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Blindes Vertrauen

Sieger Frühlings FF Wettbewerb 2004
von

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Omega - 1: Schatten über diese Welt

Hauptteil 1: Omega
 

"Du wirst Liebe heucheln und alle betrügen

Vertrauen missbrauchen mit maßlosen Lügen

Unter der Maske so unendlich hart

Sollst Du zerfallen, ach was bist du zart"
 


 

Kapitel 1: Schatten über diese Welt
 

Es gab kein Entrinnen. Heimdal wusste es sofort, als er die junge Frau sah, die lächelnd auf ihn zu kam, ein Kopfkissen in der einen und ein unglaublich dämlich schielendes Kuscheltier in der anderen Hand haltend.

"Komm, Kazumi-chan." sprach sie sanft und obwohl er sich lieber hinter seinem Stuhl verkrochen hätte, ahnte er doch, dass Widerstand zwecklos war. "Komm schlafen, Kleiner."

Heimdal ließ seinen Löffel in den ausgeputzten Teller fallen und starrte sie unverwandt an, was sie nur mit einem weiten, typischen Grundschullehrerlächeln erwiderte. Sanft ergriff sie seinen rechten Arm und führte ihn aus dem Speisesaal in den Schlafsaal. Heimdal ließ ergeben seinen Kopf hängen, um sein rechtes Auge zu verbergen und seufzte innerlich tief.

Warum war das Schicksal so grausam zu ihm? War es denn nicht schlimm genug, dass er im Körper eines neunjährigen Jungen gefangen auf der Erde wandeln musste? Nein, musste er zudem noch eine Grundschule besuchen, die es als ihre heilige Pflicht verstand, ihren Schützlingen eine Stunde Mittagsschlaf zu verordnen, die langweiligste Zeit, die Heimdal hin und wieder zu erdulden hatte. Sonst kam die Polizei und er wollte nicht wissen, was dann geschah, wenn sie bemerkten, dass der kleine Junge ganz allein in einer großen Wohnung lebte. Früher hatte er Freyr noch als großen Bruder vorschieben können, aber dieser reiste nun zusammen mit seiner Schwester um die Welt - und ließ Heimdal in dieser Hölle zurück.

Das ist schlimmer als Niflheim!

Heimdal ignorierte seine Schulkameraden, so wie er das seit seinem ersten Schultag vor über einem Jahr getan hatte, und legte sich auf den leeren Futon nahe der Tür. Genervt schob er das Kuscheltier so weit wie möglich von sich, bevor er sein Kopfkissen eingiebig boxte und sich mit dem Gesicht zur Wand drehte. Sein rotes Auge funkelte wütend und er ballte seine Hände vor seinem Oberkörper. Oh, wie sehr er dieses Leben hasste. Wie sehr er Loki hasste, der ihn erst in diese Situation gebracht hatte!

"Schlaft schön, meine Süßen." erklang die sanfte Stimme der Lehrerin und das Licht wurde gelöscht. Viel dunkler wurde es nicht unbedingt, da die Sonne hell durch die Fenster schien und auch die anderen Kinder wenig zum Schlafen animierte. Einige tuschelten leise miteinander, andere lachten fröhlich.

Wenn ich doch wenigstens ein Buch hätte!

Die einzigen Bücher, die diese Schule jedoch besaß, waren Fibeln und andere stinklangweilige Texte, die eben für Grundschüler konzipiert waren.

Ich bin aber kein Grundschüler! Ich bin ein Gott!

Und dennoch hatte er nicht genügend Macht, um sich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Nein, dank Loki war es ihm verwehrt, wenigstens als junger Mann und damit unbehelligt durch diese Welt zu wandeln, wenn ihm eine Rückkehr nach Asgard schon verwehrt blieb.

"Kazumi-chan?"

Schritte erklangen und seine Lehrerin rüttelte sanft seine Schulter.

Was ist denn jetzt schon wieder?

"Hai?'" fragte er statt dessen und blinzelte sie verschlafen an, obwohl er sich putzmunter fühlte. Nur Kinder schliefen um die Mittagszeit, er war schließlich kein Kind. Und es hatte sogar Zeiten gegeben, wo er ganze Jahrhunderte keinen Schlaf benötigte.

"Dein Onkel ist da, um dich abzuholen." Sie lächelte ihn erneut freundlich an und begleitete ihn zur Tür. Nachmittagsunterricht gab es an dieser Schule nicht, dafür aber Hausaufgabenbetreuung. Es oblag den Eltern, ob ihre Kinder nach dem regulären Unterricht nach Hause kamen oder sich bei ihren Aufgaben von ihren Lehrern helfen ließen. Heimdal hatte bemerkt, dass Japaner sehr berufstätig waren und fast alle Kinder bis abends blieben.

Onkel? Ist Freyr etwa von seiner Rundreise zurückgekehrt?

Heimdal grübelte und nickte in Gedanken versunken, als die Lehrerin ihm seinen Ranzen, eine quietschgelbe Schultasche, so wie sie alle Schüler diese Schule hatte, um im Dunkeln besser gesehen zu werden, reichte und ihn ermahnte, schön artig zu sein und brav seine Hausaufgaben zu machen.

"Hallo, Kazumi-chan."

Heimdal blieb wie angewurzelt stehen, als er die helle Stimme erkannte. In ihr schwang ein Kichern mit und schon fuhren zwei große Hände durch seine violetten Strähnen. "Hast du heute auch schön gelernt?"

Thor grinste über das ganze Gesicht und ihm schien es unheimlich viel Spaß zu machen, den Wächter wie ein kleines Kind zu behandeln. Heimdal beschloss, ihn später dafür anzuschreien, aber erst, wenn er aus dieser Hölle, die sich so unschuldig Grundschule schimpfte, entkommen war.

"Ja, Narugami-chan. Wusstest du, dass der Fujijama der höchste Berg Japans ist? Da will ich unbedingt mal hin!" Heimdal breitete seine Arme aus, um zu anzudeuten, wie groß dieser verfluchte Steinhaufen war und grinste ebenfalls. Sein Auge blitzte jedoch zornig.

"Das ist ja toll, Kazumi-chan." Erneut wuschelte Thor durch widerspenstige Strähnen, bevor er sich der Lehrerin zuwandte und sich tief vor ihr verbeugte.

"Danke, dass Sie ihn so gut unterrichten." Sagte er, ganz der vollendete Gentleman, der er in Heimdals Augen nie sein würde. Aber ein guter Schauspieler, das war er, schon immer gewesen. Damals, in Asgard. In welches Heimdal so schnell nicht mehr zurückkehren würde. Nicht, solange Loki am Leben war. Loki, der Verräter!

"Vergiss nicht, deine Hausaufgaben zu machen. Besonders die in Mathe, da bist du nicht so gut." Ermahnte ihn die Lehrerin, verbeugte sich ebenfalls und ging zurück zu dem Schlafsaal, aus dem laute Kinderstimmen zu hören waren.

"Ich werde ihm dabei helfen." Thor konnte sein Kichern nicht länger unterdrücken, als er Heimdal bei der Hand nahm, so wie das wohl ein richtiger Onkel auch getan hätte, und ihn aus der Schule rettete, obwohl Heimdal das niemals, nicht einmal unter Androhung des eigenen Todes so genannt hätte.

Warme Frühjahrssonne hieß ihn außerhalb des grausamen Gebäudes willkommen und er atmete tief die milde Luft ein, die süßlich roch. Die Blüten der Kirschbäume öffneten sich jeden Tag mehr und tauchten Japan in einen hellen Glanz.

"Nun, was für schwere Aufgaben hast du denn dieses Mal auf?" spöttelte Thor und ließ Heimdal los, als sie um die nächste Ecke bogen und damit dem wachsamen Auge der Direktorin entkamen, die am Fenster ihres Büros gestanden und ihnen nachgesehen hatte.

"Gar keine! Denn Morgen früh geh ich zum Arzt und lass mich krank schreiben!" murrte der Wächter missgelaunt und schulterte seinen schweren Ranzen erneut, um das Gewicht besser auf seinem Rücken zu verteilen.

Warum muss ich jeden Tag diesen doofen Atlas mit mir rumschleppen? Der ist viel zu unhandlich!

Das Wort >schwer< kam Heimdal nicht einmal in den Sinn. Auch wenn er unbewusst aufatmete, als Thor danach griff und ihn sich lässig über die rechte Schulter schwang. Über der linken hing bereits seine eigene Schultasche, die jedoch wesentlich kleiner und damit auch leichter war. Das war jedoch auch kein Wunder, denn Thor besucht eine Oberschule, wo er nur zwei oder drei Fächer am Tag besuchte, die dann jedoch für mehrere Stunden.

"Habt ihr da drin Ziegelsteine? Was machen denn Grundschüler damit?" stöhnte der Donnergott, als er das Gewicht auf seinem Rücken spürte und beschleunigte seine Schritte. Heimdal folgte ihm, innerlich kochend.

Wieso durfte der als Teenager auf die Erde gehen und ich als Kind!

"Wenn du dich krank schreiben lassen kannst, warum bist du dann heute dort hin gegangen? Ich kann's dir an der Nasenspitze ansehen, dass es dir dort nicht gefällt." Thor öffnete einen Knopf seiner dunklen Schuluniform und schloss seine Augen, als sie an einer roten Fußgängerampel standen. Offensichtlich genoss er die Sonnenstrahlen.

"Ich kann nicht jeden Tag fehlen, das fällt auf. Außerdem geht dich meine Nasenspitze absolut gar nichts an!" giftete Heimdal zurück und steckte seine Fäuste tief in die Taschen seiner kurzen Hose. Natürlich war er den Schulbehörden nicht vollkommen hilflos ausgeliefert, aber er durfte die Möglichkeiten, die sich ihm im Fälschen von Entschuldigen seiner angeblichen Eltern und dem Vortäuschen unglaublicher Bauchschmerzen gegenüber seinem Hausarzt boten, nicht zu unbedacht ausnutzen, sonst würde noch jemand misstrauisch und kam bei ihm zu Hause vorbei, nur, um festzustellen, dass es gar keine Eltern gab. Nein, er musste vorsichtig sein. Eine Vorsicht, die bei Thor nicht geboten war, war er schließlich alt genug, ganz allein zu leben, auch wenn Thors Appartement in Heimdals Augen viel zu winzig war.

Selbst die Schicksalsgöttinnen sind alt genug, um im Ausland zu studieren. Und ich lerne hier Bruchrechnung!

"So sehr fällt es auch nicht auf." Beschwichtigte ihn Thor und klopfte Heimdal freundschaftlich auf die Schulter, nur, um in ein zornig funkelndes Auge zu blicken. Wie immer ignorierte er einfach den Unmut des anderen Gottes, schritt flott über die Straße und bog in eine kleinere Gasse ein, die von hohen Zäunen und alten Bäumen gesäumt war. "Oder konntest du einfach dem Mittagessen nicht widerstehen? Ich hab von deiner netten Lehrerin gehört, dass es heute europäischen Kartoffelbrei gab und du sogar einen zweiten Teller Nachschlag gegessen hast." Thor grinste breit, als er sah, wie sich Heimdals Wangen wie ertappt erröteten. Es war dem Donnergott bekannt, dass der Wächter ein extrem miserabler Koch war und sich privat meist von Fertiggerichten ernährte, besonders Ramen, wobei er es selbst bei dieser Aktion schaffte, das Wasser anbrennen zu lassen. Daher war Thor nicht verwundert, dass Heimdal die Gelegenheit ergriff, sich ab und an in der Grundschule von einem anderen, einem ordentlich gekochten Mahl verwöhnen zu lassen, auch wenn das bedeutete, dass er davor sechs langweilige Schulstunden erdulden musste.

Wenn er nicht so dickköpfig wäre, könnte er bei Loki essen. Midgar kocht sehr viel und sehr gut, für ihn würde da sicherlich auch noch der ein oder andere Teller abfallen, wie für mich auch.

Aber Thor wusste, dass er diesen Vorschlag niemals stellen durfte, wollte er nicht einen wirklichen Wutausbruch Heimdals erleben. Eher würde der Wächter verhungern, als auch nur einen Krümel Essen von seinem Erzfeind anzunehmen.

"Ach, halt doch deine Klappe!" zischte Heimdal und stapfte die nächsten zehn Minuten schweigend neben Thor, bis ihm etwas einfiel und er abrupt stehen blieb.

"Wo gehen wir hin?" fragte er und schaute sich verstohlen um. In dieser Gegend war er noch nie gewesen, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. "Wo sind wir?" Nein, er wollte nicht ängstlich klingen, dafür konnte er seine Stimme viel zu gut verstellen. Dennoch machte sich ein Gefühl der Ungewissheit breit. Wieso hatte Thor ihn von der Schule abgeholt? Das tat er doch sonst nie, das hatte nicht einmal Freyr getan, egal, wie oft Heimdal es ihm auch befohlen hatte. Der göttliche Tollpatsch hatte es immer wieder vergessen.

Ist das auch eine Falle?

Immerhin hatte Thor ziemlich schnell die Seiten gewechselt, vielleicht wollte er ihn nun genauso hintergehen, wie Loki das getan hatte. Heimdal tastete unbewusst zu der schmerzenden Höhle und schielte mit dem gesunden Auge zu dem Donnergott. Eigentlich traute er Thor solch eine Gemeinheit nicht zu. Aber anderseits hatte er vor nicht all zu langer Zeit auch Loki nicht dazu fähig gehalten.

"Wo sind wir, Thor?" fragte er erneut, gebrauchte absichtlich Thors wahren Namen und nicht seinen japanischen. Wer konnte sie schon hören? Sie waren allein in der kleinen Gasse.

Genau, allein.

Einige weiße Blüten wurden durch die Luft getragen, sie wirkten wie sanfter, warmer Schnee. Heimdal fror es jedoch.

Das Grinsen des Donnergottes wuchs noch weiter und seine dunklen Augen glitzerten schelmisch, als er erneut Heimdals linke Hand ergriff und ihn mit sich mit zog. Der Wächter würde sich dieses Mal aber nicht überrumpeln lassen. Nein, er würde kein zweites Mal so leicht verletzt werden. Thor würde ihm nicht auch noch verraten!

Der junge Gott konzentrierte sich, rief lautlos nach seinen Adler und bereitete sich auf einen plötzlichen Kampf vor, als Thor vor einem kleinen Café stehen blieb. Einige Tische standen vor dem Lokal zwischen blühenden Kirschbäumen und die Atmosphäre wirkte unglaublich friedlich.

Was ist das denn für ein bekloppter Kampfplatz?

Heimdal zuckte zurück, als Thor mit einer einladenden Geste auf das Café deutete und sich leicht verbeugte.

"Wir befinden uns vor der besten Eisdiele in ganz Tokio, ach was, in ganz Japan." Sagte Thor ernst, aber seine Vorfreude auf einen großen Eisbecher gewann und er lächelte glücklich. "Komm mit, Heim, ich lade dich ein." Mit diesen Worten schritt er sicher zu einem Tisch unter einem besonders weißen Baum und setzte sich, nachdem er ihre beiden Schultaschen sicher unter seinem Stuhl verstaut hatte. Heimdal folgte ihm nicht, blieb wie angewurzelt stehen und bemühte sich, nicht all zu überrascht auszusehen. So recht gelingen mochte es ihm nicht.

Er lädt mich zu einem Eis ein?

Er will gar nicht meinen verdammten Körper ausnutzen und mich einfach so angreifen?

Loki hat ihm nicht befohlen, mir auch noch das andere Auge zu stehlen?

"Ich kann dir nur Vanilleeis mit warmen Himbeeren empfehlen." Murmelte Thor, während seine Augen gierig das Menü überflogen. "Oder Schokoeis mit viel Schlagsahne." Der Donnergott blätterte um und seine Augen leuchteten umso mehr, als er das Angebot an besonderen Eisbechern sah. Heimdal fragte sich verstört, wann der junge Gott zu sabbern beginnen würde. Und wann er aus diesem seltsamen Traum wieder erwachte.

">Himmlische Überraschung<, na, wie klingt das, Heim?" Thor blickte auf und bemerkte erst jetzt, dass der Gott in Kindergestalt noch immer auf der Straße stand und ihn unverwandt anstarrte, so als wären ihm über Nacht zwei Köpfe gewachsen.

"Was ist los? Komm her. Oder isst du kein Eis?" Thor fuchtelte mit der Karte einladend zu sich hinüber. "Keine Bange, ich kann's mir leisten, du musst hinterher nicht in der Küche stehen und abwaschen."

Heimdal hob die Braue seines gesunden Auges und erwiderte noch immer nichts. Unbemerkt hatte er seine Arme vor der Brust verschränkt und sah ihn skeptisch an. Ein Schatten segelte über ihm durch die Luft und im nächsten Moment landete ein großer Adler im Geäst über Thor. Der Donnergott brauchte nicht nach oben zu schauen, er wusste auch so, dass es sich um Heimdals Vogel handelte. Mental zuckte er mit den Schultern. Auch gut, ihn störte das Tier nicht, solange es sich einen anderen Platz aussuchte als seinen Kopf oder gar seinen Eisbecher, um der Natur zu folgen.

"Seit wann hast du denn Geld?" fragte Heimdal schließlich und bewegte sich endlich auf den kleinen Tisch zu. Er fühlte sich wesentlich wohler mit mächtiger Unterstützung an seiner Seite. Mit seinen Krallen war der Vogel eine gute Waffe im Kampf gegen unerwartete Angriffe, besonders, da Heimdal in diesem verfluchten Körper steckte.

"Ich hab gestern meinen Job verloren." Grinste Thor und wandte sich wieder seinem Menü zu, schob Heimdal ebenfalls eine Karte hinüber, als sich dieser mit einem kaum hörbaren Seufzer hinsetzte.

"Den in dem Blumenladen?"

"Hai."

"Du sahst eh doof aus in dieser Schürze und hattest außerdem keine Ahnung, wie man mit Pflanzen umgeht."

"Mag sein." Thor fand den Eisbecher seines Glückes und legte die Karte flach auf den Tisch. Dann lehnte er sich zurück und genoss den lauen Frühlingswind, der durch seine braunen Haare fuhr.

"Und da hast du Geld, wenn sie dich gerade erst gefeuert haben?" spottete Heimdal und überlegte, wie viel Münzen sich noch in seinem Portemonnaie befanden. Als Grundschüler durfte er nicht zu viel mit sich herum tragen. Zufrieden stellte er bei seinen Rechnungen fest, dass es zumindest für sein Eis reichen würde. Sollte Thor doch aufwaschen gehen, vielleicht fand er dadurch gleich eine neue Anstellung.

Ja, sie waren Götter. Ja, sie verfügten auch auf der Erde noch über gewaltige Kräfte, auch wenn sie wie in Lokis und Heimdals Fall als Kinder auf dieser Welt wandelten. Und ja, Thor war chronisch pleite.

Dabei war es gar nicht so schwer, an Geld heran zu kommen. Loki hatte über die Jahrtausende in Walhalla Kleinigkeiten der Menschen gesammelt, die ihm damals gefallen hatten, und verkaufte sie nun als unglaublich wertvolle Raritäten. Das Geschäft, das er unter dem Mantel der Detektei betrieb, schien zu florieren. Zumindest brachte es ihm genug Geld ein, dass er sich das große Anwesen leisten konnte und Midgar, großzügig mit einer Kreditkarte von seinem Vater ausgestattet, einkaufssüchtig wurde. Vor allen Dingen bei Shopping-Kanälen.

Heimdal dagegen setzte sich mit dem Internet auseinander und den sogenannten Sicherheitssystem der Banken, die er leicht zu umgehen wusste. Sein Konto litt nie unter Geldnot.

Thor schien weder irgendwelche Souvenire zu besitzen noch die Fähigkeiten, die Mafia zu bestehlen, also blieb ihm nur eine dritte Möglichkeit, seinen immerzu hungrigen Magen zu füllen: Er suchte sich Gelegenheitsjobs, die er auch leicht in seiner Verkleidung als Oberschüler fand. Der Donnergott hatte bereits in fast allen Bereichen gearbeitet: Als Okynomiyakibäcker, als Pizzabote, als Teeverkäufer, als Angestellter in einem Zeitungsladen, in einer Boutique, in einem Supermarkt und in einem kleinen Restaurant. Sein Talent, sehr gut kochen zu können, kam ihm dabei zu Nutzen. Und sein immerzu knurrender Magen oftmals in die Quere.

Er war es auch gewesen, der den Donnergott in die Arme des Feindes trieb, denn Midgar konnte noch besser kochen - und anders als Thors Kühlschrank war der der der Weltenschlange immer prall gefüllt.

"Klar. Ich hab eine Abfindung bekommen, weil ich fast zwei Monate bei ihnen gearbeitet habe und es ihnen leid tat, mich aus wirtschaftlichen Gründen rauswerfen zu müssen." Thor verschränkte seine Hände in seinem Nacken und lehnte sich leicht zurück, bis die Lehne seines Stuhles den Stamm des Kirschbaumes berührte.

"Moment? Die haben dir Geld gegeben, damit du gehst?"

"Genau." Thor grinste noch breiter, sofern das überhaupt möglich war.

"Typisch." Knurrte Heimdal, richtete sich jedoch auf, als die Bedienung kam. Sie war kaum älter als Thor aussah, vermutlich auch eine Oberschülerin. Sie lächelte sie beide freundlich an und nahm dann ihren Stift zur Hand, um ihre Bestellungen aufzuschreiben.

"Ich hätte gerne das Vanilleeis mit heißen Himbeeren." Bestellte der Donnergott, ohne seine faule Körperhaltung zu verändern.

"Und ich die Nummer dreizehn." Orderte Heimdal und senkte leicht den Kopf, als sie ihn überrascht anstarrte. Hatte sie sein fehlendes Auge bemerkt? Würde sie ihn jetzt für den Rest ihres Essens seltsam anschauen? So mitleidig? Wie all die anderen auch?

"Chocolate on the rocks? Bist du dir sicher, dass du nicht lieber die Nummer fünf möchtest?" fragte sie freundlich und lehnte sich zu ihm hinab, um das Menü eine Seite zurück zu blättern. Heimdal hielt jedoch die Karte entschlossen fest und musterte sie eisig mit seinem gesunden Auge.

"Nein. Ich will keinen >Buratino<." Erklärte er mit schneidender Stimme und biss sich auf die Unterlippe, als sie ihm schließlich die Eiskarte aus den Händen riss.

"Aber..."

"Kleiner Scherz, Miss. Nehmen Sie's mir nicht übel." Thor kippelte zurück zum Tisch und strahlte die Bedienung entwaffnend an. "Er hat heute in der Schule gelernt, dass nur Erwachsene Alkohol trinken dürfen und hat es nicht geglaubt, weil er zu Silvester auch mit einem winzigen Schluck Sekt anstoßen darf. Da habe ich ihm gesagt, er soll es einfach versuchen und feststellen, dass seine Lehrerin Recht hatte." Thors Charme stieß Heimdal übel auf und er glaubte, sich erbrechen zu müssen, als die Bedienung errötete und ihn verliebt anhimmelte.

"Die Himbeeren sind natürlich für ihn und das Eis on the rocks ist für mich." Thor kramte kurz in seiner Schuluniform und produzierte einen Ausweis, auf dem nun sicherlich ein Alter stand, das selbst für Narugami gelogen war.

"Ach so..." die Bedienung schmachtete ihn immer noch so ekelig an und notierte sich schließlich die gewünschten Speisen. "Da hast du aber eine kluge Lehrerin, ..."

"Kazumi-chan." Half ihr Thor aus, der sich königlich amüsierte. "Und ich bin sein großer Bruder."

"Da hast du eine kluge Lehrerin und einen klugen Bruder, Kazumi-chan." Erklärte die junge Frau in einer viel zu hohen Stimme, so als würde sie mit einem Baby sprechen. Mit einem Zwinkern zu Thor verschwand sie endlich im Inneren des Cafés.

"Onkel, Bruder. Was bist du eigentlich sonst noch, von dem ich nichts weiß?" knurrte Heimdal, den es noch immer schauderte bei dem Gedanken an einen Buratino-Eisbecher. Er wollte gar nicht wissen, was der Name bedeutete.

"Was immer du willst, Heim." Antwortete der Donnergott leichthin und lehnte sich wieder zurück gegen den Stamm. "Ist das deine neue Angewohnheit? Alkohol am frühen Nachmittag?"

"Du hast heute keinen Aufsatz geschrieben mit dem Motto >Was ich später einmal werden möchte<!" Heimdal verschränkte erneut seine Arme vor der Brust, als Thor leise zu kichern begann.

"Und was hast du hingeschrieben? Dass du einmal der Wächter der nordischen Götter werden willst?"

"Die Versuchung war recht groß, das gebe ich zu." Heimdal blickte hinauf zu seinem Adler und den weißen Blüten und unterdrückte ein Gähnen. Nein, er brauchte keinen Mittagsschlaf, aber die angenehm warmen Sonnenstrahlen und das nicht all zu nervende Gespräch mit Thor hatten ihn leicht schläfrig gemacht. "Nein, ich habe mich dann doch für einen anderen Berufswunsch entschieden. Auch für Götter muss es doch eine Umschulungsmöglichkeit geben, wenn sie in Walhalla nicht mehr gebraucht werden." Er klang zynisch, aber Thor ging nicht darauf ein. Er ahnte, wie sehr Heimdal darunter litt, nicht mehr nach Asgard zurückkehren zu dürfen und wie sehr er seinen kindlichen Körper verabscheute. Dennoch konnte er nichts gegen die Entscheidung Odins unternehmen. Besonders nicht, da sie nur aufgehoben werden würde, wenn Heimdal Loki tötete - und das würde Thor mit allen Mitteln zu verhindern wissen. Nicht nur, um Loki zu retten.

"Das wäre?" Thor klang nun ebenfalls müde. Er hatte die letzte Nacht kaum geschlafen, da er mit Mayura für ihren großen Geschichtetest lernte. Dass er mit Pauken und Trompeten durchgefallen war, ahnte er, aber er hoffte, dass Mayura besser abgeschnitten hatte als er. Für sie waren diese Noten schließlich wichtig.

"Zeichner." Heimdal klang nicht zynisch, sondern einfach nur leise. Träge öffnete Thor seine Augen und erkannte, dass der kindliche Gott die Wahrheit gesprochen hatte. Und dass ihm das mit einem Mal unglaublich peinlich war.

"Wenigstens nichts mit Essen." Erwiderte Thor höhnisch, um der Situation ihre Anspannung zu nehmen. Heimdal verzog seinen Mund zu einem Strich und wollte gerade etwas Bissiges erwidern, als ein weiterer Stuhl an ihren Tisch gezogen wurde und sich eine Gestalt ungefragt zu ihnen gesellte.

"Hallo, habt ihr auch das wundervolle Eis für euch entdeckt?" Die unbekümmerte Stimme riss Heimdal aus seinen wüsten Beleidigungen, die er sich in seinem Kopf bereits für Thor zurecht gelegt hatte. Entsetzt drehte er seinen Kopf und starrte in Lokis leicht gerötetes Gesicht. Der Junge hatte seinen schwarzen Mantel um die Lehne des Stuhles gehangen und seine weiße Schleife, die er immer wie einen Schal um seinen Hals gebunden hatte, geöffnet. Er schien ebenfalls ein wenig im warmen Sonnenlicht zu schwitzen.

"Was machst du hier?" zischte Heimdal ihn entgeistert an und rückte ein Stück von dem Gott des Unheils ab, nur, um gegen Mayura zu prallen, die sich ebenfalls einen Stuhl nahm und sich zwischen Thor und Heimdal setzte, ihrem Loki genau gegenüber.

"Eis essen." Rief sie fröhlich aus und nickte leicht, als Lokis dunkelgrüne Augen fragend auf ihr ruhten. Seit dem Vorfall vor einigen Wochen, als Loki nach Asgard zurückkehren wollte, um sich Odin zu stellen und Mayura ihn stundenlang in ganz Tokio suchte, waren sich die beiden näher gekommen. Heimdal glaubte nicht, dass so etwas wie Liebe oder gar Lust zwischen ihnen bestand, denn Loki steckte genauso wie er in dem Körper eines Kindes fest, aber die beiden verband ein unsichtbares Band, und es erschien dem Wächter, dass sie sich wortlos verstanden.

Ob Mayura weiß, wer Loki wirklich ist?

"Wie war denn dein Test heute, Daidouzi-kun?" unterbrach Thor die unangenehme Stille, die an dem Tisch entstanden war und Mayura sprang sofort darauf an. Lebhaft, heftig mit den Armen rudernd und mit bildlichen Worten beschrieb sie die Ungerechtigkeit ihrer Lehrer und bald grübelten sie und Thor, was man bei der fünften Frage denn hätte antworten sollen. Sie kam beiden zu schwer vor.

Vermutlich nicht...

"Wie war dein Tag? Auch so schön bei diesem tollen Wetter?" wandte sich Loki direkt an Heimdal und sein sanfter Gesichtsausdruck trieb den Wächter fast in den Wahnsinn. Er wagte es! Er wagte, ihn zu fragen, wie sein beschissener Tag gewesen war! Wie jeder beschissene Tag in seinem Leben war, das Loki und niemand sonst in eine Hölle verwandelt hatte. Erkannte Loki nicht einmal den Zynismus hinter seinen so unschuldig klingenden Worten?

Schön?

Schön?!

Natürlich konnte das Loki nicht erkennen. Er musste nicht jeden Tag oder zumindest einmal die Woche in diese verdammte Grundschule laufen und sich dort wie der letzte Idiot behandeln lassen. Ja, der Gott des Unheils befand sich ebenfalls in Kindgestalt, aber er hatte sich geschickt aus der Schulbehördenaffäre herausmogeln können, indem er Midgar als seinen Privatlehrer ausgab, der ihm vormittags Unterricht erteilte. Sogar Zeugnisse und Prüfungen an öffentlichen Schulen, die er zwei Mal im Jahr ablegen musste, fälschte er - und war somit von all diesem unglaublichen Mist befreit.

"Lass mich in Ruhe!" knurrte Heimdal ihn an und beherrschte sich nur schwerlich, Loki nicht an die Kehle zu springen und ihn zu erwürgen. Es war eine große Versuchung, denn wenn Loki tot wäre, dann könnte er endlich nach Asgard zurückkehren. Aber Heimdal gab sich nicht der Illusion hin, dass es so einfach wäre, den Gott des Unheils jetzt anzufallen und zu überwältigen. Wenn es denn so einfach wäre, dann wären er und all die anderen nicht immer wieder während der letzten Monate in diesem Vorhaben gescheitert.

Loki zuckte bei dem schroffen Tonfall seines einst ärgsten Gegner nicht einmal mit der Wimper. Seelenruhig zog er sich den weißen Stoff von den Schultern und legte ihn über seinen schwarzen Mantel. Offensichtlich hatte er entschieden, Heimdals muffelige Art, wie Thor das Temperament des Wächters manchmal beschrieb, zu ignorieren. Eine Tatsache, die Heimdal umso zorniger machte. Gerade wollte er etwas Passendes erwidern, als die Kellnerin zurückgestöckelt kam und das Tablett auf einem Nachbartisch abstellte, um ihnen einzeln ihre Eisbecher zu reichen.

"Eine Eisschokolade?"

"Ich!" Mayura schwang bereits ihren Löffel und steckte sich eine riesige Portion Schlagsahne in den Mund, kaum dass der Becher vor ihr abgestellt wurde.

"Buratino?"

"Ich, Tante." Antwortete Loki mit verstellt kindlicher Stimme und dankte ihr höflich, als sie das Glas vor ihm abstellte, aus dem eine Waffel wie eine Mütze herausragte. "Arigatou."

"Gern geschehen, mein Kleiner. Lass es dir schmecken." Sie strich ihm kurz durch den braunen Schopf und Heimdal duckte sich, als sie das auch bei ihm tun wollte. Natürlich entkam er nicht und nachdem seine Haare durcheinander gewirbelt wurden, stand ein dampfender Becher vor ihm.

Wie kann man nur Eis mit heißen Früchten essen? Da schmilzt doch alles!

Thor und Heimdal tauschten Blicke aus und als sie sahen, dass die Bedienung zurück in das Lokal ging, taten sie das gleiche mit ihrem Essen. Der Donnergott stürzte sich sofort auf seine Himbeeren, während der Wächter in aller Ruhe sein Eis mit dem Alkohol vermengte, bis er eine zähe Masse erhielt. Dann kostete er einen Löffel und bedauerte erneut leise, dass er in einem Kinderkörper steckte. Er wollte mal wieder so richtig betrunken sein und all diesen Mist vergessen, so wie er das manches Mal in Asgard getan hatte, meist sogar in Begleitung von Thor und Loki. Bevor er von der Prophezeiung wusste. Bevor er so hinterhältig verraten wurde.

Und jetzt saß er in einem kleinen Café auf der Erde direkt neben seinem Erzfeind, der ein Kindereis aß. Ja, allein für diese Tatsache wünschte er sich eine große Flasche Sake, von der er wusste, dass er sie niemals würde kaufen können, nicht einmal, wenn er mit der Ausrede kam, es wäre für seinen Vater bestimmt. Wenn er ein paar Jahre älter aussehen würde, vierzehn, fünfzehn, dann hätte er vielleicht eine Chance. Aber niemand, wirklich niemand verkaufte einem neunjährigen Jungen hochprozentigen Alkohol. Heimdal hatte es oft genug versucht.

Also musste er sich mit diesem Eis zufrieden geben und hoffen, dass die Kellnerin nicht kontrollierte. Statt der jungen Frau nahm ihn dafür jemand anderes sein Eis weg, oder zumindest einen Teil davon. Bevor Heimdal hatte reagieren können, war ein fremder Löffel in seinen Eisbecher eingedrungen und hatte ihm doch glatt einen Teil seines Eises gestohlen. Fuchsteufelswild blickte der Wächter auf und sah gerade noch, wie besagter Löffeln in Lokis Mund verschwand und dieser ein Gesicht zog.

"Also das passt wirklich nicht zu Schokolade." Kommentierte er und Heimdals Adler breitete unruhig seine Flügel aus, als er die Wut seines Herrn spürte.

"Iss du deinen Kinderkram weiter!" fauchte er den Gott des Unheils eisig an und schaufelte sich drei weitere Löffeln in den Mund, als er Thors warnenden Gesichtsausdruck sah. Schließlich hatte der Donnergott ihn nicht nur von seinem Mittagsschlaf befreit, sondern ihn auch noch eingeladen, dafür könnte er wenigstens für eine halbe Stunde niemanden offen zum Zweikampf auffordern.

"Werde ich auch machen, es schmeckt nämlich köstlich. Arigatou, Mayura." Loki wandte sich wieder dem Mädchen zu und lächelte sie sanft, ja beinahe zärtlich an.

Nein, er wird sich nicht wieder mit einer Sterblichen einlassen.

Er wird nicht wieder denselben Fehler begehen.

Heimdal lutschte seinen Löffel blank und grinste plötzlich böse.

Hah, selbst wenn er es wollte, er ist viel zu klein, um sie auch nur ansatzweise zu verführen! Und dieses Weibsbild ist sowieso viel zu dämlich.

"Gern geschehen, Loki-kun." Sie lächelte zurück und Heimdal musste widerwillig zugeben, dass sie vielleicht dumm war, dafür aber ein großes Herz hatte. Und dass sie, wohl eher unbewusst, Loki wirklich um den kleinen Finger gewickelt hatte. Dass war sehr ungewöhnlich, sonst waren die Frauen dem Gott des Unheils immer in Scharen hinterher gelaufen - und nun schien er derjenige zu sein, der sich verliebt hatte. Denn seine nächste Aussage konnte nur von einem sehr verliebten Narr stammen, oder von einem Selbstmordgefährdeten.

"Morgen Nachmittag eröffnet das neue Spaßbad, Thor. Da Mayuras Kunstlehrerin krank ist und ihre letzten Stunden ausfallen, haben wir uns überlegt, ob wir nicht alle zusammen zu der Eröffnung gehen. Es kostet sogar nur den halben Eintritt und jeder erhält eine Überraschung als Dankeschön für den Besuch."

Ein Spaßbad?

Loki will in ein Spaßbad gehen?

Loki, der Gott des Unheils und notorischer Nichtschwimmer, will sich freiwillig in ein Becken voller Wasser begeben?

Spinn ich?

Heimdal riss erstaunt seine Augen auf und sah, dass Thor nicht minder überrascht war. Sie beide kannten Lokis Abneigung gegenüber Wasser, selbst wenn es ihm nur bis zu den Knöcheln stand, daher kam ihnen das Angebot ungeheuerlich vor.

"Das wird lustig werden!" Mayura klatschte begeistert in ihre Hände. "Einige von meinen Mitschülern werden auch kommen und wir werden eine riesige Wasserschlacht veranstalten! Mit euch wäre das alles noch viel lustiger!"

Erwartungsvoll sah sie Thor - und sehr zu Heimdals Leidwesen - auch ihn an. Loki zuckte leicht mit seinen Schultern, während er an seinem Waffelhut knabberte. Thor verstand sofort. Mayura wollte unbedingt in das neue Bad und Loki hatte es ihr nicht abschlagen können. Wohl fühlte er sich natürlich nicht bei dem Gedanken, nur von Wasser umgeben zu sein, noch dazu von verrückten Teenagern, und so hoffte er auf ihre Unterstützung, damit Mayura ihn in ihrem Elan nicht in das tiefste Becken zerrte und er dort ertrank.

"Na klar kommen wir mit." Versicherte Thor rasch und steckte sich eine weitere Himbeere in seinen bereits leicht rötlich glänzenden Mund.

Soll er doch ertrinken! Dann bin ich ihn los und kann nach Asgard zruück!

"Das ist klasse von euch, Narugami-kun, Kazumi-kun." Freute sich Mayura und kramte einen Prospekt aus den Tiefen ihrer Schultasche, um es dem Donnergott zu zeigen. Begeisterung stand ihr ins Gesicht geschrieben und Loki schien für ihr Lächeln alles in Kauf zu nehmen.

So wie er immer alles für seine Kinder in Kauf genommen hat...

Heimdal hob das Glas an seine Lippen und trank den Rest seines alkoholischen Eisgemisches. Da wurden ihm die Worte Thors erst bewusst.

Wir?

Wir?!

Wer hat denn gesagt, dass ich bei dem Scheiß da mit will?

Der Wächter aller nordischen Götter wollte soeben aufbegehren, als ein stechender Schmerz durch seine Höhle fuhr und er ein gequältes Stöhnen unterdrückte. Fest biss er auf seine Unterlippe und ballte seine linke Faust in seinem Schoß. Leicht beugte er sich vor, so dass Strähnen über die schwarze Leere fielen und verfluchte Loki aus tiefster Seele.

Er hat mich verraten.

Er hat mir mein Auge weggenommen.

Dafür wird er büßen! Dafür wird er sterben!

Heimdal holte stockend Luft und für einen Moment umgab ihn völlige Dunkelheit. Weiterhin konnte er Mayuras aufgeregte Stimme neben sich hören, das Zwitschern der Vögel in den Bäumen um sie herum, genauso wie das entfernte Geräusch des Radios im Inneren des Cafés. Aber die Umgebung selbst war verschwunden. Es war, als habe sich ein Schatten über die Sonne gelegt und ihn in Finsternis zurück gelassen.

Seine Hand, die noch immer das Glas hielt, zitterte und mit einem lauten Knall stellte er es zurück auf den Tisch, selbst erstaunt über das plötzliche Geräusch.

"Kazumi-chan?"

Das war eindeutig Thors Stimme. Heimdal blinzelte, und blinzelte erneut, als das Licht wieder in seine Welt Einzug hielt. Das Gesicht des Donnergottes war verschwommen, nahm aber rasch wieder Gestalt an. Sorge lag in dunklen Augen und eine Frage, die der Donnergott nicht aussprechen würde. Nicht, solange sie nicht allein waren und damit die Möglichkeit stieg, dass Heimdal sie wahrheitsgemäß beantworten könnte.

"Ich geh jetzt besser nach Hause, ich hab noch Mathehausaufgaben zu machen." Heimdal stand auf und streckte seinen Arm aus. "Gib mir meine Tasche." Verlangte er und Thor gab sie ihm schweigend. Er wirkte enttäuscht, aber Heimdal ignorierte es.

Er kann nicht von mir verlangen, noch länger neben diesem Verräter zu sitzen.

Außerdem hätte er mich nicht zum Essen einladen brauchen!

Heimdal schulterte die schwere Schultasche und nickte Mayura stumm zu. Loki ignorierte er absichtlich. Er wollte nichts mehr mit dem falschen Gott zu tun haben. Außer, dass er ihn töten würde. Eines Tages, hoffentlich bald.

Vielleicht kann ich ihn ja ertränken!

Obwohl er wusste, dass diese Chance sehr gering war mit Thor und Mayura an seiner Seite. Wer wusste, vielleicht kam ja sogar Midgar mit. Dieser würde ihn eher vergiften, als seinen geliebten Vater sterben sehen.

"Bis morgen dann..:" murmelte er unwirsch und ging entschlossen davon. Er würde morgen mit dieser Rasselbande in das neueröffnete Spaßbad gehen, auch wenn es ihm eine Qual wäre. Ja, er tat es, um eine Möglichkeit zu finden, Loki zu vernichten. Seinen Erzfeind, der im Wasser so schön hilflos sein würde! Nein, ganz sicherlich ließ er sich nicht dazu überreden, weil es Thor eine Freude bereitete!

Der Adler erhob sich von dem Ast des Kirschbaumes und folgte seinem Herrn. Heimdal hatte ihn gerufen, nun erwartete er eine Belohnung für sein Kommen. Eine Belohnung, die zwei Kilo frisches Fleisch einschloss. Mindestens.

"Er hat nicht bezahlt." Wunderte sich Mayura und wollte aufstehen, um dem Wächter hinterher zu laufen, aber Thor hielt sie zurück.

"Das ist in Ordnung, Daidouzi-kun. Ich habe ihn eingeladen." Erwiderte er und schob den Löffel durch sein nun geschmolzenes Vanilleeis.

"Dann hat er sich nicht bei dir bedankt!" entrüstete sich das Mädchen und strich sich einige Strähnen ihres langen, rosafarbenen Haares auf den Rücken. "Das ist unhöflich!"

Thor schüttelte seinen Kopf und bot Loki seine letzte Himbeere im Austausch gegen einen Smartie an.

"Er hat Danke gesagt, Daidozi-kun." Erklärte er ruhig und kramte sein Portemonnaie hervor, um die Scheine abzuzählen. Viel Trinkgeld würde er nicht geben können, aber ein paar Yen würden für die freundliche Bedienung schon drin sein.

"So?"

"Hai, nur eben auf seine Art."
 

***
 

Verfluchte Kopfschmerzen!

Heimdal schloss die Tür auf und schwankte in die Wohnung. Seine Schultasche ließ er unbeachtet auf den Boden fallen und machte sich nicht einmal die Mühe, seine Stiefel abzustreifen. Dann würde er eben morgen den Flur wischen müssen. Er fühlte sich momentan einfach nicht mehr in der Lage, sich hinab zu bücken und die Schnürsenkel zu öffnen. Statt dessen ging er geradewegs in die Küche und setzte einen schweren Kessel auf den Herd. Ein warmer Tee würde ihm jetzt sicherlich gut tun.

Verfluchte Kopfschmerzen!

Der kindliche Gott schleppte sich in das Wohnzimmer und ließ sich dort stöhnend auf das Sofa fallen. Heute hatte er dem Arzt gar kein Theater vorspielen müssen. Ein Blick in Heimdals gerötetes Auge genügte und schon erhielt der Wächter einen Attest. Er war für den Rest der Woche krank geschrieben, um sich in sein Bett zu legen und sein Auge zu kühlen. Zudem hatte er noch Augentropfen erhalten.

Er muss die Höhle gesehen haben, denn er hat mich auch so mitleidig angestarrt!

Heimdal rollte sich auf der weichen Unterlage zu einem Ball zusammen, als der Schmerz in seinem Kopf wieder anstieg. Es fühlte sich beinahe wie ein Migräne an. Zumindest hatte Heimdal das in einem Buch gelesen und danach alle möglichen Mittelchen ausprobiert, von denen kaum eines half. Nicht einmal die Schmerztabletten, von denen er sogar verzweifelt zwanzig Stück auf einmal gegessen hatte. Davon war ihm nur übel geworden, während sich der Schmerz hinter seinem fehlenden Auge zu Tode gelacht hatte. Manchmal war Freyr bei solchen Anfällen da gewesen, aber er gab immer nur dämliche Ratschläge und war keine große Hilfe. Selbst Thor hatte einmal hilflos dagestanden, wie Heimdal plötzlich stöhnend neben ihm auf die Knie gegangen war. Damals war die Wunde noch frisch gewesen. Ohne viele Worte hatte er einen Tee aufgesetzt und Heimdal einen Verband angelegt, der nach Kräutern roch. Dabei hatte er ihn ebenfalls so mitleidig angesehen. Einen Gesichtsausdruck, der Heimdal verrückt machte und den er nicht mehr sehen wollte. Weder auf den Gesichtern der Menschen noch auf denen der anderen Götter.

Ich bin nicht schwach!

Deshalb hielt er sich von Thor fern, wann er immer er einen Anfall kommen spürte. Er brauchte dessen Mitleid nicht!

Verfluchte Kopfschmerzen!

Er ballte seine rechte Faust gegen die Höhle und konnte nicht verhindern, dass Tränen in seinem gesunden Auge funkelten. Mittlerweile hatte er sich an diese Anfälle gewöhnt, die in einigen Medizinbüchern als Phantomschmerzen bezeichnet wurden. Viele Menschen, die ein Körperteil verloren hatten, verspürten ab und an noch heftige Schmerzen in diesem, obwohl es schon lange nicht mehr da war. Nun, da auch Heimdal in so einem Körper gefangen war, quälte ihn dieselbe Pein, die er kaum lindern konnte. Selbst mit den wenigen göttlichen Kräften nicht, die ihm als Wächter geblieben waren.

Verfluchte...

Er schrie auf, als sich ein heftiger Schmerz nicht nur durch die Höhle, sondern durch seinen gesamten Kopf bohrte. Sein Schädel schien zerbersten zu wollen. Ruckartig lehnte er sich über die Lehne des Sofas und erbrach sein Mittagessen sowie das Eis, das Thor ihm so bereitwillig spendiert hatte. Bedauern über das verschwendete Essen konnte sich jedoch nicht bei ihm einstellen, als er über dem Rand hing und würgte, bis sein Magen nichts mehr her gab. Am ganzen Körper bebend lehnte er sich gegen die Lehne, nun beide Hände gegen sein heißes Gesicht gepresst.

Verfluchte...

Normalerweise waren die Schmerzen nicht so massiv. Bei seinen sonstigen Anfällen hatte es auch weh getan, aber er hatte sich dabei noch nie übergeben müssen. Nein, das war kein normaler Anfall. Ganz und gar nicht. Solche Schmerzen hatte er seit über einem Jahr nicht mehr gespürt, da Loki ihm das rechte Auge nahm.

Heimdal hob seinen Kopf, um sich in dem Raum umzublicken und sich zu vergewissern, dass der Gott des Unheils nicht da war, um ihm auch noch das linke Auge zu stehlen, und musste entsetzt feststellen, dass er in einem sehr dunklen Raum saß. Dabei hatte er doch alle Lichter angemacht, als vom Arzt zurückgekommen war, oder?

Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er diesen Schmerz nicht länger ertragen konnte, nicht länger ertragen wollte. Vielleicht war ja auch der Strom ausgefallen oder der Schmerz trübte sein Wahrnehmungsvermögen. Es war auch egal, vollkommen egal. Hauptsache, er fand etwas, um diese Pein zu stoppen, um seinem Körper ein wenig Ruhe zu gönnen, damit er morgen fitt genug wäre, um Loki im Spaßbad gegenüber zu stehen - und vielleicht eine Chance zu erhalten, ihn zu töten und damit nach Asgard zurückzukehren. Als vollwertiger Gott, nicht länger als Kind!

Ver...

Die nächste Welle der Agonie schwappte über ihn hinweg und hilflos trat er gegen den Tisch, sich gegen einen unsichtbaren Gegner wehrend. Glas klirrte in der Ferne, aber er nahm es kaum wahr. Warme Flüssigkeit lief über seine linke Wange und er bemerkte nicht einmal, dass er weinte. Mit einem Mal war er furchtbar dankbar, dass er allein war, denn er wollte nicht, dass auch nur ein Mensch oder gar ein Gott ihn in dieser Verfassung sah.

Hart biss er seine Zähne aufeinander und holte stoßweise Luft, bis der Schmerz ein wenig abklang. In weiter Ferne hörte er das Pfeifen des Teekessels und kämpfte sich auf seine bebenden Beine, die ihn kaum zu tragen vermochten. Noch immer hielt er seine rechte Hand fest auf seine schmerzende Höhle gepresst, während er die linke ausstreckte und mit ihr die Tür ertastete, die ihn in die Küche führte. Ihm war furchtbar schwindelig und auch hier schien die Lampe nicht zu funktionieren. Die Küche war stockdunkel und er erkannte nur hier und da ein paar Umrisse von den Möbeln sowie dem Kühlschrank, der einen weißen Fleck inmitten einer Schattenwelt darstellte.

Verfluchte Schmerzen...

Heimdal stieß gegen den Abfalleimer und riss bei seinem Sturz einen Stuhl mit sich. Die Lehne fuhr schmerzhaft auf seinen Oberkörper herab und für einige Momente blieb er still auf den kalten Fließen liegen, lauschte dem Pfeifen des Kessels und einem gequälten, ja beinahe unmenschlichen Wimmern. Der Wächter brauchte lange, um zu begreifen, dass es sich dabei um sein eigenes Wimmern handelte.

Nach einer halben Ewigkeit zog er sich schließlich auf die Beine, heftig dabei die Tischkante umklammernd. Wenigstens dieses Möbelstück war stabil genug und gab nicht nach. Als er endlich wieder stand, holte er tief Luft und schleppte sich hinüber zu dem Herd, der glücklicherweise mit Gas lief. Bei diesem Stromausfall hätte er sich keinen Tee brauen können und er hatte gelernt, dass Umschläge mit Kräutertee die Schmerzen linderten. Außerdem hoffte er, dass er auch seinen aufgebrachten Magen beruhigen würde.

Vorsichtig tastete er nach dem Schalter und drehte das Gas aus. Dann griff er nach dem Kessel, der nur einen verschwommen Kreis in seiner Welt darstellte. Dabei erwischte er leider nicht den mit Gummi ummantelten Griff, sondern das andere Ende, das zum Ausgießen diente. Hitze schoss durch seine linke Hand und mit einem Aufschrei ließ er den Kessel fallen. Kochendes Wasser spritzte auf und verbrühte seinen linke Hand, die er sich schützend vor den Körper hielt, die rechte bewegte sich nicht von seinem Kopf fort, dessen Schmerz nun in ein stechendes Pochen überging.

Verdammte Scheiße!!!

Er wollte es laut herausbrüllen, wollte mit seinen schweren Stiefel, die soeben seine Füße vor hochgradigen Verbrennungen bewahrt hatten, den Tisch, ja am liebsten seine ganze Wohnung zertreten, aber er fühlte sich mit einem Mal so unendlich müde, dass er den Kessel nur leicht kickte und schließlich mehr tastend als sehend in das Bad schwankte. Auch dort war der Strom abgedreht und er musste im Dunkeln das Waschbecken finden. Das eiskalte Wasser prickelte auf seiner linken Hand und er wickelte diese kurzentschlossen in ein nasses Handtuch. Er würde sich den Schaden morgen früh ansehen. Vielleicht war es ja sogar so schlimm, dass eine zweite unterrichtsfreie Woche dabei heraussprang.

Allmählich ließen die Schmerzen in seiner Höhle nach und er war dankbar für die ersten Anzeichen, dass der Anfall, einer der schlimmsten seit Lokis Verrat überhaupt, Stück für Stück abklang. Sein ganzer Körper zitterte und er war in Schweiß gebadet. Aber er kümmerte sich nicht darum, als er sich in sein Schlafzimmer schleppte, immer einen Schritt vor den anderen setzend. Dabei war er froh, dass er am morgen zu faul gewesen war, seinen Futon wegzuräumen. Er wäre nun außerstande gewesen, ihn aus dem Schrank zu zerren und auf dem Boden auszubreiten. So aber brauchte er sich nur auf die weiche Unterlage fallen zu lassen. Ein europäisches Bett wäre für ihn nie in Frage gekommen, es hätte ihn zu sehr an seine Schlafstatt in Walhalla erinnert.

Verfluchter Anfall...

Heimdal tastete in der Finsternis nach seiner Decke, ließ es dann aber bleiben, als er sie nicht fand. Erschöpft legte er seinen Kopf auf das weiche Kopfkissen. Erst im Schlaf, der ihn gnädigerweise übermahnte, lockerte sich der stählerne Griff um seinen Schädel und langsam, ganz langsam ließ sein rechte Hand von seinem Gesicht ab.

Unbemerkt brannten die Lichter die ganze Nacht hindurch in allen Zimmern von Heimdals Wohnung.
 

***
 

Klassische Musik drang durch den dichten Nebel seiner Träume und verschlafen hob er seinen Kopf, leckte mit seiner Zunge über die trockenen, aufgesprungenen Lippen. Sein Mund schmeckte nach Sandpapier und er hatte das Gefühl, als bestünde sein ganzer Körper aus Watte. Müde öffnete er sein Auge, um es sofort geblendet zuzukneifen. Grelles Licht füllte den Raum, es schien wieder ein sonniger Tag zu werden.

Wie spät ist es eigentlich?

Er tastete mit seiner rechten Hand die Umgebung ab und fand sogar seinen Wecker, den er wohlweislich in der letzten Nacht nicht eingeschaltet hatte. Ein weiteres verstohlenes Blinzeln auf die Anzeige sagte ihm, dass er sich so richtig ausgeschlafen hatte, es war weit nach Mittag.

Und warum fühle ich mich dann so erschlagen?

Seine Beine zitterten, als er sich auf alle Vier aufrichtete und zusammen fuhr, als sich seine linke Hand schmerzend zu Wort meldete und ihn an ihre Verbrennungen erinnerte. Sein T-Shirt klebte nicht mehr an seinem Oberkörper, umso mehr roch er nach dem getrockneten Schweiß. Angewidert verzog er seinen Mund.

Erst einmal duschen, alles andere kann warten.

Er strampelte sich aus seiner Decke frei und kam schwankend auf seine Füße, sein Auge noch immer fest zusammen gekniffen. Das Sonnenlicht tat ihm weh, also würde er es ruhig angehen lassen. Nein, einen weiteren Anfall wollte er nicht provozieren, besonders heute nicht, da er doch mit Loki und den anderen ins Spaßbad wollte, um seinen Feind auszulöschen - oder aber seiner Mission wenigstens ein Stückchen näher zu kommen.

Wann wollten wir uns eigentlich treffen?

Tief im Unterbewusstsein glaubte er, sich an das Klingeln des Telefons erinnern zu können. Vielleicht hatte Thor ja eine Nachricht hinterlassen. Heimdal entschloss, später den Anrufbeantworter abzuhören und schlich langsam in sein Bad. Er tastete nach dem Lichtschalter und öffnete vorsichtig sein Auge, das auf das Kunstlicht nicht so schmerzhaft reagierte.

Wenigstens ist der Stromausfall vorbei.

Der Wächter drehte die Dusche auf heiß und schlüpfte mit eckigen Bewegungen aus seiner Kleidung. Irgendwie hatte er es wohl doch geschafft, sich während der Nacht seine Stiefel auszuziehen, zumindest trug er sie nicht mehr. Er verschwendete keinen weiteren Gedanken an sein Schuhwerk und stellte sich unter den warmen Wasserstrahl. Wohlig seufzte er auf, als ein wenig Leben in seine müden Glieder zurückkehrte. Seine Körperpflege dauerte heute besonders lange und als er zu allem Überfluss sein Shampoo fallen ließ, entschied er sich, dass er sauber genug war. Denn wenn er sich nun nach dem flüssigen Haarwaschmittel hinabbeugte, würde ihm sicherlich wieder schwindelig werden. Da wollte er den Tag doch viel lieber mit seinem Erzfeind verbringen, als hilflos auf dem Boden seiner Dusche zu liegen. Fröstelnd tapste er über die kalten Fließen und trocknete sich oberflächlich ab, bevor er sich in seinen Bademantel hüllte und auf den Flur trat, um sich seinem Telefon zu widmen.

Kaffeegeruch stieg ihm in die Nase und er runzelte seine Stirn. Die klassische Musik konnte er sich durch die Nachbarn erklären. Nebenan wohnte ein älteres Ehepaar, das sehr gerne und sehr laut orchestrale Musik hörte. Aber Kaffee?

Ich hab doch kein Fenster offen gelassen, oder?

Heimdal holte tief Luft, aber das Gähnen blieb in seiner Kehle stecken, als er das Geräusch von Schritten hörte, die durch seine Wohnung liefen. Ja, sie kamen aus seiner Wohnung, oder besser, aus seiner Küche!

Einbrecher?

Heimdal, nun hellwach, tastete nach dem nächsten Gegenstand, mit dem er glaubte, kämpfen zu können und schlich sich vorsichtig an die Küchentür heran. Dann sprang er mit einem Satz in den Raum, in der Hoffnung, bei einem Überraschungsangriff den Einbrecher in die Flucht schlagen zu können.

"Keine Bewegung!" schrie er und hob seine Waffe.

"Morgen, Heim. Oder sollte ich besser >Guten Tag< sagen? Ich wusste ja, dass du gerne schläfst, aber nicht, dass du eine solche Schlafmütze bist." Grinste ihn ein nur all zu bekannter Gott an.

Was?

Thor stand an dem Herd und schwenkte gerade eine Bratpfanne über einer kleinen Flamme. Um ihn herum standen diverse Büchsen und aufgeschnittenes Gemüse auf der Arbeitsfläche sowie einige benutzte Messer und Schüsseln.

"Was machst du hier?" fragte Heimdal überrumpelt, schrie den Donnergott nicht einmal an, was ihm denn einfalle, sich einfach so in seine Wohnung zu stehlen.

"Mittag." Thor deutete mit dem Kochlöffel auf den weißen Kühlschrank und grinste noch breiter. "Ich wusste gar nicht, dass du so viel gute Sachen da drin hast. Da wäre ich doch schon viel eher mal vorbei gekommen."

Ach, zum Vollfressen bin ich wohl gut genug?

Heimdal verzog sein Auge zu einem Schlitz und tappte ungeduldig mit seinem nackten Fuß auf kaltem Flies.

Andererseits, Loki schien auch keinen anderen Zweck als den des Futterspenders zu erfüllen. Thor war wirklich verfressen - und dazu ständig pleite. Eine äußerst gefährliche Mischung.

"Hatte Midgar keine Zeit, dir etwas zu kochen?" mürrisch blickte Heimdal zu der Pfanne hinüber und errötete verärgert, als sich sein Magen ob der guten Düfte lautstark zu Wort meldete. Immerhin hatte er Abendbrot ausgelassen und die restlichen Mahlzeiten des Tages wieder hergeben müssen.

"Wir treffen uns mit Loki und Mayura in einer Stunde am Bad, bis dahin solltest du auch etwas essen und dich anziehen." Thor drehte das Gas ab und nahm Heimdal den Regenschirm ab, den er noch immer abwehrend vor seinem Oberkörper hielt. Dabei sah er die linke Hand des Wächters. Sie war rot und angeschwollen. Sicherlich tat sie sehr weh.

"Was hast du da schon wieder angestellt?" fragte er entsetzt und hielt die Hand an den Gelenken fest, als Heimdal sie rasch zurückziehen und sicherlich in einem seiner Handschuhe verstecken wollte. Davon würde sie jedoch auch nicht heilen.

"Nichts weiter." Grummelte Heimdal und wandte sich in dem Griff des anderen Gottes. Thor ließ ihn jedoch nicht los, sondern führte ihn hinüber zu einem Stuhl und drückte ihn auf diesen.

"Na sicher." Meinte er und blickte Heimdal warnend an. "Du bewegst dich nicht vom Fleck, ich hol das Verbandszeug." Thor wartete erst gar nicht die Reaktion des Wächters ab, sondern marschierte geradewegs in das Badezimmer. Als er zurück in die Küche kam, saß Heimdal tatsächlich noch auf dem Stuhl, aber er hatte sich mittlerweile die Pfanne geholt und aß den gebratenen Reis geschickt mit Stäbchen. Rasch hatten sie sich alle an die japanische Lebensweise gewöhnt, besonders, da niemand von ihnen ewig nur Suppe essen wollte, weil man dafür den Löffel benutzen konnte, ohne für großes Aufsehen zu sorgen.

"Schmeckt's wenigstens?"

"Geht so."

"Lass mir noch was übrig."

"Warum sollte ich, es sind doch meine Zutaten."

Thor zuckte gleichgültig mit seinen Schultern, rückte einen weiteren Stuhl näher an den Wächter heran und setzte sich. Er hatte eine große Pfanne gebraten, Heimdal würde sicherlich nicht alles auf einmal essen. Dafür hatte er das Essen ja auch nicht gekocht. Ohne große Umschweige ergriff er die verletzte Hand und verteilte großzügig Brandsalbe auf den roten Stellen. Thor hatte oft genug in Schnellimbissrestaurants gearbeitet, er wusste, wie Brandwunden aussahen.

"Hey, was soll das?" knurrte Heimdal unwillig und wollte seine Hand fortziehen, aber Thor hielt ihn erneut zurück.

"Halt einfach nur still, ja?"

Der Wächter der Götter gab ein undefinierbares Geräusch, tat dann jedoch, wie ihm geheißen, ohne aber sein Mittagsmahl zu unterbrechen.

"Was machst du wirklich hier? Sonst gibt es doch Essen in der Schule, oder?" fragte er nach einer Weile, in der sie schweigend dagesessen und Thor Heimdals Hand verbunden hatte. Der Schmerz verebbte langsam und würde ihn den restlichen Tag nicht mehr quälen.

"Meine letzte Stunde fiel aus und da ich dich telefonisch nicht erreichen konnte, dachte ich, ich komm mal vorbei. Hat sich ja auch gelohnt." Thor legte nach getaner Arbeit den Verbandskasten zur Seite und schüttete sich einen Teil des Reises in eine Schüssel, um das Essen ebenfalls zu genießen. Heimdals zornigen Blick ignorierte er absichtlich.

Der Wächter der Götter grollte, sagte nichts weiter. Schweigend beendeten sie ihre Mahlzeit und Thor stellte den restlichen Reis, den sie nicht geschafft hatten, mit leichtem Bedauern in den Kühlschrank. Er hätte ihn gerne selbst gegessen, aber er wusste, dass Heimdal ihn dringender brauchte als er. Der kindliche Gott konnte sich schließlich nicht für den Rest seiner Existenz von Fertiggerichten ernähren - und eine Aussöhnung mit Loki, wo Midgar immer die feinsten Speisen zubereitete, lag noch in weiter Ferne, war vermutlich für die Erzfeinde unerreichbar.

"Zieh dich an und pack deine Badesachen, wir haben nur noch zwanzig Minuten." Sagte Thor mit einem Blick auf die Uhr. Heimdal schien mit sich zu ringen, verschwand dann aber stumm aus der Küche, vermutlich hatte er Thors Aufforderung verstanden. Der Donnergott lächelte, während er das Geschirr zur Spüle trug und kurz auswusch.

Er war froh, dass Heimdal den Reis mit so viel Hunger gegessen hatte und dass er besser aussah als noch vor einer Stunde, als Thor mit sanfter Gewalt in die Wohnung eingebrochen war. Schlösser stellten für ihn kein Hindernis dar, verfügte er trotz seiner menschlichen Gestalt über gewisse nützliche Kräfte. Die Küche hatte verwüstet ausgesehen, glänzte jedoch förmlich im Vergleich zu dem Wohnzimmer. Thor hatte Heimdal wütend anfahren wollen, was er sich dabei dachte, Eis mit Alkohol zu essen, wenn es sein Kinderkörper nicht vertrug, hielt dann jedoch inne, als er das Schlafzimmer betrat und den Wächter zusammengerollt auf seinem Futon liegen sah. Heimdal hatte blass und klein ausgesehen, was nicht nur an seinen äußerlichen neun Jahren lag.

"Los, komm!" Heimdal erschien keine Minute später wieder in der Küche. Er trug ein frisches T-Shirt, auf dem ein großer Adler abgebildet war, und seine verbundene Hand wurde von seinem Handschuh verborgen. Noch war Frühling, da würde es niemandem auffallen, denn am Abend konnte die Luft doch noch ganz schön kalt sein. "Wir kommen sonst zu spät!"

Der Wächter hatte nun die Rolle des Herumkommandierers übernommen, ließ kein Wort über das Essen oder die aufgeräumte Küche fallen. Thor schaltete das Radio aus und folgte ihm. Er hatte auch keine andere Reaktion erwartet.
 

***
 

Ein Lolli!

Angewidert musterte Heimdal seine Überraschung. Jeder, der das Spaßbad am heutigen Eröffnungstag besuchte, erhielt ein sogenanntes Eröffnungsgeschenk. Jeder Erwachsene durfte sich ein kleines Handtuch aussuchen, während den Kindern ungefragt Süßigkeiten in die Hand gedrückt wurden.

Ich bin aber kein Kind!

"Arigatou." Loki dagegen, ganz der vollendete Schauspieler, hüpfte kurz auf und ab, als die nette Dame am Eingang ihm einen ähnlichen Lutscher in die Hand drückte.

Hat er denn gar keine Würde mehr?

Heimdal seufzte tief und steckte dann seine Überraschung in seinen Rucksack. Er konnte sie auch später noch wegwerfen. Nur keine Aufmerksamkeit erregen oder gar den Zorn der anderen auf sich ziehen. Sonst verzogen sie sich in ein anderes Becken und Heimdal war einer erneuten Chance beraubt, Loki endgültig zu vernichten und zurück nach Asgard zu gehen. Endlich!

Obwohl Loki diese Aufgabe heute vielleicht sogar selbst erfüllen würde, sollte er für einen Moment nicht aufpassen oder sich in zu tiefe Gewässer begeben. Der Gott des Unheils konnte nicht schwimmen, würde es wohl auch niemals lernen. Wasser nahm ihm auch noch seine letzten göttlichen Kräfte und er würde den ganzen Nachmittag über auf Mayura angewiesen sein. Wie gut dieses immer aufgeregte Mädchen auf ihn aufpasste, war allseits bekannt. Sobald sie ein >Mystery< witterte, würde sie ihn ohne eines Wortes einfach stehen lassen und er wäre hilflos sich selbst überlassen.

"... hier gibt es sogar eine große Rutsche und einen Zehnmeterturm..." plapperte besagtes Mädchen ohne Punkt und Komma. Sie nervte Heimdal ungemein, aber er wusste, dass er dankbar sein sollte. Schließlich waren weder Fenrir noch Midgar mitgekommen. Welpen waren in dem Spaßbad nicht erlaubt und Midgar blieb wohl aus Mitleid bei seinem großen Bruder zu Hause.

Wenigstens muss ich ihre Visagen nicht ertragen!

"... und dann sagte ich zu dem Lehrer, dass er..."

Mayura redete und redete - und Loki hörte geduldig zu. Sein Gesicht war sehr bleich, was durch seine schwarze Kleidung noch betont wurde, und sichtlich nervös knetete er die Tasche in seinen Händen. Heimdal verstand ihn nicht. Für niemanden hätte er sich in eine solche Situation begeben. Niemanden!

Dieses Weibsbild wird die nächsten Stunden Spaß haben, während er vor Angst fast vergeht.

Phantastisch!

Heimdal konnte ein hämisches Grinsen nicht unterdrücken und folgte ihnen durch die hellen Gänge, die noch ein wenig nach frischer Farbe rochen. Für ihn war es der erste Besuch in so einem Spaßbad, aber aus Mayuras mehr als ausführlichen Beschreibungen und den vielen Prospekten, die sie mit sich herum trug, wusste er ganz genau, was ihn erwartete. Die Umkleidekabinen waren nicht nach Geschlechtern getrennt, dafür aber winzig und standen in Reih und Glied. Während sie rasch in ihre Badesachen schlüpften, stieß sich Mayura mindestens drei Mal ihren Kopf und Thor schaffte es doch tatsächlich, sich in seiner Kabine selbst einzusperren. Offenbar war der einfache Öffnungsmechanismus - ein kleiner Hebel in der Mitte der Sitzbank - zu kompliziert für ihn. Also kletterte er durch den engen Spalt zwischen Kabinentür und Decke, was ein sehr interessantes Schauspiel bot, nicht nur für das erstaunte Personal. Mayura hielt sich den Bauch vor Lachen, auch Loki kicherte leise. Heimdal verdrehte nur sein Auge und murmelte einige nicht besonders nette Anreden für den Gott des Donners.

"Woher hätte ich auch wissen sollen, dass der Hebel mich wieder befreit?" Thor lehnte sich etwa zehn Minuten später wohlig in dem warmen Wasser zurück. Das Spaßbad war an dem Eröffnungstag gut besucht, dennoch hatten sie ein paar freie Plätze in dem Whirlpool erhascht, der noch nicht blubberte, dafür aber über Badewannentemperatur verfügte. Sonnenlicht schien durch die riesigen Fenster direkt darauf und Heimdal verzog geblendet sein Auge, das erneut leicht zu schmerzen begann.

"Wie wäre es mit Nachdenken?" fragte er bissig und ließ sich neben dem Donnergott nieder, immer darauf bedacht, seine einbandagierte Hand ein wenig höher als den Rest seines Körpers zu halten.

"Geht nicht, weißt du doch." Thor grinste ganz unbekümmert, nichts und niemand würde ihm seine gute Laune verderben. Er hatte ein vorzügliches Mittagessen eingenommen und zu seiner Freude entschloss sich Loki kurzfristig, den Eintritt zu bezahlen. Wenn er sich nun noch von jemandem ein Abendbrot erbetteln könnte, wäre dieser Tag perfekt.

"Wenn deine Leistungen in Mathe nur halb so gut wären wie dein sportliches Können, wärst du ein Genie." Kicherte Mayura. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt und trug einen pinkfarbenen Badeanzug. Heimdal musste neidlos gestehen, dass sie zumindest in einem Badeanzug eine gute Figur machte. Vielleicht war es das, was Loki anzog. Auf sexuelle Reize hatte er ja schon immer reagiert.

Ja, auf sexuelle Reize. Aber auf Badeentchen?

Heimdal beobachtete mit Entsetzen, wie ein kleines, gelbes Quietscheentchen über das noch ruhige Wasser des Whirlpools schwamm. Thor war natürlich sofort Feuer und Flamme und wie kleine Kinder schubsten Mayura und der Donnergott das Spielzeug gegenseitig an, um zu schauen, bei wem es denn die längere Strecke zurücklegte.

Die bringen hier Babyspielzeug mit?

Der Wächter wollte gerade einen patzigen Kommentar abgeben, als er Loki an der Treppe stehen sah. Er wirkte noch nervöser und bleicher. Langsam, ganz langsam stieg er die einzelnen Sprossen hinab und holte bei jedem Schritt tief Luft, da ihn mehr und mehr Wasser umgab.

Er macht das alles nur wegen diesem Weibsbild.

Einem Weibsbild, das ein Badeentchen mit in ein Spaßbad nimmt!

Loki drehte sich schließlich um und Heimdal zog seine Stirn in Falten, als er das unsichere Lächeln auf dem Gesicht des Unheilsgottes sah. Er ahnte, dass sein ärgster Feind am liebsten das Bad wieder verlassen hätte, das aber nicht konnte, ohne Mayura weh zu tun. Sie hatte sich so sehr auf diesen Nachmittag gefreut und er wollte ihn ihr nicht verderben. Auch wenn das bedeutete, dass er dafür die nächsten Stunden litt.

"Gefällt's dir, Loki-kun?" Mayura überantwortete das Spielzeug Thor und zog den Gott des Unheils wie selbstverständlich auf ihren Schoß. Sein Lächeln wurde eine Spur erleichterter, ehrlicher. Vermutlich fühlte er sich in ihrer Umarmung sicher, redete sich ein, dass ihm in dem verhassten Wasser nichts geschehen konnte, wenn er nur in ihrer Nähe blieb.

"Sehr." Log Loki und nickte bekräftigend, nur, um leicht zusammenzuzucken, als das Wasser um sie in Bewegung geriet. Automatisch schnappte er nach Luft und versuchte, sich auf andere Dinge als der drohenden Gefahr zu konzentrieren.

"Am Wochenende ist dein Geburtstag, Mayura, oder?" Es war eindeutig ein Ablenkungsmanöver und Thor und Heimdal erkannten dies auch. Beide hielten inne und die Badeente rutschte von Thors Kopf, ohne, dass Heimdal danach geschlagen und den Donnergott als eine Volltrottel bezeichnet hatte.

"Hai. Ich freu mich ja schon so sehr drauf!" Begeisterung schwang in Mayuras Stimme und ihre Augen leuchteten erwartungsfroh.

"Warum feiern wir dann nicht eine Party? Ich bin mir sicher, das Yamino sich gerne um das Essen kümmern würde. Lade doch einfach ein paar von deinen Freunden ein, Mayura."

"Wirklich, Loki-kun?"

"Wirklich."

"Das ist spitze!"

Loki vergaß sein Unbehagen für einige Momente, als Mayura ihn noch fester drückte und seine Wangen röteten sich leicht.

Hah, er weiß zwar noch immer, wie man eine Frau herumkriegt, aber das wird ihm in dem Körper gar nichts nützen!

"Nagnagnag..."

Heimdal verdrehte genervt sein Auge, als ein gelbes Spielzeug vor seinem Oberkörper hin und her schwamm, ergriff die Ente und warf sie Thor schließlich an den Kopf. Mayura schmiedete natürlich sofort Pläne für ihre persönliche Geburtstagsfeier und Lokis sanftes Lächeln machte Heimdal fast rasend. Wie schaffte es dieser Kerl nur immer wieder, sich auch aus den schlimmsten Situationen das Beste herauszuholen? Er befand sich umgeben von Wasser, dem Element, das ihn den Tod bringen konnte, und schien sich mit einem Mal pudelwohl zu fühlen. Loki war in der Lage, auch die grässlichste Bestrafung in die schönste Belohnung zu verwandeln!

"Nagnagnag..."

Und Thor weiß nicht, wann seine Scherze nicht mehr lustig sind!

Heimdal wollte ihn gerade anschreien und die Ente ergreifen, um sie aus dem Whirlpool zu werfen, da durchschoss ihn ein erneuter Schmerz. Tief pochte er im Inneren seines Kopfes und nur mit Mühe konnte er ein gequältes Stöhnen unterdrücken.

Warum jetzt?

Warum ausgerechnet jetzt, wo ich der Vollendung meiner Mission näher bin als je zuvor?

Heimdal senkte leicht seinen Kopf und nasse Strähnen klebten in seinem Gesicht. Tränen schwammen in seinem gesunden Auge und er tat, als würde er sich Wasser, das der Whirlpool hochgewirbelt hatte, aus dem Gesicht wischen. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass seine Umgebung auf einmal in tiefe Schatten gehüllt war und er nicht einmal mehr Thors Gesicht erkennen konnte, der doch direkt neben ihm saß und die Ente wohl erneut auf seinen Kopf gesetzt hatte, denn Heimdal glaubte, einen gelben Fleck in der Dunkelheit zu sehen.

Was ist hier los?

Es war nicht nur, dass ihn dieser erneute Anfall unendlich nervte, weil er so seinen Auftrag wieder nicht würde ausführen können, nein, er beunruhigte ihn auch ein bisschen. Über die letzten Monate, nachdem Loki ihm sein rechtes Auge stahl, hatte er sich an die Phantomschmerzen gewöhnt, aber die Anfälle waren nie so häufig aufgetreten. Ein oder zwei schmerzhafte Attacken im Monat waren die Regel geworden, zwei Zusammenbrüche innerhalb von nicht einmal vierundzwanzig Stunden hatte er noch nie erlebt.

Verdammt!

Er wollte sich vor den anderen Göttern keine Blöße geben, dennoch wusste er nicht, wie er sonst heil aus dem Whirlpool und dem Spaßbad oder gar wieder in die Wohnung zurück finden sollte. Er brauchte ihre mitleidigen Blicke nicht. Besonders nicht den falschen von Loki, dessen Schuld es war, dass es ihm so dreckig ging!

Verflucht!

Die Schmerzen nahmen immer mehr zu und er ahnte, dass er sie bald nicht mehr kommentarlos ertragen konnte. Sicherlich würde Mayura ausflippen und den Krankenwagen rufen und das gesamte Bad würde mit ansehen, wie ein kleiner Junge in das nächste Krankenhaus gefahren wurde.

Da will ich nicht hin! Ich bin kein kleiner Junge! Ich bin ein mächtiger Gott!

Ja, mit einem Migräneanfall...

Scheiße!

Er presste seine verbundene Hand gegen sein linkes Auge und holte stockend Luft. Das Wasser erschien ihm plötzlich viel zu heiß und er hatte mit dem Atmen Probleme. Ihm wurde schwindelig und diese beißende Übelkeit verkrampfte seinen Magen.

Die töten mich, wenn ich hier ins Wasser spucke.

Erneut holte er stockend Luft und spürte auf einmal eine Hand auf seiner linken Schulter.

"Alles in Ordnung, Heim?" fragte Thor so leise, dass nur er es hören konnte, obwohl Mayura die ganze Zeit über von ihrer Geburtstagsfeier schnatterte, sie hätte gar nicht mitbekommen, dass Thor ihn nicht Kazumi-chan nannte.

Heimdal fragte sich, ob er den Donnergott wirklich in sein Martyrium einweihen sollte, da hörte der Schmerz plötzlich auf. Von einem Moment auf den nächsten war er verschwunden und als der Wächter seinen Kopf hob, erkannte er klar und deutlich Thors besorgtes Gesicht vor sich. Heimdal blinzelte und sah sich um. Die Schatten waren hellem Sonnenlicht gewichen und sein rebellierender Magen beruhigte sich rasch, knurrte sogar leise bei dem Essensgeruch, der durch die ausladende Halle zog. Bestimmt gab es in diesem Spaßbad auch ein kleines Restaurant, vielleicht sollte er es später aufsuchen.

"Klar." Grummelte er und schnappte sich die gelbe Ente, die unbeaufsichtigt vor ihm auf den Wellen tanzte, bevor Thor auf noch verrücktere Gedanken kam und sonst was mit dem armen Viech anstellte.

"Wie wäre es, wenn wir rutschen? Es handelt sich um die größte Indoor-Rutsche Tokios, das können wir uns doch nicht entgehen lassen!" schlug Mayura vor, unterbrach für einige Augenblicke ihr Pläneschmieden. Thor nickte begeistert, während Heimdal böse grinste, als er sah, dass sich Loki seufzend in sein unausweichliches Schicksal ergab.
 

***
 

So spektakulär die Rutsche sich von außen sich um das ganze Gebäude schlängelte, so spektakulär sah auch ihr Einstieg aus. Lichter durchfluteten die Dunkelheit und führten hinab in einen tiefen Schlund, der Heimdal an den Eingang Niflheims erinnerte, zumindest so, wie er das auf vielen Bildern in Walhalla gesehen hatte. Lokis erneutes Erbleichen sagte dem Wächter, dass es dem Unheilsgott ähnlich erging.

"Das ist ja genial!" Mayura hievte einen großen schwarzen Reifen herbei und stellte sich geduldig an das Ende der Schlange an. Obwohl sehr viele Leute das Bad heute besuchten, dauerte es nicht all zu lange, bis sie direkt vor dem Schlund standen und zumindest die kindlichen Götter mit gemischten Gefühlen hinabstarrten. Thor und Mayura waren begeistert, sie redeten die ganze Zeit über von der Rutsche und ließen sich von den Schreien, die aus der Dunkelheit zu ihnen hinauf drangen, nicht stören.

"Komm, Loki-kun." Mayura hatte sich auf ihren Schwimmreifen gesetzt und wippte in dem Wasser leicht hin und her. Noch hatte sie zu warten, denn noch stand die Ampel über ihnen auf Rot. Das Bad setzte auf hohe Sicherheitsstandards, niemand sollte sich verletzten, weil er schneller oder langsamer rutschte und damit in andere Besucher hinein rutschte. "Wir rutschen zusammen."

Der Gott des Unheils schluckte sichtbar, dann gab er sich einen Ruck und kletterte vor Mayura in den Reifen. Sie schlang sofort ihre Arme um ihn und während ihre Augen vor Vorfreude leuchteten, waren seine voller Unbehagen getrübt.

Er muss wirklich etwas auf den Kopf bekommen haben, um so einen Irrsinn mitzumachen! Als Nichtschwimmer!

"Ich seh euch dann unten." Murmelte Loki, als die Ampel auf Grün umsprang und ein kräftiger Wasserstrahl die beiden auf ihrem Reifen in Bewegung setzte. Mayuras Schreie waren durch die gesamte Röhre zu hören, die sich rasch in helles Lachen verwandelten. Loki schien keinen Ton von sich zu geben.

"Seh dich ganz unten..." murmelte Heimdal und hob seine Augenbraue, als Thor seinen Reifen wegstellen wollte.

"Was glaubst du, was du da machst?"

"Na, zusammen rutschen macht doch viel mehr Spaß!"

"Sicherlich nicht." Heimdal warf dem Donnergott einen giftigen Blick zu, bevor er würdevoll in das kleine Becken vor dem Schlund stieg. "Ich rutsche allein!"

"Wenn du meinst..." Thor schmollte leicht und schulterte seinen Ring wieder, wobei er aus Versehen eine junge Frau hinter sich anrempelte und sich so ausführlich bei ihr entschuldigte, dass sie errötete und zu kichern begann.

Bin ich hier nur von Irren umgeben?

Der eine begibt sich für so ein Weibsbild in Todesgefahr und der andere flirtet bei sich jeder bietenden Gelegenheit! Wo ist denen ihr Stolz geblieben?

Heimdal verdrehte sein Auge und stieß sich ab, als die Ampel auf Grün sprang. Entweder hatten Mayura und Loki gerade einen kritischen Punkt überschritten oder aber die Rutsche bereits verlassen.

Oder aber sie sind beide ertrunken!

Heimdal grinste hämisch und drehte sich auf seinem Reifen, bis er mit dem Kopf in Fahrtrichtung lag. Das war zwar verboten und Warnungen standen auf mehreren Schildern im Eingangsbereich der Rutsche, aber ihm war das Wasser viel zu langsam und er wollte sich nicht unnötig langweilen. Die Lichter wiesen ihm den Weg trotz der Dunkelheit, die in der Röhre herrschte, und er lehnte sich in die nächsten Kurven, um an Geschwindigkeit zu gewinnen. Es gelang ihm und bald fuhr ihm der Wind durch die nassen Haare.

Na bitte, es geht doch! Schließlich bin ich kein kleines Kind!

Er grinste beinahe fröhlich und hoffte, dass die Rutsche auch wirklich so lang war, wie sie von außen aussah - und ob er Loki noch einmal dort hinauf locken konnte. Denn nichts befriedigte ihn mehr, als das Unbehagen in den Augen seines Erzfeindes bei einer Tätigkeit zu sehen, die ihm das reinste Vergnügen bereitete.

Er bog um die nächste Kurve und mit einem Mal gingen die bunten Lichter, die das Innere der Röhre in allen Farben das Regenbogens erhellten, aus. Völlige Finsternis umgab ihn und er ärgerte sich darüber.

Toll, ein neueröffnetes Bad und schon geht was kaputt!

Er würde sich beschweren gehen und lauthals sein Eintrittsgeld zurück verlangen, ungeachtet der Tatsache, dass Loki ihn eingeladen hatte.

Die nächste Kurve kam vollkommen unerwartet und warf ihn gegen die harte Plaste der Röhre. Der Reifen rutschte davon und seine suchenden Händen fanden ihn nicht wieder. Schmerz fuhr durch seine bandagierte Hand, als sie gegen eine unsichtbare Barriere knallte und er schrie unvermittelt auf, als sein gesundes Auge in seinen Kopf zu kriechen begann, es schien mit Nägeln gespickt zu sein, die sich tief in sein Gehirn zu bohren drohten. Ein grelles Licht funkelte hinter seinem fest verschlossenen Lid und er presste seine eisigen Finger vor das Auge und die Höhle, die in Flammen zu stehen schien. Sein Körper war nun wehrlos dem kalt wirkendem Wasser und der harten Rutsche ausgesetzt. Er wurde in jeder Kurve umher geschleudert und verschluckte sich, hustete, vergeblich nach Luft schnappend.

Verdammt! Ein Anfall!

Heimdal rollte sich zu einem Ball zusammen, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten und fragte sich, warum ihn gerade hier eine Attacke heimsuchen musste - und wann diese verrückte Rutschpartie denn ein Ende hätte. So lang hatte die Rutsche von außen nun auch wieder nicht gewirkt.

Er wimmerte leise, was von dem Rauschen des Wassers übertönt wurde und spürte, wie er einige Meter, so erschien es ihm, nach unten fiel. Wassermassen schlugen über ihm zusammen und er wurde nach unten gezogen. Seine Lungen verlangten nach frischer Luft, aber alles, was er ihnen geben konnte, war eiskaltes Wasser, das sie nicht wollten. Er hustete, konnte nicht atmen. Seine Brust brannte und nur unter größter Kraftanstrengung gelang es ihm, seine bandagierte Hand von seinem schmerzenden Auge zu ziehen. Unsagbare Pein fuhr durch seinen Kopf, trotzdem öffnete er das Lid, nur um festzustellen, dass er sich in undurchdringbarer Dunkelheit befand. Eine Dunkelheit, die ihn verschluckte, die ihn nie wieder loslassen würde. Er hatte keine Ahnung, wo sich das Ende der Rutsche befand, noch wusste er, ob er überhaupt noch in der Röhre war. Es existierte kein Oben und kein Unten. Es schien noch nicht einmal eine Mitte zu geben.

Verdammt!

Nicht so!

Nein, er wollte nicht sterben. Nicht in diesem beschissenen kindlichen Körper und erst recht auf dieser bescheuerten Erde. Er hatte gewusst, dass das Ende der Welt auch sein Ende bedeutet hätte, aber das wäre in Asgard gewesen, womöglich sogar in Walhalla, seiner Heimat. Er wollte nicht so enden, und erst recht nicht in der Fremde.

Scheiße!

Sein linker Arm ruderte umher und er glaubte, in der Finsternis einen Schatten zu sehen. Für einen Augenblick fragte er sich, ob das nun der Gott des Todes war, um ihn nach Niflheim zu führen, oder ob es sich um einen Hai handelte und er sich plötzlich im Meer vor den Toren Tokios befand - dann schloss sich jedoch eine Hand um seine einbandagierte und alle anderen Gedanken waren verschwunden bis auf einer: Das könnte meine Rettung sein!

Heimdal spürte, wie er in eine bestimmte Richtung gezogen wurde und sich die Bandagen langsam in dem Wasser auflösten. Seine Hand entglitt der Gestalt und er drohte, zurück in die unendliche Tiefe zu rutschen. Der Schatten drehte sich zurück zu ihm und Heimdal hatte ein Déja-vu. Er glaubte sogar, dunkelgrüne Augen in der Finsternis sehen zu können. So wie damals, als er von der Brücke stürzte und Loki versucht hatte, ihn zu retten. Damals hatte Heimdal die ihm dargebotenen Hand grob zurück gestoßen. Heute jedoch griff er zu und schlang seine zitternden Finger mit letzter Kraft um eine Hand, die kaum größer als seine eigene war.

Dann verschlang ihn die Dunkelheit endgültig.
 

***
 

"Und Sie sind sich sicher, dass wir Sie nicht nach Hause fahren sollen?" Tief verbeugte sich die Managerin des Spaßbades vor ihnen und entschuldigte sich erneut, wohl zum hunderttausendsten Mal, seit Mayura und Thor zwei bleierne Götter aus dem Auffangbecken der Rutsche gefischt hatten. Obwohl das Wasser dort keinen Meter tief war, hatten es die beiden geschafft, sich auf den Grund zu begeben und nicht wieder zurückzufinden. Das beherzte Eingreifen ihrer größeren Begleiter verhinderte ein Unglück.

"Ja, es ist nicht weit." Loki verbeugte sich ebenfalls und lächelte der völlig am Boden zerstörten Frau aufmunternd zu. Es war nicht ihre Schuld, dass er nicht schwimmen konnte und im Wasser wie ein Stein unterging. Und was immer auch mit Heimdal geschehen war, es lag sicherlich mehr an seiner göttlichen Herkunft und weniger an den Sicherheitsvorschriften des Bades.

Der Gott des Unheils trug wieder seine dunkle Kleidung und beschwichtigte die Managerin, als sich diese noch tiefer vor ihnen verbeugte und in Tränen ausbrach.

"Es hätte so viel geschehen können! Ich bin untröstlich!"

"Es ist aber nichts geschehen." Versuchte Loki, sie zu beruhigen und blickte hinüber zu Mayura, die ebenfalls in seine Trost spendenden Worte einsprang. Sie hielt noch immer den Gutschein in der Hand, der ihnen für das nächste Jahr freien Eintritt versprach, als kleine Entschädigung für die Unannehmlichkeiten. So richtig glücklich war Loki über die Aussicht nicht, dass Mayura nun wohl jede Woche mit ihm hier her wollte, aber er sah auch keine andere Möglichkeit, die Managerin zu beruhigen, die ihnen wohl noch ihren erstgeborenen Sohn angeboten hätte, damit sie ihr und ihrer Firma verziehen.

"Der Arzt hat doch gesagt, dass alles in Ordnung ist." Erklärte Mayura ebenfalls ruhig. Thor schüttelte nur seinen Kopf und wickelte einen noch immer bewusstlosen Heimdal in eine warme Decke, die ihnen vom Bad ohne ein Wort zur Verfügung gestellt worden war. Während Loki nach Luft geprustet hatte, als Mayura ihn aus dem Wasser gehoben hatte, rührte sich Heimdal überhaupt nicht mehr. Zum Glück hatte er noch geatmet und der sofort hinzugerufene Arzt bestätigte ihnen, dass mit ihm alles in Ordnung sei und er bald wieder aufwachen würde. Er wollte den Wächter in das nächste Krankenhaus einliefern lassen, aber Loki und Thor überredeten ihn, dass er zu Hause besser aufgehoben wäre. Sie beide ahnten, wie fuchsteufelswild Heimdal sein würde, wenn er in einem Krankenhausbett aufwachte. Seine Laune wollten sie weder den gestressten Ärzten noch den unschuldigen Krankenschwestern antun.

Behutsam hob Thor den kleinen Gott in seine Arme. In der Kindergestalt wog Heimdal wirklich nicht viel und es war keine besondere Mühe für den Donnergott, ihn nach Hause zu tragen.

Es wäre auch sonst keine Mühe gewesen.

"Gomen nasai... ich weiß ja gar nicht, wie ich ausdrücken kann, wie sehr es mir leid tut..." stammelte noch immer die Managerin und Loki drückte ihr schließlich mit einem freudigen Kinderlächeln sein Überraschungsgeschenk, den Lutscher, in die zitternden Hände.

"Für Sie, Tante. Sein Sie nicht traurig, es ist doch alles in Ordnung." Er nickte ihr vergebend zu, dann ergriff er seine Tasche und Heimdals Rucksack. Nach einem kurzen Verbeugen verließen sie dann das Sekretariat der Managerin und traten durch den Ausgang des Spaßbades. Noch immer schien die Sonne warm auf sie herab und Vögel sangen Liebeslieder. Loki bog in eine kleine Gasse ein, wo man von dem Verkehrslärm der Großstadt nichts hörte und eine friedliche Atmosphäre hüllte sie ein, die sie alle lächeln ließ. Lauer Wind fuhr durch ihre noch feuchten Haare und Mayura wuschelte durch Lokis braune Locken, um zwei verirrte Kirschblüten zu befreien. Kurz sahen sie sich an, bevor das Mädchen voraus lief, um hier und da über die Zäune zu schauen und die Frühjahrsblüher zu nennen, die in den Gärten dahinter wuchsen.

"Hier gibt es sogar ein ganzes Beet nur mit Schneeglöckchen!"

Thor und Loki gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, während Mayura von einigen Kirschbäumen kleine Äste abbrach und sie zu seinem Strauß in ihrer Hand zusammen steckte. Offensichtlich hatte sie vor, damit Lokis Haus zu schmücken.

"Bringen wir ihn zu mir." schlug Loki vor und winkte, als Mayura ihm einen besonders großen Kirschbaum zeigte, der am Wegesrand wuchs.

"Heim wird begeistert sein." erwiderte Thor mit derselben leisen Stimme und betrachtete das Bündel in seinen Armen. Heimdal hatte seinen Kopf gegen seine Schulter gelegt, seine Hände lagen kraftlos vor seiner Brust auf einem aufgedruckten Adler. Die violetten Strähnen, die sonst die rechte Hälfte seines Gesichtes bedeckten, waren zur Seite gerutscht und offenbarten ein leicht eingefallenes Lid, ansonsten war nichts von seiner Behinderung zu sehen. Der Gesichtsausdruck des ohnmächtigen Gottes wirkte friedlich, so als wäre er zufrieden mit sich und der Welt. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Thor wünschte sich, dass der kleine Gott in seinen Armen öfters lächeln und dafür weniger höhnen würde.

"Das ist schon okay. Mein Haus ist näher und ich will ihn nicht ohne Aufsicht lassen. Er kann nicht mehr versuchen, als meine antiken Vasen bei dem Versuch zu zerbrechen, mich umzubringen." Loki zuckte mit seinen Schultern und korrigierte Heimdals Rucksack. "Ich hab die Vasen noch nie gemocht, sie sind hässlich."

"Hm..." Thor blieb stehen, als sich Heimdal leicht bewegte, dann jedoch weiter schlief. Zumindest hoffte der Gott des Donners, dass der Wächter von seiner Bewusstlosigkeit in einen tiefen Schlaf gesunken war.

"Was habt ihr zwei da eigentlich im Wasser getrieben?" Thor blickte Loki forschend an und der Unheilsgott verstand seine andere, die unausgesprochene Frage. Ob Heimdal ihn in dem Becken angegriffen hätte, um seine Hilflosigkeit in dem nassen Element auszunutzen.

"Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung, Thor." Loki blickte hinauf zum wolkenfreien Himmel und wunderte sich stumm, wo Heimdals Adler war, immerhin hatte sich sein Herr in Gefahr befunden, wurde geradewegs in das Haus seines Erzfeindes getragen.

"Mayura hatte mir bereits aus dem Wasser geholfen und schaffte ihren Reifen fort, als Heimdal aus der Röhre geschossen kam. Seinen Reifen konnte ich gar nicht sehen. Erst dachte ich, er will eine Runde tauchen, um sich anschließend über mich lustig zu machen, dass ich das nicht könnte, aber er kam nicht wieder zurück an die Oberfläche." Loki wandte sich wieder Thor zu und schob seine Hände tief in die Taschen seines schwarzen Mantels. Es war eine hilflose, eine beschämte Geste.

"Da bist du zu ihm ins Wasser gesprungen?" Thor zog seine Stirn in Falten. "Ausgerechnet du, der keinen Meter schwimmen kann, ohne unterzugehen?"

"Was hätte ich denn sonst tun sollen?"

Ihn ertrinken lassen, denn er ist dein Erzfeind.

Beide dachten sie diesen Satz, aber keiner von ihnen sprach ihn aus.

"Schließlich lasse ich mich gerne von hübschen Mädchen retten." Nun grinste Loki wieder verschmitzt, bückte sich und hob einen Kiesel auf, den er eingehend betrachtete, als habe er noch nie etwas Interessanteres gesehen. Thor musterte ihn schweigend und konnte eine zweite Frage, die ihm auf der Seele brannte, nicht aussprechen.

Hast du wirklich Heims Auge gestohlen, Loki?

Er erinnerte sich noch gut an jene Nacht, in der der Gott des Unheils den Ritus von Niflheim vollführte und sich nach dessen Misslingen auf Heimdal stürzte. Es war alles so schnell gegangen und im nächsten Moment war Loki verschwunden und Heimdal lag am Boden, sein blutendes Gesicht haltend. Alle Indizien deuteten darauf hin, dass der Unglücksgott seinen Erzfeind angegriffen und ihn seines rechten Auges bestohlen hatte, aber in Augenblicken wie diesen zweifelte Thor an Lokis Schuld. Wenn er es nur auf Heimdals Vernichtung abgesehen hätte, so wie es ihm vom Schicksal vorgeschrieben stand, dann hätte er sich niemals freiwillig in das unheilbringende Wasser begeben, um den Wächter zu retten. Nein, dann hätte Loki ihn seelenruhig ertrinken lassen, hätte sich dabei nicht einmal die Finger schmutzig gemacht.

"Sieht dieser Strauß nicht toll aus? Der kommt ins Wohnzimmer, Loki-kun." Mayura zeigte Loki die weißen Zweige, äugte kurz zu dem schlafenden Heimdal, um ihm eine Blüte ins Haar zu stecken und lief dann wieder voran. Sie kannte den Weg zu Lokis Haus, verbrachte sie dort mittlerweile mehr Zeit als bei ihrem Vater im Tempel.

"Du willst so bald nicht mehr nach Asgard zurückkehren, oder?" Thor konnte Lokis Detektei schon von Weitem sehen, als sie um die Ecke bogen. Vor einigen Monaten hatten sie sich alle darauf vorbereitet, gegen Odin zu kämpfen. Ein Kampf auf Leben und Tod, der vielleicht in Ragnarök hätte enden können. Im letzten Moment entschied sich Loki jedoch dagegen und so blieben die Götter auf der Erde, was niemanden großartig störte. Niemanden, außer Heimdal. Der Wächter hatte nie mit dem Donnergott darüber gesprochen, aber Thor ahnte, wie sehr er in seinem Kinderkörper litt. Am Anfang hatte Thor Lokis Kneifen nicht verstanden, aber mehr Zeit er mit Mayura verbrachte, desto mehr begann er zu begreifen, warum der Gott auf seinen Platz in Walhalla verzichtete.

"Der Alte kann dort oben versauern! Hier kann er mir nichts mehr befehlen, egal, welche Schrecken er mir noch auf den Hals hetzt!" Loki ballte seine Faust um den Kiesel und seufzte leise. "Bis jetzt hab ich noch jeden besiegt."

"Du könntest Odin besiegen, Loki. Deine Chancen stehen gut. Dann könntest du nach Walhalla zurück - mit ihr, wenn du willst." Thor deutete auf Mayura, die weitere Äste zu ihrem Strauß fügte und fröhlich über den Weg tanzte.

"Diese Kirschblüten sehen so schön aus, Loki-kun. Ich kann es gar nicht abwarten, endlich wieder Blumen zu sehen."

"Und was ist das dort am Rand? Unkraut?" Loki warf den Kiesel achtlos beiseite und deutete auf einige Krokusse, die auf einem kleinen Fleckchen Wiese wuchsen.

"Das sind doch Frühjahrsblüher, Loki-kun. Ich möchte wieder Rosen und Sonnenblumen wachsen sehen. Hach, ich kann es kaum erwarten, dass es wieder wärmer wird." Mayura strahlte über das ganze Gesicht, als sie Loki den Strauß in die kleinen Hände drückte und einen zweiten zu binden begann. Das Haus des Unheilgottes besaß mehr als nur ein Zimmer, sie würde sie alle schmücken.

Loki lächelte zärtlich und schloss seine Augen. Tief sog er den süßen Blütenduft ein, als er sein Gesicht in den Kirschzweigen verbarg.

"Ich weiß, wie gut meine Aussichten auf Erfolg im Moment wären, Thor, und ich weiß auch, dass du und besonders Heim wieder zurück nach Walhalla wollt..." Entschuldigend blickte er zu dem Donnergott auf. "Aber ich werde kein Risiko eingehen. Ich will sie nicht noch einmal verlieren."

Loki wollte vermutlich noch hinzufügen, dass es ihm leid tat, dass er seinen besten Freund zum Bleiben zwang, wollte ihn um Verzeihung bitten, als ihn ein schwarzer Schatten überfiel. Loki wurde von der Wucht nach hinten gedrückt und landete unsanft auf seinem Hintern, die Äste purzelten aus seinen Händen, die plötzlich voll weichen Fells waren.

"Daddy!"

Thor hielt Heimdal fester, als er auf den kleinen Gott herabblickte, der lachend einen Welpen in die Luft hielt.

Ich verstehe dich, Loki.

Ich wünschte nur, Heim könnte das auch.

"Schön, dass du wieder da bist, Daddy!"
 

***
 

"Warum muss ausgerechnet ich auf diesen Idioten aufpassen? In der Küche steht ein leckerer Braten, auf den sollte ich aufpassen als ausgebildeter Wachhund!"

Heimdal erkannte die Stimme sofort, die ihn unsanft aus seinem traumlosen Schlaf riss. Verschlafen öffnete er sein Auge und stellte verblüfft fest, dass er nicht nur dem Wasser entkommen war, sondern sich dazu noch in einem fremden Bett befand. Es handelte sich dabei um ein europäisches Bett mit vier Pfosten. Es sah beinahe wie das Himmelbett aus, das er in Walhalla besessen hatte.

Walhalla.

Mein Zuhause.

Der Wächter seufzte tief und blinzelte, dankbar, dass es bereits dunkel war. Die Vorhänge waren aufgezogen und er konnte die Sterne an einem klaren Himmel glitzern sehen. Kein grelles Licht schmerzte mehr in seinem Kopf, der sich gar nicht so leer wie anfühlte wie noch vor ein paar Stunden, da er in seiner eigenen Wohnung aufgewacht war. Nach einem Anfall.

Die Rutsche. Ich hatte eine weitere Attacke!

Heimdal richtete sich ruckartig auf und fiel zurück auf das Kissen, als ein Schwindelgefühl ihm die Balance nahm.

"Ach? Der Herr ist aufgewacht? Na endlich!"

Heimdal drehte seinen Kopf und brauchte einige Augenblicke, um das schwarze Fell auf dunkler Decke erkennen zu können.

"Fenrir...?" flüsterte er und war erschrocken, wie dünn seine Stimme klang. Wie schwach.

"Der Kandidat erhält zehn Punkte. Bei zwanzig gibt's ne Klobürste." Erwiderte der Welpe frech und sprang von dem Bett. "Ich sage meinem Daddy bescheid. Wehe, du rührst dich auch nur einen Millimeter." Warnte der Höllenhund und scharrte mit seiner rechten Pfote die Tür offen. "Es sei denn, du hast Durst. Auf dem Nachttisch steht ein Glas Wasser. Der Rest ist jedoch tabu!"

Mit diesen Worten warf der Welpe seinen Kopf in den Nacken und stolzierte würdevoll davon.

Frenrir? Daddy bescheid sagen? Was geht hier ab?

Heimdal versuchte erneut, sich aufzurichten. Dieses Mal aber viel langsamer. Das Schwindelgefühl verschwand nicht völlig, aber es wurde nicht wieder so überwältigend. Er stopfte sich ein Kopfkissen umständlich in den Rücken und blickte sich verwundert in dem recht großen Schlafzimmer um. Er saß in dem Himmelbett gleich neben einem großen Fenster, vor dem anderen Fenster gleich daneben stand ein alter Schreibtisch. Ein Spiegel funkelte in der Dunkelheit und Heimdal war froh, dass dieser in einem Schrank eingelassen war und Richtung Fenster zeigte, er wollte sein bleiches Gesicht nicht vor sich sehen.

Wo bin ich hier?

Heimdal zog seine Stirn in Falten, als er sich dem Nachtisch zuwandte und das Glas stehen sah. Sein Mund war mit einem Mal wie ausgetrocknet und zögernd streckte er seine linke Hand aus, nur, um innezuhalten. Sie war neu verbunden worden. Daran bestand kein Zweifel, hatten sich die alten Verbände unter Wasser in Wohlgefallen aufgelöst.

Wie bin ich aus dem Wasser gekommen?

Und wer hat mich hier her gebracht?

Entschlossen ergriff er das Glas und trank das kühle Mineralwasser, nur, um es beinahe wieder auszuspucken, als er das Photo sah, das eingerahmt neben einem kleinen Wecker auf dem Nachtisch stand. Es wirkte wie ein Familienphoto. Im Hintergrund stand Midgar und seine Augen glitzerten hinter der Brille. Vor ihm saß Mayura auf einem Stuhl und hatte beide Arme um Loki geschlungen, der ebenfalls auf dem Stuhl Platz gefunden hatte. Fenrir hatte sich auf Lokis Schoß zusammen gerollt uns sein unschuldigstes Welpengrinsen aufgesetzt. Die Personen auf dem Bild schienen sehr glücklich zu sein.

Das ist ein Familienphoto.

Wenn auch in vertauschten Rollen.

Heimdal stellte das Mineralwasser beiseite und nahm vorsichtig den Rahmen in die verbundene Hand. Nachdenklich schaute er auf die lächelnden Gestalten herab und fragte sich, ob Loki nicht einen Zwillingsbruder besaß, von dem sie nichts wussten. Denn dieser Loki, der so glücklich umgeben von seinen Lieben auf jenem Bild saß, hätte Heimdal nicht einen so hinterhältigen Verrat zugetraut. Aber sein fehlendes Auge bewies, dass es nur einen Loki gab und dieser mit tausend Zungen sprach.

Immerhin nennt er die Weltenschlange seinen Sohn!

Ob Mayura auch noch so lächeln würde, wenn sie wüsste, mit wem sie sich abgibt? Dass ihr niedlicher Loki ein frauengeiler Gott und die anderen seine missratenen Söhne sind?

Heimdal fand keine Antwort auf diese Frage, sie hätte ihm vielleicht auch gar nicht gefallen. Ganz und gar nicht.

Ist es das wert, sich gegen Odin aufzulehnen und verbannt zu werden? Ist es das wert?

Heimdal schob die Decke beiseite und rutschte vom Bett. Dabei überkam ihn ein weiterer Schwindelanfall und er landete unsanft auf seinen Knien. Der Rahmen rutschte aus seiner bandagierten Hand und Glas klirrte in der nächtlichen Dunkelheit. Der Wächter fluchte leise, dann richtete er sich auf, um das Bild wenigstens zurück auf den Nachttisch zu stellen. Wie immer er auch in das Haus seines Feindes gefunden hatte, er wollte nicht dabei ertappt werden, wie er in Lokis persönlichen Sachen herumstöberte.

Das restliche Glas löste sich und im nächsten Augenblick hielt Heimdal nur noch die Photographie in den Händen. Der Rahmen selbst war aufgesprungen, offenbarte, dass dieses Familienbild mehr war als es darstellte.

Ich bin hier in Lokis Haus!

Ich sollte auf der Hut sein!

Dennoch siegte die Neugier über die Vorsicht. Behutsam zog er an der Ecke, die unter der Photographie hervor lugte, und hielt kurz darauf ein anderes Bild in den Händen. Ein vollkommen anderes Bild, das der Photographie dennoch sehr ähnelte.

Loki, nun nicht länger in Kindergestalt, sondern als stolzer, junger Mann saß auf einem ähnlichen Stuhl. Zu seiner Rechten stand ein Wolf und ließ sich von Loki hinter den Ohren kraulen, während sich zu seiner Linken eine riesige Schlange um die Stuhlbeine wand. Ihre Schwanzspitze war in den kleinen Fäusten eines Babys gefangen, das Loki in seinem linken Arm hielt. Midgar schien dies jedoch nicht zu stören. Genauso wenig wie es Fenrir jemals etwas ausgemacht hatte, dass das kleine Mädchen auf seinem Rücken reiten wollte, sobald es alt genug war, um sich in seinem Fell festzuhalten.

Hel.

Dieses Bild zeigte Loki in Walhalla mit seiner Familie, mit seinen Kinder. Mit all seinen Kindern. Heimdal konnte sich noch sehr gut an den Tag des Entstehens erinnern, er hatte das Bild selbst gezeichnet. Damals, bevor Odin Loki erst seine Söhne und dann auch noch seine Tochter nahm. Damals, als Loki Heimdal noch nicht verraten hatte.

Pah! Ein Höllenhund, eine Schlange und eine Halbtote, was für eine kranke Familie!

Ja, aber eine glückliche Familie...

Heimdal zuckte zusammen und legte das Bild zurück auf den Nachttisch, so als habe er sich daran verbrannt. Ertappt schaute er auf, als er Schritte hörte, die durch das Haus hallten, dann jedoch verstummten. Fenrir hatte zwar angedroht, seinen Vater zu holen, aber entweder hatte er ihn nicht finden können oder war in der Küche hängen geblieben. Letzteres erschien Heimdal wahrscheinlicher, der Höllenhund war schon immer extrem gefräßig gewesen.

Er besitzt das Bild noch immer, nach all der langen Zeit.

Er kann sie nicht vergessen, nicht loslassen.

Heimdal verspürte fast so etwas wie Mitgefühl für den Unheilsgott, beinahe so etwas wie Verständnis. Diese Gedanken verschwanden jedoch sofort aus seinem Unterbewusstsein, als das Pochen hinter seinem Augen wieder anschwoll und die Dunkelheit der Nacht zunahm. Wolken schoben sich vor die Sterne und Heimdal streckte unsicher seine einbandagierte Hand aus, während er sich durch das fremde Haus tastete.

Nein, nicht noch einen Anfall. Bitte, nicht noch einen.

Er wusste nicht, wen er um Hilfe bat, aber er wusste, dass er keinen dritten Anfall innerhalb nur einen Tages erdulden wollte, besonders nicht in dem Haus seines Erzfeindes.

Loki soll mich nicht so schwach sehen!

Er suchte die Wand neben sich ab, konnte aber keinen Lichtschalter finden. Also setzte er seinen Weg im Dunklen fort, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als er die Treppe erfühlte. Die Stufen waren nicht sehr hoch, aber ihm erschienen sie unüberwindbar, selbst beim Herabsteigen. Er wollte gar nicht darüber nachgrübeln, ob er noch in der Lage war, dieselben Stufen wieder hinaufzuklettern, sollte dies vonnöten sein.

Ich stecke im Körper eines Kindes und benehme mich wie ein alter Mann.

Sein ein Scheiß!

Wütend ballte er seine linke Faust und schlug zornig gegen das Geländer. Seine rechte Hand hatte er die ganze Zeit über nicht von seiner dröhnenden Höhle genommen. Er ließ auch nicht los, als seine Beine plötzlich ihren Halt verloren, er drei Stufen hinabstolperte und schließlich vornüber kippte. Mit einem lauten Poltern fiel er die restlichen Stufen hinunter und blieb still auf dem Fußboden liegen, spürte den weichen Teppich unter seinem schmerzenden Gesicht.

Loki muss wirklich reich sein, wenn er sogar sein Haus mit Teppich auslegen lässt. Kein Wunder, dass sich dieser bettelarme Blitzableiter auf seine Seite geschlagen hat.

"Fenrir?" Eine Tür ging auf und Licht erhellte den Gang. Heimdal blinzelte geblendet und zog sich mit Aufbietung seiner letzten Kräfte auf seine Beine. Er hatte Lokis Stimme erkannt und wollte von ihm nicht auf dem Boden liegend gefunden werden. "Bist du das, Kleiner?"

"Nein, ich bin nicht dein doofer Köter." Knurrte Heimdal zurück und schritt hinüber zu der Tür, wobei er versuchte, nicht all zu auffällig zu wanken.

"Heimdal, du bist also wieder aufgewacht." Loki öffnete die Tür ein wenig mehr und der Wächter zögerte für einen Moment. War das wieder eine Falle? Würde Loki ihm nun auch noch das linke Auge stehlen? Wäre dann alles verloren? In seiner jetzigen Verfassung würde er gegen den Unheilsgott nichts ausrichten können.

"Komm rein, wir essen gerade Abendbrot."

Tatsächlich, es roch lecker nach gebratenem Fisch und Heimdals Magen knurrte sofort hungrig. Er konnte Stimmen aus dem Inneren des Raumes hören, fröhliches Lachen und leise Musik, vermutlich das Radio. Die offene Tür wirkte verheißungsvoll, dennoch zögerte Heimdal, denn Loki stand in ihrem Rahmen. Der Unheilsgott sah ihn nachdenklich an, dann lächelte er sanft.

"Komm rein, Heim, ich tu dir nichts."

"Pah! Du solltest aufpassen, dass ich dir nichts tu!" zischte Heimdal und rauschte scheinbar erbost an dem Jungen vorbei, dem einzigen Gott, dem er noch von Angesicht zu Angesicht in die Augen schauen konnte, ohne dass dabei eine Leiter nötig war.

Loki nickte wissend, dann folgte er ihm hinüber zu dem runden Tisch, an dem bereits Mayura und Thor saßen, die es sich sichtlich schmecken ließen. Es gab tatsächlich Fisch, welcher von Midgar fachmännisch zerteilt wurde. Heimdal setzte sich auf den letzten freien Platz, vermutlich Lokis, und nahm sich einfach einen bereits gefüllten Teller. Schweigend begann er zu essen, wollte die andern einfach ignorieren.

"Wie geht es dir?"

Es hätte ihm klar sein müssen, dass die anderen ihn nicht so einfach in Ruhe lassen würden. Wütend blitzte er Thor an, ließ dann aber die Stäbchen sinken, als er den besorgten Gesichtsausdruck des Donnergottes sah. Er konnte ihn jetzt nicht anfauchen, wenn er sich ernsthafte Gedanken um ihn gemacht hatte, das wäre unfair.

"Besser."

Ein >Danke< brachte er dennoch nicht heraus.

"Wo ist eigentlich Fenrir? Er sollte über dich wachen." Loki hatte sich einen Stuhl, der nicht zu den anderen passte, mit an den Tisch geschoben und setzte sich nun zwischen Heimdal und Mayura, um ebenfalls sein Abendbrot in Empfang zu nehmen. Thor verlangte bereits nach Nachschlag, natürlich.

Vielfrass!

"Ist abgehauen, als ich aufgewacht bin. Wollte eigentlich zu dir." Heimdal probierte den Reis und musste zugeben, dass Midgar wirklich ausgezeichnet kochen konnte.

"Wahrscheinlich ist er in der Küche hängen geblieben und vor dem Herd eingeschlafen. Ich brate doch gerade das Hühnchen vor morgen Mittag." Erklärte besagter Koch und legte einen Teller Fisch beiseite, damit sein großer Bruder nicht in lautes Heulen ausbrach, wenn er erfuhr, dass er das Abendessen verschlafen hatte.

Hühnchen zum Mittag?

Thors Augen begannen zu leuchten und Heimdal hätte ihn dafür am liebsten erwürgt. Er entschied sich dann doch für sein Essen, er wusste nicht, wann er das nächste Mal so fürstlich bewirtet werden würde, denn solange die Anfälle anhielten, würde er die Grundschule nicht besuchen. Sonst hetzten ihm die angeblich so besorgten Lehrerinnen ein paar Ärzte und diese dann die Polizei auf den Hals.

Anfall... im Bad hatte ich einen Anfall...

"Wie bin ich hier hergekommen?" Fragte er und unterbrach die gefräßige Stille am Tisch, die ihm seltsam vorkam. Besonders in Mayuras Nähe, die normalerweise ohne Luft zu holen sprach. Ihr Hunger war wohl größer gewesen als ihr Bedürfnis, sich anderen Personen mitzuteilen.

"Was ist in der Rutsche passiert, Kazumi-chan?" stellte Thor eine Gegenfrage und benutzte Heimdals japanischen Namen, unter dem ihn Mayura kannte. "Du bist im Auffangbecken untergegangen und nicht mehr aufgetaucht. Wir mussten dich rausfischen und die Managerin hat uns die Ohren vollgeheult, wie leid es ihr täte."

"Wir haben jetzt Gutscheine für das nächste Jahr." grinste Mayura, dann aber verfinsterte sich auch ihre sonst immer strahlende Mine. "Ja, was war los, Kazumi-kun? Du hast uns allen einen mächtigen Schrecken eingejagt."

Allen? Na, bestimmt nicht.

"Ich bin von meinem Reifen gerutscht und hab mir wohl den Kopf an der Röhre angestoßen." Log er und steckte sich eine große Ladung in den Mund, um nicht auf weitere unangenehme Fragen antworten zu müssen.

"Dann hättest du doch mit mir rutschen sollen." Überlegte Thor und Mayura blickte ihn entsetzt an.

"Du meinst, er hat die Rutsche allein genutzt? Es steht aber in den Vorschriften, dass Kinder unter zehn Jahren nur in Begleitung Erwachsener rutschen dürfen!"

Erwachsener? Sag bloß, du willst erwachsener als ich sein? Komm du erst einmal in mein Alter!

Heimdal zerbiss beinahe seine Stäbchen und kaute zornig auf dem Fisch herum. Loki hob auch nicht seine Laune, indem er leise neben ihm kicherte.

"Als ob Kazumi-chan sich jemals an die Vorschriften gehalten hätte." Dabei betonte er die Anrede -chan, was Heimdal sofort auf die Palme brachte. Gerade wollte er sich zu dem Unheilsgott umdrehen und ihm endgültig die Kehle zudrücken, als Mayura beide Jungen skeptisch betrachtete.

"Vernünftiger bist du auch nicht, Loki-kun! Obwohl du ganz genau weißt, dass du nicht besonders gut schwimmen kannst, springst du einfach so ins Wasser. Ihr seid beide unvernünftig! Ihr hättet ertrinken können, wenn Narugami-kun und ich nicht so schnell zur Stelle gewesen wären!" Tränen glitzerten in ihren Augen und Loki zuckte schuldbewusst zusammen. Heimdal begann, hingebungsvoll zu husten. Er hatte sich an seinem Fisch verschluckt.

Loki ist freiwillig ins Wasser gesprungen?

"Sei nicht so streng, Daidouzi-kun. Er wollte doch nur helfen." Beschwichtigte sie Thor und klopfte Heimdal sanft auf den Rücken, da dieser noch stärker zu husten begann.

Loki wollte mir helfen? Mir???

Hat der sie noch alle? Ich bin sein Erzfeind! Er hat mich nicht zu retten!

"Die Managerin hat uns versprochen, eine Aufsichtskraft an die Rutsche zu stellen, damit so etwas nicht noch einmal vorkommt." Loki grinste seinen Sohn an, der ihn nicht minder erstaunt anschaute. Dann nickte Midgar und verhalf Thor zu seinem zweiten Nachschlag. Der Donnergott kümmerte sich zwar immer noch um den hustenden Heimdal, aber sein Teller war leer und er hatte sein Abendbrot sicherlich noch nicht beendet. Nach vielen Mahlzeiten mit Thor wusste Midgar, welche Mengen der Donnergott verdrücken konnte, wenn er nur genug Hunger hatte. Heute schien er sehr hungrig zu sein.

"Das ist auch besser so!" Mayura aß schweigend ihren Reis, dann aber lächelte sie wieder, schien ihrem Loki und auch den anderen Freunden verziehen zu haben. "Was mir gerade einfällt, wir können doch diese netten Mädchen zu meiner Geburtstagsfeier einladen, mit denen wir einmal in den Bergen in Urlaub waren." Schlug sie vor und Heimdal, der sich gerade von seinem Hustenanfall erholt hatte, verschluckte sich an seinem Tee und konnte ein weiteres Husten gerade noch zurück drängen.

Sie will die Schicksalsgöttinnen einladen?

Die Norns sollen zu dem dämlichen Geburtstag eines blöden Teenagers kommen?

Das ist doch weit unter ihrer Würde!

"Gute Idee, sie werden sich sicher freuen." Loki legte seine Stäbchen auf seinen Teller und lehnte sich satt und zufrieden zurück.

"Ich werde sie noch heute Abend anrufen, Loki-sama."

"Hm... diesen lustigen Jungen mit dem Schwein werden wir nicht erreichen, oder? Er war doch verreist, nicht wahr?"

Sie will sogar Freyr und Gullinbrusti einladen? Wie bescheuert kann ein Mensch denn noch sein?

"Sind gerade in China." Midgar kramte in seinem immer akkurat sitzenden Anzug und zauberte eine Postkarte hervor. Sie zeigte die Große Mauer.

Denen schickt er also Postkarten und mir nicht? Dabei habe ich immer seine bescheuerten Einkaufstüten geschleppt und das Bad geputzt, wenn er es mal wieder unter Wasser gesetzt hatte. Undankbares Pack!

"Und ich würde dich auch gerne einladen, Kazumi-chan. Die Feier ist um acht Uhr nächsten Samstag." Mayura blickte ihn erwartungsvoll an und Heimdal wunderte sich, ob der Fisch vergiftet gewesen war, ihm wurde mit einem Mal unglaublich übel. "Es würde mich freuen, wenn du kommen könntest."

Sie lädt mich ein?

Die... was auch immer sie für Loki ist... meines Erzfeindes lädt mich zu ihrer Teenager-Geburtstagsfeier ein? Sie lädt nicht nur die Schicksalsgöttinnen ein und denkt an Freyr und sein Hausschwein, sondern will auch die Person dabei haben, die ihren Loki tot sehen möchte, am besten noch heute als morgen?

War diese Person vollkommen durchgedreht?

Oder war er wahnsinnig, dass er dieses Angebot auch nur für den Bruchteil einer Sekunde in Betrachtung zog? Sicherlich würde Midgar kochen, es würde leckeres Essen geben und er würde nicht allein in seiner Wohnung über einem vermutlich angebrannten Topf Ramen sitzen. Er würde mit anderen Götter an einer Tafel sitzen, so wie in Walhalla...

Ich werde hier mit meinen ärgsten Feinden, die mich verraten haben, die übergelaufen sind, die mich davon abhalten, nach Asgard zurück zu kehren, an einem wackeligen Tisch sitzen und dabei Odins Mission kein Stückchen näher der Vollendung bringen. Nein, es wird aussehen, als hätte es Loki geschafft, auch noch mich um den kleinen Finger zu wickeln!

Heimdal erblasste und das Pochen in seinem Kopf schwoll wieder an. Mayuras gespanntes Gesicht verschwamm vor seinem Auge und jemand schien die Lichter auszudrehen, denn seine Welt wurde erneut in tiefe Schatten getaucht.

Ich bin kein Verräter!

Ich will zurück nach Asgard!

"Kommst du?" harkte Mayura nach und blinzelte verwirrt, als sich der Junge so plötzlich von seinem Stuhl erhob, dass dieser umkippte und scheppernd zu Boden fiel.

"Nein!" fuhr Heimdal sie an und es war ihm egal, was für einen Eindruck er bei ihr hinterließ. Er wollte raus aus dem Haus seines Feindes, aus dieser Irrenanstalt, aus diesem bescheuerten Kinderkörper!

"Warum nicht?" Mayuras Stimme klang ehrlich enttäuscht.

Pah, als ob die mich wirklich hier haben wollen. Bestimmt ist das eine weitere Falle von Loki. Aber dieses Mal fall ich nicht darauf hinein. Nein, dieses Mal nicht!

"Keine Zeit!" knurrte er verärgert und stürmte, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, aus dem Wohnzimmer. Er knallte beinahe gegen die Kommode, die im Flur stand, fand dann jedoch die Tür und rannte hinaus in die sternenklare, kühle Nacht. Er achtete dabei nicht auf die Rufe, die hinter ihm erklangen noch auf seinen eigenen rasselnden Atem, als er seinen Körper an seine Grenzen trieb.

"Manchmal wüsste ich gerne, was mit ihm los ist." Mayura schüttelte ihren Kopf und betrachtete den noch immer bis zur Hälfte gefüllten Teller des Jungen. "Falls er seine Meinung aber doch noch ändert, er ist willkommen." Mit diesen Worten, für die sie Loki so sehr mochte, war die Sache für sie erledigt und sie wandte sich wieder ihrem Abendessen zu. Thor schloss seufzend das Fenster und gesellte sich zu ihnen, entschlossen, ein ernstes Wort mit dem Wächter zu sprechen.

Und vielleicht auch mit Loki, wenn er den Mut dazu aufbrachte.
 

***
 

Heimdal hatte keine Ahnung, wie er nach Hause gekommen war, aber irgendwie musste er es geschafft haben, denn er lag auf seinem Sofa und presste ein Handtuch gegen seine heiße Stirn, das nach Kräutern roch. Thor hatte bei seinem Besuch einen Tee gebraut und der Wächter schüttete die gelbliche Flüssigkeit einfach über den hellen Stoff, hoffte auf Linderung der Schmerzen, die ihn nicht mehr in Ruhe ließen. Waren die Anfälle während der letzten Monate sporadisch und vergänglich gewesen, so schien sich jetzt ein konstanter Schmerz in seinem Kopf auszubreiten, gegen den er nicht ankam. Einen Arzt konnte er jedoch auch nicht aufsuchen. Was hätte er ihm sagen sollen? Dass sein Gehirn aus seinen Ohren zu kriechen versuchte, weil ein Gott ihm das rechte Auge gestohlen hatte? Diese Aussage würde ihm keinen wochenlangen Attest, sondern einen kostenlosen Aufenthalt in der Nervenklinik einbringen.

Vielleicht bin ich ja auch verrückt? Immerhin habe ich mit meinem ärgsten Feind zu Abendbrot gegessen, nachdem ich in seinem Bett aufgewacht bin!

Heimdal tastete blind nach der Fernbedienung und lauschte nur halbherzig den Stimmen, die nach einem Knopfdruck sein Wohnzimmer füllten. Es war ein miserabler Spielfilm, den Freyr ständig angeschaut hatte, aber alles erschien ihm besser, als die erdrückende Stille der Nacht. Gerne hätte er das Fenster geöffnet und ein wenig frische Luft geatmet, aber er traute seinen zitternden Beinen nicht, ihn sicher durch den Raum zu tragen. Also blieb er liegen, wimmerte leise, als die Pein zunahm.

Sollte er es noch einmal mit den Schmerztabletten versuchen? Eine andere Sorte? Vielleicht halfen sie ja besser als letztes Mal.

Heimdal legte seine Arme über sein brennendes Gesicht, hasste sich selbst für die Tränen, die erneut über seine Wangen rannen. Es war bereits viel zu spät, um nach einer Apotheke zu suchen, um sich neue Tabletten zu besorgen. Und selbst wenn die Läden noch nicht geschlossen hätten und er in der Lage wäre, diesen Raum oder gar dieses Haus zu verlassen, dann würde ihm der Apotheker bestimmt sagen, dass er seine Mutti schicken solle, denn er würde ihm, einem neunjährigen Jungen, keine Medikamente verkaufen.

Übelkeit stieg in ihm empor, aber er bekämpfte sie hartnäckig. Nein, er wollte sein leckeres Essen nicht hergeben. Nicht schon wieder.

Wieso passiert das mir? Warum nicht Loki? Verdammt!

"Mein kleiner Heimdal."

Der Wächter zuckte heftig zusammen, als er die Stimme plötzlich neben sich vernahm. Eine Stimme, die er überall wiedererkannt hätte, da sie allgegenwärtig zu sein schien.

Odin?

Er wollte sein Auge öffnen, um zu sehen, ob der höchste aller nordischen Götter wirklich neben seinem Sofa stand, aber eine kühle Hand legte sich über sein Gesicht. Heimdal wimmerte, aber der rasende Schmerz hinter seinen Lidern ließ ein wenig nach.

"Lass sie geschlossen, Heimdal, mein Licht würde dir nur weh tun."

Heimdal spürte ein Gewicht neben sich auf der weichen Unterlage und vermutete, dass sich Odin neben ihn setzte. Sein dröhnender Kopf wurde vorsichtig angehoben und bald darauf fuhren sanfte Finger durch seine verschwitzten Strähnen. Es war eine Geste, die der Wächter seit so langer Zeit nicht mehr gespürt hatte. Damals, als er noch als ein echtes Kind, als ein sehr junger Gott durch Walhalla lief, war Odin oft bei ihm gewesen und hatte ihn beinahe wie ein sorgender Vater behandelt. Leider ging diese Nähe irgendwie im Laufe der kommenden Jahrtausende verloren, da Heimdal seine Rolle als Wächter der Götter übernahm.

Ja, diese Geste war ihm sehr vertraut.

Ich habe die Mission nicht erfüllen können. Und trotzdem ist er da...

"Bis jetzt... hatte ich leider keinen Erfolg..." flüsterte Heimdal erschöpft, dankbar darüber, dass der Anfall allmählich abklang. Er ahnte, dass er das dem mächtigen Gott zu verdanken hatte.

"Ich weiß, mein kleiner Heimdal. Dennoch habe ich mein Vertrauen in dich nicht aufgegeben. Du wirst es schaffen, diesen Verräter zur Strecke zu bringen, dessen bin ich mir sicher." Ein Lächeln schwang in Odins Stimme. "Du bist stärker als Thor und die Schicksalsgöttinnen zusammen. Ich hoffe auf dein Gelingen."

Heimdal nickte und hob seine einbandagierte Hand, um sie über die kühlen Finger Odins zu legen, die noch immer sein schmerzendes Auge bedeckten.

"Ich wäre... erfolgreicher, wenn ich nicht diese Anfälle hätte..." murmelte er, wissend, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Er konnte es jedoch nicht über sich bringen, sich und Odin, der so fest an ihn glaubte, sein Versagen einzugestehen. "Warum tut es so weh? Könnt Ihr es mir sagen?" Heimdal wollte nach Hilfe bitten, aber erneut stand sein Stolz im Weg, und die unbewusste Angst, den höchsten der Götter zu enttäuschen.

"Du brauchst dein Auge zurück, mein kleiner Heimdal. Loki hat es dir nicht nur gestohlen, um dich zu verletzen, sondern, um dich zu entmachten. Du bist der Wächter, du musst wachsam sein. Du bist nicht vollständig ohne deine Augen und verlierst daher deine Kräfte immer mehr."

Unangenehme Stille entstand zwischen ihnen, die nur von den Geräuschen des Spielfilmes unterbrochen wurde. Odin streichelte weiter Heimdals Haare, während dieser angestrengt nachdachte.

"Was bedeutet das?" fragte er schließlich zögernd, war sich nicht sicher, ob er die Ursache für seine Schmerzen kennen wollte. Oder gar die Folgen.

"Ohne dein rechtes Auge wirst du erblinden und früher oder später sterben, wenn Loki nicht deine Hilflosigkeit ausnutzt und dich zuerst umbringt." Die kühle Hand verharrte in seinen violetten Strähnen und Odins Stimme klang so besorgt, wie Heimdal sie noch nie gehört hatte. "Hol dir dein Auge zurück, mein kleiner Heimdal. Hol dir dein Auge zurück und vernichte diesen Verräter. Ich will nicht meinen fähigsten Gott verlieren."

Heimdals Hals schlug bis zum Hals. Zum Teil ob des unerwarteten Kompliments und teils aus Angst. Aus Angst davor, sein Augenlicht zu verlieren.

"Hold dir dein Auge zurück."

"Das werde ich. Ihr könnt auf mich zählen."

"Das weiß ich, mein kleiner Heimdal."

Die Hand schloss sich fester um den Kopf des kindlichen Gottes und Heimdal schnappte nach Luft, als der Schmerz anschwoll - und dann plötzlich verschwand, vollkommen.

"Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun als das. Aber es ist wichtig, dass Loki vernichtet wird, denn er ist eine Gefahr für die gesamte Götterwelt. Genauso, wie es wichtig ist, dass du dein Auge zurück erhältst und wieder stark wirst."

Heimdal nickte. Tränen glitzerten hinter seinem Lid, liefen schließlich über seine bleiche Wange. Odin beugte sich zu ihm herab und der Wächter spürte für einen kurzen Moment sanfte Lippen, die seine heiße Stirn berührten.

"Sei erfolgreich, ich zähle auf dich."

Dann war die göttliche Präsenz fort, Heimdal wieder allein in seinem Wohnzimmer. Zögernd öffnete er sein Auge und blinzelte in das schwache Licht, das der Fernseher in die nächtliche Dunkelheit warf. Kein Schwindelgefühl suchte ihn heim, als er sich langsam aufrichtete. Der Schmerz hatte sich in ein Pochen in seinem Kopf verwandelt, das er ignorieren konnte. Mit zitternden Händen wischte er die Tränen fort und holte tief Luft.

Odin kümmert sich um mich.

Er glaubt noch immer an meine Stärke.

Heimdal starrte auf seine Stiefel und schluckte, als ihm die Bedeutung von Odins Worten klar wurde.

Wenn ich nicht bald mein Auge zurückbekomme, werde ich erblinden und womöglich sogar sterben! Das werde ich nicht zulassen!

Der Wächter erhob sich langsam, denn auch wenn die Schmerzen von ihm abließen, so war sein Körper doch sehr erschöpft. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen, sein ganzes Wesen schrie nach Schlaf. Aber den würde er sich erst gönnen, wenn er sicher war, dass er eine neue Chance erhielt, Loki zu vernichten und sein Eigentum zurückzufordern. Eine letzte Chance, die er nutzen würde. Darauf konnte der Unheilsgott Gift nehmen.

>Enzyaku Detektei, konnichi-wa?<

Heimdal hielt den Telefonhörer gegen sein Ohr und musste böse grinsen, als er Mayuras geschäftige Stimme hörte. Glaubte dieses Weibsstück wirklich, dass es Klienten gab, die nicht nur verzweifelt genug waren, ausgerechnet ihre lächerliche Detektei anzurufen, sondern das auch noch nach Einbruch der Nacht taten?

"Konnichi-wa, hier ist Kazumi." Sagte er mit kindlich verstellter, gespielt zögernder Stimme. "Ich war mir heute Nachmittag nicht sicher, ob meine Eltern mich zu deiner Geburtstagsfeier gehen lassen würden, aber sie haben mir soeben ihr OK gegeben." Log er, dass sich die Balken bogen. Natürlich glaubte Mayura ihm ohne Zögern.

"Dann kannst du also kommen? Das ist klasse! Die Feier ist dann nächsten Samstag und ich lass dir noch eine Einladungskarte zukommen. Hach, das wird super!"

Wie immer war das Mädchen sofort hellauf begeistert und Heimdal hätte am liebsten sofort alles revidiert, denn eine Party mit so einem Weibsbild würde ihm mit Sicherheit alles andere als gefallen. Aber nur durch sie kam er an Loki heran, das wusste er. So eine Gelegenheit, sich als Gast frei in Lokis Haus zu bewegen, würde es so schnell kein zweites Mal geben. Er musste sie nutzen!

"Ich freu mich auch sehr. Dann bis Samstag."

"Ja, bis Samstag. Falls noch etwas ist, ruf ich noch mal an. Sayonara, Kazumi-kun."

"Sayonara."

Erleichtert legte er auf und wunderte sich für einen kurzen Augenblick, woher Mayura seine Telefonnummer kannte.

Vermutlich von Thor. Er hat mir ja auch Lokis gegeben.

Heimdal malte ein rotes Kreuz in den Kalender gleich neben dem Telefon und gähnte herzhaft. Müde schleppte er sich zurück ins Wohnzimmer, drehte den Ton ein wenig lauter und ließ sich in den bequemen Fernsehsessel fallen, den Freyr einmal angeschleppt hatte, woher auch immer.

Am Samstag werde ich Loki töten.

Ein zufriedenes Lächeln umspielte Heimdals Lippen, während er langsam in einen tiefen, erholsamen Schlaf glitt, der diese Nacht nicht von schrecklichen Schmerzen gestört werden würde.

Und dann werde ich endlich mein Auge zurückbekommen.
 

***
 

"Ein Kostümfest?" Thor betrachtete erst die Einladung in seinen Händen, dann Lokis verschmitztes Grinsen. Ihm schien Mayuras Idee zu gefallen und sicherlich konnte er es kaum erwarten, die anderen Götter in Verkleidung zu sehen.

"Warum nicht? Ihre Mitschüler werden es mögen und sie macht es glücklich." Erwiderte der kindliche Gott, begleitete den Donnergott zum eisernen Tor. Es war mittlerweile weit nach Mitternacht, sie hatten die letzten Stunden um den runden Tisch gesessen und Einladungen gemalt. Und gelacht, da Midgar zwar ausgezeichnet kochen konnte, als Künstler jedoch versagte.

"Was sie glücklich macht, macht dich auch glücklich, nicht wahr?"

"Hai." Loki lächelte und zauberte einen zweiten Umschlag aus seinem dunklen Mantel. Diesen reichte er Thor, der bereits wusste, für wen diese Einladung bestimmt war. Loki hatte sie selbst gemalt. Mayura lobte ihn für den Einfall, einen Tempel und Personen mit Flügeln darauf abzubilden, was in ihren Augen den Kostümzwang unterstrich. Der Donnergott hatte Walhalla jedoch gleich erkannt.

"Gib ihn Heimdal, ich glaube nicht, dass er von mir etwas annehmen würde." Loki blickte hinauf zum sternenklaren Himmel und seufzte leise.

"Glaubst du, er wird die Feier nutzen, um dich anzugreifen?"

"Wer weiß..."

Thor steckte den zweiten Umschlag in Heimdals Rucksack, den dieser in seiner Eile in Lokis Schlafzimmer vergessen hatte. Trotz des schönen Tages und des leckeren Abendbrotes fühlte er sich traurig, leer. Noch zu gut erinnerte er sich an jene Zeiten, da Heimdal und Loki noch keine Erzfeinde gewesen waren, sie noch nichts von der Prophezeiung wussten. Bevor Loki über Heimdal herfiel und ihn verriet.

Warum musste es so weit kommen?

Warum konnten wir nicht unwissend in Walhalla bleiben?

Warum durfte Loki kein Vater und wir keine Freunde sein?

"Arigatou, dass du dich um ihn kümmerst, Thor." Der kindliche Gott klopfte Thor freundschaftlich auf den Rücken, da er zu klein war, um seine Schulter zu erreichen und ging langsam zum Haus zurück. Kühler Nachtwind wehte seinen schwarzen Mantel wie einen Schatten hinter ihm her.

Er bedankt sich bei mir, dass ich ab und an nach Heimdal sehe? Nach seinem Erzfeind? Dem er heute das Leben gerettet hat?

"Loki?" Thor schluckte schwer. Er wollte die wichtige Frage stellen. Jetzt. Um endlich eine Antwort darauf zu bekommen.

Hast du wirklich Heimdals Auge gestohlen?

"Hai?" Erwartungsvoll drehte sich die kleine Gestalt zu ihm um und Thors Herz sank. Nein, er würde wieder nicht den Mut aufbringen, um ihn zu fragen. Zu groß war die Angst vor der falschen Antwort, wie immer diese auch lauten würde.

"Bis zur Feier."

"Hai, bis Samstag."

Loki lächelte und verschwand im Inneren des Hauses. Thor starrte das Holz noch eine Weile schweigend an, dann seufzte er und schulterte Heimdals Rucksack. Langsam ging er davon. Schweigend und tief in Gedanken versunken.
 

***
 

Heimdal schlief tief und fest in dem gemütlichen Sessel. Er wachte nicht auf, als der Fernseher ausgeschaltet wurde und Stille in das Wohnzimmer einkehrte. Vorsichtig wurden ihm die schweren Stiefel ausgezogen und eine warme Decke über seinem kleinen Körper ausgebreitet.

"Schlaf gut..."

Schwaches Licht fiel auf den friedlich wirkenden Gott und einen Umschlag, der gegen ein Buch gelehnt auf dem Tisch stand, erlosch, als die Tür leise wieder geschlossen wurde.

Vielleicht findest du ja in deinen Träumen, was wir in unserer Realität verloren haben.
 

***



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Sorako
2006-05-01T23:08:51+00:00 02.05.2006 01:08
Ich verschlinge gerade mit Begeisterung diese FF... und verfluche die Tatsache, dass es schon so spät ist und ich wahrscheinlich nicht mehr in einem durch bis zum Ende kommen werde.

Dein Schreibstil ist wunderbar und eine wahre Wohltat in der oft so grausamen deutschen FF- Landschaft... und die Charaktere haben in dieser Story beinahe noch mehr Tiefe als in der eigentlichen Serie.
Außerdem ist der ganze Hintergrund (die Mythologie, was der Grund für die Feindschaft zwischen Odin und Loki ist, wie das mit Heimdals Auge war etc.) so gut und schlüssig recherchiert/überlegt und dargestellt, dass ich nicht nur im Nachhinein den Anime besser verstehe, sondern langsam nicht mehr weiß, welche Fakten "canon" und welche "fanon" sind.

Und jetzt muss ich schnell weiterlesen~ =)

Mir tut Heimdal so Leid. ;__; Ich hoffe, das mit dem Auge klärt sich noch, bevor er Loki auseinandernimmt...
Von:  Black_Polaris
2006-02-06T09:29:41+00:00 06.02.2006 10:29
Wow, deine Story ist voll der Wahnsinn.
Ich hätte fast geheult als du die Zene beschrieben hast wo Heimdall alles schwarz wurde.
Das ging mir so nah.
*heul*
Ach da ist mir eingefallen das dir vielleicht nützlich sein kann, in der Mhtologie hatte Loki 4 Kinder.
Er selbst hat als Stute einen Hengst auf die Welt gebracht.
Ich weiß nicht ob es dir hilft, hab mir halt gedacht falls du das für deine nächste Story verwenden willst.
By deine Toru.


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