Change
Rahel rutschte unruhig auf ihrem Stuhl zurück. Die Versammlung dauerte jetzt schon drei Stunden und
es war kein Ende in Sicht. Hitzige Diskussionen liefen, Rahel versuchte gar nicht erst, etwas zu sagen,
mit ihren 21 Jahren gehörte sie zu den Jüngsten und wäre kaum beachtet worden. Um so eifriger hörte
sie zu, nickte und schüttelte ihren Kopf zu den verschiedenen Sprecher und Sprecherinnen. So lebhaft
hatte sich Rahel seit dem Tod ihrer Maman vor einem Monat nicht mehr gefühlt.
Sie wünschte sich etwas tun zu können, aber erst mal wurde nur geredet.
Vor drei Stunden hatte sie Levias schlanke Gestalt auf sich zulaufen sehen. Sie hatte gewunken und
gesagt, es gebe Neuigkeiten, es sei eine Versammlung einberufen worden. Rahel hatte sich aus Mamans
altem Schaukelstuhl erhoben und war Levia nachgelaufen. Sie hatte versucht, mit ihr mitzuhalten und
als sie in der Bizongue ankamen war sie ausser Atem gewesen. Heimlich betrachtete sie Levia, die
dastand, als wäre der Lauf eben ein gemütlicher Spaziergang gewesen.
Verknirscht musste sie sich eingestehen, dass sie nicht mit ihr mithalten konnte. Obwohl sie als Kinder
oft zusammen trainiert hatten, mit dem gemeinsamen Ziel zu Wächterinnen zu werden, war Rahel
immer weiter zurückgefallen. Sie konnte sich noch gut an die Enttäuschung erinnern, als sie erfuhr,
dass sie nicht gewählt worden war.
"Jetzt hör auf damit, das ist langsam langweilig" hörte sie eine Stimme dicht bei ihrem Ohr.
"Und ich hasse es, wenn du meine Gedanken liest" entgegnete Rahel wütend. Und lächelte dann
zerknirscht, als sie Levias Blick bemerkte, "Aurelia" erklärte sie.
"Bin ich jetzt wieder die Schuldige, du hast sie nicht vor mir verborgen"
Ungeduldig wischte Rahel mit der Hand nach dem Geist, natürlich viel zu langsam um sie zu erwischen.
Aber es reichte, Aurelia hielt etwas Abstand. Und Rahel fand auch nicht mehr die Gelegenheit, sich um
sie zu kümmern, jetzt waren auch die letzten eingetroffen, die Versammlung wurde eröffnet.
"Es wurde soeben bekanntgegeben, dass es im Vatikan einen Machtwechsel gab, der alte Anführer der
Jäger hat abgedankt, und sein Nachfolger hat bereits deutlich gemacht, dass er massive Massnahmen
gegen die Dämonen plane. Es scheint, als habe sein Vorgänger mit Dämonen verhandelt, sie als
Informationsquellen benutzt und geduldet. Dem soll ein ende gesetzt werden"
Rahel hörte etwas erstaunt zu, das waren die Neuigkeiten? Eigentlich hatte sie mehr erwartet. Was
kümmerte sie Europa und die Dämonen dort, für Haiti hatte sich der Vatikan noch nie interessiert.
Aber die Sprecherin fuhr fort, und langsam begann sie zu Ahnen, dass sich da was anbahnte: Solche
Spannungen hatte es in Europa schon seit achtzig Jahren nicht mehr gegeben, ein medienwirksamer
Angriff auf eine Gruppe Vampire rüttelte die Dämonen auf. Während sie sich vor dem Machtwechsel
einigermassen sicher sein konnten, am leben zu bleiben, so lange sie sich unauffällig verhielten, drohte
jetzt allen Gefahr.
Ausserdem gab es Gerüchte, dass der Vatikan nach Amerika schielte, und vorhabe, die Simeoniten
zurück zum "wahren Glauben" zu bringen.
Die Diskussionen hatten begonnen, ob es sie betreffe, ob für die Bizongue und ihren Glauben Gefahr
bestünde, wie weit die Logen darin verstrickt seien und so weiter.
"Ich bin dafür, dass wir abwarten, wie sich die Situation entwickelt" sagte Marie, die älteste
Teilnehmerin und Leiterin der Bizongue. "Aber wir sollten dafür sorgen, dass unsere Beobachter in
Europa sicher sind"
"Wer ist denn schon dort, die meisten haben doch kaum eine Ahnung", "Genau, die können uns
vielleicht spezifische Informationen zu den Personen geben, die sie beobachten, aber die haben nicht
den Überblick", "Wir sollten einige Geister regelmässig rüberschicken" kamen die Gegenargumente.
Rahel konnte sich nicht mehr zurückhalten. "Ich mache das, ich gehen nach Europa und beobachte die
Lage."
Einen Moment dachte sie, das war nichts, ich hätte besser geschwiegen. Aber dann wandte sich Marie
ihr zu.
"Traust du dir das zu? Es wird bestimmt nicht einfach, an die Informationen zu kommen" dabei schaute
sie Rahel durchdringend an. Rahel wusste, dass sie versuchte, ihre Beweggründe zu erkunden.
Sie hielt dem Blick stand: "Ich werde das schaffen, ich war schon mal da. Ich kann die Situation
einschätzen." Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: "Ausserdem habe ich Aurelia" sie warf dem
Geist, der im Hintergrund schwebte einen Blick zu. "Sie wird mich unterstützen"
Sie merkte, wie die Teilnehmenden anfingen zu tuscheln, aber sie sah wieder Marie an. Ich weiss, dass
du wissen willst, wieso ich das mache, dachte sie. Aber du weisst genau, dass ich nicht wirklich hierher
gehöre. Maman ist tot und Levia ist kaum im Dorf, als Wächterin ist sie beschäftigt und hat kaum noch
Zeit für mich. Mich hält nichts mehr hier.
Rahel war sich nicht sicher, wie viel Marie davon verstand, aber sie hoffte, dass sie sie überzeugt hatte.
"Gut" ergriff Marie das Wort, und sofort wurde es still. "Was meint ihr zu diesem Vorschlag?"
Rahel spürte eine Ellbogen in den Rippen und wandte sich um. "Willst du das wirklich tun?" fragte Levia.
"Ja" antwortete sie und lächelte.
Levia schüttelte den Kopf. Sie wollte schon etwas sagen aber Rahel liess sie gar nicht erst zu Wort
kommen: "Können wir später darüber reden?" damit wandte sie sich wieder der Versammlung zu.
Schliesslich wurde gerade über ihre Zukunft diskutiert.
Aurelia hatte sich materialisiert und erklärte gerade, dass sie Rahel unterstützen werde, weil sie
beschlossen habe, bei Rahel zu bleiben. Rahel war ihr dankbar, und sie merkte, dass die Idee immer
mehr zu überzeugen schien.
"Du bist mir noch eine Erklärung schuldig" sagte Levia als sie sich auf den Heimweg begaben. Sie
konnte nur schwer verbergen, dass es ihr überhaupt nicht passte, dass Rahel nach Europa ging.
"Was willst du denn hören?" Rahel war enttäuscht, dass ihre Ziehschwester und Freundin sich nicht mit
ihr freuen konnte. "Natürlich verlasse ich dich ungern, aber ausser dir ist mir hier nichts mehr wichtig.
Weisst du noch, wie enttäuscht ich war, als ich nicht zur Wächterin gewählt wurde? Ich dachte, es sei,
weil ich weiss bin, adoptiert, nicht hierhin gehöre.
Aber das war es nicht, oder?
Aurelia sagte damals, meine Talente würden woanders liegen, sie hatte recht. Wer sonst, kann sich
unauffällig unter die Snobs in Europa mischen, wer hat die entsprechende Bildung und kann die
Sprachen. Wer war schon mal dort ausser mir, das pseudo Studiensemester hat mir einen tiefen Einblick
in die Gesellschaft ermöglicht. Das hier ist, was ich tun kann. Endlich habe ich das Gefühl, mich nützlich
machen zu können und das ist toll."
Levia hatte schweigend zugehört: "Wenn du es wirklich willst, kann ich dich kaum davon abhalten, ich
war nur erstaunt, weil du nach dem letzten mal geschworen hast, nie wieder rüber zu gehen. Ich
möchte nicht, dass du dich von irgendwem zwingen lässt."
"Keine Sorge, ich mache das absolut freiwillig, obwohl es schon nicht mein grösster Wunsch ist, mich
unter diese Snobs zu mischen. Aber ich hoffe, dass Emily mir helfen wird, weisst du noch, die
Studentin, die ich letztes mal kennen lernte. Sie müsste inzwischen mit dem Studium fertig sein. Aurelia
ist schon unterwegs, sie ausfindig zu machen."
"Dann versprich mir nur eins, komm wieder!"
"Aber sicher"
"Wer zuerst beim Haus ist!"
"Hey, das ist Unfair, du weisst genau, dass ich nicht mithalten kann!"
Lachend rannten sie los, die Spannung war verflogen und Levia passte sich Rahels Tempo an.
Sie standen am Flughafen, die Maschine nach Berlin war gerade ausgerufen worden. Rahel
verabschiedete sich von Marie und den anderen aus dem Dorf, die gekommen waren, um sich zu
verabschieden. Sie blickte sich nach Levia um, die ihr zunickte. Sie würde nicht allein fliegen.
"So, jetzt muss ich aber gehen, sonst fliegen sie ohne mich." Ein letzter Blick zurück, dann ging sie
durch die Schleuse.
Anmerkungen:
Eine Bizongue ist sowohl eine Versammlungshütte einer Voodoogemeinde als auch die Versammlung
selbst.