Zum Inhalt der Seite

Sinnlose Versprechen

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

- 17 -

- 17 –
 

Blauer Himmel überzog die Stadt, die kaum etwas von seiner ruhigen Ausstrahlung innehatte. Hoch oben schien die Zeit still zu stehen. Dort waren Minuten Stunden und Tage Jahre. Unentwegt und in friedlicher Manier umkreiste die Erde die Sonne und drehte sich um die eigene Achse. In Asht-Zero hingegen herrschte das pure Leben. Man konnte auf dem Marktplatz fast schon von einem wilden Durcheinander sprechen. Jason Sartaren hatte beschlossen zu handeln, ehe Tyrone von Zundersby die Möglichkeit hatte, sich durch eher zweifelhafte Methoden aus der Affäre zu ziehen.

Es war wahrlich kein normaler Umstand, dass die Tribüne schon wieder in der hinteren Mitte prangte und zwei Kameras von beiden Seiten auf sie gerichtet waren. Live-Aufnahmen würde es an diesem Tage nicht geben und doch stand ein Spektakel an, das es so in der Geschichte der Stadt noch nie gegeben hatte. Vier Rednerpulte standen in einem Halbkreis auf den Holzpaneelen, die am frühen Morgen schweißtreibend herantransportiert und aufgebaut worden waren. Ungewöhnlich war es keinesfalls, dass sich alle Kandidaten zur vorstehenden Bürgermeisterwahl Rede und Antwort stehen sollten. Das kam überall vor und musste nicht besonders hervorgehoben werden. Doch es war noch eine weitere Person geplant, die regelrecht zur Redefreiheit aufgefordert wurde. Man sollte meinen, dass ein solcher Aufruf seitens Jasons der reinsten Idiotie glich, wenn man dabei bedachte, dass es sich um Tyrone von Zundersby höchstpersönlich handelte. Vielleicht war dem auch so. Aber vielleicht auch nicht. Die Zukunft konnte keiner vorhersehen, egal wie offensichtlich sie auch sein mochte.

Immer mehr Menschen strömten heran, um sich an dem Schauspiel, das ihnen bevorstand, zu laben. Aus der langweiligen Politik war mittlerweile eine brisante Show geworden. Jason Sartaren vermochte es, die Gemüter der Einwohner von Asht-Zero zu bewegen, und dennoch nicht unbedingt immer in dem Sinne, wie er es gerne hätte. Er war in der Tat dabei, etwas zu erreichen und mit ein wenig Geschick konnte er die Sympathien vielleicht in seine Richtung lenken. Es war verflucht schwer, das stand außer Frage. Mit einem Vater, der die Bürger in Angst und Schrecken versetzt hatte, konnte man nicht einfach nur mit dem Finger schnippen und hatte die Einwohner hinter sich. Bis er von sich behaupten konnte, dass er den Hauch einer Chance hatte, gewählt zu werden, hatte er noch einen beschwerlichen Weg vor sich. Und diesen galt es heute anzutreten.

Tief atmete der blonde junge Mann durch und besah sich die Runde, die sich mittlerweile auf der Tribüne eingefunden hatte. Greg Fulls zu seiner Linken, seit gut zwanzig Jahren Vertreter des strengen Konservativismus. Tyrone von Zundersby zu seiner Rechten, Schlossherr und illegaler Waffenhändler, mit einem boshaften Lächeln auf den Lippen und einem gefährlichen Glanz in den hellgrünen Augen. Daneben Derk Vanrim, der momentane Spitzenreiter laut des lokalen Nachrichtensenders News and more. Neben all diesen Männern wirkte Jason noch jünger als er war. Doch was die ernsten Mienen seiner Mitstreiter anbelangte, stand er ihnen in nichts nach. So nervös er innerlich auch war, so wenig ließ er sich das anmerken. Beide Arme auf das Pult gestützt und aufrecht verharrte er an seinem Platz und ließ die Geräuschkulisse, die zu ihm nach oben drang, auf sich wirken. Stetes dumpfes Raunen untermalte die ohnehin schon angespannte Atmosphäre. Hell schien die Sonne in die Menge von fast ausschließlich fremden Gesichtern, die immer wieder fahrig und auch blasiert gen Tribüne schnellten. Jason sah sich immer wieder Augen konfrontiert, die ihn förmlich richten wollten. Sein Herz klopfte wild gegen seine Brust, doch er bemühte sich redlich, dass niemand realisierte, wie mulmig ihm zumute war. Obgleich er öffentliche Auftritte nicht in guter Erinnerung hatte, hatte er keinen anderen Weg gesehen. Wie konnte man eine ganze Stadt ansprechen, ohne sich ihnen zu präsentieren? Welche Mittel standen einem zur Verfügung, um Missverständnisse zu beseitigen und nicht als Drückeberger dazustehen? Eddy und Holly hatten ihn in gewisser Weise vor einem weiteren Fehler bewahrt. Das war ihm durchaus bewusst. Mit seinem Artikel hätte er Tyrone von Zundersby und seinen restlichen Gegnern in die Hand gespielt. Denn seine Verteidigung hätte allein auf irgendwelchen Worten beruht, die ihn schwach und hilflos hätten erscheinen lassen. Er musste einen Schritt nach vorne gehen! Auf die Menschen zu, um die Schwäche, die auch ihm innewohnte, zu überspielen. Musste man das denn nicht immer? – Sich wesentlich stärker darstellen als man in Wahrheit war?

Mit einem von Ehrfurcht entsprungenem Glimmen in den braunen Augen suchte er Holly auf, die ihm ermutigend zunickte. Eine Flucht stand dieses Mal nicht zur Debatte, egal wie hart seine Gegner mit ihm ins Gericht gehen würden. Und an der Haltung von Tyrone konnte er mühelos erkennen, dass dieser Mann gewiss mindestens einen Trumpf im Ärmel trug.

Das rote Licht der Kameras sprang an. Die Show konnte also beginnen.
 

„Sehr geehrte Damen und Herren, meine lieben Mitbürger, Freunde und Bekannte“, begann Derk Vanrim, der beharrlich darauf bestanden hatte, die ersten Worte an Asht-Zero richten zu dürfen. Jason hatte im Gegensatz zu Greg keine begründeten Einwände gehabt, weshalb er Fulls als kleinen Trost versprochen hatte, dass er der nächste in der Rangfolge sein durfte. Immerhin waren sie wider alle Umstände gleichberechtigte Kandidaten und natürlich darauf bedacht, sich der Menge im rechten Licht zu präsentieren. Und die vermeintliche Führungsposition konnte ein großer Schritt in Richtung Wahl sein.

„Aufgrund einiger unerwarteter Zwischenfälle stehen wir schon an dem heutigen Tage vor Ihnen, um Ihnen unsere Wahlprogramme von Angesicht zu Angesicht zu erläutern und uns Ihren Fragen zu stellen. Vorab möchte ich allerdings erwähnen, dass kein Individuum vorschnell verurteilt werden darf. Manchmal sind die Dinge anders als sie scheinen. Lassen Sie sich nicht von Schlagzeilen täuschen!“

Während seiner geplanten Kunstpause blickte er kurz zu Jason, der sich verdrossen auf die Unterlippe biss. Das war ein geschickter Schachzug von Vanrim und dieser wusste das ebenso gut wie er. Partei für seinen Gegner ergreifen und damit Verständnis zeigen kam bei den Menschen immer gut an.

„Da der allseits geschätzte Alan Northburg vor wenigen Wochen sein Amt überraschenderweise niederlegte, stehe ich heute hier, um sein Werk in den nächsten zwei Jahren fortzusetzen. Aus guten Gründen zog er sich aus der Politik zurück, doch das soll nicht bedeuten, dass seine ganzen Mühen vergebens waren. Ich, Derk Vanrim, werde dort ansetzen, wo er aufgehört hat! Die bisherigen Strukturen werden erhalten bleiben und nur an den Eckpunkten verfeinert und damit verbessert werden. Mitunter oberste Priorität wird hierbei der Ausbau der Autobahn haben. Wir müssen für eine bessere Anbindung an unsere Stadt sorgen, damit unsere Wirtschaft aufleben kann. Ein Boom wie er im Bilderbuch steht. Mehr Umsatz, schwarze Zahlen, höhere Löhne!“

Jason riss seine Augen weit auf, denn er konnte kaum glauben, was er da hörte. In den letzten Jahren hatte das Augenmerk der Politik gewiss nicht auf der Infrastruktur gelegen, um die Stadt nach außen hin zu öffnen. Nun verstand er, weshalb Vanrim so beharrlich darauf bestanden hatte, als erster seinen Appell an die Bevölkerung richten zu dürfen. Er hatte begriffen, was der Blonde mit seiner Kandidatur bezwecken wollte. Neuerungen und bessere Lebensverhältnisse. Auch wenn Derk sie nur bedingt durchsetzen konnte, wenn er an Northburgs Plänen festhielt, so hatte er die Sympathien der Bürger nun gewiss erst recht auf seiner Seite. Alles, was Jason in dieser Richtung sagen würde, würde als billiger Abklatsch abgestempelt werden. Der Jüngere hatte mit Holly lange über die Punkte seines Wahlprogramms diskutiert und die Autobahn war von Anfang an unter ihnen gewesen. Sein Puls raste, dabei hatte Vanrim gerade erst angefangen zu reden. Deutlich spürte er Tyrones arroganten Blick auf sich. Jason suchte die hellgrünen Augen auf, die reinen Spott in sich trugen. Derk Vanrim war wohl sein erstes As. Von allein hätte dieser sicherlich die Autobahn nicht als ein wichtiges Ziel seiner Politik auserkoren. Dazu war der eingeschlagene Weg von Northburg eigentlich viel zu altbacken gewesen. Der frühere Bürgermeister hatte zwar des Öfteren von einem Aufstreben der Wirtschaft gesprochen, doch kaum etwas in dieser Hinsicht unternommen. Zumindest nichts Wirkungsvolles. Und Jason war überzeugt davon, dass das pure Absicht gewesen war. Northburg war ein Mensch, der nicht gerne Konkurrenz bekam und solange die Stadt weitestgehend isoliert war, bestand diesbezüglich auch keine Gefahr.

Jason zwang sich ein leichtes Lächeln auf die Lippen. So schnell würde er Tyrone von Zundersby nicht die Oberhand gewähren. Nicht freiwillig!

„Desweiteren werde ich dafür sorgen“, fuhr Vanrim selbstbewusst fort, „dass die Haushaltssituation von Asht-Zero einem wahren Goldregen gleicht! Die Restauration der Stadtkirche steht unweigerlich bevor und ich verspreche Ihnen, dass Sie an Heiligabend alle einen Fuß in die Kirche setzen können, ohne die Befürchtung hegen zu müssen, dass Sie von herunterstürzenden Leuchtern oder Gesteinen erschlagen werden. Gottes Haus wird Ihnen allen offen stehen und ich hoffe, Weihnachten mit Ihnen allen dort feiern zu dürfen!“

Als die Bürger zu klatschen begannen, senkte Jason die Lider. Er hatte gewusst, dass die meisten Einwohner streng gläubig waren und der Zerfall der Kirche ein hervorragendes Thema bei der Wahl abgeben würde. Doch Northburg hatte vor gut einem Jahr bei seiner Neuwahl auch diesen Punkt nur rein provisorisch auf seinem Wahlprogramm stehen gehabt. Eine Restauration war schon lange überfällig gewesen, aber es war dennoch nur halbherzig eine Spendenaktion ins Leben gerufen worden.

Erneut bekam Jason einen Seitenblick von Derk Vanrim verpasst, ebenso von Tyrone von Zundersby. Die beiden steckten eindeutig unter einer Decke. Vermutlich hatte Tyrone Vanrim genug Geld geboten und gleichzeitig die besten Aussichten, in der Tat gewählt zu werden, dass sich jener bereitwillig kaufen ließ. Korruption war Gang und Gebe in diesem Geschäft, doch dass sich solche Offensichtlichkeit auch noch bewährte, widerstrebte dem jungen Mann völlig. Nur wenige stimmten nicht in den Beifall ein, der bisweilen nicht abklingen wollte. Die Menschen ließen sich geradewegs täuschen. Dass Vanrim nichts von dem beabsichtigte, was er hier prophezeite, lag auf der Hand. Er würde exakt dort weitermachen, wo Alan Northburg abgebrochen hatte. Ohnehin war er die letzten Jahre Northburgs Handlanger gewesen und hatte sich nie gegen seine nicht sehr fortschrittliche Politik ausgesprochen. Vielmehr hatte er die Isolation und die indirekte Unterdrückung der Jungen unterstützt. Sobald sich auch nur ein Mensch unter vierzig in den Gemeinderat gekämpft hatte, hatte er alles daran gesetzt, um sich ihm wieder zu entledigen. Neues Denken und Innovationen waren dem Rat der Alten so zuwider gewesen, dass sie sich gemeinsam gegen diesen aufstrebenden Jüngling verschworen hatten. Und sie hatten bisher immer Erfolg damit gehabt.

Jason hörte die Resignation seines Herzens in seinen Ohren hämmern. Er würde das nächste Opfer dieser Verschwörung sein. Wenngleich er gewusst hatte, worauf er sich eingelassen hatte, wurde ihm das Ausmaß seiner Untugend heute allzu deutlich vor Augen geführt. Die Entlarvung seines Vaters war erst der Anfang gewesen. Ab jetzt würde es heißen, bis aufs Blut zu kämpfen. Auch Holly sah nicht gerade heiter aus. Ihre Mimik drückte fast schon den reinsten Unmut aus, was Jason schlucken ließ. Ein mächtiger Kloß steckte in seinem Hals und er fühlte das Adrenalin durch sich hindurchströmen. Der Beruf des Journalismus konnte ihm an dieser Stelle nicht mehr weiterhelfen. Er war von nun an auf sich allein gestellt. Er gegen den Rest der Stadt.

In den folgenden Minuten bekam er nur noch vage mit, was Vanrim den unbescholtenen Bürgern zu sagen hatte. Egal, welche Worte aus seinem Mund auch drangen, sie waren nichts als Lügen. Sinnlose Versprechen, die einfach nur dahergesagt wurden, um sich Stimmen einzufangen. Und Jason hätte gerne dazwischengefunkt, um den Menschen aufzudecken, welche Farce hier abgezogen wurde. Aber er schwieg. Nicht nur aus dem Bewusstsein heraus, dass er sonst wegen Aufruhr seine Position verlor, sondern auch weil er nichts entgegenzusetzen hatte, was den Glauben der Bevölkerung auf sich lenken konnte. Mehr als den Vorwurf, dass Vanrim log, hätte er nicht vorzubringen. Und das war bei Weitem nicht genug.

„… Und zuguterletzt, meine lieben Mitbürger, habe ich die Ehre, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass unsere Stadt bald über ein neues Denkmal verfügen wird. Schon lange war es überfällig gewesen. Viele der Anwesenden haben einen geliebten Menschen im Krieg verloren und kaum einer hatte bisher eine richtige Grabesstätte, um dort trauern zu können oder seinem Verwandten oder Freund die letzte Ehre zu erweisen. Hier auf dem Marktplatz wird bald ein Monument stehen, um der Trauer, die einen auch heute noch ab und ab befällt, einen Ort zu geben, an dem sie die Seelen der Verstorbenen erreicht.“

Laut knirschte Jason mit den Zähnen. Was war das für ein Wahnwitz, der sich gerade abspielte? Der Krieg war über sechzig Jahre her! Sein Blick schweifte über die Menge. Neben ihm zweifelten einige an dem Sinn der zuletzt gesprochenen Worte. Eine bedrückende Stille befiel Asht-Zero und Jason konnte nicht umhin, Tyrone spöttisch anzusehen. Ein solches Denkmal war gewiss nicht das, was sich die Menschen von ihrem neuen Bürgermeister erhofften. Ein Stein für längst zurückliegende Zeiten? Die Zukunft war das Entscheidende, nicht die Vergangenheit, die ohnehin nicht alle miterlebt haben. Damit hatte sich Vanrim eindeutig ein Eigentor geschossen. Als die ersten jedoch zu applaudieren begannen, glaubte Jason sich zu verhören. Es dauerte nicht lange, bis immer mehr Menschen in den Jubel einstimmten und alsbald ein Tosen vorherrschte, das all seine Sinne betäubte. Ungläubig starrte Jason auf die anwesende Bevölkerung hinab. Das musste sich um einen Irrtum handeln. Zustimmende Rufe für etwas, das einfach nur absurd war? Das musste ein schlechter Witz sein.
 

„Mit dem Krieg wird die Menschheit niemals abschließen können“, raunte Tyrone ihm zu und verbarg sein triumphales Blitzen in den Augen nicht einmal ansatzweise.
 

Durch Jasons Gedanken höhnte irres Gelächter. Tyrone hatte alles geplant. Jedes Detail von Derk Vanrims Rede. Und er war sich unentwegt sicher gewesen, dass er damit Erfolg haben würde. Und die Reaktion des Volkes bestätigte ihn auch noch. Dass die Menschen die Geschichte nicht ruhen lassen konnten, verstand der Blonde nicht. Der Krieg war lange vorbei! Unwiderrufbar, aber zu Ende!

Verstand er die Menschen nicht vielleicht doch irgendwie? Nicht was den Krieg an sich anbelangte, doch die Ruhelosigkeit, die dahinter steckte? Das Bedürfnis, immer wieder zu dem Ursprung all des Übels zurückzukehren? Hatte ihn sein Vater insgeheim geprägt, dass er heute hier stand und all die Schmach über sich ergehen ließ? War er heute hierher gekommen, weil er sich den Lügen, aus denen sein Leben bestand, stellen wollte? Warum hatte er seine Kandidatur nicht niedergelegt, als Lance ihn darum gebeten hatte? Warum hatte er nicht auf seinen Freund gehört, der die Politik als verrucht und intrigant bezeichnet hatte? Weshalb wandte er diesem grotesken Trubel immer noch nicht den Rücken zu und gab sich geschlagen?
 

„Unentwegte Ruhelosigkeit!“, drang es laut über die Menge hinweg.
 

Genau das war es, was ihn und all seine Mitmenschen immerzu durchtränkte. Man konnte selten ein Kapitel endgültig abschließen. Der Mensch neigte dazu, das Buch immer wieder zurückzublättern und die Gründe nachzulesen, warum alles so gekommen war.

Erst als sich die Blicke alle auf ihn richteten, realisierte Jason, dass die Worte aus seinem Mund gedrungen waren.
 

„Kennen Sie das?“, fuhr er wie in Trance fort. „Je mehr man über sich und die Welt nachdenkt, umso erschütterter ist man. Überall herrscht Leid. Armut, Hungersnot, sinnfreie Machtkämpfe, vorgetäuschte Demokratie, Korruption, Krieg, Terror, und so vieles mehr.

Ich frage mich, weshalb man weiterhin sein Leben einer Macht anvertraut, die damit nach Herzenslust umspringen kann. Sie schenken einem einzelnen Mann Ihre ganze Existenz, Ihre Familie, Ihre Kinder. Im Prinzip alles. Alles legen Sie in ein Paar Hände, das sich bei Belieben umdrehen kann und Ihr Leben gen Boden stürzen lässt.“
 

„Solch unverschämte Worte aus dem Mund eines halben Kindes!“, empörte sich Derk Vanrim. „Hören Sie nicht auf ihn! Nur weil er kein vernünftiges Wahlprogramm zu bieten hat, versucht er Sie, mit solch hirnrissiger Philosophie zu beeinflussen“, höhnte er. „Oder haben Sie eines, werter Herr Jason Sartaren?“
 

Mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen richtete Jason seinen Blick auf den ganz rechts stehenden Mann. „Wieso Heuchlereien von sich geben!?“, kam es scharf über seine Lippen.
 

„Was erdreisten Sie-“
 

Mit einer harschen Handbewegung brachte Tyrone seinen Verbündeten zum Schweigen. Gefährlich funkelte er Jason an. „Wir stehen heute hier, um unsere Meinung kund zu tun. Finden Sie nicht, wir sollten diesem jungen Mann eine Chance geben?“
 

Vanrim antwortete nicht. Vielmehr war er damit beschäftigt, eine gelassene Miene aufzusetzen, um vor dem Volk nicht als cholerischer Philister dazustehen. Jason beobachtete das mit eiskalter Berechnung.

„Sehen Sie, wie sich mein Mitstreiter am Riemen reißen muss, um mich nicht mit Worten auseinanderzunehmen?“ Jason visierte Vanrim an. „Seine scheinbare Beherrschung beruht rein darauf, vor Ihnen seinen wahren Charakter zu verbergen. Sobald er jedoch das Amt des Bürgermeisters innehat, zerfetzt er sein vermeintliches Wahlprogramm in tausend Stücke. Nichts wird von den heutigen Worten mehr übrig bleiben. Nieder mit der Autobahn und mit der Kirche. Was interessiert ihn Ihr Wohl, wenn er seine eigene Rente aufbessern kann? Was kümmert ihn der Kindergarten, wenn er keine Kinder hat, die aufgrund des Schimmelbefalls an Atemnot leiden?

Meine lieben Mitbürger“, leitete Jason seine improvisierte Rede ein. Das, was er mit Holly besprochen hatte, glich nun purer Nichtigkeit. Mit kategorisch aufgelisteten Wahlpunkten brauchte er jetzt nicht mehr aufzuwarten, nachdem Tyrone ihm zuvorgekommen war. Jetzt ging es darum, den Menschen die Augen zu öffnen. Mehr verlieren konnte er ohnehin nicht mehr. „Ich sehe nicht länger stillschweigend mit an, wie ein paar Menschen Ihre ganze Zukunft zerstören. Die Gier nach Macht wird immer existent sein, doch es liegt in Ihren Händen, sie bei diesen Männern zu vereiteln. Bürgermeister zu sein bedeutet nicht nur, an sich selbst zu denken! Sich und seinen hinterhältigen Kumpanen das Geld, das ohnehin knapp ist, zuzuschieben ohne Rücksicht auf das Volk. Ihr seid das Volk, also nutzt eure Stimme, um den zu wählen, der euch wahrlich hilft, bessere Lebensverhältnisse zu schaffen!“

Jasons gesamter Körper bebte. Er wollte endlich, dass die Menschen verstanden, worauf es ihm ankam. Im Gegensatz zu Vanrim und Zundersby wollte er, dass jeder erkannte, welche Kraft ihm innewohnte. Dass jeder die Möglichkeit hatte, nach seinen eigenen Maßstäben etwas zu verändern. Seinen eigenen Lebensweg mitzubestimmen, vor allem wenn es um die Politik und damit um die Schuldbildung, um die Kindererziehung, um den Beruf, die Löhne und die Rente ging. Nein, er wollte nicht mit leeren Versprechungen die Macht an sich reißen.

Plötzlich spürte er eine starke Hand auf seiner rechten Schulter, die kräftig zudrückte. Tyrones Atem strich seine Wange, als er folgende Worte vernahm:

„Du hast deine Chance vertan, mein lieber Jason.“
 

Nach außen hin wirkten Jason und Tyrone fast wie Brüder, so wie sie Seite an Seite standen und miteinander tuschelten. Keiner sah, mit welcher Kraft der Ältere zudrückte. Keiner sah, wie sich Jasons Körper versteifte.

„Lassen Sie mich los“, zischte der Blonde. Der Schmerz, der ihn durchzuckte, ging ihm durch Mark und Bein. Seine Rippen pulsierten grausam.
 

Doch Tyrone dachte nicht daran, die Hand von ihm zu lassen. Erneut stieß er seinen heißen Atem in der Nähe von Jasons Wange aus.

„Und nun darfst du mit ansehen, wie deine überaus glorreiche politische Karriere zuende geht.“
 

„Und das aus dem Mund eines Schmugglers?“

Jason konnte nicht anders als Tyrone anzugrinsen. Seine Vernunft hatte sich bisweilen gänzlich verabschiedet. Ständig bildete sich dieser ungehobelte Kerl ein, ihn zur Schau zu stellen. Das mit seinem Vater hatte er nicht wissen können, doch nun war er gewappnet. Er wusste, dass Tyrone nicht besser als Kelvin war.
 

„Kannst du mir das nachweisen?“
 

Eine einfache Frage warf den Blonden aus der Bahn. An dem überlegenen Lächeln seitens Tyrone von Zundersbys konnte er erkennen, dass er wahrlich keine Chance hatte. Obgleich er und Holly alles daran gesetzt hatten, stichhaltige Beweise zu finden, waren sie kläglich daran gescheitert. Nur einen hatte er und der war vermutlich nicht ausreichend. Doch er musste es probieren. Irgendwie musste dieser Kerl doch zu stoppen sein!? Auf Gedeihen und Verderb würde er sich ihm entgegenstellen. Einer musste den Schwarzen Peter in die Hand nehmen, damit etwas in dieser Stadt geschah.

Irgendwie schaffte es Jason, sich ein Lächeln abzuringen. Tyrone war davon in keiner Weise beeindruckte, aber das kümmerte ihn nicht. Mit seiner Linken richtete er das Mikrofon und atmete noch einmal tief ein, ehe er sich von seinem Widersacher abwandte.

„Ihnen ist sicherlich nicht entgangen, dass dieser Mann neben mir sich sein Geld auf unehrliche Weise verdient.“

Tyrones Finger gruben sich immer tiefer in sein Fleisch. Aber Jason biss weiterhin die Zähne fest zusammen und fuhr ungeniert fort:

„Waffenschmuggel in Nacht- und Nebelaktionen! Gesetze sind diesem Mann völlig gleichgültig. Wollen Sie diesem Menschen, einer aus Derk Vanrims Gefolgschaft, vertrauen, der Menschen verhilft, illegal an Schusswaffen zu gelangen? Selbst Kinder und Jugendliche sind vor ihm nicht gefeit. Nach eigener Aussage eines Sechzehnjährigen – den Namen verschweige ich, da es sich um einen Schutzbefohlenen handelt, aber dies werden Sie mir sicherlich verzeihen…“, wurde er leise und wog seine nächsten Worte ab. „Laut ihm ist er durch Tyrone von Zundersby in den Besitz einer Pistole gekommen, mit der er seinen eigenen Vater bedroht hat.“

Während Jason Tyrones Knurren vernahm, ließ er seinen Blick von einem zum anderen wandern. Er wollte die Gefühle der Bewohner einschätzen können, bevor er seinen Appell an sie richtete. Die meisten sahen sehr verunsichert aus. Sie wussten anscheinend nicht, wem sie auf der Tribüne glauben konnten und wem nicht. Doch Jason vermutete insgeheim, dass sie weiterhin hinter Vanrim standen, auch wenn ihre Mimiken momentan nicht die Überzeugung ausdrückten, die sie dennoch bald wieder erlangen würden. Es gab auch Bürger, die ihm mit ihren grimmigen Mienen deutlich machten, dass er am besten das Weite zu suchen hatte. Doch noch war der Zeitpunkt nicht gekommen, den Schwanz einzuziehen und wegzulaufen.

„Wollen Sie-“
 

„- Jason Sartaren zuhören, wenn Sie doch genau wissen, dass sein eigen Fleisch und Blut ein Verbrecher par excellence ist?“

Es war Fulls, der die Stimme erhoben hatte. Bisher hatte er sich dezent zurückgehalten, doch nun überzog Wut seine Gesichtszüge.

„Ist das hier ein Wahlkampf oder eine Schlammschlacht?“, fügte er erhitzt an.
 

Grollen schlich durch die Reihen der Bevölkerung. Jason musste sich beeilen, um seine Message noch loszuwerden. Er wusste, Bürgermeister würde er nicht mehr werden, doch er wollte unbedingt, dass die Menschen sahen, wie verfahren die Politik war. Er selbst hatte es tief in seinem Inneren immer gewusst, und hatte dennoch in ihr mitmischen wollen. Aus Leichtsinn heraus hatte er geglaubt, er könne durch seine überraschende Kandidatur die Stimmen für sich einnehmen. Durch seine Denkanstöße die Menschen für sich gewinnen. Doch Asht-Zero war eindeutig zu alteingesessen und erzkonservativ. Aber es gab ein paar junge Familien, die ihm immer noch Gehör schenken würden. Und an diese musste er sich speziell richten. Vielleicht kam einer nach ihm, der an seiner statt irgendwann die Stadt umkrempeln würde. Durch die Existenz Father Dests würde er die Wahl niemals gewinnen können. Wehmut beschlich ihn ob seiner Einsicht und doch verdrängte er standhaft den Schmerz, den Tyrone immer noch verursachte. Dieses eine Mal würde er seinen Mund noch aufmachen, um nicht sang- und klanglos unterzugehen.

„Liebe Mitbürger, achtet auf eure Kinder, damit sie diesem Mann“, er deutete auf den Schlossherrn, „nicht zum Opfer fallen. Die Kriminalität ist ohnehin schon hoch genug.“

Unsanft wurde er von Tyrone und auch Fulls gepackt.

„Bitte, denkt an die nächsten Generationen! Sollen sie…“
 

„Schnauze!“, zischte ihm Greg Fulls zu. Er war Jasons Worte überdrüssig und konnte es nicht mehr hören, dass er als vermeintlicher Heiliger ihren Wahlkampf boykottierte.
 

„Du hast niemanden“, säuselte Tyrone zu seiner Rechten ruhig und zog ihn wie Fulls mit sich.
 

„Sollen sie wegen ihm im Gefängnis enden?“, rief Jason so laut er konnte. Er bezweifelte, dass ihn viele verstanden hatten, denn ob des Schauspiels, das sich ihnen bot, redeten sie wild durcheinander oder lachten einfach nur.

Gut, vielleicht war er das Gespött der Stadt, doch er wollte einfach nicht die Hoffnung aufgeben, dass es ein paar Menschen gab, die begriffen hatten, was er von ihnen wollte.

„Ich gehe ja schon“, ächzte er seine beiden Gegner an, die ihn immer noch gen Tribünenende schleiften. „Hier habe ich ohnehin nichts verloren.“

Erst als er den steinigen Marktplatz unter seinen Füßen spürte, ließen die beiden von ihm ab.
 

„Verschwinde!“, herrschte Fulls ihn an und ging zurück zu seinem Rednerpult.
 

Jason sah direkt in das höhnische Gesicht von Zundersby. „Du bist genau wie er“, hob der mit den aschfahlen Haaren die Hand und entfernte sich.
 

Lange hielt sich der Blonde nicht damit auf, diesem Mistkerl nachzusehen. Die Hände in den Hosentaschen vergrabend begann er einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er hatte wahrlich nichts unter diesen machthungrigen Männern verloren, deren einziges Ziel es war, die Bürger durch Lügen zu täuschen und sich damit unterzuordnen.
 

„Warte!“, forderte ihn nach ein paar Metern eine Frauenstimme auf. Völlig außer Atem kam Holly auf ihn zu gerannt.
 

„Hat’s dir gefallen?“, fragte Jason mit gehobenen Brauen.
 

„Wie kannst du jetzt noch so überheblich sein?“

Überrascht blickte die Brünette ihn an.
 

Gleichgültig zuckte er mit den Schultern. „Wäre es dir lieber, wenn ich vor dir in Tränen ausbreche?“
 

„Nein“, schüttelte sie irritiert mit dem Kopf. „Aber… Lass uns nach Hause gehen“, streckte sie einen Arm nach ihm aus.
 

„Meine Koffer sind dort“, verwies er die Straße hinauf, wo der Bahnhof lag.
 

„Koffer?“, wiederholte sie konsterniert.
 

„Lance hat mich rausgeschmissen“, klärte er sie auf.
 

„Dieser verfluchte Idiot!“

Pikiert verzog sie den Mund und schaute sich nach Lance um, ganz als ob jener in der Nähe lauern und hämisch grinsen würde.
 

„Lass es gut sein, Holly. An seiner Stelle hätte ich mich auch vor die Tür gesetzt.“

Sanft lächelte er sie an und legte einen Arm um ihre Schultern.

„Hättest du etwas gegen einen etwas längeren Gast?“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  inulin
2007-08-19T21:05:00+00:00 19.08.2007 23:05
Oi... DAS nenn ich doch mal nen Wahlkampf.
Jason hat es wirklich nicht leicht. *seufz*
So, so. Dann sind das seine Mitkandidaten? Ach Mensch. Das da aber auch nie was glatt laufen kann. *hmpf*
Aber dieser Wahlkampf ist der erste, bei dem ich nicht eingeschlafen bin. *gg*
Hm. Was macht Jason denn jez? Zieht er seine Kandidatur zurück? Oder macht er weiter? Obwohl er weiß dass seine Chancen sehr gering sind.
Ach menno. Hör doch nich immer an solchen Stellen auf. >_<


Zurück