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La Puta Ama

Die verdammte Chefin
von

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La Puta Ama

Die Sonne blendete, als sie allmählich ihre Augen öffnete. Der warme Wind umwehte ihr Gesicht, als sie versuchte, sich zu orientieren. Doch sie konnte nichts sehen, abgesehen von einem unendlich blauen Himmel und der Sonne am Horizont. Als sie sich aufrichtete, hatte sie mit einem harten Fliesenboden gerechnet; oder mit dem weichen Stoff einer Couch. Waren sie nicht eben noch in der Bank von Spanien gewesen, um den beschwerlichsten Raub aller Zeiten zu vollführen?

Doch der Boden, auf welchem sie ihre Hand abstützte, war weder rau noch hart, sondern…  sehr weich. Verwirrt sah Nairobi zur Seite, betrachtete den Abdruck, den ihre Hand im Sand hinterlassen hatte. Nachgiebiger, goldfarbener Sand. Keine Fliesen, wie sie im gesamten Bankgebäude verwendet worden waren. Keine schmucklosen Möbel, die der Gobernador vor Jahrzehnten hatte in seinem Büro aufstellen lassen.

Alles, was sie sah, waren der blaue Himmel, der Sand unter ihren Fingern und Tokio, die sie mit einem warmen Grinsen begrüßte.

„Ah, auch mal wieder wach? Der Cocktail von gestern hat schön reingehauen, nicht wahr? Hätte dem Professor gar nicht zugetraut, dass er sich so gut mit Alkohol auskennt“, sagte Tokio amüsiert. Nairobi dagegen richtete sich auf, so gut sie konnte, doch immer wieder zog es sie auf den Boden zurecht. Ein starkes Schwindelgefühl breitete sich in ihrem Kopf aus und es fiel ihr schwer, das Gleichgewicht zu halten. Sie spürte einen brennenden Schmerz in ihrer Stirn, einen, wie sie ihn noch nie zuvor gekannt hatte.

Doch sie fiel nicht, ein Arm legte sich um sie und drückte Nairobi sachte an eine andere Person heran. Jemand umarmte sie, ein gewohnter Geruch.

„Mach langsam, mein Liebling, du musst langsam machen. Sonst fällst du um und verletzt noch dein schönes Köpfchen.“

Nairobi wandte ihren Blick zur Seite, ein vertrautes Gesicht mit Vollbart sah ihr entgegen. Sie wusste nun, wem die starken Arme gehörten, die sie mit sanftem Druck unterstützten.

„Danke dir, Hellsi, offenbar stimmt etwas mit meinem Kopf nicht“, stellte Nairobi fest und tastete mit ihrer rechten Hand an ihre Stirn. Doch sie fand nichts, keine Verletzung oder gar eine Beule.

„Mach dir keine Gedanken, ich bin mir sicher, Palermo hat sich einen Spaß erlaubt und den einen oder anderen hochprozentigen Schnaps in den Cocktail gemixt, während der Professor mit Lissabon abgelenkt war“, sagte Tokio und Nairobi konnte ihre Zähne aufblitzen sehen.

So recht wusste Nairobi nicht, was sie mit der Erklärung anfangen sollte. Sie wollte sich eine Übersicht zu verschaffen, bevor sie versuchte, mit all dem zurecht zu kommen.

„Oh, ist sie wieder wach?“, konnte sie nun Bogotás Stimme hören, und kurz darauf kam er in ihr Sichtfeld. Sofort legte dieser eine Hand auf ihre Stirn, ihre Wangen, bevor er ihr tief in die Augen sah.

„Ja, ich bin wieder wach, was ist hier eigentlich los?“, fragte Nairobi ihn in der Hoffnung, ein paar Antworten zu bekommen. Doch Bogotá blieb ihr eine Antwort schuldig. Stattdessen nahm er seine Hand weg, erhob sich und sah sie mit einem warmen Gesichtsausdruck an.

„Du wirst sicherlich völlig ausgetrocknet sein. Ich bringe dir ein Glas Wasser, dann wirst du dich gleich wieder besser fühlen. Und es wird dir auch bei deinem Kater helfen“, sagte er und bevor Nairobi dagegen protestieren konnte, hatte er sich auch schon auf den Weg gemacht.

 

Ein weiteres verwirrendes Puzzleteil, das sich nicht zu den anderen hinzufügen ließ.

Nairobi wusste, wie sich ein Kater anfühlte. Der ekelhafte Nachgeschmack von Alkohol auf der Zunge, der brummende Schädel und das Bedürfnis, sich lange unter die Dusche zu stellen waren nur ein Teil davon. Doch auf ihrer Zunge lang kein Geschmack, ihr Kopf schmerzte nur an einer Stelle und sie fühlte sich so sauber wie lange nicht mehr.

Sie sah an sich herab, anstatt eines roten Overalls trug sie ein knöchellanges, rotes Kleid; jenes, welches sie in der Vergangenheit bereits getragen hatte. In einer Zeit, als sie mit dem Professor noch den Überfall auf die Banknotendruckerei geplant hatten. Auch an diesen Tagen hatte oft die Sonne gescheint und alle hatten den Eindruck, als würde es nur noch bergauf gehen. Sogar die roten Stiefel, die sie an den Füßen trug, waren die gleichen.

Sie musste ihre Gedanken sammeln und herausfinden, was mit ihren Erinnerungen passiert war. Was zur Realität gehörte und was nur zum Reich der Träume. War es möglich, dass sie den Überfall auf die Bank von Spanien nur geträumt hatte?

„Sag mal, Tokio, wo sind …?“, begann sie nachdenklich zu fragen, doch ihre beste Freundin kam ihr zuvor.

„Mach dir keine Gedanken, wir haben uns um Axel und Ibiza gekümmert, solange du geschlafen hast wie ein Baby. Die beiden sind dort drüben und spielen zusammen mit Cincinnati, kannst du sie sehen?“

Verwirrt folgte Nairobis Blick der Richtung, in welche Tokios Finger deutete, und erkannte sofort den lockigen Hinterkopf ihres Sohnes. Auch sah sie ein kleines Mädchen, es konnte nicht älter als zwei Jahre alt sein. Sie hatte die gleichen dunklen Haare wie Axel, nur glatter und viel länger. Zusammen mit einem Jungen, mit Haaren so blond wie seine Mutter, bauten sie zu dritt an einer großen Sandburg. Dass diese krumm und schief war, schien die Kinder nicht zu stören.

„Ist das… etwa Ibiza?“, fragte Nairobi, während sie die Worte nur schwer über die Lippen brachte. Helsinki rieb ihr mit der Hand über die Schulter.

„Ja, das ist deine kleine Ibiza. Ist ihr Kleid nicht niedlich? Tokio, Bogotá und ich haben es die Tage gekauft, um euch zu überraschen.“

Nach Halt suchend, legte Nairobi ihre Fingerspitzen auf Helsinkis Hand. Tränen liefen ihre Wangen herab und sie spürte ein Gefühl der Wärme in ihrem Herzen, wie sie es lange nicht mehr gespürt hatte. Wie lange war es her? Nairobi konnte es nicht sagen.

Sie sah wieder zu den Kindern hinüber, wie sie zusammen die Türme bauten und sich gegenseitig anlachten. War ihr Sohn nicht kleiner gewesen? War Cincinnati nicht ein Zwerg, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte? Wann waren die beiden so stark gewachsen?

 

Verunsichert versuchte Nairobi ihre Gedanken zu sortieren, wobei die Schmerzen in der Stirn alles andere als hilfreich waren.

„Nein, das war es nicht, was ich dich fragen wollte, Tokio“, sagte Nairobi und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Ich wollte eigentlich wissen, wo wir hier sind? Ich dachte, wir wollten die Bank von Spanien überfallen, das Gold rauben … warum sind wir hier? Wie lange sind wir hier und warum kann ich mich nicht erinnern?“

Tokio legte einen Finger auf Nairobis Lippen, woraufhin sie augenblicklich verstummte. Der Finger wanderte auf Nairobis Wange, sanft streichelte Tokio sie und sah sie mit einem warmen Lächeln an.

„Offenbar hast du noch viel tiefer ins Glas hineingeschaut, als ich dachte. Kein Wunder, dass dein Kopf so vieles wieder vergessen hat. Und ich habe dich noch gewarnt, aber du meintest nur: Tokio, ich kann soooo viel vertragen! Da war ich selbst wohl zu betrunken, um dich aufhalten zu können. Mach erstmal langsam, bevor dir noch schlecht wird.“

In der Zwischenzeit hatte sich Bogotá wieder zu ihnen gesellt und reichte Nairobi sowohl eine Kopfschmerztablette wie auch ein Glas Wasser. Nairobi nahm beides zu sich und spürte, wie das frische, kühle Wasser über ihre Zunge glitt. Wann hatte sie das letzte Mal so etwas erfrischendes getrunken? Auch das konnte sie nicht sagen.

„Nairobi ist noch ganz durcheinander“, meinte Tokio und die beiden Herren nickten sich an. Nairobi leerte das Glas in einem weiteren Zug und gab das Glas Bogotá, welcher es nur zu gerne entgegennahm.

„Gut, dann setzt ich mich doch mal ins Bild, wenn ich so vieles nicht mehr weiß“, sagte Nairobi und sah Tokio direkt in die Augen. Diese leckte sich über die Lippen, schien sich den einen oder anderen Kommentar zu verkneifen und begann, sich an ihren Arm abzustützen.

„In Ordnung, wenn es dir weiterhilft. Ich bin mir sicher, sobald dein Kater vorbei ist, wirst du dich von allein erinnern können. Aber damit du nicht ganz so ahnungslos bist, hier mal eine kurze Übersicht.“

Sie schürzte ihre Lippen und versank für wenige Augenblicke in ihren Gedanken, bevor sie ihre Worte wiederfand.

„Nun, offenbar ist das letzte, an das du dich erinnern kannst, der Überfall auf die Bank von Spanien. Mal sehen, dank der Geiseln und ihrem Ablenkungsmanöver haben wir schließlich die Bank verlassen können. Mal von ein paar Zwischenfällen, lief alles ab, wie es der Professor geplant hatte. Nun, genauer gesagt wie es sein Bruder Berlin geplant hatte. Am Ende ist es egal, wir sind mit dem Gold und einer heilen Haut davongekommen, das reicht. Seitdem treffen wir uns einmal im Jahr hier und genießen unseren Reichtum, unsere Freiheit und auch unseren Sieg über das System.“

Wieder war Tokios Lächeln groß genug, dass Nairobi die hellweißen Zähne gut erkennen konnte. Sie versuchte noch tiefer in ihren Erinnerungen zu bohren, doch sie wurde nicht fündig. Weder konnte sie die Flucht noch das Leben danach aufrufen.

„Wie lange ist es her, wenn wir uns hier einmal im Jahr treffen?“, wollte Nairobi noch wissen.

Dieses Mal war es Bogotá, der ihr eine Antwort gab. Dabei drehte er unermüdlich das leere Glas in seinen Händen.

„Es ist jetzt zwei Jahre her… ist wirklich alles in Ordnung? Hast du dir nicht letzte Nacht den Kopf angehauen? Komm, lass mich nochmal nachsehen“, und bevor Nairobi etwas entgegnen konnte, legte Bogotá das leere Glas in den Sand und begann ihren Kopf abzutasten.

„Hast du Schmerzen?“, wollte er noch von ihr wissen. Nairobi wollte mit dem Kopf schütteln, doch da Bogotá ihn noch mit seinen Händen fixierte und abtastete, beließ sie es bei einer mündlichen Antwort.

„Nur meine Stirn schmerzt abnormal, aber sonst ist alles in Ordnung. Ich denke, mir geht es besser“, sagte Nairobi und nachdem Bogotá den ganzen Kopf abgesucht hatte, ließ er von ihr ab.

„Vielleicht sollte dich mal der Professor ansehen“, sagte Bogotá und nahm wieder das Glas in die Hand. Als wäre es eine Art Sicherheit, die er im Augenblick brauchte. Etwas, dass ihm Beschäftigung gab. Das Gefühl, etwas tun zu können. So erschien es jedenfalls Nairobi, als sie sah, wie er nervös mit dem Glas in seinen Händen herumspielte.

„Ich hatte schon schlimmere Schmerzen, denk daran, ich bin eine Frau, wir haben jeden Monat unsere Wehwehchen“, sagte Nairobi, woraufhin Bogotá verschämt wegsah. Nairobi dagegen versuchte sich erneut auf ihren eigenen Armen abzustützen, was ihr nach wie vor schwer viel, jedoch nicht so sehr wie noch wenige Minuten zuvor.

„Hellsi, ich denke, ich bekomme das allein hin, du kannst mich also wieder loslassen“, sagte sie und spürte, wie dessen warmen, festen Hände ihren Körper langsam verließen. Schließlich erhob sich Helsinki, trat neben Bogotá und sah Nairobi mit einem sorgenvollem Blick an.

„Erinnerst du dich noch an die gemeinsame Zeit, die wir beide hatten, Hellsi? Du weißt ganz genau wie ich, was ich schon alles durchgemacht habe, da sind ein paar Kopfschmerzen in der Stirn absolut gar nichts.“

Das schien ihn nicht zu beruhigen, seine Miene blieb unverändert, doch er sagte auch nichts. Wofür ihm Nairobi dankbar war. Zwar mochte sie ihre Freunde sehr, doch diese ständige Aufmerksamkeit und die unaufhörliche Fürsorge wurden ihr mittlerweile zu viel.

 

Das schienen auch Helsinki und Bogotá zu spüren, letzterer erhob sich und sah das Glas in seinen Händen an. Welches mittlerweile mit diversen Fingerabdrücken übersäht war.

„Wir gehen dann mal zu den anderen rüber, schauen, ob das Essen schon fertig ist. Vielleicht bekommen wir auch noch etwas ab… ich hoffe es für sie!“, sagte Helsinki mit dem Blick in die Ferne und Nairobi konnte sofort heraushören, dass er es nicht so ernst meinte. Doch da begann Bogotá schon mit dem Kopf zu schütteln.

„Wenn du mich fragst, die machen viel zu viel Unsinn da drüben. Habe ich gesehen, als ich das Wasser für Nairobi geholt habe. Bis die fertig sind, dauert es noch. Da sind wir schneller, wenn wir uns ein paar Speere basteln und im Meer fischen gehen.“

Dann drehte er sich zusammen mit Helsinki wieder zu den beiden Damen um.

„Wir können euch beide wohl für einen Moment allein lassen, oder? Glaube, da müssten endlich mal richtige Kerle ran, die mit der Glühkohle ordentlich umgehen können“, sagte Helsinki mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen.

Bei allen anderen Kerlen hätte Nairobi das als unmöglichen Spruch aufgefasst, doch bei Helsinki wusste sie, wie es gemeint war. Zumal er in ihren Augen ein Meister des Grills war. Ob nun Tintenfisch, Rind oder gar Känguru; egal, was der Mann auf den Rost legte, es wurde ein schmackhaftes Kunstwerk.

„Geht ruhig, ich denke, wir zwei Mädels kommen gut allein zurecht. Und selbst wenn, dieses Mal fällt Nairobi sehr sanft“, sagte Tokio. Die beiden Männer warfen einen letzten Blick auf ihre Freundin und Kollegen, bevor sie sich umdrehten und fortgingen. Einzig und allein Tokio blieb bei ihr.

Nairobi sah in die Richtung, in welche Helsinki und Bogotá wenige Sekunden zuvor aufgebrochen waren. Sie konnte sehen, wie sie Denver und Stockholm ansprachen, doch aufgrund der Entfernung konnte sie nichts verstehen. Sie versuchte sich eine Übersicht zu verschaffen, doch je mehr sie versuchte ihre Augen auf die Ferne zu fokussieren, desto verschwommener wurde ihre Sicht. Sie konnte den Professor am Grill und Lissabon in seinem Arm gerade noch so erkennen, wenn sie ihre Augen zu Schlitzen zusammenpresste.

„Das sind aber ganz schön viele dort drüben, wer ist denn da noch alles?“, wollte sie nun von Tokio wissen. Diese schwieg mehrere Sekunden lang, als würde sie erst noch über ihre Antwort nachdenken müssen, doch dann ließ sie sich nicht zweimal bitten.

„Dort drüben am Grill stehen Lissabon und der Professor, der, wie du schon gehört hast, damit beschäftigt ist unser Essen zuzubereiten. Nun, wenn Lissabon ihn nicht zu sehr ablenkt oder dazwischen greift“, sagte Tokio amüsiert.

„Ansonsten ist da noch der Rest der Truppe. Es ist echt unglaublich, dass der Professor es geschafft hat, alle herkommen zu lassen. Das kannst du doch nicht vergessen haben, oder? Ich meine, er hat selbst Palermo, Berlin und Moskau dazu überreden können, obwohl Moskau sich mit Denver erst so zerstritten hatte. Selbst bei ihrer Ankunft auf dieser Insel sind erstmal die Fetzen geflogen, weißt du noch?“

Nairobi gab es auf, in der Ferne etwas erkennen zu können und sah dagegen zu ihrer besten Freundin hinüber.

„Ja, doch, klar, das war ziemlich anstrengend“, sagte sie, ohne dafür nachzudenken. Tokio drehte sich zu ihr um und erwiderte den Blick. Konnte Tokio erkennen, dass sie gelogen hatte? Nairobi wurde aus dem Ausdruck in Tokios Augen nicht schlau. Zumindest sagte sie nichts dazu. Stattdessen sah Tokio wieder zu den anderen hinüber.

„Das war es wirklich. Aber du kennst die beiden, egal, wie sehr sich streiten, am Ende versöhnen sich Vater und Sohn doch immer. Die können gar nicht ohne den anderen, das weiß jeder hier.“

Nairobi rieb sich mit dem Daumen über die Stirn, doch weder verschwanden dadurch die Schmerzen, noch verbesserte sich ihre Sicht. Nur ihre Gedanken wurden ein wenig klarer, wofür Nairobi dankbar war. Wenigstens ein kleiner Lichtblick, der es ihr erlaubte, eine genauere Übersicht über die Gesamtsituation zu erhalten.

Ihr kam ein Gedanke und je mehr sie sich damit befasste, desto klarer wurde ihr Kopf. Desto besser konnte Nairobi nachdenken. Die Kopfschmerzen ignorierend, folgte sie dem Gedankengang, doch was sie am Ende fand, gefiel ihr nicht. Sie spürte, wie ihr Mund trocken wurde und sich Tränen in den Augen sammelte. Sie versuchte einen festen Halt zu finden und konnte unter ihren Fingern nichts weiter als weichen, nachgiebigen Sand finden. Sand, der ihr durch die Finger rann.

Sie spürte, wie ihr Atem schneller wurde und es ihr gleichzeitig die Brust verschnürte. Es fiel ihr schwer, die Worte auszusprechen, aus Angst vor der Antwort, die sie darauf bekommen würde. Und doch musste sie sie aussprechen. Nairobi wusste, sie würde nicht ewig vor der Wahrheit davonlaufen können.

„Tokio, sei ehrlich mit mir … was ist hier los? Wie kann es sein, dass die Kinder älter geworden sind? Wie kann es sein, dass Berlin und Moskau bei uns sind? Sie sind doch beide in der Banknotendruckerei gefallen. Was passiert hier?“

Nairobi blinzelte die Tränen weg und sie konnte ihre eigene, brüchige Stimme hören. Tokio dagegen sagte nichts, sie schwieg. Sah zu ihren Freunden hinüber und schwieg.

„Tokio!“ Nairobi wurde nun lauter, in der Hoffnung, eine Antwort aus ihrer Freundin herauszubekommen, doch diese reagierte nicht. Zuckte nicht, regte sich nicht und sagte auch nichts. Frustriert fuhr sich Nairobi mit den Fingern durch die Haare. Zum Teufel mit dieser Frau!

 

Erst mehrere Minuten später, nachdem Nairobi erneut ein Opfer ihres Gedankenkarussels geworden war, rutschte Tokio zur ihr hin, bis sie nebeneinandersaßen.  Sie vermied es, Nairobi dabei anzusehen.

„Es ist schön hier, nicht wahr? Das Wetter ist wunderbar, das Essen ist gut, wenn sich die richtige Person darum kümmert, und ansonsten haben wir auch ein sehr sorgenfreies Leben. Reichtum öffnet alle Türen und Toren, egal, was andere Menschen sagen. Das ist die wahre Freiheit.“

Nairobi sah sich um, in der Tat, die Insel gefiel ihr, auch das Wetter genoss sie und sie freute sich schon auf das Essen mit den anderen. Doch es fühlte sich nicht richtig an und sie wusste immer besser, warum. Hatte immer mehr eine Ahnung davon. Ihr Verstand wurde mit jedem aufgeregtem Herzschlag klarer und auch tauchten immer mehr Bilder vor ihren Augen auf.

Wie sie in der Bank standen. Wie diese verfluchte Polizistin mit dem blauen Teddybär vor der Bank herumstolzierte. Wie Bogotá sich liebevoll um sie kümmerte, kaum hatte sie die Operation überlebt. Wie sie diesen Arsch von Gandía durch die Bank gejagt und beschossen hatten. Wie die Männer im Keller Barren für Barren das wertvolle Gold zu feinem Granulat schmolzen.

Nairobi spürte in ihrem tiefsten Innersten, dass sie auf der richtigen Spur war. Gleichzeitig spürte sie ein Gefühl der Leere in ihrem Bauch. Ihr Körper begann zu zittern und erneut sammelte sich Feuchtigkeit in ihren Augen an. Immer wieder und wieder drückte sie den Sand in ihrer Faust zusammen, doch es gab ihr keine Befriedigung.

Immer mehr und mehr Bilder sah sie, wie sie in dem Tresor schwamm und das Gold herausbrachte. Wie Palermo in einem schwarzen Anzug die Bank verlassen wollte. Wie Gandía sie als Mischlingsbraut beschimpfte. Wie Gandía agierte, als hätte er den Sieg bereits in der Hosentasche. Wie Gandía seine Pistole auf ihren Kopf gerichtet und damit den anderen keine Wahl gelassen hatte, als sich seinen Bedingungen zu fügen.

„Ich sagte doch, ich mach dich kalt.“

Seine Worte waren das letzte, an das sie sich erinnern konnte. Der offene Lauf seiner Pistole war das letzte, was sie sah. Eine kurze Explosion, ein helles Licht und dann …

Nairobi konnte die Tränen, die ihr Gesicht nun herabliefen, nicht mehr aufhalten. Sie hatte endlich verstanden, was alles das zu bedeuten hatte. Warum all ihre Freunde hier versammelt waren. Warum sie statt kalten Fließen einen warmen Sand unter ihren Fingern spürte. Sie wusste es; und auch war ihr bewusst, dass es kein Zurück gab. Was geschehen war, war geschehen.

„Es ist schön hier, nicht wahr?“, wiederholte Tokio ihren Satz, wartete jedoch nicht auf eine Reaktion. Sie drehte sich zu Nairobi um und als diese Tokios Blick erwiderte, konnte sie nichts als Wärme und Liebe darin erkennen.

„Nairobi, du weißt, wo wir hier sind, nicht wahr?“

Tokio hob ihre rechte Hand und wischte vorsichtig die Tränen aus Nairobis Gesicht. Diese ließ es geschehen, Tokios Hand fühlte sich warm an, beruhigend.

„Du weißt, wo du hier bist, nicht wahr?“

Tokios Stimme klang klar und hell, aber nicht fordernd. Als wüsste sie ganz genau, dass Nairobi die Wahrheit erst noch verdauen musste. Eine Wahrheit, so grausam und schmerzhaft wie das Stechen in Nairobis Stirn. Eine Wahrheit, die sie akzeptieren musste. Es gab keine Alternative.

„Ja, natürlich. Es ist wie in einem schönen Traum“, sagte Nairobi und bemühte sich um ein Lächeln. Wenn sie die Tatsachen schon hinnehmen musste, so wollte sie versuchen, ihnen so stark wie möglich zu begegnen. Sie weinte nicht gerne, sie war eine mutige, selbstbewusste Frau, ein Fels in der Brandung. Ob beim Drucken des Geldes oder beim Schmelzen des Goldes, ihr war es immer wichtig, die Oberhand zu besitzen. Die verdammte Chefin zu sein, wie sie es einst einem verängstigen Schulmädchen eingehämmert hatte.

„Hier bin ich zuhause.“



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