Als habe die Übergabe der Analytical Engine Alberics völliges Verständnis für Moral regelrecht gebrochen, beschaffte er fast wie in Trance jedes Stück, das sein Meister verlangte. Er tat es heimlich, er tat es illegal – und er tat es überraschend gut. Sein Gehirn lief selbst so schnell und sauber wie die Uhrwerke Scoundrels, und es fand zuverlässig die Wege, die zu den bestellten Gütern führten. Bald war Alberics Netz an Kontakten im Untergrund so weit verästelt, dass ihn die zwielichtigen Gestalten schon mit in ihre Verstecke zerrten, sobald man sie beinahe entdeckte. Sie schienen Mitleid zu haben für das sanfte, feingeistige Gesicht mit der filigranen Halbmondbrille, das zwischen seinem ungewöhnlichem schlohweißen Schopf und einem schlanken, langen Hals thronte, und für die geistesabwesende Leere, die in seinen blassblauen Augen stand. Da niemand von ihnen seinen Namen kannte, nannten sie ihn den „Professor“ und sie behandelten ihn mit Respekt wie einen Akademiker ihres eigenen Schlages. Und trotzdem war das einzige Gefühl, dass seine Handlungen in ihm hervorriefen nicht etwa Reue oder Scham, sondern nur gelegentlicher, wattiger Ärger darüber, was er alles durchzumachen hatte.
 

So auch jetzt.

Wieder war es ein Kunstgegenstand gewesen, den Meister Scoundrel verlangt hatte. Doch dieses Stück war noch mehr – es galt als Artefakt und war seit fast einem Jahrhundert nicht mehr von seinem wiedereingenommenen ursprünglichen Platz auf einem Podest in einem alten Tempel irgendwo in einem exotischen Land (Alberic verschwendete keine Gedanken mehr an solche Details) bewegt worden. Die Einheimischen erzählten sich von der besonderen Macht, die diese Statue angeblich ihrem Besitzer verlieh: Die Plastik machte vor anderen Menschen angenehm, sie zog Zuneigung regelrecht an wie ein Magnet das Eisen. Doch der Zuneigung folgten meistens Neid und Gier und so fiel auf jeden, der die Statue besaß, früher oder später ihr Fluch zurück.

Das war alles. Messing und eine Sage.

Alberic verspürte großes Unbehagen bei diesem Stück. Er war weder religiös noch besonders abergläubisch, aber etwas einem Tempel zu entwenden war neu für ihn. Museen – nun, seit dem Diebstahl der Analytical Engine schmerzte der Gedanke daran dumpf, aber gewöhnlich raubten seine Kontakte mittlerweile Galerien und Ausstellungen aus... Tempel, das war neu, und es fühlte sich gefährlich an. Ein Museum gehörte einem Land, eine Galerie ebenfalls – aber ein Tempel gehörte höheren Mächten, vor allem wenn er alt und erhaben war, und in jedem Menschen glüht ein ewiger Funke der ihn noch immer davor warnt, es sich mit höheren Mächten zu verscherzen.

Der Funke wurde allerdings vom unglückseligen Verstand des Alchemisten schön vom Zunder ferngehalten.

Die Turmuhr schlug und Punkt auf ihren zwölften Schlag umschlangen knochige Finger Alberics Schulter mit festem Griff.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  -Broeckchen-
2011-03-13T19:51:39+00:00 13.03.2011 20:51
Ich bin grad unglaublich high auf Endorphinen darüber, dass dir das so gefällt. *-*

*sfz* Die Kommata, mein Kryptonit... Ich werde natürlich alles ausbessern, was du da erwähnst, danke. ^^ Das mit dem Netz ist mir sehr peinlich... liegt alles daran, dass ich über meine Texte nie nochmal drüber lese. x.x Vielen lieben Dank für die Korrekturvorschläge!
Von:  Voidwalker
2011-03-13T10:49:34+00:00 13.03.2011 11:49
> Charles Babbage

Was bin ich dankbar! Endlich mal ein Namensvetter, der nicht ein völliger Idiot, der klassische Bösewicht oder ein Todgeweihter ist. *g*
Ansonsten ein sehr fesselndes Kapitel! Authentisch erzählt und irgendwie tut mir Alberic sogar leid - obwohl er sich zu alledem hinreißen lässt und jederzeit hätte anders agieren können.

Zu den Korrekturvorschlägen:

> Die Nacht war dunkel, und die Winde, die sie aussandte, so schneidend kalt, dass jeder Tropfen Wasser der in ihren Griff geriet auf der Stelle gefror.

Ich würde vermutlich die Gruppe 'der in ihren Griff geriet' durch Kommata separieren, zumindest aber das hinter 'geriet' setzen. @_@

> (...) und was er sah, jagte ihm viel zu tiefe Angst ein als dass er je gewagt hätte gegen sie anzumucksen.

Ich würde 'als dass er je gewagt hätte' mit Kommata abgrenzen.

> Bald war Alberics Netz an Kontakten im Untergrund so weit vernetzt, (...)

Die Dopplung ist eher ungünstig. Ich würde vorschlagen, entweder war die 'Liste' der Kontakte vernetzt, oder das Netz der Kontakte 'verzweigt'.

> (...) nannten sie ihn den „Professor“ und sie behandelten ihn mit Respekt wir einen Akademiker ihres eigenen Schlages.

'wir' = 'wie'. :)

> Doch der Zuneigung folgten meistens Neid und Gier und so viel auf jeden, der die Statue besaß, früher oder später ihr Fluch zurück.

'viel' = 'fiel'.


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