Folge 0, Teil IV: Die Ruhe nach dem Sturm - Erkenntnisse
Die unheimliche Stille ihrer Wohnung schlug Kijuri kalt ins Gesicht als sie von den
belebten Tokioer Straßen ihre Haustür öffnete.
Immer noch über die eigenwillige Unterhaltung mit dem Mädchen vom Clamp-Campus
nachdenkend stellte sie sich ohne Umschweifen im Dunkeln an die Balkontür,
beobachtete die langsam aufziehende Dämmerung und das aufkommende, allabendliche
Lichtermeer der Großstadt.
Von Anfang an hatte sie bezüglich dieses Mädchens ein seltsames Gefühl gehabt.
Irgendwie hatte sie seine Anwesenheit schon gespürt, bevor sie überhaupt das erste
Wort gewechselt hatten...merkwürdig...
Sie musste sich ablenken. Diese ganzen Gedanken, die ihr im Kopf herum schwirrten,
von Fuma, den Erddrachen, dem Fremden auf der Straße und dem Mädchen vom
Campus...all dies machte sie langsam aber sicher verrückt!
Kijuris Blick fiel auf ihr Sofa, wo immer noch das Holzkästchen lag, das sie am
Nachmittag achtlos dort hin geworfen hatte. Der Alte hatte gesagt, dass es ihre
Vergangenheit sei, ihre Gegenwart...ihre Zukunft! Doch wenn das alles stimmte, wieso
war sein Enkel dann erst dagegen, das sie es bekam? Aber aus welchem Grund war ihr
die Meinung des jungen Mannes auf einmal so wichtig? Weshalb musste sie gerade jetzt
daran denken und schreckte darum zurück?
Mit einem heftigen Kopfschütteln versuchte sie, ihren Kopf wieder klar zu bekommen
und griff entschlossen nach dem Kästchen. Als sie es öffnete erblickte sie wieder all
diese Gegenstände, die für sie eigentlich etwas bedeuten sollten...es aber nicht taten!
Das in Leder gebundene Buch erregte nun besonders ihre Aufmerksamkeit. Bis jetzt
hatte sie die Sachen noch nicht wirklich betrachtet, doch nun nahm sie das silberne
Zeichen mit der Gravur vorn auf dem Einband wahr. Irgendetwas daran rief eine
Reaktion in ihr wach, auch wenn sie noch nicht richtig sagen konnte, was es war...hatte
sie dieses Zeichen etwa schon einmal gesehen?
Kijuri erinnerte sich nicht wirklich an ihre Kindheit. Auch war sie bis jetzt immer der
Meinung gewesen, dass es da nicht wirklich viel gab, für dass sich eine Erinnerung
lohnen würde, doch ein Spruch blieb ihr schon immer im Gedächtnis haften...und auch
nun kam er wieder zum Vorschein:
Der kostbarste Schatz den du besitzt, das sind deine Erinnerungen!
Auch wenn dir die schlimmsten Sachen angetan werden, deine Erinnerungen kann dir
niemand nehmen! Sie sind dein...für immer...
Diese Sachen da vor ihr, diese wenigen Sachen die da in dem Holzkästchen lagen...das
waren ihre Erinnerungen, ihr kostbarster Schatz... Und obwohl dieser Gedanke absurd
war wusste Kijuri, dass es alles war, was sie mit ihrer Vergangenheit verband.
Hätte Kijuri noch Tränen übrig gehabt, sie hatte geweint über diese Erkenntnis...über
ihre Vergangenheit. Doch schon vor sehr langer Zeit hatte sie ihre letzte Träne
vergossen...vor sehr langer Zeit...als sie noch glücklich war und weinen konnte.
So blieb sie nun einfach auf dem Sofa sitzen, ihre Erinnerungen um sich verstreut, das
Buch auf dem Schoß. Vorsichtig strich sie mit den Fingern über das Silbersiegel und
öffnete das Lederbuch schließlich behutsam. Alte, verbleichte Buchseiten schimmerten
ihr entgegen, die mit schwarzer Tinte in einer starken Männerhandschrift beschrieben
wurden.
Kijuri begann zu lesen.
Wir schreiben den 23. Februar 1843.
Schon lange plagen mich diese seltsamen Träume, undurchsichtige Träume.
Bis heute wusste ich nicht, was sie zu bedeuten haben, doch in dieser Nacht sah ich sie
klar vor mir und irgendwie wusste ich, dass sie lange nach meiner Zeit kommen würde.
Eine schwere Last wird auf ihren Schultern liegen, doch es wird noch acht weitere
Personen geben, mit denen sie diese zu teilen hat.
Ihr Name ist Kijuri und sie wird meine Ur...ur...ur...urenkelin sein...
Erschrocken schlug Kijuri das Buch zu. Das was da stand wurde vor mehr als 150
Jahren geschrieben und ihr Name tauchte darin auf! Hatte der blinde Alte das gemeint,
mit ihrer ?Vergangenheit?? Hatte er ihr das Buch gegeben, weil einer ihrer Ahnen darin
geschrieben hatte? Aber wieso hatte das alles dann ihrem angeblichen Bruder gehört,
an den sie sich nicht erinnern konnte?
Aus einem ihr unbegreiflichen Grund hatte sie Angst weiter zu lesen. Was würde sie
erfahren? War ihr Ahne ein Traumseher gewesen und hatte das Ende der Welt schon
damals gesehen?
Wieder betrachtete sie das Buch auf ihrem Schoß. Das Siegel schimmerte matt vom
Licht, das durch das Fenster schien. Kijuri hatte es sich bis jetzt noch nicht wirklich
betrachtet, doch nun erkannte sie deutlich den Kerzenleuchter mit den 9
Halterungen...das Zeichen der Erddrachen.
Dieses Buch, dieses seltsame Buch übte eine magische Anziehungskraft auf das
Mädchen aus und so schlug sie es erneut auf um darin zu lesen, dieses Mal auf einer
Seite weiter hinten:
Wieder habe ich ihn getroffen, den alten Mann, nach dem ich schon einige Zeit lang
suche. Er kannte meinen Namen und er wusste etwas von meinen Visionen, wie ich sie
nun nennen möchte. Auch er hat Träume und er hat mir von ihnen erzählt.
In seinen Träume wird einen andere Zukunft offenbart als die, die mir zu teil wurde und
ich weiß nicht, wie ich dies alles zu deuten gedenke. Doch eines weiß ich: Der blinde
Alte wird eine größere Rolle im Lauf der Zeit spielen als ich...
Der blinde Alte...
Nun war also auch er ein Teil dieses Puzzles. Schon lange wusste Kijuri, dass er alles
andere als normal war. Doch hatte er damals schon gelebt? Oder handelte es sich um
einen seiner Vorfahren?
Es klopfte.
Mit einer seltsamen Ruhe führ Kijuri hoch, als hätte sie den Besucher schon eher
gespürt.
Langsam ging sie zur Tür und öffnete diese.
Ein großer ihr fremder Mann stand davor und lächelte sie verlegen an.
?Guten Abend. Entschuldigen Sie bitte die späte Störung. Ich bin Ihr neuer Nachbar und
wollte nur fragen, ob Sie vielleicht etwas Milch für mich hätten...?
?Oh...ja...ja natürlich, kommen Sie doch bitte herein...?
Schnell knipste Kijuri noch das Licht an und musste erst einmal blinzeln. Die ganze Zeit
hatte sie im Halbdunkeln gesessen.
Auch der Mann hinter ihr an der Tür blinzelte. Sie sah es aus den Augenwinkeln als er
an ihr vorbei in Richtung Sofa ging.
?Bitte setzen Sie sich, schieben Sie das Zeug einfach bisschen zur Seite. Ich seh
schnell nach der Milch.?
Selbst etwas überrascht über ihre Lockerheit ging sie in die Küche. Irgendwie hatte
dieser Mann eine beruhigende Wirkung und so fragte Kijuri:
?Haben Sie vielleicht noch etwas Zeit? Ich könnte Ihnen einen Tee anbieten...? doch im
selben Augenblick schon biss sie sich auf die Lippen.
Sie war wirklich nicht sehr geschickt in Gesellschaftsgesprächen...
?Ja gerne, wenn es Ihnen keine Umstände macht...?
Nachdem Kijuri das Wasser aufgesetzt hatte ging sie erst mal wieder ins Wohnzimmer.
Ihr Gast saß auf dem Sofa und hatte die ganzen Sachen, die vorher dort verstreut lagen,
säuberlich in die Kiste gestapelt und diese dann auf den Tisch gestellt. Das Buch hatte
er daneben gelegt und betrachtete mit ernstem Blick das Siegel.
Als er Kijuri bemerkte stand er höflich auf:
?Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Shiyu, Kusanagi Shiyu.? und
mit einem freundlichen Lächeln streckte er ihr die Hand entgegen.
?Ehm...Kijuri, Kijuri Takanaki...freut mich!? fröhlich schüttelte sie seine Hand.
Schon lange war sie nicht mehr so entspannt gewesen.
?Ach ja, hier ist Ihre Milch...?
?Ich finde wir sollten beim ?Du? bleiben, oder??
?Klar doch!? und nun entdeckte sie den Aufnäher auf seinem Jackenärmel: ein
neunarmiger Kerzenleuchter.
Aus der Küche erklang ein Pfeifen. Kijuri ging nachdenklich hinein um den Tee
aufzugießen.
Mit einer großen Kanne und zwei flachen Tassen kam sie zurück.
?Sakura-Tee?? fragte Kusanagi.
Kijuri nickte und setzte sich neben ihn, die Sachen in ihrer Hand auf den Tisch
abstellend.
Das Einschenken nahm er ihr ab und wieder fiel sein Blick auf das Buchsiegel. Er
lächelte immer noch.
?Seltsame Zufälle gibt es...? murmelte er mehr zu sich selbst.
Wieder nickte Kijuri. Der wohltuende Teegeruch erfüllte den Raum. Schweigend saßen
die beiden Menschen ein Weile nebeneinander, genossen den heißen Tee und die
tröstende Nähe des anderen.
Für Kijuri strahlte Kusanagi unendliche Ruhe und Freundlichkeit aus, wie sie es vorher
noch bei niemandem erlebt hatte, nicht einmal bei dem blinden Mann...und ihre
Gedanken kehrten zurück zu ihren ?Erinnerungen?, zurück zu dem Buch...
Sie betrachtete es eine Weile abwesend bevor sie merkte, dass Kusanagi neben ihr
aufgestanden war und nun an der Balkontür stand. Auch er blickte abwesend in die
Ferne.
?An was denkst du?? fragte Kijuri ihn, das ?du? noch etwas seltsam findend.
?Ich habe heute ein Mädchen getroffen...?
?Ein Mädchen? Was ist daran so seltsam??
?...sie hatte einen Hund, ein schönes Tier, ein Wolfshund glaube ich...?
?So was sieht man nicht oft in Großstädten.?
?Ich habe ihn nur kurz gestreichelt und die Kleine ist mir sofort um den Hals gefallen, in
Tränen aufgelöst. Ich war so verwirrt, dass ich gar nichts sagen konnte...?
?Seltsame Reaktion...?
?Mmmh...?
Sie sahen sich an. Beide wussten, dass dieser Vorfall nicht jedem passiert wäre. Auch
dieses Mädchen musste etwas besonderes sein, obgleich sie beide nicht wussten auf
welche Weise.
?Wirst du sie wieder sehen??
?Ja...ja, ich denke schon.?
?Freut mich für dich...?
Und wieder setzte Schweigen ein.
Mit einem großen Zug leerte Kusanagi seine Teetasse und stellte sie auf dem Tisch ab.
?Ich denke ich sollte jetzt gehen, du musst morgen sicher früh raus...?
Verwirrt sah Kijuri ihn an, bis sie bemerkte, dass er ihre etwas mitgenommene
Schuluniform musterte, die sie noch immer trug.
Verlegen lächelte sie ihn an.
?Ja, stimmt. Wenn du mal Zucker oder so was brauchen solltest...du weißt ja jetzt, wo
ich wohne!?
?Es hat mich gefreut Kijuri.?
?Mich auch! Ich hab mich schon lange nicht mehr so nett unterhalten.?