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Die Kronen des Kriegers

Die Vorgeschichte zu den Ereignissen in der Zeit der Echidna
von

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Der Dieb in der Nacht

Als Zachery und Kaiyeri an den Ort kamen, von dem aus der Ruf gekommen war, konnten sie nur den Kopf schütteln. Sie standen mitten im Zentrum des Lagers, und um sie herum standen die größten und am schwersten beladenen Wagen der Karawane. Und es sah aus, als wären auf dem kleinen Fleckchen Freiraum, das hier vorhanden war – ein kleiner kreisförmiger Platz, etwa vier Schritt im Durchmesser – das ganze Lager versammelt. Es war unmöglich, näher heran zu kommen.

Mescalero knirschte wütend mit den Zähnen. „Jetzt müssen wir die ganze Ladung dieser Wagen hier durchsuchen, bevor wir wissen, was genau gestohlen worden ist. Diese Diebe…“

„…sind wesentlich geschickter als alle Eure Leute zusammen“, fuhr Kaiyeri mit ungewöhnlichem Ernst fort.

Mescaleros Blick war hart wie Stein, als er seinem Gegenüber in die Augen blickte. „Wollt Ihr mir etwa sagen, dass uns diese Diebe ausgetrickst haben?“, fragte er. „Nie im Leben. Meine Leute sind allesamt erfahren, wenn es darum geht, eine Karawane zu schützen.“

„Anscheinend hattet ihr es noch nie mit Dieben zu tun“, konterte Kaiyeri, der sich nicht im allermindesten von Mescaleros Blick beeindrucken ließ. „Ich glaube Euch gern, dass eure Leute erfahrene Kämpfer sind, aber das bin ich auch. Und auch wenn ich nur in ganz wenigen Fällen mit Dieben zu tun hatte – die Fehler, die Eure Leute hier begangen haben, müssten auch Euch sofort auffallen.“

Die Wut verschwand aus Mescaleros Blick und ließ nur Verwirrung zurück. „Bis jetzt haben sich noch keine Diebe bei Nacht heimlich herangeschlichen“, räumte er ein. „Aber was meint Ihr mit Fehlern, die wir begangen haben sollen?“

„Das sollte doch offensichtlich sein“, ertönte Zacherys Stimme hinter einem nahen Wagen, bevor er mit einem Gesichtsausdruck zwischen Enttäuschung und Zorn hinter dem Wagen hervorkam. „Ich habe mich ein wenig umgesehen. Eure Leute waren so eifrig, dem Dieb mitzuteilen, dass er entdeckt worden ist. Diesen Ruf hat man sicher noch in Echidnapolis gehört… und in ihrem ebenso lobenswerten Eifer, so vorhersehbar zu bleiben wie nur möglich, sind sie natürlich auf den Ruf alle hierher gerannt, haben dabei mit Sicherheit vorhandene Fußspuren, die der Dieb im Gras und im Boden hinterlassen haben muss, zertreten und dem Dieb eine einmalig einfache Gelegenheit gegeben, aus dem Lager zu entkommen“, meinte er mit einer Stimme, die seinen Gesichtsausdruck hervorragend unterstützte. „Der Dieb ist garantiert nicht mehr im Lager.“

„Dann müssen wir ihn suchen“, meinte Mescalero, aber auch hierauf schüttelten die Zwillinge fast simultan ihre Köpfe.

„Etwas falscheres könntet Ihr nicht machen“, meinte Kaiyeri. „Wenn der Dieb Komplizen hat und Eure Leute ausschwärmen und versuchen, ihn zu finden, lasst Ihr die Karawane ungeschützt zurück.“

„Abgesehen davon“, warf Zachery ein und blickte demonstrativ hinauf zum Mond, der rund und voll am Himmel über ihnen stand, „zweifle ich daran, dass sich Eure Leute oder Ihr selbst in dieser Gegend wirklich auskennen. Ihr würdet Euch hoffnungslos verlaufen. Bei diesem Licht könnt Ihr keine fünf Meter weit sehen, wenn Ihr nicht wirklich darin geübt seid, in der Nacht umherzustreifen – und noch dazu befindet Ihr euch in einer Gegend, die Ihr nicht kennt. Ihr würdet Euch hoffnungslos verlaufen und den Dieb niemals finden.“

„Ihr klingt so, als könntet Ihr es besser“, entgegnete Mescalero, aber es klang keineswegs vorwurfs-, sondern eher hoffnungsvoll. „Wollt Ihr nicht nach dem Dieb suchen?“

„Wir nicht“, meinte Kaiyeri mit einem seltsamen Lächeln. „Das überlassen wir lieber jemandem, der sich hier besser auskennt.“

Erst jetzt schien Mescalero aufzufallen, dass jemand fehlte – aber bevor er danach fragen konnte, fuhr ihm Zachery dazwischen. „Ja, sie ist hinter dem Dieb her“, antwortete er auf die Frage, die Mescalero auf der Zunge gelegen haben musste. „Blitzmesser kennt sich hier aus wie niemand sonst. Wenn sie es nicht schafft, ihn zu stellen, dann schafft es niemand. Ihr solltet Euch darum kümmern, das Chaos hier im Lager in den Griff zu bekommen, und ihr solltet feststellen, was gestohlen wurde. Und“, fügte er hinzu, „bevor Ihr es vergesst: Stellt Wachen auf. Für den Fall, dass der Dieb wirklich Komplizen hat.“
 

Selina war schon oft mitten in der Nacht unterwegs gewesen. Schon oft hatte sie Jagd gemacht auf nachtaktive Tiere. Sie waren scheu und tagsüber nicht anzutreffen, aber manche Katzenarten mit besonders wertvollen Pelzen oder auch mit besonders viel Fleisch auf den Rippen waren eben nachtaktiv. Außerdem liebte sie es einfach, in der Nacht unter dem Sternenhimmel im fahlen Mondlicht durch die Wildnis zu streifen. Es war einfach ein tolles Gefühl, in diesen unendlichen Himmel hinauf zu blicken, hinauf zu den Sternen, Muster zwischen ihnen zu ziehen und zu entdecken, oder einfach inmitten dieser Stille und der Dunkelheit überhaupt unterwegs zu sein und vom Tag vertraute Stellen bei Nacht zu entdecken, bei Nacht an den Felswänden herumzuklettern, die sie längst in- und auswendig kannte, bei Nacht zum See zu gehen, wo sie sich tagsüber nicht hinwagen konnte oder im Dunkeln über die unwegsamsten Stellen die Gegend zu erkunden, die bei Nacht vollkommen unbekannt sein konnte.

Nichts davon war auch nur entfernt mit dem vergleichbar, was sie in dieser Nacht aufbieten musste.

Schon nach wenigen Metern wurde ihr klar, dass der Dieb mindestens so geübt war wie sie selbst. Sie musste sich anstrengen, um an ihm dranzubleiben, ohne ein Geräusch zu verursachen – eine Kunst, die ihr Gegner meisterlich zu verstehen schien. Wenn sie nicht seinen fahlen Schatten vor Augen gehabt hätte, auch wenn dieser Schatten bloß eine schwache Silhouette war, hätte sie niemals vermutet, dass sich jemand in ihrer Nähe befunden hätte. Der Schatten vor ihr rannte über die felsigen Wiesen, sprang mit wenigen Sätzen ganze Felstreppen hinauf, huschte zwischen Bäumen und Büschen hindurch, und die ganze Zeit hörte sie ihn nicht einmal atmen.

Sie konnte nicht einmal darauf achten, wohin sie liefen, weil sie sonst ihr Ziel aus den Augen verloren hätte. Vielleicht nur für eine Sekunde würde sie den Blick von ihm nehmen müssen, aber sie wusste genau, dass sie ihn im Dunkeln niemals wieder finden würde.

Auch so musste sie schon scharf aufpassen. Es konnte jederzeit passieren, dass sie ein unnötiges Geräusch verursachte – oder dass der Schatten wusste, dass er verfolgt wurde, und ihr eine Falle stellte, um sie zu überwältigen.
 

Sie waren sehr schnell sehr weit abseits der Straße gekommen. Nach wenigen Schritten hinter der Lagergrenze hatte der Unbekannte mit wenigen Schritten einige günstig liegende Felsen genutzt, um eine Felswand hinaufzukommen, und war fast hinter der Kante der Felswand verschwunden, als Selina auf der Höhe ankam und ihn gerade so noch weiterhuschen sah. Oben an der Felswand stand ein dünner Wald, der wenige Schritte hinter der Kante begann, und dort war er hineingehuscht.

Selina blieb nichts anderes übrig, als das Tempo zu verschärfen, um ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, und es kam, wie es kommen musste – sie trat auf einen trockenen Zweig.

Wie vom Blitz getroffen blieb der Schemen stehen. Es war kein lautes Geräusch gewesen – der Ast war nur klein gewesen, und der Schatten war einige Schritte voraus, aber er hatte es trotzdem gehört.

Selina hatte das gerade erst begriffen, als sie sah, wie eine Hand ihres Gegners zum Gürtel fuhr, und reflexartig sprang sie beiseite und rollte sich auf dem Waldboden ab. Es war ihr Glück, dass sie ihr Gewicht soweit verteilen konnte, dass nichts zu Bruch ging und sie so jedes Geräusch vermeiden konnte. Als sie wieder auf den Beinen war, blickte sie zwischen den Baumstämmen hinüber zu ihrem Ziel. Der Schemen starrte in die Dunkelheit hinein, dorthin, wo sie eben noch gewesen war, aber weil er nichts entdecken konnte, wandte er sich schließlich um und lief weiter.

Selina unterdrückte einen Fluch, als sie die Verfolgung aufnahm und ein scharfes Brennen an der Wange spürte. Dieser Fremde hatte wirklich mit einem Wurfpfeil oder etwas ähnlichem nach ihr geworfen – und hätte sie auch noch fast getroffen.

Und das in dieser Dunkelheit und im Wald, wo die Blätter der Bäume das Auge sehr leicht täuschen konnten und Feinde vorgaukelten, wo keine waren, und wirkliche Gegner verbargen.
 

„Was soll das heißen, es wurde nichts gestohlen?“

Der Echidna, der Mescalero die Nachricht überbracht hatte, zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Irgendetwas muss verschwunden sein. Ich habe selbst gesehen, dass der Dieb irgendetwas in der Hand hatte. Aber von unseren Waren, die wir in der letzten Stadt gekauft haben, fehlt nichts. Alles ist da, sämtliche Decken, Krüge, Felle, sogar die Waffen aus den Schmieden bei den Minen sind alle noch da.“

Mescalero hätte sich freuen können, sah aber eher sehr nachdenklich aus. „Das ergibt doch keinen Sinn“, meinte er langsam. „Kein Dieb schleicht sich in ein bewachtes Lager, ohne etwas zu stehlen.“

„Vielleicht hat er etwas gestohlen, das Ihr nicht vermissen würdet“, warf Kaiyeri ein. „Ich glaube Euch gern, dass ihr Listen darüber führt, was ihr transportiert, aber vielleicht gibt es Dinge, die ihr nicht auf diesen Listen stehen habt.“

Mit einer Handbewegung gab Mescalero dem Echidna von der Karawane ein Zeichen, der sich daraufhin umdrehte und sich wieder zu den anderen Echidna bei den Wagen gesellte. „Es gibt da tatsächlich etwas“, meinte der Karawanenführer leise. „Ich sollte es geheim halten… aber vor einigen Tagen hat ein Echidna mit einem großen Rubin eine Nacht bei uns verbracht und mir diesen Stein anvertraut. Er sagte, ich solle den Kristall zum König bringen. Es klang nicht allzu schwierig, also habe ich zugestimmt, und er hat uns am nächsten Morgen wieder verlassen.“

„Und diesen Kristall habt Ihr nicht auf Eure Listen gesetzt, weil es eben geheim war“, vollendete Zachery. „Ihr solltet lieber ganz schnell nachschauen gehen, ob der Stein noch da ist.“

„Das ist nicht nötig.“

Die Stimme war vom Wagen hinter Mescalero gekommen. Fast gleichzeitig fuhren alle Blicke auf dne Unbekannten und wanderten alle Hände an die Waffen.

Der Unbekannte war ein Igel, dessen Stachelfarbe im Mondlicht nicht ganz eindeutig zu erkennen war. Man konnte nur vermuten, dass sie grün sein mussten, soweit man sie unter dem weiten Stoffumhang, den er um sich gelegt hatte, überhaupt erkennen konnte. An der Farbe seiner Augen konnte dagegen kein Zweifel bestehen – ihre Farbe war ein tiefes Dunkelblau, das fast schwarz sein mochte.

Wenn diese Augen in der Dunkelheit nicht geleuchtet hätten.
 

Hinter dem Wald lag ein kleiner Hügel, der flach anstieg, aber eben auch eine flache Kuppe hatte. Dort oben, wusste Selina, würde der Dieb ihr nicht entkommen können.

Das schien aber auch gar nicht in seiner Absicht zu liegen. Der Dieb blieb nämlich oben auf der Hügelkuppe stehen und warf einen Blick nach vorne. Anscheinend überlegte er, wo er hinmusste oder wie er am besten dorthin kommen würde, hielt aber auf diese Weise direkt im vollen Mondlicht an.

So sah Selina ihn zum ersten Mal etwas genauer. Es schien ein Igel zu sein – die Statur passte, und die Stacheln, die ihm so igeltypisch nach hinten abstanden, passten auch perfekt ins Bild. Lediglich eine Stachelsträhne, die nach vorne fiel und eins seiner Augen verdeckte, fiel auf den ersten Blick auf, und ein Tuch verdeckte seine Gesichtszüge, wie es viele Diebe gern taten.

Das Diebesgut, merkte Selina, hielt er immer noch in der Hand. Von ihrer Position aus sah es aus wie ein großer Edelstein. Im silbrigen Mondlicht funkelte er schwach, und dem schwachen rötlichen Glanz zu urteilen, den das Mondlicht mit sich nahm, wenn es aus dem Kristall herausstrahlte, musste es ein Rubin sein.

Und was für einer…

Die Hand des Igels konnte ihn nicht komplett umfassen. Ein Ende des Rubins schaute immer noch unten aus der Handfläche heraus. Dieser Stein musste fast unbezahlbar sein, wenn er wirklich so groß war, wie es schien, und wenn er so regelmäßig geschliffen war, wie die Spitze den Eindruck erweckte.

Da hatte der Igel aber ein absolutes Prachtstück erwischt…

Und genau diese Überlegungen waren es, die Selina die zwei Sekunden kosteten, in denen sie ihn vielleicht hätte erwischen können, wenn sie den Hügelhang hinauf gehuscht wäre und sich ihn gegriffen hätte. Stattdessen hatte sie einfach nur zu dem Dieb und diesem Stein hinaufgeblickt, erfüllt von einer seltsamen Faszination, wenn sie den Stein nur ansah, und ärgerte sich über sich selbst, als sie wieder loslief, um den Dieb nicht zu verlieren.
 

Es war ein geisterhafter Anblick. Der unbekannte Igel schien vollkommen aus dem Nichts gekommen zu sein. Rund um den Wagen waren diesmal wirklich keine Fußspuren zu sehen, es war kein Laut von ihm zu hören gewesen, und jeder im Lager hätte schwören wollen, dass er vor wenigen Sekunden tatsächlich noch nicht da gewesen war.

Das Leuchten seiner Augen verstärkte den Eindruck seines Gesichtsausdrucks noch. Sein Gesicht war eine einzige Maske des Zorns und der Wut, die schon bei seiner ersten Bemerkung unterdrückt herauszuhören gewesen war.

„Wo ist der Kristall?“, fragte er scharf.

Der Klang seiner Stimme ließ alle für einen Moment zusammenfahren. Seine Stimme klang genau so zornig, wie er es sein musste. In ihr schwang aber noch eine grausame Kälte mit, die fast greifbar war, eine unerträglich überhebliche Verachtung für die Echidna, und wohl auch für alles, was ihm irgendwie im Weg stand.

„Welcher Kristall?“, fragte Mescalero zurück.

Er wollte wohl mit seiner schnellen Antwort den Anschein von Kaltblütigkeit erwecken, aber seine Stimme zitterte ein wenig. Es war kaum wahrzunehmen, aber es reichte für den Igel.

„Der Kristall, den dir ein Echidna vor einigen Tagen gegeben hat und den du für ihn aufbewahren und zum König bringen solltest“, knurrte er. „Derselbe Kristall, von dem du gerade noch gesprochen hast. Derselbe Kristall, der jetzt nicht mehr da ist.“

Mescalero wich überrascht und wohl auch ein wenig verängstigt einen Schritt zurück, was ein kaltes, überhebliches Grinsen bei dem Igel hervorrief. „Ich wusste es doch. Du weißt, welchen Stein ich meine… und du weißt auch, dass er nicht mehr da ist. Er ist gestohlen worden, und du weißt das… und damit nutzt du mir nichts mehr.“

Urplötzlich kam ein steifer Wind auf, der den Umhang des Igels zur Seite bauschte und den Echidna einen Blick erlaubte auf die rechte Hand des Igels – und den großen Kristall in seiner Hand, der genauso geformt war wie der Rubin, der gestohlen worden war.

Und der, anders als der Rubin, urplötzlich ein gleißend helles, tiefblaues Licht abgab.
 

Selina wusste genau, was sie hinter dem Hügel erwartete, weswegen sie sich auch so beeilte, um den Hang hinauf zu kommen. Hinter diesem Hügel lag ein Geröllfeld, das sich über eine beträchtliche Fläche erstreckte. Große und kleine Steine lagen herum, und zwischen ihnen lagen tiefe Schluchten und stark ansteigende Hügel, die ohne Vorwarnung in eine steile Felswand übergingen.

Es war bei Tag schon schwer, sich zuverlässig in diesem Gebiet zurechtzufinden. Bei Nacht war es unmöglich, wenn man sich nicht auskannte. Und es war selbst bei Tag fast unmöglich, jemanden zu finden, den man suchte, auch wenn man sich in dem Gebiet auskannte. Bei Nacht nutzten die besten Ortskenntnisse nichts mehr.

Sie heftete sich an die Fersen des Diebes, höchstens vier Schritt hinter ihm, und versuchte, möglichst genau in seinen Fußstapfen zu bleiben. Sie durfte nicht lauter sein, als er selbst es war, und einen sichereren Weg gab es nicht, um das zu erreichen.

Sie folgte ihrem Gegner zwischen zwei Steinen hindurch, einen steilen Hügel hinauf, folgte ihm, als er auf halber Höhe abzweigte und über die kleinen Steine und den Sand am Hand hinweg lief und als er eine kleine Felsenstufe hinunter sprang, wobei sie den Aufprall möglichst leise gestaltete, indem sie sich abrollte.

Nicht leise genug.

Sie war gerade wieder auf die Beine gekommen, als sie sah, dass der Schemen vor ihr sich nach ihr umdrehte. So schnell sie konnte, aber diesmal immerhin erfolgreich darin, Geräusche zu vermeiden, huschte sie beiseite, hinter einen großen Stein. Im Mondlicht verschwand sie nahezu vollkommen in der Dunkelheit.

Ihr Gegner sah sich langsam um. In der Dunkelheit konnte er selbst kaum etwas sehen, und auch wenn er versuchte, so gut es ging, festzustellen, wo sein Verfolger hin war – er schaffte es nicht. Er konnte anscheinend nichts erkennen.

Selina huschte langsam und gebückt um den Stein herum und schlich sich von seiner Seite an den Dieb heran, Die Hälfte der Strecke hatte sie zurückgelegt, als er sich plötzlich umdrehte und weiterlief.

Anscheinend wollte er sie abschütteln, nicht bekämpfen. Sonst hätte er weiter versucht, sie zu finden – aber jetzt vertraute er auf seine Schnelligkeit, um sie abzuschütteln.

Und jetzt, wo er wusste, dass er verfolgt wurde, wo er ihren Aufprall absolut unzweifelhaft bemerkt hatte, da lief er tatsächlich, so schnell er konnte.

Bevor Selina überhaupt reagieren konnte, war er bereits hinter dem nächsten Felsen verschwunden.

Die Echidna knurrte leise und lief selbst los. Mit zwei Sprüngen war sie über den Felsen hinweg, landete sicher und spurtete los. Sie sah gerade noch, wie der Schemen hinter dem nächsten Felsen verschwand, und als sie ebenfalls um den Felsen herumgelaufen war, sah sie, wie er hinter dem nächsten großen Stein in Richtung des kleinen Wäldchens lief, das in diesem Bereich auch das einzige war, was tagsüber irgendwie grün aussah. Schon am Rand dieses Geröllfeldes war es selten, dass man auch nur eine kleine Pflanze entdecken konnte. Das musste der Wald um die kleine Quelle sein, die einen kleinen Bach hervorbrachte, der allerdings weg vom Geröllfeld floss und stattdessen der Umgegend Wasser brachte.

Von dem Felsen aus war es wirklich nicht mehr weit. Es konnten maximal zehn Schritte sein bis zu den ersten Bäumen. Es entsprach etwa der doppelten Distanz, die der Dieb durch seine schnelle Flucht erreicht hatte, und als Selina selbst den Stein erreicht hatte, war er dem Wald schon sehr nahe.

Selina hätte ihn wohl nicht erreicht und ihn wahrscheinlich verloren.
 

Genau in diesem Moment bremste der Dieb ab und blieb stehen. Die Echidna konnte sein Gesicht nicht sehen, aber seine Körperhaltung, das erschrockene Zurückweichen für ein oder zwei Schritte und der reflexartige, nervöse Griff nach den Wurfwaffen im Gürtel – all das sagte ihr ganz deutlich, dass ihr Ziel von irgendetwas sehr verwundert war.

Aber als sie sah, was der Igel gesehen hatte, zögerte sie keine Sekunde, hinter dem Felsbrocken in Deckung zu gehen. Zitternd vor Wut, aber auch vor Angst spähte sie nur ganz eng am Felsen vorbei, hinüber zu dem Dieb und dem anderen Igel…

Dem Igel mit den grünen Stacheln und diesen kranken, leuchtend blauen Augen…

Dem Igel, der sie zum Tode hatte verurteilen lassen, und der versucht hatte, sie selbst umzubringen, als das nicht gereicht hatte…

Ihre Gedanken rasten. Was machte der Kerl ausgerechnet hier in der Wildnis?

Was wollte er hier?

Wie kam er von seiner Heimat aus so schnell hierher? Er war irgendein hochrangiger Botschafter gewesen, aber die waren doch vor Jahren, kurz nach ihrer Flucht, abgezogen.

Sie verfluchte sich im Stillen, dass sie Malinche damals nie genauer über die Igel ausgefragt hatte. Sie hatte das nie interessiert, auch wenn ihr in diesem Moment klar wurde, wie Recht ihre Schwester gehabt hatte – dass Wissen über die Igel nur von Nutzen sein konnte.

Selbst wenn sie die Sprache der Igel gesprochen hätte, hätte sie doch nichts verstanden. Über die Distanz von mehreren Schritten, die sie voneinander trennte, hörte sie trotz Windstille und nahezu vollkommener Ruhe nur einzelne Wortfetzen, mit denen sie nichts anfangen konnte.

Sie konnte nur beobachten…

Sie konnte nur beobachten, wie der grüne Igel den anderen etwas fragte, mit seiner bekannten Stimme, die so kalt klang, so überheblich, so voller Verachtung, wie sie es von ihm kannte.

Wie der andere daraufhin noch mehr zurückwich und seine Antwort zwar wütend, aber auch ein wenig ängstlich klang. Ängstlich, obwohl er zumindest mit Wurfpfeilen bewaffnet, sein Gegenüber hingegen vollkommen unbewaffnet war… auch wenn Selina nicht dne geringsten Zweifel daran hatte, wer hier der stärkere war.

Wie der grüne Igel noch gelassener und damit noch überheblicher wirkte, als er seinerseits etwas sagte.

Und dann sah sie, wie der grüne Igel kurz den Kopf drehte und sie mit seinen leuchtenden Augen direkt ansah. Direkt, mitten in ihre Augen, mit genau dem überlegenen Gesichtsausdruck, den sie erwartet hätte.

Sofort, als sie seinen Blick auf sich spürte, als ihr Herz schneller zu schlagen begann, als die Angst vor ihm noch stärker wurde, warf sie sich hinter den Stein, aus seinem Sichtfeld heraus, vermied dabei jedes Geräusch und wartete auf ein Geräusch, das ihr sagen konnte, was der Igel machte.

Dieses Geräusch sollte eher kommen, als ihr lieb sein konnte. Ein lauter, durchdringender Schmerzensschrei, der die nächtliche Stille urplötzlich und nachhaltig zerriss. Das Echo wurde von den dicht stehenden Bäumen und den kahlen Steinen gleichermaßen zurückgeworfen und erzeugte einen geisterhaften Nachhall, der Selina noch mehr als der eigentliche Schrei einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.

Es half nichts… sie musste wissen, was der Igel tat. Sie musste wissen, was er mit dem Dieb anstellte, und was er tun würde, wenn er damit fertig war.

Langsam schob sie sich an die Kante des Steins und blickte, dicht am Gestein entlang, zu den beiden Igeln hinüber.

Der fremde Igel lag auf dem Boden, entweder bewusstlos… oder tot.

Und der grüne Igel stand neben ihm. Zur Abwechslung war sein Gesichtsausdruck nicht maßlos überheblich, sondern voller widerwilliger Anerkennung.

Ein letztes Mal wandte er den Kopf. Ein letztes Mal ruhten seine Augen direkt auf Selina, ein letztes Mal blickte er ihr direkt in die Augen, obwohl er doch unmöglich wissen konnte, dass sie da war. Ein letztes Mal, bevor er sich umdrehte und im Schatten unter dem Blätterdach verschwand. Und zwar wirklich verschwand. Er tauchte nicht langsam in das Dunkel des Walds ein – an einem bestimmten Punkt verschwand er einfach, und wo noch ein Lichtstrahl auf ihn hätte fallen müssen, fiel er auf den Boden. Es war, als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst.

Als sei er einfach verschwunden. Als sei er niemals da gewesen. Nur der fremde Igel, der die Karawane angegriffen hatte, lag noch da und zeugte davon, dass eben noch jemand da gewesen war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Yuufa
2006-11-04T01:50:00+00:00 04.11.2006 02:50
Wow.... ich muss sagen, dieser grüne Igel macht mir Angst oÔ" Also ich find die FF wirklich gut... wie du alles beschreibst.... ich hab daran nichts auszusetzen ^^ Nur will ich weiterlesen *___* *gespannt desu*
Von:  Fenrion
2006-10-30T22:17:21+00:00 30.10.2006 23:17
Juuhuuuuu Ein neues Kapitel...und ich bleibe deiner FF immernoch treu x3....
Uuuuhhhh x3333 *hibbel* Das is so aufregend und cool 8DD
Ich bewundere deinen Schreibstil immerwieder ^___^=
Schnell weiter machen...Ich bin echt gespannt wie es weitergeht *,*...

Deine Psy ^,~


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