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Bis dass der Tod uns findet

von

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Grenzkontrolle

Der nächste Abend begann wie der vorherige. Marvin hatte auf dem Weg von der Arbeit etwas zu Essen besorgt, obwohl Nathan angeboten hatte, für sie zu kochen.
 

„Morgen“, hatte Marvin gesagt und Nathan einfach nicht zu Wort kommen lassen. „Morgen gehe ich meinetwegen einkaufen, aber heute Abend tun mir die Füße weh und deswegen gibt es Koreanisch. Ende der Durchsage.“
 

Deswegen – und nur deswegen – saß Nathan vor einem wirklich leckeren Japchae aus Glasnudeln und gebratenem Gemüse und bekam keinen Bissen herunter. Dabei hatte der Koch sogar hochwertige Dangmyeon verwendet. Diese Nudeln aus Süßkartoffelmehl banden das Aroma der Soße besser als ihre durchsichtigen Verwandten aus Mungbohnen- oder Maisstärke und intensivierten dadurch das Geschmackserlebnis. In Nathans Mund erwachte heute Abend jedoch kein Feuerwerk. Mit einem Seufzen stellte er die weiße Faltpackung beiseite und legte seine Stäbchen daneben.
 

„Du bist nervös“, stellte Marvin fest. Seine Mischung aus Gemüse, Hühnchen und höllisch scharfer Erdnusssoße war schon fast zur Gänze in seinem Magen verschwunden.
 

„Glaubst du wirklich, dass er kommt?“, wollte er kauend wissen.
 

„Ich weiß es nicht“, gab Nathan zurück. Ungeachtet dessen sah er schon wieder zur Uhr und dann zur Tür. Gleichzeitig lauschte er, ob er unten einen Wagen vorfahren hörte. Am liebsten hätte er den Fernseher abgeschaltet, den Marvin wie immer viel zu laut aufgedreht hatte. Sie würden ihn noch verpassen.
 

„Ganz ruhig, Brauner“, meinte sein Freund jedoch nur und spießte noch ein Stück Brokkoli auf. „Entweder er kommt oder er kommt nicht. Meine Mutter hat immer gesagt: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“
 

Nathan nötigte sich ein Lächeln ab, bevor er wieder zum Fenster sah. Vielleicht kam Ezra heute so spät, weil er vorher noch … zu Abend aß. Der Gedanke löste ein merkwürdiges Gefühl in seiner Magengegend aus. Wieder eilte sein Blick zur Tür.
 

„Himmel, du bist ja aufgeregter als eine Jungfrau vor ihrer Hochzeitsnacht. Soll ich euch nachher mal für ne halbe Stunde allein lassen?“
 

Marvins Grinsen nahm dem Vorwurf die Bissigkeit, aber die Tatsache, dass er mit seinem Vorschlag so nah an dem lag, was Nathan bereits selbst durch den Kopf gegangen war, machte die Sache nicht besser. So gar nicht.
 

„Nein, das hier ist deine Wohnung. Ich werde doch nicht …“
 

„Ach Unsinn“, unterbrach Marvin ihn. „Meinst du vielleicht, ich bin blind. Ihr zwei fresst euch doch gegenseitig mit den Augen auf. Da werde ich doch nicht meine Hand dazwischen halten oder gar nach dem Gartenschlauch greifen. Solange du das, was er mit dir macht, freiwillig tust …“
 

Nathan sah auf die Serviette herab, die in seinem Schoß lag. Er wusste, worauf Marvin anspielte. Er hatte ein Faible für Männer, die nicht gut für ihn waren. Oder zu ihm. Unerreichbare Arschlöcher, die ihn entweder auflaufen ließen oder ihn benutzten und dann wegwarfen, nachdem sie seiner überdrüssig geworden waren. Dass er gut darin war, sich etwas vorzumachen, hatte er ja gerade erst hinreichend bewiesen.
 

„Ezra ist nicht so“, widersprach er trotzdem. Marvin prustete in sein Kimchi.
 

„Ach wirklich? Und das weißt du woher? “
 

Nathan sah in seinen immer noch fast unberührten Salat.

 

„Ich weiß nicht. Ich versuche mir ja immer wieder zu sagen, dass das mit uns nichts werden kann. Dass er Vampir ist und das absolut nicht geht, aber … aber da ist etwas zwischen uns. Etwas Besonderes.“
 

Marvin machte ein Gesicht, als wolle er fragen, ob Nathan neuerdings doch anfangen hatte, an Seelenpartner und Horoskope zu glauben, als es plötzlich an der Tür klopfte. Gleichzeitig schraken sie zusammen.
 

„Er ist da!“, rief Nathan und fing im nächsten Moment eilig an, die Verpackungen vom Tisch zu räumen. In seinem Kopf hatte er ein merkwürdiges Déjà-vu.
 

„Jaha, ich komme“, flötete Marvin zur Tür und wedelte ungeduldig in Nathans Richtung. Man hätte glauben können, die Queen persönlich stände vor seiner Wohnung. Nathan fühlte sich nackt und ungenügend.
 

Im Flur angekommen sah Marvin noch einmal zu ihm zurück. Nathan war alles andere als bereit. Trotzdem nickte er. Marvin erwiderte die Kopfbewegung und schob die Sicherheitskette zur Seite. Man wusste schließlich nie, wer draußen stand. In diesem Fall war es Ezra.
 

„Hi, äh. Komm rein.“
 

Marvin trat beiseite und ließ Ezra vorbei. Der schob sich ein wenig umständlich in den engen Flur, der mit Marvin und ihm deutlich überbesetzt war. In der einen Hand hielt er einige Kleidersäcke, in der andere mehrere Tüten.
 

„Ich habe eure Garderobe mitgebracht“, erklärte er auf Marvins erstaunte Frage hin. „Das Etablissement, in das wir uns begeben wollen, hat diesbezüglich einige spezielle Anforderungen.“
 

Marvin riss die Augenbrauen in die Höhe.
 

„Äh … da sind jetzt aber keine Latexanzüge oder Harnische drin, oder? Nicht, dass Bondage nicht sexy wäre, aber mitmachen? Da muss ich leider passen.“
 

Marvin machte eine abwehrende Bewegung, die jedoch in der Luft erstarb, als Ezra ihm einen warnenden Blick zuwarf. Er stellte die Tüten auf dem Boden ab und drapierte die Kleidersäcke über dem Sessel.
 

„Ihr werdet im Rampenlicht stehen, sobald wir dort ankommen. Das gilt insbesondere für dich. Damit unsere Täuschung gelingt, müssen wir alles tun, damit du dich absolut sicher in diesen fremden Gewässern bewegst. Ein falscher Schritt und …“
 

Ezra führte nicht weiter aus, was er meinte. Nathan sah Marvin schlucken. Er selbst kam sich jetzt bereits vollkommen unsichtbar vor.
 

Was vielleicht nicht das Schlechteste ist.
 

„Na los, nun sag schon, was da drin ist“, drängelte Marvin. Im Gegensatz zu Nathan liebte er es, shoppen zu gehen. „Die Etiketten sagen mir nämlich gar nichts.“
 

„Das wundert mich nicht“, gab Ezra zurück und schenkte Nathan immer noch keine Beachtung. Was sollte das für ein Spiel sein?
 

Bevor er jedoch dazu kam, Ezra danach zu fragen, hatte Marvin schon angefangen, die mitgebrachten Pakete zu öffnen. Seine Augen wurden mit jedem von ihnen größer.
 

„Oh Scheiße!“, hauchte er und zog etwas aus einer Tüte, das im behaglichen Licht seiner Wohnzimmerlampe rot und schwarz changierte. Das Bündel entfaltete sich zu einem Hemd mit einer asymmetrischen Knopfleiste und einem kleinen Stehkragen. Der Größe nach zu urteilen war es nicht für Nathan gedacht.
 

„Meine Güte, das ist ja traumhaft“, jubilierte er und strich begeistert über den seidigen Stoff. „Das muss ich anprobieren.“
 

„In der anderen Tasche sind dazu passende Untergewänder. Ich bin mir recht sicher, dass eines davon dir passen wird.“
 

Marvin verzog kurz das Gesicht. Hosen kaufen war immer der schwierigste Teil seiner Mission. Sie waren entweder zu eng, zu lang oder beides. Seufzend schnappte sich Marvin jedoch auch die zweite Tüte und verschwand mit einem „Bin gleich wieder da“ im Schlafzimmer. Im nächsten Moment waren Ezra und Nathan allein.
 

Nathan räusperte sich.
 

„Hey“, sagte er überflüssigerweise. Immerhin befand Ezra sich bereits seit geraumer Zeit mit ihm im selben Raum. Aber andererseits hatten sie bisher noch kein Wort miteinander gewechselt. Es war beinahe gespenstisch.
 

„Hey“, sagte jetzt auch Ezra. Er sah erholter aus als beim letzten Mal.
 

„Hast du … hast du dieses Ding, das dir verloren gegangen ist, wiedergefunden?“
 

Hätte es einen Preis für den schlechtesten Smalltalk gegeben, Nathan hätte ihn mit diesem Opener sicherlich abgeräumt. Ezras Miene blieb unergründlich.
 

„Nein, ich … habe diesbezüglich noch keine weiteren Nachforschungen angestellt. Die Zeit war dafür nicht ausreichend.“
 

Er wies auf die Dinge, die er mitgebracht hatte. Natürlich. Auch ein Vampir konnte Dinge nicht einfach mithilfe eines Fingerschnippens erscheinen lassen.
 

„Außerdem wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte zu suchen. Aber ich … ich denke, dass du jetzt ein wenig sicherer sein solltest. Ich habe meinem Vater erzählt, dass die Ghule dich getötet haben. Er sollte dich also nicht mehr behelligen.“
 

Nathans Mundwinkel wanderten eher automatisch nach oben.
 

„Das ist … toll.“

„Ja, nicht wahr?“
 

Auch Ezra lächelte jetzt ein wenig verlegen. Der Anblick brachte Nathans Magen zum Wanken und ließ seine Knie weich werden. Er war sich sicher, hätte er gerade auf Rollschuhen gestanden, wäre er vollkommen ohne sein Zutun einfach auf Ezra zugerollt.
 

Ich habe ihn vermisst.
 

Nicht, dass er den Tag über dazu viel Zeit gehabt hätte. Shannon hatte ungefähr ein halbes Dutzend mal angerufen und Marvin mindestens doppelt so oft. Dazwischen hatte Nathan versucht produktiv zu sein. Seine Gedanken waren jedoch viel zu oft zu Ezra und dem vergangenen Abend zurückgewandert, sodass er schließlich aufgegeben und sich eine Folge seiner Lieblingsserie nach der anderen reingezogen hatte. Erst kurz bevor Marvin nach Hause gekommen war, hatte er noch einmal versucht, das Vorwort seines Buches zu überarbeiten. Das Ergebnis war grauenvoll gewesen, sodass er das Dokument geschlossen hatte, ohne eine der Änderungen zu speichern. Verschlimmbessern the next level.
 

„Aber er macht mir Druck.“
 

Nathan blinzelte verständnislos.
 

„Wer macht dir Druck?“

„Mein Vater. Er will, dass ich diese Ghula finde. Wenn er eine Ahnung hätte, wie ich vorhabe das anzustellen, würde er sicherlich schäumen vor Wut. Oder mich enterben.“
 

Nathan musste ein wenig schmunzeln.
 

„Würde das nicht voraussetzen, dass er irgendwann stirbt?“

„Stimmt auch wieder.“
 

Für einen Moment war sie wieder da. Die Verbindung, die sie am Abend vorher gehabt hatten. Der fein gesponnene Faden wurde jedoch in dem Moment wieder zerstört, als Marvin die Tür aufriss und einen Auftritt hinlegte, der sich gewaschen hatte.
 

„Ich. Sehe. So. Gut aus!“
 

Wie ein Pfau in einem pinken Paillettenkleid stolzierte Marvin ins Wohnzimmer. Dabei gebärdete er sich, als würde er inmitten einer jubelnden Menge über einem Laufsteg schreiten. Und Nathan musste neidlos anerkennen, dass er wirklich was hermachte. Das Hemd saß wie angegossen und die genau im richtigen Maße anliegende Hose ließ ihn um einiges schlanker wirken. Nur in der Länge musste Ezra sich verschätzt haben. Der schwarze Stoff schlackerte um Marvins Fußknöchel.
 

„Das Hemd kriegt er definitiv nicht zurück“, flüsterte Marvin Nathan zu, als er nach einer vollendeten Drehung neben ihm zum Stehen kam. „Das Ding ist der Oberhammer.“
 

„Du siehst toll aus“, bestätigte Nathan und wollte noch etwas anfügen, als Ezra auf sie zukam.
 

„Du hast die Schuhe vergessen“, erklärte er und hielt Marvin einen Karton entgegen. Als Marvin ihn öffnete, wurden seine Augen erst groß und dann schmal.
 

Absätze?“, fauchte er. „Willst du mir damit irgendetwas sagen?“
 

Ezra hob eine Augenbraue.
 

„Es lag mir fern, dich zu beleidigen. Aber ich habe gewisse Standards und …“
 

„Standards?“, schnappte Marvin. „Soll das etwa heißen, dass ich deinen Standards nicht entspreche? Reicht es nicht, wenn ich mir diesen Scheiß auf jeder verdammten Dating-App und nahezu jeden Samstagabend anhören muss, wenn es heißt 'Sorry, nicht unter 1,80 m.' Musst du jetzt auch noch mit dieser Scheiße anfangen. Müsste es einem Vampir nicht viel mehr um die inneren Werte gehen? Wahrscheinlich habe ich Glück, dass die Zeit nicht für eine Fettabsaugung reicht, sonst würdest du das vermutlich auch noch verlangen.“
 

Er funkelte Ezra an wie ein übergeschnappter Yorkshire-Terrier einen American Stafford. Nathan war sich nicht sicher, wer gewinnen würde.
 

Zu seiner Erleichterung war es Ezra, der den Rückzug antrat.
 

„Es tut mir leid“, sagte er mit einer leichten Verbeugung. „Wenn du die Schuhe nicht tragen möchtest, werde ich natürlich …“
 

„Wer hat denn das behauptet?“, unterbrach ihn Marvin schnippisch. „Natürlich werde ich sie anziehen. Die Dinger sind endgeil. Ich wollte nur klarstellen, dass ich sie anziehe, weil ich das will und nicht etwa, um irgendwelchen dämlichen Standards zu entsprechen. Klar soweit?“
 

Mit diesen Worten schnappte er sich die Schuhe und wackelte damit wieder zurück ins Schlafzimmer. Kurz darauf konnte man durch die Tür einen kleinen Entzückensschrei hören. Nathan unterdrückte ein Grinsen.
 

„Sieht so aus, als hättest du einen Volltreffer gelandet“, meinte er in Ezras Richtung. Der musste sich ein Lachen offenbar auch verkneifen. Das Funkeln, das dabei in seinen Augen aufglomm, gefiel Nathan. Er wollte mehr davon sehen.
 

Ich wünschte, wir wären allein.
 

Aber natürlich ging das nicht. Außerdem hatten sie noch zu tun.
 

„Möchtest du deine Sachen auch anprobieren? Ich habe dir ein paar Anzüge zur Auswahl mitgebracht, aber ich denke, du solltest mit diesem hier anfangen.“
 

Ezra griff nach einem der Kleidersäcke und hielt ihn Nathan entgegen. Der nahm ihn entgegen und musterte die glänzende, graue Oberfläche. Auch ihm sagte die Aufschrift auf dem Bezug nichts. Die Sachen lagen vermutlich weit außerhalb seiner Preisklasse.
 

„Maßgeschneidert wäre natürlich besser gewesen, aber in der Kürze der Zeit …“
 

Ezra klang entschuldigend. Nathan hatte jedoch bereits den Reißverschluss geöffnet. Das, was dahinter zum Vorschein kam, ließ seinen Atem stocken.
 

„Das ist nicht dein Ernst!“, rief er und zerrte ein Preisschild heraus, das unübersehbar vierstellig war. „1800 Dollar?“
 

„Ich sagte ja, er ist nichts Besonderes. Wenn du möchtest, könnte ich noch einen Schneider …“
 

„Nein!“ Nathan schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist … viel zu viel!“
 

Ezra schien zunächst das Problem nicht zu verstehen, dann wurde seine Miene ernst.
 

„Dein Leben wird davon abhängen, dass man dich nicht wahrnimmt. Du wirst den Club das erste Mal betraten, also wirst du unweigerlich Blicke auf dich ziehen. Je weniger Punkte sie finden, an denen sie hängenbleiben können, desto besser. Deswegen wirst du auch diese hier tragen.“
 

Ezra griff nach der Tüte, der er schon Marvins Schuhwerk entnommen hatte, und reichte Nathan ebenfalls einen Karton. Als er ihn öffnete, schlug ihm der Geruch von neuem Leder entgegen.
 

„Kommt nicht in Frage“, proklamierte er prompt und wollte Ezra den Karton zurückgeben. „Ich ziehen nichts an, was aus Teilen von getöteten Tieren besteht.“
 

Ezra runzelte leicht die Stirn.
 

„Ich verstehe deine Bedenken, aber solltest du nicht daran interessiert sein, dass der Tod des Tieres wenigstens nicht sinnlos war und alle Teile von ihm eine Verwendung finden?“
 

Nathan unterdrückte mit Mühe ein Schnauben.
 

„Das mag vielleicht der Fall gewesen sein, als unsere Vorfahren Tiere noch in ihrem natürlichen Lebensraum gejagt haben. Damals herrschte ein Gleichgewicht, bei dem niemand mehr nahm, als er gab. Aber heutzutage ist das nicht mehr der Fall. Tiere werden nicht mehr gezüchtet, sie werden produziert. Wie Ware. Einzig und allein zu dem Zweck, uns mit dem zu versorgen, was wir benötigen. Oder meinen zu benötigen. Denn vieles ließe sich mit sehr viel weniger Auswirkungen auf unseren Lebensraum herstellen und ohne dass eine andere Kreatur dafür leiden muss. Und am Ende machen wir uns damit selbst kaputt. Dabei möchte ich nicht mehr mitmachen.“
 

Wieder versuchte er Ezra die Schuhe zurückzugeben, aber der machte keine Anstalten, ihm den Karton abzunehmen.
 

„Diese Schuhe könnten im Zweifelsfall deine Lebensversicherung sein. Jeder, dessen Gehör nicht vollkommen verstopft ist, wird sofort die Unterschiede zu einem künstlich hergestellten Material erkennen. Es wäre ein Makel, durch den du auffallen würdest. Du musst aber unsichtbar werden. Begreifst du das?“
 

Nathan zögerte. Noch einmal sah er auf die Schuhe hinab, die für ihn all das verkörperten, was er ablehnte. Er verurteilte niemanden, der das anders sah. Aber für sich selbst war es schon so selbstverständlich geworden, auf diese Dinge zu verzichten, dass er sich nicht vorstellen konnte, davon abzuweichen.
 

„Vertraust du mir?“
 

Die Frage ließ Nathan den Kopf heben. Ezra war unbemerkt ein Stück näher getreten und stand jetzt direkt vor ihm. Zwischen ihnen stand nur noch der Schuhkarton. Nathans Herz begann erwartungsvoll zu pochen.
 

„Und?“
 

Noch immer sah Ezra ihn aufmerksam an. Versuchte auszuloten, wie weit Nathans Bereitschaft, ihm zu folgen ging. Seine Treue. Seine Naivität?
 

Er atmete tief durch.
 

„Ich vertraue dir“, sagte er langsam. „Zumindest insofern, dass ich annehme oder vielmehrweiß, dass du mir nicht schaden willst. Und auch Marvin nicht. Vielleicht keinem Menschen. Zumindest hoffe ich das. Aber ich weiß nicht, ob ich diesen Kompromiss hier eingehen sollte. Ob ich mich damit nicht selbst verrate.“
 

Ezra antwortete nicht sofort. In gewisser Weise beruhigte Nathan das. Ezra schien tatsächlich über seine Worte nachzudenken. Als er schließlich den Kopf hob, lag ein entschlossener Ausdruck in seinem Blick.
 

„Ich verlange nicht, dass du dich aufgibst. Wenn du es also wünschst, werde ich versuchen, einen adäquaten Ersatz zu finden.“
 

Ich wünschte nur, du würdest es nicht tun.
 

Den letzten Satz hatte Ezra wieder nicht ausgesprochen, aber Nathan war klar, dass er ihn gedacht hatte. Aber war es ihm nicht trotzdem anzurechnen, dass er es versuchte? Oder war das genau das, was Ezra ihn glauben lassen wollte?
 

Oder vielleicht reagiere ich auch einfach nur über, indem ich versuche, unsere Beziehung über ein Paar Schuhe zu definieren. Als wenn es gerade nichts Wichtigeres gäbe.
 

„Na schön“, sagte er und zog den Karton wieder zu sich heran. „Ich werde sie tragen. Aber nachdem wir die Sache hinter uns gebracht haben, werde ich sie meistbietend versteigern und den Erlös einem Tierschutzverein zukommen lassen.“
 

An Ezras Mundwinkeln zupfte ein Lächeln.
 

„Damit bin ich einverstanden.“
 

Er wies auf den Anzug, der immer noch halb ausgepackt auf seinen Einsatz wartete.
 

„Und der Anzug?“

„Den verkaufe ich auch. Ich brauche so einen Firlefanz nicht.“

„Auch nicht, wenn du mir darin gefällst?“
 

Ezras Blick, in den jetzt etwas anderes getreten war, sandte ein Kribbeln seine Wirbelsäule entlang. Nathan begann zu grinsen.
 

„Aber nur, wenn du mir mal zeigst, wie du ohne aussiehst.“

„Das wird sich sicherlich einrichten lassen.“
 


 

Ezra blieb in der Tür stehen und wäre beinahe wieder rückwärts hinausgestolpert. Sein Bett war besetzt und das sehr gründlich.
 

„Darf ich erfahren, was du da tust?“
 

Darnelle, der sich auf der geschmackvollen Tagesdecke ausgebreitet und die Arme hinter dem Kopf verschränkt hatte, öffnete träge ein Auge.
 

„Ich ruhe mich aus“, erklärte er, ohne sich auch nur ein Stück zu bewegen. „Immerhin scheint auf dich zu warten neuerdings eine zeitraubende Beschäftigung zu sein und auch meine Kraft ist nicht unerschöpflich. Aber wo wir beim Thema sind: Dieser Nathan scheint eine ziemliche Kondition zu haben oder hast du dir inzwischen ein neues Spielzeug gesucht?“
 

Ezras Finger schlossen sich fester um den Türknauf. Das Gefühl, einen entscheidenden Teil der Unterhaltung verpasst zu haben, drängte sich ihm auf, aber er versuchte, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Trotzdem war er neugierig.
 

„Wie kommst du darauf, dass ich mich mit ihm getroffen habe?“, fragte er möglichst beiläufig, während er nun doch ins Zimmer trat, die Tür ein wenig zuschob und begann, seine Krawatte zu lösen. Während er zum Kleiderschrank ging, folgte Darnelle jeder seiner Bewegungen mit den Augen.
 

„Nun, nach unserer kleinen Unterhaltung letztens, dachte ich mir, dass es besser wäre, dich und deine Aktivitäten ein wenig im Blick zu behalten. Deswegen weiß ich auch, dass du heute im 'La Cage' warst, dir dort einen Sub geschnappt hast und keine halbe Stunde später wieder auf der Bildfläche erschienen bist. Da das unmöglich gereicht haben kann, um dir – oder ihm – eine ausreichende Befriedigung zu bieten, bin ich natürlich neugierig, wo du danach gewesen bist. Immerhin sind seit dem mehrere Stunden vergangen in denen du schier unauffindbar warst. Ich habe sämtliche mir bekannten Adressen gecheckt, aber du warst wie vom Erdboden verschluckt.“
 

Ezra antwortete nicht darauf, sondern begann nur, sich auszuziehen. Unter der Oberfläche brodelte es jedoch. Wenn Darnelle ihn überwachen ließ, würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis Nathans Aufenthaltsort herausbekam.
 

Ich muss ihn ablenken. Aber wie?
 

Während er sein Hemd abstreifte, fühlte er Darnelles Blicke auf seiner Haut. Das wäre natürlich eine Möglichkeit, seinen Bruder auf andere Gedanken zu bringen. Darnelle sagte nie Nein zu ihm. Niemals. Aber die Gefahr, dass Aemilius sie erwischte, war groß. Er sah es nicht gerne, wenn seine beiden „Söhne“ es miteinander trieben, und auch Ezra fühlte Widerwillen gegen die Idee in sich aufsteigen.
 

Auch wenn es nur zu Nathans Bestem wäre, aber ich habe es ihm versprochen. Kein Sex mit jemandem außer ihm.
 

Darnelle hätte ihn ausgelacht, wenn er davon gewusst hätte. Die Idee, sich nur an einen einzigen Partner zu binden, war ihm schon immer suspekt gewesen. Darnelle brauchte die Abwechslung. Zumindest seit Elisabeth nicht mehr war. Sie war eine der wenigen Konstanten in seinem Liebesleben gewesen.
 

Wenn man denn da überhaupt noch von Liebe sprechen kann.
 

Darnelle benutzte das Wort gerne freizügig und für alles Mögliche. Für ihn war es nicht mehr als ein Witz. Ein Umstand, den Ezra beschloss zu nutzen.
 

Wenn ich ihn glauben lasse, dass er mich bereits am Haken hat, hört er vielleicht auf, mir hinterherzuspionieren.
 

„Weißt du, ich habe über deine Worte nachgedacht“, sagt er beiläufig, während er jetzt auch noch begann, sich seiner Hose zu entledigen. „Und ich glaube, wir sollten uns doch einmal anhören, was du zu sagen hast. Du und deine Freunde.“
 

Er drehte sich zu Darnelle herum, sich sehr wohl bewusst, dass er immer noch mit hungrigen Augen beobachtet wurde.
 

„Diesen Samstag“, schlug er vor, als wäre es ihm gerade erst eingefallen. „Ich bringe Nathan mit, dann kannst du ihn kennenlernen.“
 

Darnelles Blick wurde eine Nuance schmaler. Irgendetwas an dieser Ankündigung missfiel ihm offenbar. Aber was? War der Sinneswandel doch zu plötzlich? Zu unglaubwürdig?
 

Ich muss ihn dazu kriegen, dass er mir glaubt.
 

Ezra ließ sein Gesicht ernst werden.
 

„Ich gebe natürlich zu, dass mir deine Einstellung Menschen gegenüber immer noch nicht gefällt. Besonders jetzt, wo ich Nathan kennengelernt habe. Ich möchte, dass es ihm gut geht. Dass er in Sicherheit ist. Aber da ich ihn nicht davon überzeugen konnte, das Land zu verlassen …“
 

Er trat näher an das Bett. Auf dem Darnelle immer noch ausgestreckt lag und keinerlei Anstalten machte, Platz zu machen oder sich zu erheben.
 

„Werde ich wohl eine Möglichkeit finden müssen, ihn anderweitig zu beschützen. Dafür wäre ich bereit, einiges zu tun.“
 

Darnelle begann anzüglich zu grinsen.
 

„Einiges? Wie viel ist einiges?“
 

Ezra verzog die Lippen zu einem Lächeln.
 

„Das entscheide ich, wenn der Samstag vorbei ist. Ist das ein Angebot?“
 

Darnelle ließ seinen Blick über Ezras Körper gleiten. Gier lag darin. Und Begehren.
 

„Und was wirst du jetzt noch tun?“, fragte er und erhob sich langsam. Als er jedoch die Hand nach Ezra ausstreckte, wich der einen Schritt zurück und wies auf die angelehnte Tür.
 

„Jetzt werde ich schlafen. Es war eine anstrengende Nacht und ich würde morgen Abend gerne ausgeruht sein. Immerhin bin ich offiziell immer noch auf Ghuljagd.“
 

Für einen Moment glomm etwas in Darnelles Augen auf. Ein kleiner Funke, der vermutlich in der Lage war, einen ganzen Waldbrand auszulösen. Aber ebenso schnell, wie er gekommen war, verschwand er auch wieder.
 

„Na gut“, sagte er lächelnd und glitt mit einer geschmeidigen Bewegung vom Bett. „Dann werde ich dich jetzt eben allein lassen.“
 

Ohne große Eile ging er durch den Raum und sein Morgenmantel wehte dabei wie ein Umhang hinter ihm her. An der Tür blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu Ezra herum.
 

„Aber ich sage dir, du verpasst etwas. Süße Träume, geliebter Bruder.“
 

Damit verschwand er und Ezra atmete erleichtert auf.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Ryosae
2022-10-05T20:54:21+00:00 05.10.2022 22:54
Hey Mag,
also ich mag das Kapitel. Es ist, wie du oben geschrieben hast, noch "reingeschoben" worden. Es erklärt ein paar Gedankengänge und Beweggründe in späteren Kapitel, ohne jetzt spoilern zu wollen. ;)

Ich liebe die Spannungen zwischen Nathan und Erza, obwohl es hier irgendwie bedrückend wirkt. Gut. Die Situation ist alles andere als leicht. xDD
Freue mich aufs nächste Kapitel! <3

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
06.10.2022 09:04
Hey Ryosae!

Gut, dass das Kapitel tut, was es soll. :D

Tatsächlich bin ich gerade dabei, die ganze Story noch mal zu überarbeiten. Gestern habe ich zum Beispiel am Anfang des ersten Kapitels noch eine kurze Szene eingefügt und den weiteren Verlauf entsprechend angepasst. (Ich hoffe, ich habe nichts übersehen. @_@)

Jetzt gerade bekommt das letzte Kapitel ein Makeover, da eine Leserin (zurecht, wie ich im Nachhinein finde) moniert hat, dass man die Motivation der Figuren schlecht nachvollziehen kann. Und einiges ist dort wirklich ein bisschen zu sehr "in meinem Kopf hat das gerade noch Sinn ergeben". Insgesamt wird das jedoch am Inhalt nichts Wesentliches ändern, da sich lediglich der Prozess der Erkenntnis etwas anders gestalten wird. Nachvollziehbarer hoffentlich. ;D

Und wenn alles glatt geht dürfte dann auch bald das nächste neue Kapitel erscheinen.

Zauberhafte Grüße
Mag
Antwort von:  Ryosae
06.10.2022 13:29
Hey Mag,
ich sehe es kommen... muss doch nochmal alles komplett lesen. xD
Das mit dem monieren.. man liest in den Kapitel wie Nathan sich immer mehr von Erza angezogen fühlt, aber irgendwie fehlt da noch wie Ezra auf seiner Seite fühlt. Es gibt dieses eine Kapitel, beidem man von seiner Seite aus liest, doch da könnte man nich etwas mehr ergänzen.
Vielleicht ist das auch nur mein Fangirl-Herz xD

Liebe deine Story, egal ob sie perfekt ist oder nicht. Welche ist das? ;)

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
06.10.2022 19:43
Ha, na wer weiß. Nach dem, was bis "jetzt" alles so passiert ist, wird das ja vielleicht noch was. ;)


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