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The Longest Journey - Beyond the Veil

Das Ende einer langen Reise steht bevor
von

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2.3: Kryostase


 

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Dunstige Wolken aus Eisnebel schlagen gegen die Scheiben des MTI-Lieferwagens, während er über die durch unterirdische Wärmeleitungen enteiste Fahrbahn braust.

Agent Knight sitzt gelangweilt am Steuer und fixiert starr das Messgerät für die Temperatur der Außenscheibe. Sein Kollege Bishop führt derweil ein Ferngespräch über den Eye Channel.

„Wie? So lange? Das darf doch nicht wahr sein, Pease, du hattest doch… Nein. Nein, es geht keine andere. Ich hatte dir ausdrücklich… Ja. Ja, verstanden! … Gut. Kommando Shepherd – Ende!“

Leise zischend schiebt Bishop das Kommunikationsgerät an seinem Handgelenk unter den Ärmel zurück. Sein Blick wandert ins Leere.

Knight am Steuer wendet das Kinn halb über die Schulter.

„Klingt nicht so, als bekämen wir bald Verstärkung.“

Bishop weiß nicht, wie er antworten soll. Er ist zu aufgewühlt.

Ruhe bewahren ist das absolut Wichtigste in einer solchen Situation, doch der Agent ist sich bewusst, dass ihm das gerade jetzt schwer fallen wird – der heilige Ernst seiner Mission überstrahlt sogar die Regeln der Eye-Dienstordnung.

Natürlich, das Mädchen ist orientierungslos und weiß nichts von seiner Bedeutsamkeit, doch das garantiert noch lange keine Sicherheit, erst recht nicht gegen die Eingriffe der so genannten ‚Unterdrücker’.

Schon so lange verbreiten sie ihre Lügen auf dem Planeten, und zu wenige sind übrig geblieben, die noch die Waffen gegen sie erheben könnten.

Gegen sie… und für die anderen.

„Also?“, fragt Knight, diesmal eine Spur härter.

Bishop weiß, dass sein Partner selbst nach jahrelanger Erfahrung gewisse Dinge auf die leichte Schulter nimmt. Das ist nicht ungewöhnlich oder gar fehl am Platze, wenn man für das Syndikat arbeitet.

Man lernt, seinen Befehlen zu gehorchen und allem anderen weniger Platz einzuräumen. Das ist das Grundprinzip der Polizei, und niemand hat es je in Frage gestellt.

So sollte es auch jetzt nicht sein…

Mühselig, leicht behindert durch seinen Kampfanzug, streckt sich Bishop nach unten, um aus einer Nische unter dem Zentralrechner den Behelfswerkzeugskasten für Waffentechnik hervorzuziehen.

Er zählt die magnetischen Schraubenzieher ab und greift schließlich nach einem Exemplar mittlerer Größe.

Äußerlich unterscheidet es sich rein gar nicht von den anderen. Doch wer seine Geschichte kennt, erblickt das Vermächtnis einer anderen Zeit.

Einer helleren, glücklicheren Zeit.

„Wir haben acht Stunden…“, sagt Bishop schließlich, bevor er den Apparat an die Fugen seiner Waffe setzt.

„Acht Stunden. Vielleicht noch mehr.“
 

16:00 Uhr.
 

Die Küche der Ryans liegt im letzten Licht des dämmernden Winternachmittags.

April sitzt, in dem Bemühen, eine gute Figur zu machen, neben Pater Marduk am Esszimmertisch und trinkt dampfenden Kaffee, während ihre Mutter in leisem Ton mit Owen redet, der gerade zur Vordertür hereingekommen ist. Aus irgendeinem Grund scheint sie verärgert zu sein.

„Zum Donnerwetter, Owen! Kann er nicht wenigstens dieses eine Mal…“

„Du weißt, dass das nicht einfach für ihn ist, Mutter. Gib ihm noch etwas Zeit, in Ordnung? Er wird schon irgendwann kommen, wenn er sich nicht von Rebecca auffressen lässt.“

Jennifer Ryan will noch einmal widersprechen, aber dann versagt ihr doch die Stimme, und sie setzt sich zu den anderen.

„Entschuldigung“, erklärt sie niedergeschmettert, „Daniel ist immer sehr konzentriert bei der Arbeit. Wenn er einmal eine Sache angefangen hat, führt er sie auch zu Ende, egal ob Besuch ansteht oder nicht.“

Pater Marduk lächelt wissend. „Das ist auch nicht verwunderlich, wenn es um Rebecca geht. Für sie hat er schon immer alles stehen und liegen gelassen.“

„Pater, das ist nicht dasselbe! Er wird langsam…“ Wieder hält Miss Ryan in ihren Worten inne, ganz so, als würde sie einen wunden Punkt aussparen wollen. Dichte graue Wolken schieben sich vor den mattgelben Horizont und lassen ihr Gesicht wie eine venezianische Pierrot-Maske erscheinen. Ein kleiner Schatten, der wie eine Träne aussieht, wandert über ihre Wange und verschwindet unter ihrem Kinn.

April schüttelt voll Missmut den Kopf. Sie versteht nicht, was diese Frau so sorgenvoll macht.

Wenn Daniel diese Rebecca wirklich so sehr liebt, sollte das für seine Mutter doch ein Grund zur Freude sein… es sei denn, das Mädchen wäre das letzte Scheusal!

Einen einzelnen stärkenden Schluck Kaffee lässt April noch durch ihre Kehle sickern, dann setzt sie die Tasse auf ihren Schoß und schaut dem Pfarrer, der ihr zublinzelt, fest in die Augen. „Sie hatten mir versprochen, etwas über den Kollaps zu erzählen. Ich weiß zwar überhaupt nichts darüber, aber nach allem, was ich gehört habe, muss es schrecklich gewesen sein.“

„Mehr als schrecklich, mein Kind, mehr als schrecklich. Ich kann zwar darüber nur sagen, was ich selbst erlebt habe, aber…“. Ein fiebriger Glanz schimmert in den Pupillen des Pfarrers, doch nachdem er sich vergewissert hat, dass Aprils Mutter ihm grimmig zunickt, beginnt er mit fester Stimme zu erzählen:
 

„Es geschah vor etwas mehr als zehn Jahren. Ich war damals noch Mitglied der Jesaia-Akademie von Neu-Babylon und dort im Institut für theologische Forschungen tätig. Wir waren eine private Einrichtung und dementsprechend von Fördergeldern abhängig, darum mussten wir auch Aufträge übernehmen, die sich… den eigentlichen Zielsetzungen unseres Fachs nur noch vage annäherten, für die wir aber aufgrund unserer Ausbildung am besten geeignet waren.

Wenn ich heute darauf zurückblicke, dann waren es wohl Zeiten der Dekadenz: wir ruhten auf unverdienten Lorbeeren und missachteten unsere eigentliche Mission, in dem Glauben, sie sei sekundär geworden. Die ersten Anzeichen für den Untergang… sie waren bereits da, doch sie kamen versteckt und im Trott der Gewohnheit.

In unserem Institut waren schon immer Nachrichten über seltsame Ereignisse eingetroffen, über Visionen und himmlische Zeichen, über Wunder, wie sie nicht einmal die Bibel beschreibt, doch wir betrachteten sie als nicht weiter bedeutsam, zumal so etwas in unserer Gegend häufiger vorkam.

Wenn wir etwas näher untersuchen konnten, so sahen wir es stets nur im Blendlicht der Wissenschaft, und nie hielten wir es für nötig, näher nachzufragen, denn nichts schien einer genaueren Überprüfung standzuhalten.

So schien es anfangs auch in diesem Fall zu sein, doch Gott strafte unsere Ungläubigkeit und lenkte unseren Blick in die einzig wahre Richtung… zumindest näherungsweise… wie auch immer!

Die Vorfälle, von denen ich sprechen will, müssen irgendwann im Juni begonnen haben, in der Zeit vor Pfingsten. Doch die Meldungen davon erreichten uns erst sehr viel später, und als wir begannen sie zurückzuverfolgen, waren einige Spuren bereits erkaltet.

Jedenfalls kam es im gesamten Stadtgebiet auf einmal zu merkwürdigen ‚Beobachtungen‘: kleine Dinge zunächst, die man nur aus dem Augenwinkel wahrnimmt. Sie waren anders als die Zeichen, die zu deuten wir normalerweise beauftragt wurden. Manche Leute hörten plötzlich Geräusche, die sie noch nie zuvor gehört hatten; Geräusche, wie sie nicht in die Großstadt passen: das Geklirr von Glockenspielen zum Beispiel, oder Tiergeräusche, wie aus den Regenwäldern zu Zeiten des Ozonlochs.

Am Anfang machte man nicht viel Aufhebens darum, aber dann, Mitte Juli, wurden aus den Geräuschen Bilder, und statt einzelner Beobachter waren es nun ganze Gruppen, die diese Erlebnisse teilten.

Natürlich hatten wir im Institut schon von ähnlichen Vorfällen gehört, im Umfeld von Marienvisionen etwa, daher war uns das Thema geläufig und wir glaubten uns erhaben gegenüber den Hysterien der Massen. Doch als wir sie dann näher betrachteten… wir waren überrascht… und leugneten es im gleichen Atemzug!

Zwei Wochen lang diskutierten und forschten wir täglich an diesem Problem. Wir wälzten Abhandlungen, verglichen Phantombilder, studierten Berichte und Bibelinterpretationen.

Doch nichts, was wir sahen, nichts, was wir hörten, erklärte vollständig die Ereignisse, die sich uns darboten: blaue Flammen, die über dem Meer tanzten, winzige Wesen, die ganz aus Holz zu bestehen schienen, Dämonen mit langen Fingern, die so gütig lächelten, als seien sie der Heiland selbst, und so viele andere Dinge, das allein die Vorstellung, sie aufzählen zu wollen, anmaßend erscheint.

Obgleich uns die schiere Menge an Daten zu überfluten schien, scheuten wir uns nicht, Theorien aufzustellen. Wir versuchten es mit allem: synthetische Drogen, Hologramme, kollektive Wahnvorstellungen… doch was es auch war, es blieb mit dem Makel des Unerklärlichen behaftet.

Indessen wurden unsere Forschungen mit Interesse beobachtet. Ganze Firmen hatten Analysen bei uns bestellt, weil ihre Mitarbeiter aufgrund der beunruhigenden Geschehnisse nicht mehr arbeiten wollten. Andere hatten … speziellere Interessen…“
 

Pater Marduk unterbricht für eine Weile. Wie von einem Zauber besessen, schaut er an Aprils Kopf vorbei zur Küchentür.

Die junge Frau verfolgt seinen Blick gespannt und merkt, dass er einem kleinen, dunkelgrünen Geschöpf gilt, das puppengleich auf dem Schuhschrank im Flur abgelegt ist.

April würde es gerne näher in Augenschein nehmen, doch bevor sie sich erheben kann, ist ihr schon ihre Mutter zuvor gekommen und hat die Küchentür geschlossen.

Mit geröteten Wangen lässt sich die Frau anschließend wieder in den Stuhl sinken. „Entschuldigen Sie das bitte! Manchmal glaube ich, ich rede hier gegen Wände,“ murmelt sie. „Aber bitte, fahren Sie fort, Pater!“

Der Pfarrer nickt zerstreut. Seine Finger wandern in merkwürdigen Schlangenlinien über das Porzellan seiner Tasse, während seine Daumen umeinander kreisen.

Dann spricht er weiter:
 

„Wie gesagt, begann der Druck auf uns zu wachsen. Die Ereignisse wurden zum Tagesgespräch in Neu-Babylon, und die lokalen Nachrichtensender fragten natürlich unaufhörlich nach Ergebnissen, die wir ihnen nicht liefern konnten. Unser Ruf als Forschungs- und Lehrinstitut stand in gewisser Hinsicht auf Messers Schneide – blieben wir erfolglos, so würden unsere Zuschüsse bald der Vergangenheit angehören.

Gottes Geschick wollte es, dass mich just zu diesem Zeitpunkt ein Anruf aus Amerika erreichte. Ein befreundeter Kunstdozent von der Venice Academy of the Visual Arts in Newport erkundigte sich nach mir, und als ich ihm gegenüber beiläufig dieses Thema aufgriff, berichtete er mir von einem ähnlichen Vorfall, der sich exakt zwei Tage zuvor auf einer belebten Fußgängerpassage in Venice ereignet haben sollte.

Zuerst war ich skeptisch: eine Art… gigantische Schildkröte soll mitten unter den Passanten materialisiert sein und hinter ihr ein Karren voller Waren und Kisten, den sie einige Meter über die Straße zog, bevor sie wieder verschwand - es klang sogar für unsere Verhältnisse absurd.

Andererseits passte es so gut auf die Visionen, die wir bearbeiteten, dass ich neugierig wurde! So drängte ich weiter auf ihn ein und erfuhr, dass es wohl Filmaufzeichnungen gab, die das Monster seh detailliert zeigten.

Spätestens jetzt war ich der Versuchung erlegen: ich musste sofort nach Venice aufbrechen und diese Fährte weiterverfolgen. Vor allem wollte ich die Aufnahmen mit eigenen Händen entgegennehmen und am Ort des Geschehens nach weiteren Spuren forschen, denn ich bezweifelte, dass dies ein Einzelfall war.

So saß ich einen Tag später in einem Shuttle nach Nordamerika. Meine Kollegen wussten nichts davon. Ich trug dieses Abenteuer auf eigene Rechnung und hatte nur wenig Gepäck bei mir. Für den Zeitraum meiner Nachforschungen hatte ich eine Woche anvisiert… eine Woche!

Es muss der 31. Juli gewesen sein, als ich Newport an der Station Metro Tower erreichte. Mein Freund erwartete mich dort und besorgte mir eine Unterkunft in West-Venice, wo das Ereignis stattgefunden hatte. Er konnte mir zwar außer einer Adresse und ein paar Informationsquellen nicht viel geben, aber das genügte mir letztendlich, um eine Reihe von Augenzeugen auszumachen.

Nun, ich will Sie nicht mit Einzelheiten meiner Recherche langweilen. Ich kam gut voran, obwohl es einige Male gefährlich für mich wurde, denn Newport war schon damals ein – wie nennt man es? – heißer Asphalt, gerade um diese Jahreszeit. Nach vier Tagen hatte ich unter einigen Blindgängern eine viel versprechende Spur isoliert, die nach Ost-Venice führte, ins direkte Umfeld der VAVA. Ich wollte mich dort mit einem jungen Studenten treffen, dessen Bekannter Zeuge von weiteren Visionen geworden war. Wir verabredeten uns in einem Club namens ‚Pavillon’.

Hätte ich damals gewusst, dass dieser Ort ein beliebter Umschlagplatz für Party-Drogen war, wäre ich sicher gar nicht erst hingegangen. So jedoch war ich an diesem Abend zum vereinbarten Zeitpunkt dort - doch weder der Student noch mein Interviewpartner ließen sich blicken. Ich rief ihn an, doch meine Anrufe fruchteten nicht. Schließlich hörte ich von der Barfrau, dass er möglicherweise eine Stunde zuvor zusammen mit einem weißhaarigen Fremden verschwunden war. Wohin, wusste sie nicht. Es war ihr auch gleichgültig.

Ich jedoch wollte nicht aufgeben und machte mich auf die Suche nach ihm. Das Wenige, was ich über ihn wusste, führte mich zurück nach Metro Tower und von dort aus an Orte, über die man lieber den Mantel des Schweigens breitet. Mein Glauben an Gott und seine Güte wurden damals beinahe zerstört.

Und dann, als ich zwei Tage später wieder nach Venice kam, fand ich ihn doch - an einem Ort, an dem ich ihn bereits lange zuvor gesucht hatte. Ich hatte ihn schon abgefangen und mit Fragen bestürmt, als ich merkte, dass er nicht alleine war.

Der weißhaarige Fremde stand bei ihm… und neben ihm, im Schatten, eine ganze Schar von maskierten Söldnern!

Ich sage ihnen, ich habe niemals wieder solch eine Angst durchlebt. Als sie begriffen, dass ich ihnen einen Verbündeten abspenstig machen wollte, wurden sie wütend. Einer der Söldner trat mich hart in die Kniekehle, ein anderer packte mich und schlug mir mehrere Male ins Gesicht und vor den Brustkorb, und ein dritter verdrehte mir die Armgelenke, bevor er mich schließlich im hohen Bogen in den Rinnstein schleuderte. Ich verlor das Bewusstsein, noch während ich flog.

Lange Stunden blieb es schwarz um mich. Betäubender Schmerz hielt meinen Körper an den Boden gekettet. Ich schwelgte in dunklen Träumen, die mir die Welt als weiße Spiegelfläche zeigten, leer und kahl und aller fleischlicher Erfahrungen beraubt. Schließlich erwachte ich in einem Krankenhaus. Ich hatte drei Tage in Ohnmacht gelegen. Und draußen… draußen war die Welt dabei, sich zu verändern: der Kollaps…!“
 

Der Kollaps…!

Dies ist die Stelle, die April mehr als alles andere herbei gesehnt hat. Sie beugt sich Pater Marduk entgegen, die Finger um ihre Kaffeetasse gekrallt, doch gerade jetzt steht der Priester plötzlich auf und geht zum Fenster. Einen Moment meint April ihn humpeln zu sehen, doch ist es wohl nur eine Sinnestäuschung.

Das letzte Tageslicht schwindet bereits. Trüber grauer Schnee schwebt federgleich in den weiß-braun gefleckten Hof herab, und große, perlfarbene Eisblumen von herrlicher Symmetrie bilden sich auf der Außenfläche der Scheibe. Durch das matt gefrorene Glas sind zwei dunkle Schemen zu erkennen, die sich zielstrebig über den Hof bewegen.

In einem langen Seufzer bläst der Pater einen warmen Luftstrom gegen die Scheibe, und all die Streben im Eisfeld beginnen mit einem Mal zu brechen. Aus den Lücken im Gefüge stürzen kleine Wassertropfen die Scheibe hinab. In dieser Sekunde schaltet Jennifer Ryan das Küchenlicht an, und die Tropfen, vorher metallisch schimmernd, werden zu glühenden Juwelen, die den matten Eisschleier durchstoßen und schließlich zueinander finden in einem flammenden Vorhang, der den Himmel, die Felder, und die zwei Schemen im Hof mit Feuer bedeckt.

April zittert. Sie versteht das alles nicht. Doch der trostlose Blick, den ihr die Mutter schenkt, und das erneute schwere Seufzen des Paters führen ihre Gedanken auf einen Pfad, der allen fantastischen Flammenbildern zum Trotze in Dunkelheit liegt.

Die zwei Schemen sind inzwischen stehen geblieben. Reglos schauen sie den Pater an, der ihnen stumm entgegenblickt. Dann setzen sich die beiden Schatten wieder in Bewegung, suchen zögernd gegenseitige Nähe. Schließlich verschwinden sie im Dunkel neben der Scheune.
 

„… Der Metro Tower war ein einziger abgebrochener Reißzahn gegen den Rauch geschwärzten Himmel,“ erzählt Pater Marduk weiter, „er ragte hervor aus einem Wust von Flammen und Stahl und Beton. Und hoch oben, noch viel weiter über ihm, stand in der Luft eine gewaltige Schwertklinge, deutlich gegen den Himmel abgehoben: die eine Schneide feurig-rot, die andere weiß.

Ein gewaltiger Ton schwoll an, und ehe er noch ganz abgeklungen war, flossen die beiden Schneiden ineinander, und hatten – ehe man sich versah - die Farbe der jeweils anderen angenommen. Dann leuchteten sie noch einmal auf… und verschwanden für immer.

Doch in dem Moment, da die weiße Schwertseite aufgeblitzt war, startete im Hintergrund ein grausiger Wolkenbruch: Wettersatelliten, Shuttles, Hovercrafts… alles fiel in einem großen Brand zur Erde nieder. Der entsetzliche Qualm, der empor stieg, bedeckte sogar die Sonne. Und selbst, als sich die Wolken nach Stunden zu öffnen begannen, blieb es finster im Schatten der Trümmerteile.

Drei Tage lang ging das so. Längst konnte ich mich wieder angemessen bewegen, doch ich wagte nicht hinauszugehen. Sogar in meinem Ruhezimmer konnte ich die Kollisionen hören, und das Weinen und Schreien war allgegenwärtig. Irgendwann musste ich aber doch gehen, weil mein Krankenbett gebraucht wurde. Auch konnte ich meine Feigheit nicht länger mit Gott vereinbaren, und so verließ ich das Hospital auf eigene Faust und kehrte in meine frühere Unterkunft zurück.

Was ich auf dem Weg dorthin sah… es war größtenteils das Newport von vorher, aber seine Bewohner hatten sich verändert. Das Bewusstsein ihrer Macht war fort gewischt und hinterließ nur bange Hilflosigkeit. Wir alle waren an den Boden gefesselt, einer wie der andere, und der Atem stockte uns, wenn wir mit Menschen auf der anderen Seite der Welt kommunizieren wollten. Ruhelos irrten wir umher. Manchmal suchten wir nach der Speise, die unseren Wissenshunger hätte stillen können, und manchmal auch einfach nur nach Brot, denn niemand brachte es uns vor die Tür, wie wir es gewohnt waren. Nach einigen Tagen erreichten uns zwar die Notfalltransporte der Regierung, doch sie machten die Sache nur noch schlimmer. Schon bald brachen Kämpfe zwischen verschiedenen Parteien aus: jenen, die Brot hatten, und jenen, die es dringend brauchten, aber nicht bekommen konnten. Binnen kurzem war das Chaos nicht mehr zu überblicken und in den Straßen brach der offene Krieg aus.

Venice war von all diesen Veränderungen am schlimmsten betroffen: da man dieses Viertel für eine ‚neoliberale Randzone’ hielt, wurden hier weniger Notrationen ausgeteilt als üblich. Wer keine ‚lebensnotwendigen’ Güter verkaufte, ging generell leer aus und musste sich mit Schwarzmarktgeschäften über Wasser halten, … was alsbald fragwürdige Subjekte anzog.

Als sie herausfanden, wie wenig von den erhofften Schätzen noch übrig war, kam es zum Aufstand.

Mehrere Tage lang hielten Straßenschlachten und willkürlicher Terror das Viertel in Atem. Wir konnten nicht vor die Tür: jeder Versuch der Nahrungsbeschaffung konnte der Letzte sein. Manchmal sahen wir Menschen vor unseren Augen des Hungers sterben. Und dann krachten auch noch wieder und wieder Überbleibsel des großen Brandes auf uns nieder…“

„Die Einschläge hörten erst eineinhalb Wochen nach dem Beginn des Kollapses auf“, äußert sich Jennifer. Es ist das erste Mal seit langem, dass sie von ihrer Tasse aufblickt.

„Eines der letzten Bruchstücke schlug auf der Straße von Greenvale nach Newport ein. Sie… sie haben später im Fernsehen davon berichtet: zwei Kleintransporter aus unserer Gegend, die Nahrungsmittel nach Newport bringen wollten… und ein Auto mit einer Flüchtlingsfamilie. Die… die Frau war noch schwanger…“

Wie ein Blitz ist Pater Marduk bei ihr und auch Owen regt sich schnell, denn ganz plötzlich bricht Jennifer Ryan vor ihren Augen in Tränen aus, die ihren ohnehin zartgliedrigen Körper gräßlich erschüttern.

Widerliche Bilder formen sich vor April’s innerem Auge. Auf einmal ergeben viele Dinge, die sie bisher nur angedeutet fand, einen Sinn.

Nur zu gerne würde sie jetzt im Erdboden versinken oder sich einfach in Luft auflösen: alles wäre ihr lieber, als weiterhin in diesem Haus bei dieser Familie zu sein.

Schon möchte sie aufspringen, doch eine Hand fasst sie unsanft von hinten bei der Schulter. Raue, schwielige Finger graben sich in ihr Fleisch und drücken sie zurück in ihren Stuhl.

„Was hast du schon wieder angestellt, he?“

April zittert.

Diese Stimme, dieser raue, knurrende Ton versetzt sie in panische Angst.

Sie weiß selbst nicht, warum, aber auf einmal fürchtet sie um mehr als ihre Freiheit – sie sorgt sich um ihr nacktes Überleben.

Die grausamen Finger bleiben in ihre Schulter gekrallt, doch der dazugehörige Körper bewegt sich: er wandert an ihr vorbei, entfernt sich von ihr, bis er kaum noch zu hören ist. Ein Brechreiz erregender Geruch von Ammoniak, Schweiß und Bier dringt in Aprils Nase.

Unfähig, ihren Oberkörper zu drehen, blickt die junge Frau aus dem linken Augenwinkel nach der Hand hin, als plötzlich rechts von ihr eine Faust auf die Tischplatte knallt.

April zuckt zusammen, wagt es aber zuerst nicht, ihren Blick zu wenden. Erst, als sie all ihren Mut zusammen genommen hat, dreht sie den Kopf nach rechts und blickt ihrer Angst ins Gesicht.

Die Ähnlichkeiten zu Owen sind unübersehbar: die gleichen glatten, schwarzen Haare, die gleichen hohlen Wangen, die gleichen dunklen Augen. Doch während jene von Owen einen lebhaft leuchtenden Glanz haben, sind diese hier nahezu tot, starr und lichtlos wie ein tiefer Brunnen.

Der große, breitschultrige Mann, dem sie gehören, packt April jetzt grob am Oberarm. Langsam, den Druck ständig verstärkend zieht er sie zu sich.

Und während sein Gesicht immer näher kommt, wächst in April das Verlangen zu fliehen, diesem finsteren Blick und dem harten Griff zu entkommen, vor allem aber das gefährliche Glitzern, das jetzt in die Augen des Mannes tritt, nicht sehen zu müssen. Angst steigt in ihrer Kehle auf, und namenloses Grauen kriecht wie ein elektrischer Schlag durch all ihre Venen, sie über das Maß erfüllend und in fiebrigen Schauern badend.

Ein leichter Hauch von Bier schlägt der jungen Frau entgegen, als sich die schmalen Lippen des Mannes öffnen und er leise flüstert: „Wir hätten dich von Anfang an als faules Ei erkennen sollen. Du hast nie getan, was man dir sagte, du warst immer aufsässig, du hast mit uns gespielt und uns wie Dreck behandelt, du hast uns nur ausgenutzt, du gieriges, kleines… !“

EEEEYYYUUUU…

Ein markerschütternder Schrei gellt durch das ganze Haus und bringt die Scheiben in den Fenstern und Schränken zum Klirren. In einem Moment presst Owen sich die Hände auf die Ohren, im nächsten weicht der Mann taumelnd vor April zurück und landet polternd auf dem Allerwertesten. Aprils Mutter schreit vor Entsetzen.

Die Quelle des großen Gebrülls aber ist April selbst: wie ein wildes Tier windet sie sich in ihrem Stuhl, zischend, brüllend, nach allen Seiten austretend…

Einzig Pater Marduk nähert sich ihr, wenn auch langsam und wieder und wieder das Kreuz schlagend. Seinen Stock hält er vor sich wie einen Schild.

Von einer Sekunde zur anderen wirft er sich nach vorne und versucht seine freie Hand auf Aprils Stirn zu drücken.

Das Vorhaben misslingt, die Stirn entgleitet ihm, und Pater Marduk fällt strauchelnd nach vorn in Aprils Schoß.

Der Priester erstarrt zu Eis in der Erwartung drohender Gefahr, doch noch bevor er Aprils Knie berührt hat, ist der Schrei auch schon erloschen. April sitzt, heftig zitternd zwar, aber bei vollem Bewusstsein, in ihrem Stuhl und schaut sich aufgeregt um.

Ihre Augen wirken ruhelos, huschen von einer Ecke zur anderen, verweilen nirgendwo lange und scheinen doch unzählige Tage vor sich vorbeiziehen zu sehen, Tage, die niemals zu enden schienen – Tage in diesem Wohnzimmer oder der angrenzenden Küche.

Tage, die überschattet waren von einer Person…

Ihr Blick kehrt zu dem Mann mit den dunklen Augen zurück, der am Boden liegt und den jungen Owen, der ihm aufhelfen will, wütend beiseite schubst.

Keuchend starrt er zu April empor. Sein ganzer Anblick schreit nach Hass.

„Was machst du noch hier?“ knurrt er. „Warum musst du hier sein, Schwester?“



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