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Die Suche nach dem Korallenschloß

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Die Suche nach Man-Yin-Tau, der Insel des Sonnenaufgangs

Da Tsü-Zse sich sicher war, Man-Yin-Tau in Richtung des Sonnenaufgangs zu finden, führte ihr weiterer Weg sie nach Osten und bereits einen Tag später hatte sie die Küste erreicht. Sie fragte die Fischer dort, ob sie schon von der Insel gehört hatten, doch niemandem war der Name Man-Yin-Tau bekannt.
 

Einer jedoch riet ihr: "Versuch es beim alten Hua-Sür. Man sagt, er habe alle Meere der Welt befahren." Und der Fischer zeigte ihr die armselige Hütte des alten Mannes, der sich 'Erforscher der Welt' nannte.
 

Hua-Sür war fast blind und hatte keine Zähne mehr. Wie ein mit Leder bespanntes Gerippe sah er aus, wie er, nur in ein grobgewebtes Tuch gewickelt, auf seinem Bett lag. Seine Stimme war zittrig und die Worte durch seine schlampige Aussprache fast unverständlich, als er fragte: "Bist Du es, Großenkelin?"
 

"Ich heiße Tsü-Zse und bin auf der Suche nach Man-Yin-Tau, der Insel des Sonnenaufgangs", sagte Tsü-Zse und setzte sich auf einen behelfsmäßig zusammengezimmerten niedrigen Hocker, der neben dem Bett stand.
 

"Wo ist sie nur, meine undankbare Großenkelin? Als sie klein war, hielt ich sie auf den Knien und erzählte ihr Geschichten über die märchenhaften Wunderwesen fremder Länder und nun läßt sie mich im Stich..." Ein heftiger Hustenanfall schüttelte den alten Mann und Tsü-Zse sah sich nach etwas um, mit dem sie ihm helfen konnte.
 

Auf dem Boden, in Reichweite des alten Mannes, stand ein Wasserkrug, aber der Inhalt stank verfault. "Gibt es hier einen Brunnen?" fragte Tsü-Zse, doch der Alte hustete nur als Antwort.
 

Tsü-Zse lief hinaus und ging um die Hütte. Sie entdeckte einen Brunnen und schöpfte Wasser, um es in ihren eigenen Krug zu füllen und dem alten Hua-Sür zu bringen, doch das Brunnenwasser war brackig. So kam sie ohne Wasser zurück in die Hütte, nahm eine Nadel aus ihrem Gepäck und wickelte das sorgsam gehütete Ei aus dem seidenen Lendentuch des Drachenprinzen. Sie stach es an beiden Seiten auf und hielt es dem alten Hua-Sür an die Lippen, damit er es aussaugen konnte.
 

"Ich danke Dir, Mädchen", sagte Hua-Sür schließlich, von dem Ei sichtlich gekräftigt. "Seit Tagen liege ich hier und niemand kommt, um sich um mich zu kümmern. Von meinen Verwandten lebt nur noch meine Großenkelin, doch sie hat sich schon lange nicht mehr bei mir sehen lassen. Ihr Mann ist so vornehm, daß sie sich meiner Existenz schämt."
 

Tsü-Zse setzte sich wieder auf den Hocker neben Hua-Sür's Lager und fragte ihn noch einmal nach Man-Yin-Tau. "Einmal war ich da", erinnerte Hua-Sür sich verträumt. "Es gibt dort wunderbare Bambuswälder, klare Quellen und fruchtbare Reisterrassen. Ein glückliches Volk lebt dort, doch der Weg dahin ist lang und gefährlich. Die Insel liegt am Ende der Welt."
 

"Wie komme ich dorthin?" wollte Tsü-Zse wissen.
 

"Folge dem Sternbild des Drachen, nach dreißig Tagen erreichst Du die Insel." Der alte Hua-Sür schloß die Augen und schien eingeschlafen zu sein, aber Tsü-Zse befürchtete, daß es ein tieferer Schlaf als der gewöhnliche war, aus dem man stets wieder erwachte.
 

Leise verließ Tsü-Zse die Hütte des alten Mannes und machte sich auf die Suche nach einer öffentlichen Küche. Auf dem Weg dorthin entdeckte sie, daß im Dorf gerade Markt abgehalten wurde, und so kaufte sie alles, was sie zur Zubereitung von Reiskuchen benötigte. Sie kaufte auf dem Markt auch drei Eier von einem weißen Huhn, denn sie wußte nicht, wann sie noch einmal vor ihrer Ankunft im Korallenschloß die Gelegenheit bekam, die Hochzeitsgaben neu anzufertigen oder zu beschaffen. Am Dorfbrunnen, der direkt vor der öffentlichen Küche stand, füllte sie auch ihren Krug wieder, dann buk sie drei Reiskuchen.
 

Später ging sie wieder zu den Fischern und fragte sie, wer sie mit seinem Boot zur Insel des Sonnenaufgangs bringen könne, aber keiner war dazu bereit, denn es sollte eine lange Reise werden, und die Fischer wagten nicht, außer Sichtweite der Küste in unbekannte Gewässer hinausfahren. Endlich fand Tsü-Zse jedoch einen jungen Fischer mit einem eigenen Segelboot, der keine Familie hatte, die sich grämen würde, wenn er lange Zeit ausblieb, und abenteuerlustig genug war, nach einer Insel zu suchen, von der er noch nie gehört hatte.
 

Noch am gleichen Tag wurde von Tsü-Zse's restlichem Geld alles Nötige für die lange Reise besorgt und früh am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg nach Man-Yin-Tau, der Insel des Sonnenaufgangs.
 

*
 

Die ersten paar Tage verlief die Reise ruhig, der Wind stand günstig und die Fahrt ging gut voran. Am vierten Tag jedoch gab es eine Flaute und drei Tage wurde das Schiff durch die Strömung vom Kurs abgetrieben, so daß sie schließlich fast sieben Tage brauchten, um die verlorene Strecke wieder gutzumachen. Eines Tages gab es einen starkten Sturm, der das Segel zerriß, so daß nur noch Fetzen am Mast hingen, doch Tsü-Zse und der junge Fischer flickten es wieder, verwandten dazu sogar das seidene Lendentuch Hen-Yüe's, in das Tsü-Zse die drei Eier gewickelt hatte, und setzten dann ihre Fahrt fort. Und endlich, nach fast vierzig Tagen erreichten sie eine grün überwucherte Insel, über der gerade die Sonne aufging, während das Sternzeichen des Drachen über ihr im Tageslicht langsam verblaßte.
 

"Ob das Man-Yin-Tau ist?" fragte der Fischer Tsü-Zse, doch sie kannte die Insel des Sonnenaufgangs genausowenig wie der Fischer.
 

Sie erreichten den Strand und packten Tsü-Zse's Gepäck aus, doch als sie ihre Hochzeitsgabe aus der Kiste holen wollte, in der sie bei Aufziehen des Sturmes alles sicher verstaut hatte, erschrak sie, denn dort saßen drei junge Hühnchen eng aneinander gedrückt und halb verhundert in einer Ecke, obwohl sie die drei Reiskuchen aufgefressen und das Wasser aus Tsü-Zse's Krug getrunken hatten.
 

Tsü-Zse krümelte etwas von dem Brot, das der Reiseproviant der beiden Menschen war, auf den Boden der Kiste und stellte eine Schale voll Wasser aus dem Voratsfaß des Bootes dazu und die Hühnchen machten sich hungrig darüber her.
 

Ein Kind kam den Strand entlang gelaufen, als Tsü-Zse zwei der Hühnchen aus der Kiste nahm und sie an Land brachte, das dritte ließ sie dem Fischer zurück. Als das Kind sie erreichte fragte es: "Wer seid Ihr?"
 

"Ich bin Tsü-Zse. Ist das hier Man-Yin-Tau?"fragte Tsü-Zse zurück.
 

"Aber ja", erwiederte das Kind. "Wen sucht Ihr?"
 

Tsü-Zse winkte dem Fischer, daß sie tatsächlich das Ziel ihrer langen Reise erreicht hatte und er zurückfahren konnte, dann wandte sie sich wieder dem Kind zu. "Ich suche den Torwächter, denn ich will zum Korallenschloß."
 

"Ich bin der Torwächter", sagte das Kind ernst. "Ich lasse Euch nur in das Schloß, wenn Ihr mir ein Geschenk gebt."
 

Und da Tsü-Zse nichts mehr an Wert besaß, außer der blutroten Perle die sie in einem Beutelchen auf dem Herzen trug und den beiden Hühnchen, gab sie dem Kind eines der Hühnchen.
 

"Ist das genug?" wollte sie dann wissen und das Kind nickte und kraulte das flaumige Gefieder des jungen Vogels.
 

"Folgt mir", sagte das Kind und lief den Strand entlang, den Weg zurück, den es gekommen war. Tsü-Zse hörte, wie der Fischer zum Abschied rief und das Segel sich mit lautem Knallen in der aufkommenden Brise spannte. Darum drehte sie sich kurz um und winkte dem Fischer, aber dann rannte sie, mit ihrem Gepäck beladen, dem Kind nach, das sein Hühnchen unter dem Arm trug und flinken Fußes durch den Sand lief.
 

Vor ihnen erhob sich ein Felsen, der steil zum Meer abfiel. Dorthin lief das Kind und auf eine dunkle Öffnung am Fuße des Felsens zu, in die ein Sandweg führte. Einige Schritte hinter dem Eingang in die Höhle wartete das Kind im Halbdunkel auf Tsü-Zse. "Geht hier entlang und bleibt auf dem Weg, dann werdet Ihr sicher das Korallenschloß erreichen."
 

"Ich danke Dir", sagte Tsü-Zse und machte sich auf den Weg, der in großen Abständen von Geisterfeuern an den Wänden des Tunnels erhellt wurde. Sorgfältig achtete Tsü-Zse darauf, den Sandweg nicht zu verlassen, der sich durch die Düsternis schlängelte. Im Dunkel neben dem Weg hörte sie das Rauschen von Wellen und das drohende Fauchen von Ungeheuern, die sie aber glücklicherweise nicht zu Gesicht bekam.
 

Nach langer Zeit endlich wurde das unwirkliche Licht heller und Tsü-Zse erblickte einen großen, goldenen Torbogen, der sich über den Sandweg spannte. Zu beiden Seiten des Bogens standen auf hohen Steinsockeln aus Jade geschnittene Drachen, ein jeder so hoch wie zwei Männer. Und als sie an ihnen vorbeiging, schien es ihr, als wären sie lebendig und schauten sie an, doch als sie sich nach ihnen umdrehte, saßen sie bewegungslos auf ihren Sockeln und starrten geradeaus, auf den Weg aus weißem Sand, den sie entlanggekommen war und auf dem sich ihre Fußspuren deutlich abzeichneten.
 

Und plötzlich war das Korallenschloß vor ihr, ganz aus Korallen erbaut und mit kostbaren Perlen geschmückt, und ein Wächter, der aussah wie ein Mensch, dessen Augen jedoch funkelten wie die Augen der großen Jadedrachen hielt sie auf. "Was willst Du hier?" fragte er mit donnernder Stimme und sie klang wie schwere Wellen, die gegen einen Felsen branden.
 

"Ich suche den Prinzen Hen-Yüe. Ich habe ihm die Hochzeitsgaben zu bringen", antwortete Tsü-Zse und versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen.
 

Doch ohne eine weitere Frage ließ der Wächter sie passieren und sie trat in die Halle des Schlosses, deren Wände ganz aus weißen Korallen gebaut waren. Lautlos kam ein Diener heran, der sich vor ihr verneigte und sagte: "Ihr seid sicher Tsü-Zse. Prinz Hen-Yüe trug mir auf, Euch zu seinen Eltern zu geleiten, dem Kaiser und der Kaiserin der Drachen." Der Diener ging Tsü-Zse voran und führte sie in einen riesigen Thronsaal, in dem auf prächtigen, mit Gold, Jade und Perlen geschmückten Thronen zwei große Drachen saßen.
 

Zögernd näherte sich Tsü-Zse den beiden Thronen, als der Diener sie mit einer Handbewegung dazu aufforderte, und als sie noch etwa zwanzig Schritte von dem Thronpodest entfernt war, warf sie sich auf den Boden, um dem Kaiser der Drachen und seiner Gemahlin so die ihnen schuldige Achtung zu erweisen.
 

Eine liebliche Frauenstimme erklang: "Aber mein Kind, warum kniest Du vor uns? In kurzer Zeit werden wir Deine Schwiegereltern sein, und bei aller Ehrerbietung die eine junge Frau ihren Schwiegereltern erweisen sollte, es ist wirklich nicht nötig, daß Du vor uns kniest."
 

Als Tsü-Zse aufsah hatten sich die beiden Drachen in einen würdigen alten Mann und in eine vornehme alte Frau verwandelt, die nun aufstand und auf Tsü-Zse zukam, um ihr selbst vom Boden aufzuhelfen. "Mein Sohn hat mir viel von Dir erzählt, und auch von Deiner Schönheit sprach er, doch ich hätte nicht gedacht, daß die Wirklichkeit seine Erzählung so weit übertreffen könnte. Du bist nicht nur schön von Gestalt und anmutig in Deinen Bewegungen, sondern man merkt Dir auch Freundlichkeit und Güte an. Sicherlich werden Du und unser Sohn glücklich werden."
 

Und noch bevor Tsü-Zse sich darüber wundern konnte, daß sie offenbar ihre alte Gestalt wiederhatte, nahm die Kaiserin sie schon am Arm und führte sie vor ihren Gatten, der noch immer auf seinem Thron saß und sie streng ansah. Und als er seine Stimme erhob, war es, als würde der ganze Palast zu ihr sprechen und jede Welle des Meeres die selben Worte flüstern: "Hast Du die Hochzeitsgabe gebracht?"
 

Tsü-Zse nahm das Hühnchen aus ihrer Tasche, in der sie ihm ein Nest gebaut hatte, damit sie es gut tragen konnte und sagte: "Dieses Hühnchen ist aus dem Ei geschlüpft, das ich bringen sollte, es fraß den Reiskuchen, den ich gebacken hatte und trank das Süßwasser, das ich aus einem Brunnen geschöpft hatte." Und sie reichte dem Kaiser das Hühnchen, das ihn mit schiefgelegtem Kopf aus seinen gelben Augen mißtrauisch ansah und schüchtern anpiepste.
 

Da lächelte der Kaiser der Drachen milde, nahm das Hühnchen entgegen und kraulte sein weiches Gefieder kurz hinter dem Kopf am Hals, während das Hühnchen genießerisch die Augen schloß. "Du bist von großer Ausdauer und Willenskraft, Du bist schön und klug... ich wüßte nicht, was der Hochzeit mit unserem Sohn noch entgegenstünde. Sofort sende ich einen Boten aus, Deinen Vater zu holen."
 

Und da trat Hen-Yüe plötzlich hinter dem Wandschirm hervor, der hinter den Thronen aufgestellt war und lief auf Tsü-Zse zu, um sie in die Arme zu schließen, was sie sich gerne gefallen ließ. Doch dann fragte sie ihn: "Hast Du mich verzaubert? Mir schien es, als hätte ich während meiner Wanderschaft hierher eine andere Gestalt gehabt."
 

Da lachte Hen-Yüe laut und sagte: "Ich war eifersüchtig und fürchtete, ein anderer könne Dein Herz gewinnen, während Du auf dem Weg hierher warst. Darum gab ich Dir die blutrote Perle, die Dir in der Welt der Menschen Deine Schönheit nahm. Doch hier, im Reiche des Drachenkaisers, wirkt ihr Zauber nicht."
 

Da nahm Tsü-Zse schnell die blutrote Perle, die wie eine Kirsche aussah, aus dem Beutelchen, in dem sie sie den ganzen Weg über sorgsam gehütet hatte und warf sie dem Hühnchen zu, das der Kaiser neben seinem Thron auf den Boden gesetzt hatte. Der Vogel besah sich die Perle nicht lange (auch wenn er noch nie eine Kirsche gesehen hatte, so schien ihm dieses kugelige Ding doch sehr schmackhaft), sondern knackte sie mit seinem spitzen Schnabel auf und verspeiste die Bruchstücke mit sichtlichem Genuß.
 

* * *
 



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