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Bis dass der Tod uns findet

von

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Drunter und drüber

Nathan trat aus dem Kino. Es hatte wieder angefangen zu regnen. In dünnen Bindfäden kam das unausweichliche Nass vom Himmel und hinterließ überall einen glänzenden Film aus eisiger Feuchtigkeit. Kaum, dass Nathan sich umgedreht hatte, hörte er auch schon das charakteristische Klappen eines Regenschirms, der über ihm aufgespannt wurde.
 

„Alles in Ordnung?“

 

Jomar musterte ihn aufmerksam und ein kleines Lächeln schlich sich auf Nathans Lippen.
 

„Ja, natürlich. Aber … wo in aller Welt hast du den Schirm her?“

 

Jomar lachte.
 

„Die standen da drinnen in einem Ständer. Ein Service des Kinos.“
 

Stille breitete sich aus. So man denn an dieser belebten Ecke von Stille sprechen konnte. Um sie herum strebten immer noch Leute durch die doppelte Glastür nach draußen. Nathan und Jomar machten einen Schritt zur Seite, um sie vorbeizulassen. Gleichzeitig rückten sie unter dem Schirm näher zusammen. Es ergab sich so, aber es war nicht mehr komisch. Immerhin hatten sie den ganzen Film über nebeneinander gesessen. Sich das Popcorn geteilt. Gelacht. Sich sogar berührt. Jomar hatte warme Hände. Ein wenig schwielig. Vermutlich vom Arbeiten. Er konnte zupacken, wenn es notwendig war, aber er war nicht grob. Nathans Herz begann ein wenig schneller zu schlagen, wenn er sich vorstellte, was diese Hände wohl noch alles mit ihm anstellen konnten. Wenn sie allein waren. Bei ihm zu Hause vielleicht.
 

„Na Ladys, was geht? Wollen wir noch was trinken gehen?“

 

Felipe und Marvin waren aufgetaucht. Die beiden strahlten förmlich vor Energie. Felipe hatte den Arm um Marvin gelegt und ihn an sich heran gezogen. Marvins Hand lag auf Felipes Hüfte. Ein Pärchen. Wie schön.

 

„Also eigentlich …“, begann Nathan und stockte. Marvin machte verschwörerische Gesten mit seinen Augenbrauen. Nathan konnte sich vorstellen, wie der Plan seines Freundes für den Rest der Nacht aussah. Er wollte Felipe ins Bett bekommen und das so schnell wie möglich. Die beiden würden vermutlich zu Felipe nach Hause fahren. Oder zu Marvin. Je nachdem, was näher lag. Und er? Was würde er tun?
 

„Ich könnte dich nach Hause bringen“, bot Jomar an. Die implizierte Botschaft dahinter war so offensichtlich, dass er auch gleich hätte fragen können, ob sie die Nacht zusammen verbringen würden. Aber da gab es noch ein Problem.

 

Was, wenn Ezra zu Hause ist? Ich könnte nicht mit Jomar … während er draußen sitzt und es weiß. Das geht nicht. Das geht auf gar keinen Fall.

 

Nathan räusperte sich.

 

„Ich muss morgen noch arbeiten und deswegen ziemlich früh raus. Aber wenn alles glatt läuft, machen wir was aus, ja? Ich lade dich ein. Versprochen!“

 

Jomars Gesichtszüge, die zuerst in Enttäuschung nach unten gesunken waren, hellten sich wieder auf.
 

„Vielleicht am Mittwoch? Da habe ich nachmittags frei. Ich könnte dich von der Arbeit abholen.“

 

Nathan warf einen hilfesuchenden Blick zu Marvin, der ihm jedoch nur ein Thumbs up gab. Natürlich sollte er sich verabreden. Nathan wusste das. Er wusste es wirklich.
 

„Mittwoch klingt toll“, sagte er und zwang sich erneut zu lächeln. „Ich sag dir Bescheid, wann ich mich freimachen kann. Dann können wir ja noch was zusammen unternehmen. Und ich könnte abends für uns kochen. Klingt das gut?“

 

„Wunderbar.“

 

Einen Moment lang standen sie sich noch gegenüber, bis Jomar die Initiative ergriff. Er beugte sich zu Nathan herüber und zog ihn in eine Umarmung.
 

„Es war schön mit dir.“

 

Sein Gesicht war ganz nahe, sein Blick nagelte Nathan fest. Sollten sie sich jetzt küssen? Wollte Nathan das? Es fühlte sich richtig an und doch …

 

„Ich fand es auch sehr schön“, meinte er daher nur und lächelte. Dieses Mal ganz von selbst. „Und ich freue mich auf Mittwoch.“

 

Danach wich er zurück und ließ Jomar unter dem Schirm stehen. Eisiger Regen hüllte ihn ein.
 

„Ich … ich sollte jetzt wirklich gehen. Es ist schon spät.“

 

Marvin, der die ganze Sache mit Argusaugen beobachtete, machte sich aus Felipes Arm los und kam auf Nathan zu. Geschickt nahm er Jomar den Schirm aus der Hand und scheuchte ihn zu seinem Freund zurück. Danach schob er Nathan noch ein Stück beiseite.

 

„Du kneifst?“, flüsterte er aufgebracht. Nathan verzog das Gesicht.
 

„Ich kneife nicht. Ich brauch nur noch ein bisschen mehr Zeit, okay? Immerhin hab ich ihn eingeladen.“
 

Nathan gab sich alle Mühe, vorwurfsvoll zu klingen. Marvin schien trotzdem nicht überzeugt.
 

„Ewig wird Jomar nicht warten, das ist dir klar, oder? Wenn du ihn zu lange hinhältst …“

 

„Jaa, ich weiß“, gab Nathan gedehnt zurück. „Aber ich muss … ich muss da erst noch was klären.“

 

Marvin wusste sofort, wovon er sprach.
 

„Der Stalker? Ich hoffe, du hast ihn inzwischen zum Teufel gejagt. Oder wenigstens das Foto gemacht, damit man ihn identifizieren kann.“

 

Nathan schluckte. Das mit dem Bild hatte er vollkommen vergessen.
 

„Ich hab kein Foto gemacht“, gab er ehrlich zu.

 

„Aber ich werde auch keins mehr brauchen“, fuhr er fort, bevor Marvin zu einem ausgiebigen Protest anheben konnte. „Ich werde ihm sagen, dass er verschwinden soll. Endgültig.“

 

Marvin wirkte einen Augenblick lang verblüfft, dann runzelte er misstrauisch die Stirn.
 

„Im Ernst? Du willst ihn wirklich wegschicken?“

„Ja.“

„Und wenn er nicht geht?“

 

Vielleicht ist er das längst.

 

Nathan seufzte.

 

„Ich weiß es nicht. Eventuell werde ich dann doch die Polizei rufen müssen. Aber ich glaube nicht, dass das notwendig sein wird. Wenn ich ihm sage, dass er unerwünscht ist, wird er nicht mehr wiederkommen.“

 

Marvins Gesichtsausdruck machte mehr als deutlich, dass er das nicht glaubte. Trotzdem nickte er.
 

„Na gut, wie du willst. Ich hab dir gesagt, dass du das selber wissen musst. Aber wenn was ist, rufst du an, ja? Jederzeit.“

 

Nathan grinste.
 

„Auch mitten in der Nacht?“

„Besonders dann!“
 

Sie lachten und umarmten sich zum Abschied, bevor Nathan sich alleine und ohne den Schirm auf den Weg zur Bahn machte.

 

 

Als er zu Hause ankam, war es bereits nach Mitternacht. Geisterstunde. Doch es war nicht gruselig. In vielen Fenstern schien noch Licht. Man sah die flackernden Reflexionen der Fernseher, beleuchtete Bushaltestellen, Straßenlaternen. Kaum ein dunkler Fleck rechts oder links des Weges. Ein Polizeiauto mit ausgeschalteter Sirene fuhr an ihm vorbei. Nathan sah den blauen und roten Warnleuchten nach und wäre dadurch beinahe in jemanden hineingerannt. Es war eine Frau mit langen, dunklen Haaren, die vor seinem Haus stand und in ihrer Handtasche herumkramte.
 

„Oh, entschuldigen Sie“, sagte er sofort.
 

Sie lachte.
 

„Nein, entschuldigen Sie. Ich hab nicht darauf geachtet, wo ich hinlaufe.“
 

Es entstand ein kurzes Gerangel, weil jeder von ihnen dem anderen den Vortritt lassen wollte, bis die Frau schließlich einen Schritt zurück machte.
 

„Gehen Sie nur. Ich suche noch meinen Schlüssel. Er muss hier irgendwo sein.“

 

Nathan überlegte nicht lange.
 

„Ich könnte Sie reinlassen, dann können Sie im Fahrstuhl weitersuchen.“

„Ach, das wäre nett.“
 

Sie bedankte sich noch dreimal und folgte Nathan ins Haus. Als er den Knopf für den sechsten Stock drückte, machte sie ein erstauntes Gesicht.
 

„Sie wohnen auch ganz oben? Dann sind Sie wohl einer meiner neuen Nachbarn. Ich bin übrigens Katherine.“

„Freut mich. Ich bin Nathan. Nathan Bell.“

„Schön, Ihre Bekanntschaft zu machen, Nathan.“

 

Während der antike Drahtkorb sie nach oben brachte, konnte Nathan die Haustür klappen hören. Offenbar war noch jemand gerade nach Hause gekommen. Er kannte, zugegebenermaßen, kaum jemand von seinen Nachbarn. Katherine war die erste, die sich ihm vorgestellt hatte.
 

„Seit wann wohnen Sie hier?“, fragte er, als sie das angestrebte Stockwerk erreichten und er den Türen beiseite schob, um sie hinauszulassen.
 

„Oh, ich bin gerade erst eingezogen. Es ist alles noch ganz neu für mich.“

 

Sie lächelte noch einmal und er bemerkte, dass sie sich zurecht gemacht hatte. Die Lippen waren mit üppigem roten Lippenstift geschminkt und die knappe Lederjacke, die sie über ihrem Top trug, war sicherlich nicht geeignet, um das draußen herrschende Wetter abzuhalten. Eine weit schwingende, elegante Hose verdeckte halb ihre spitz zulaufenden Pumps. Vermutlich war auch sie gerade von einer Verabredung heimgekommen. Allein, ebenso wie er. Nur dass es ihn bei ihr überraschte.

 

„Na dann, Katherine. Hat mich gefreut.“

„Ja, mich auch.“
 

Er nickte ihr zum Abschied zu und wollte zu seiner Wohnung am Ende des Flures gehen, als er ihre Stimme noch einmal hinter sich hörte.
 

„Ach, Nathan? Hätten Sie wohl zufällig etwas Milch für mich? Ich brauche jetzt unbedingt einen guten Cappuccino und habe vergessen einkaufen zu gehen.“

 

Nathan zögerte. Seine Finger fanden ganz von allein den Schlüssel in seiner Manteltasche. Er zog ihn heraus und steckte ihn ins Schloss.

 

„Nein, tut mir leid“, sagte er mit Bedauern in der Stimme, aber ohne sich umzudrehen. „Ich habe keine Milch da.“

 

„Könnten Sie vielleicht noch einmal nachsehen. Es wäre wirklich wichtig.“

 

Katherine war näher gekommen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sie direkt auf ihn zukam. Gleichzeitig hörte er Schritte auf der Treppe. Zwei Männer betraten hinter ihr den Flur und kamen ihn ihre Richtung. Nathans Herzschlag beschleunigte sich.
 

„Ich sagte doch, ich habe keine Milch.“

 

Katherine war jetzt so nahe, dass er ihr Parfüm riechen konnte. Seine inneren Alarmglocken begannen zu schrillen. Etwas stimmte hier nicht. Etwas stimmte ganz und gar nicht.
 

Nathans Kopf ruckte herum. Katherine lächelte ihn an.

 

„Könnte ich mit reinkommen und nachsehen, ob Sie nicht doch Milch haben?“

 

Nathan schluckte. Die beiden Typen, die hinter Katherine schon viel zu nahe gekommen waren, waren breitschultrig und mindestens einen Kopf größer als Nathan. Auch sie waren gut gekleidet. Lange Mäntel, schwarze Hosen …

 

Oh scheiße!

 

Nathan riss seine Wohnung auf und stürzte nach drinnen. So schnell es ging, versuchte er, die Tür wieder ins Schloss zu werfen, aber er war nicht schnell genug. Katherine fing sie mit einer Hand ab und hielt sie fest. Ohne jegliche Mühe.

 

„Wie unhöflich“, gurrte sie. „Dabei habe ich mich doch so um gute Nachbarschaft bemüht.“

 

Es gab einen Ruck und die Tür entglitt Nathans Händen. Er wurde zurückgeschleudert und landete rücklings auf dem Boden. In dem hellen Rechteck der Eingangstür stand Katherine und lächelte triumphierend.
 

„Hast du wirklich gedacht, du könntest uns entkommen?“

 

Starr vor Schreck beobachtete Nathan, wie sich die zwei Schläger hinter sie schoben. Sie sahen nicht aus, als würden sie lange fackeln.

 

Ich muss hier weg.

 

Die Chance, rechtzeitig ins Bad zu kommen, um sich dort einzuschließen, war gleich Null. Nathan wusste das. Trotzdem musste er es versuchen.

 

Er kam keine zwei Meter weit, bevor ihn ein Tritt gegen die Rippen traf und wieder zurück ins Wohnzimmer beförderte. Grinsend stand Katherine vor ihm.
 

„Wohin denn so eilig? Wir haben doch gerade erst angefangen.“

 

Sie sind in der Wohnung. Sie sind wirklich in meiner Wohnung!
 

„Schließt die Tür. Wir wollen doch nicht, dass noch jemand in diese unschöne Geschichte verwickelt wird.“

 

Der Mann, der dem Eingang am nächsten stand, gehorchte. Mit dem letzten Aufleuchten des Flurlichts konnte Nathan sehen, dass Katherine immer noch lächelte. Und ihre Zähne waren nicht spitz.

 

Sie ist also kein Vampir, dachte er noch, bevor ihn ein erneuter Tritt traf. Wieder flog er rückwärts und landete mit dem Rücken an einer Schrankecke. Es tat weh, aber es war noch nicht das Ende. Jemand zerrte ihn hoch. So hoch, dass er den Boden unter den Füßen verlor. Eine grobe Männerhand legte sich um seine Kehle.

 

„Mach es langsam. Ich will sehen, wie das Licht in seinen Augen erlischt.“

 

Nathan zappelte. Er wehrte sich. Schlug seine Fingernägel in die Haut des Unterarms, der ihn wie ein Schraubstock festhielt, und trat um sich. Aber es half nichts. Mit schier übermenschlicher Kraft drückte der Riese ihn gegen die Wand und schnürte ihm die Luft ab. Bunte Punkte begannen vor seinen Augen zu tanzen. Sein Herz raste. Er wollte atmen. Atmen! Aber er konnte nicht. Immer panischer wurde seine Gegenwehr, immer schwächer. Er konnte nicht …

 

Etwas klirrte, krachte. Nathan hörte einen Schrei, dann ein Fauchen und Knurren. Seine Sicht wurde trüb. Dunkle Schemen tanzten umeinander. Das dumpfe Geräusch von Schlägen. Ein erneutes Krachen, Klirren.

 

Das war meine Vitrine, dachte er irgendwo am Rande seines schwindenden Bewusstseins. Es folgte das Poltern von Büchern und dann …

 

„Argh!“
 

Der Schläger ließ ihn los. Nathan fiel zu Boden wie ein nasser Sack. Er keuchte und sog die so dringend benötigte Atemluft tief in seine Lungen. Seine Kehle schmerzte, seine Rippen brannten. Und doch konnte er nichts weiter als atmen.

 

Ein metallenes Scheppern und ein ekelerregender Laut brachten ihn dazu, die Augen aufzureißen. Im gleichen Moment ging der Koloss, der ihn gerade noch gewürgt hatte, neben ihm zu Boden. Der Schatten, der hoch über ihnen beiden aufragte, hielt etwas in der Hand. Einen unförmigen Kasten, dessen chromblinkende Details in einem verirrten Lichtstrahl aufblitzten.

 

Ist das meine Kaffeemaschine?

 

Nathan hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn der zweite Schläger war heran und warf sich auf den Angreifer. Wieder schepperte es, doch dieses Mal hatte Nathans Retter nicht richtig getroffen. Die Maschine stürzte zu Boden und verfehlte Nathan nur knapp. Schnell brachte er sich aus der Gefahrenzone.

 

Weg! Ich muss weg!

 

Auf allen Vieren versuchte er, in Richtung Schlafzimmer zu kriechen, doch ein Schlag gegen die Seite ließ ihn stürzen.

 

„Nicht so schnell“, fauchte Katherine über ihm. Nathan schrie. Zumindest glaubte er das. Er krabbelte rückwärts, versuchte zu entkommen, aber keine Chance. Ein spitzer Absatz bohrte sich in seine Handfläche. Dieses Mal schrie er wirklich.

 

„Quiek nur, kleines Schweinchen. Jetzt wirst du geschlachtet.“

 

Metall schliff über Metall, als sie ein Messer aus dem Messerblock auf der Anrichte zog. Der Schmerz in seiner Hand raubte Nathan erneut den Atem. Eine Ohnmacht nahte heran. Schon kroch das Schwarz von allen Seiten auf ihn zu.

 

„Hilfe“, flüsterte er mit letzter Kraft. Er wusste, dass es zu spät war. Nichts und niemand würde ihn jetzt mehr retten können. Nicht einmal …

 

Ezra.

 

„Nimm die Finger von ihm.“

 

Nathan glaubte nicht, was er hörte. Das konnte nicht sein. Er musste halluzinieren.

 

„Und wenn nicht?“

„Stirbst du.“

 

Nathan spürte den Schlag, der Katherine traf und ins Schlafzimmer schleuderte. Sofort kam sie wieder auf die Füße.
 

„Fick dich!“, fauchte sie. „Ich schlitze dich auf.“

 

Ezra knurrte.
 

„Willst du das Geschenk, das dein Meister dir machte, wirklich so verschwenden?“

 

Noch einmal fauchte Katherine. Dann hörte Nathan Schritte, das Bersten eines Fensters und …

 

„Scheiße!“

 

Ezra verschwand. Nathan blieb allein zurück. Seine Hand raste vor Schmerz, sein Hals war wund. Tränen verschleierten seine Sicht und jeder seiner Knochen fühlte sich an, als wäre er um ein paar Zentimeter verschoben worden. Aber er lebte noch. Warum lebte er noch?

 

Ich will nicht sterben.
 

Der Gedanke durchzuckte sein Gehirn so zusammenhangslos, dass er beinahe aufstöhnte. Aber es stimmte. Er wollte, dass all das hier nicht passiert wäre. Er wünschte, dass die Schmerzen verschwanden. Aber vor allem wollte er leben.

 

 

Ein Scharren riss ihn aus seiner Lethargie. Es folgten Schritte, dann ein Schatten, der sich durch die Schlafzimmertür zu ihm in die Küche schob. Seltsam leuchtende Augen musterten ihn.

 

Er ist zurückgekommen.

 

Minutenlang sahen sie sich einfach nur an. Nathan wagte nicht, sich zu bewegen. Was würde passieren, wenn er es tat? Alles in seinem Körper schrie danach, seine Position zu verändern. Die steif werdenden Muskeln aus ihrer unbequemem Lage zu befreien und sich – vielleicht – seinem Retter sogar an den Hals zu werfen. Andererseits war da diese Grenze. Die, die sie beide bisher nie durchbrochen hatten. Ezra hatte es jetzt getan. Was würde weiter geschehen?

 

 

Es war Ezra, der sich zuerst bewegte. Er wandte sich ab und ging ohne ein weiteres Wort an Nathan vorbei ins Wohnzimmer. Nathan atmete auf. Es war, als wäre ein großer Felsbrocken von seiner Brust gerollt. Gleichzeitig stürmte der Rest der Welt wieder auf ihn ein. Er war überfallen worden. In seiner Wohnung. Verdammt!

 

Ich muss aufstehen.

 

Nathan wusste nicht, ob es diese Erkenntnis war, die ihn schließlich wieder auf die Füße brachte und ihn in Richtung Wohnzimmer humpeln ließ. An der Tür hielt er an und sah sich um.

 

 

In dem Raum war es immer noch dunkel. Nathan konnte Ezra herumwirtschaften hören. Was tat er? Und was war hier passiert? Wie von selbst glitt Nathans Hand zum Lichtschalter. Die Deckenleuchte flammte auf und im gleichen Moment hätte Nathan beinahe geschrien. Der Raum … war ein Schlachtfeld.

 

Der Couchtisch war umgeworfen, eines der Regale von der Wand gerissen, die Vitrine zerstört und der Inhalt überall verteilt worden. Der Fernseher lag umgedreht auf dem Boden. Nathan bezweifelte, dass man ihn noch zum Laufen kriegen würde. Zudem war eines der Fenster eingeschlagen und die Vorhänge hingen halb heruntergerissen an ihren Halterungen. Was aber am auffälligsten war, waren die beiden Leichen, die inmitten all des Chaos am Boden lagen und sich nicht mehr rührten. Um sie herum hatten sich Lachen einer schwärzlichen Flüssigkeit gebildet und ein seltsamer, Übelkeit erregender Gestank lag in der Luft. Wie von verrottendem Fleisch. Eilig presste Nathan die Hand vor das Gesicht um zu verhindern, dass er sich übergab. Doch es war nicht allein der Geruch. Auch der Anblick des zerschmetterten Schädels, der nur einen halben Meter entfernt zu seinen Füßen lag, ließ Nathans Magen bedenklich schwanken. Was war das nur für eine ekelerregende Sauerei?

 

„Sie waren bereits tot.“

 

Ezra, der sich an einem der beiden Männer zu schaffen gemacht hatte, stand auf. An seinen Händen klebte die dunkle Flüssigkeit und auch sein Gesicht hatte einige Spritzer abbekommen. Nathan starrte ihn an. Wie meinte er das?
 

„Du solltest von hier verschwinden.“
 

Ezras Miene war ausdruckslos. Er sah Nathan an, als warte er darauf, dass der seinem Befehl Folge leistete. Aber es war kein Befehl gewesen. Als Nathan sich dessen bewusst wurde, hätte er beinahe gelächelt. Er hatte keine Ahnung, warum ihn ausgerechnet das beruhigte, aber die Erleichterung, die er darüber empfand, war real. Und doch war da so viel, das er nicht verstand.

 

„Was wollten die von mir? Und wer sind die überhaupt? Warum sind sie hierhergekommen und warum … bist du hier?“
 

Die letzte Frage war die wichtigste. Nathan wusste, dass das albern war, denn immerhin war er dem Tod gerade mehr als knapp entronnen. Andererseits war da dieser Mann. Der Mann, der ihn seit Tagen, ja Wochen verfolgte. Der sich in seine Träume stahl und ihn auch jetzt, da er blut – oder was immer es war – besudelt in seinem Wohnzimmer stand, noch vollkommen gefangen nahm. Der ihm geschworen hatte, dass er seine Wohnung nicht betreten würde und es jetzt doch getan hatte.

 

„Ich …“

 

Ezra zögerte. Da war eine Unsicherheit in seinen Zügen, die Nathan aufmerken ließ. Es war nur kurz, nur für einen Moment, aber er hatte es gesehen und er wusste, er würde es nicht einfach so wieder vergessen können.

 

„Du solltest gehen“, wiederholte Ezra jedoch nur, statt die Frage zu beantworten. Danach wandte er sich ab und wieder dem Mann mit dem zerschmetterten Schädel zu. Er durchsuchte dessen Taschen, streifte seine Ärmel und Hosenbeine hoch, schien etwas zu suchen. Nathan schluckte.
 

„Was tust du da?“

 

Ezra sah zu ihm hoch. Sein Gesicht war wieder distanziert und kühl, aber Nathan konnte sehen, wie es darunter brodelte. Die Maske hatte Risse bekommen und er hatte nicht vor, es einfach so dabei bewenden zu lassen.
 

„Das hier ist meine Wohnung“, erklärte er mit fester Stimme. „Und ich werde nicht einfach gehen, nur weil du es sagst.“

 

Ezra starrte ihn an. Seine dunklen Augen durchbohrten Nathan förmlich, aber der wich nicht zurück. Er hatte ein Recht hier zu sein, während Ezra …
 

„Sie wollten dich töten.“

 

Die Aussage ließ Nathan amüsiert schnauben. Als wenn das nicht offensichtlich gewesen wäre.
 

„Ja, das ist mir auch klar. Aber warum?“
 

Wieder wandte Ezra sich ab. Nathan war kurz davor ihn anzuschreien, dass er das lassen sollte, als er zu sprechen begann.
 

„Ich weiß es nicht genau. Möglicherweise, weil sie angenommen haben, dass du etwas von Belang gesehen hast.“

„Aber das habe ich nicht.“
 

Ezra schenkt ihm einen kurzen Blick.
 

„Das wissen sie aber nicht. Und vielleicht … vielleicht hat sie meine Anwesenheit zu der Schlussfolgerung gebracht, dass du eine Gefahr darstellst.“
 

Nathan blinzelte. Hatte Ezra gerade gesagt, dass es an ihm lag, dass diese Typen versucht hatten, ihn umzubringen? Weil er bei ihm geblieben war? Das ergab keinen Sinn.
 

Ezra hatte seine Suche offenbar beendet und nicht gefunden, was immer es war, das ihm die zwei toten Körper hätten verraten sollen. Der Ärger darüber war deutlich sichtbar. Seine Bewegungen waren abgehackt und nur mühsam beherrscht. Er schien … frustriert. Noch einmal fiel sein Blick auf Nathan.
 

„Du solltest wirklich gehen. Ich kümmere mich um das hier.“

 

Er griff in seine Manteltasche und zog ein Mobiltelefon heraus. Bevor er wählen konnte, war Nathan bei ihm. Er hatte bereits die Hand ausgestreckt, um Ezra am Arm zu packen, als er die Bewegung gerade noch rechtzeitig abfing.

 

Was tue ich da? Er hat gerade zwei Menschen umgebracht. Damit ist er nun wirklich der Letzte, den ich verärgern sollte, wenn mir irgendetwas an meinem Leben liegt. Und doch stehe ich hier und bin kurz davor, ihm eine reinzuhauen.

 

Auch Ezra hatte sein Zögern bemerkt. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, zurückzuweichen und sich aus Nathans Reichweite zu bringen. Stattdessen blieb er stehen, anscheinend vollkommen perplex davon, dass Nathan es gewagt hatte, ihm so nahe zu kommen. Er starrte ihn an, als könne er nicht begreifen, was gerade geschehen war. Schließlich zog er die Hand mit dem Telefon zurück, ein winziges Zucken in seinem Mundwinkel.

 

„Du bist wirklich unglaublich“, murmelte er. Es klang nicht wütend oder herablassend. Auch nicht bewundernd. Eher resigniert.
 

„Dann erklär mir, was hier los ist. Was soll das alles? Warum wollten diese Leute von mir? Warum passiert das alles? Und warum bist du …“

 

Nathan verstummte. Er hatte Ezra fragen wollen, warum er sich nicht an ihre Abmachung gehalten hatte, aber im gleichen Moment war ihm die Antwort förmlich ins Gesicht gesprungen. Er selbst hatte ihn eingeladen. Gestern. Er hatte die Worte ausgesprochen, die den Bann gelöst hatten, und er hatte sie in diesem Moment auch so gemeint. Aber Ezra hatte seine Chance ungenutzt verstreichen lassen. Er war gegangen. Geradezu geflohen. Vielleicht um so etwas wie das hier zu verhindern. Er hatte Nathan gewarnt, dass es gefährlich war, sich auf ihn einzulassen. Genau wie Marvin. Aber Nathan hatte nicht hören wollen. Er hatte die Warnungen in den Wind geschlagen und jetzt ... stand er hier. In den Trümmern seines Wohnzimmers. Oh Gott!

 

Die wollten mich umbringen. Die wollten mich echt umbringen. Sie sind in mein Haus gekommen, haben mich angegriffen. Die wollten mich abmurksen. Einfach so. Und Ezra … Ach du Sch…

 

Sein Atem ging schnell und sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er schwitzte, ihm war kalt und er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Der Raum drehte sich um ihn.
 

„Nathan. Nathan, sieh mich an! Hörst du mich?“
 

Er fühlte, wie er gepackt wurde. Sie waren wieder da, sie wollten ihm wehtun. Er musste hier weg.

 

„Nathan!“
 

Ein scharfer Schmerz durchzuckte sein Bewusstsein. Sein Blick klärte sich und er sah Ezra, der ihn finster anblickte. Seine Wange brannte. Hatte Ezra ihn geschlagen?

 

„Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Ich weiß, dass du viele Fragen hast, aber ich kann sie dir nicht beantworten.“

 

Nicht jetzt und vielleicht nie.

 

Ezra hatte das nicht gesagt, aber Nathan hatte es trotzdem gehört.

 

„Das Wichtigste ist jetzt, dass du von hier verschwindest. Pack ein paar Sachen und dann flieh. So weit weg, wie es nur geht. Hast du außerhalb des Landes Freunde oder Verwandte, zu denen du gehen könntest?“

 

Nathan starrte Ezra an. Ein Bild seiner Großeltern erschien vor seinem inneren Auge. Sie wohnten mehrere Bundesstaaten weit entfernt. Nur wären sie vermutlich nicht begeistert gewesen, wenn Nathan auf einmal bei ihnen vor der Tür gestanden hätte. Außerdem konnte er nicht einfach hier weg. Er hatte einen Job. Ein Leben. Das konnte er doch nicht einfach so aufgeben. Und was war mit Marvin? War sein Freund auch in Gefahr?

 

„Ich … ich kann nicht weg.“

 

Ezra presste die Kiefer aufeinander.
 

„Du wirst sterben, wenn du bleibst.“

 

Nathan sah, dass es ihm ernst war. Seine Gedanken purzelten durcheinander.
 

„Vielleicht, wenn ich in ein Hotel gehe“, überlegte er laut. „Ich könnte …“

 

„Dort finden sie dich“, würgte Ezra ihn ab. „Außerdem kann ich mich nicht darauf verlassen, dass du auch dort bleibst. Ich will nicht, dass dir etwas geschieht.“

 

Aber ich kann mich auch nicht um dich kümmern. Jemand anderes muss das machen. Jemand, der nicht ich ist.

 

Wieder hatte Ezra nicht ausgesprochen, was ihm durch den Kopf ging, aber Nathan wusste einfach, dass es so war. Er schluckte.

 

„Ich … ich habe einen Freund. Vielleicht …“
 

Ezra ließ ihn nicht ausreden.
 

„Gut, dann hol deine Sachen. Ich werde dich hinbringen.“
 

Ezra wandte sich ab und wählte nun endlich eine Nummer auf seinem Telefon. Das Gespräch wurde sofort entgegengenommen und er begann, leise mit der Person am anderen Ende zu sprechen. Nathan verstand nicht, worum es ging, aber er versuchte auch nicht zu lauschen.

 

Marvin wird mich umbringen, dachte er noch, bevor er sich aufmachte, um seine Tasche zu packen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
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Von:  chaos-kao
2022-04-25T09:42:54+00:00 25.04.2022 11:42
Und da ist er, der Knall auf den wir alle gewartet haben. Es wundert mich ja, dass Ezra so ruhig bleiben kann obwohl Nathan nach den Flugstunden und der Prügel bestimmt irgendwo bluten muss? Ich bin auch gespannt wie er das Marvin erklären will. Und ob er überhaupt zu diesem gehen wird. Bisher kennen wir ja keine anderen Freunde. Aber ob er Marvin wirklich in Gefahr bringen will? Noch dazu ist der ja gerade anderweitig beschäftigt ... Es bleibt auf alle Fälle spannend und mit diesem Kapitel nimmt alles deutlich an Fahrt auf!
Antwort von:  Maginisha
25.04.2022 15:34
Hey chaos-kao!

Also verletzt war Nathan, das wird auch nochmal Thema werden. Aber Ezra hatte an dem Abend ja bereits gegessen, von daher war er jetzt nicht so in Versuchung. Andere Sachen haben ihn da mehr beschäftigt, während er dumm in Nathans Küche rumstand und nicht so recht wusste, wie er sich jetzt verhalten soll.

Marvin wird auf jeden Fall nicht begeistert sein, wenn Nathan bei ihm auftaucht. Noch dazu mit Anhang. Das wird mit Sicherheit spaßig. ;D

Zauberhafte Grüße
Mag


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