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Gesangstalent

von

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Der Auftritt

Am nächsten Morgen wachte Enya mit schwerem Kopf auf. Die Geschichte um diese Echotechnik hatte sie noch sehr lange wachgehalten. Dass sie diese Methode gestern per Zufall angewendet haben soll, ließ ihr keine Ruhe. Und dann auch noch direkt eine Harfe? Wie kann das passieren?

Das Buch von ihrer Großmutter beinhaltete eine Einführung und Tricks für Anfänger wie einen Ball zu erzeugen oder Gegenstände schweben zu lassen. Aber so etwas wie Instrumente war darin nicht zu finden. Enya war das zu wenig. Sie würde gerne erfahren wie die Technik genau funktioniert. Die Erklärungen in dem Buch waren nur sehr oberflächlich und wohl für Kinder gedacht, es war einfach nicht genug.

Sie schleppte sich in die Küche um etwas zu frühstücken. Sie brauchte dringend Energie für den Tag, sonst konnte sie die Probe mit ihrem Vater gleich vergessen. Ihm erzählte sie besser nichts davon, wäre eh nur „Kinderkram“ für ihn. Nach ihrem Algenmüsli, packte sie sich noch ein paar Muschelsnacks ein, für zwischendurch. Sie hatte sich entschlossen nach der Probe in der Königlichen Bibliothek über diese Technik weiter zu recherchieren. Eine kaum greifbare Idee hielt sich seit dem Gespräch mit ihrer Mutter in ihrem Kopf. Sie war noch sehr vage, doch Enya wollte sie erweitern.

Im Musikzimmer war ihr Vater wie immer in seine Notizen vertieft. Enya schwamm direkt zum Flügel und begann die Melodie der Arie zu spielen. Natürlich die offizielle. Sie bemerkte wie ihr Vater aufschauend lächelte, dann wanderte sein Blick wieder auf seine Papiere, als wollte er sagen: Spiel ruhig weiter.

Als Enyas Spiel zu Ende war, näherte sich ihr Vater dem Flügel. „Und kannst du alle Strophen?“ Prompt wurde Ihr etwas übel, das hatte sie komplett vergessen!

„Ähm, noch nicht ganz, ein paar Zeilen sitzen noch nicht so wirklich.“, log Enya und blickte unsicher aus dem Fenster.

„Hm, in Ordnung, dann arbeiten wir jetzt erst mal an den Tönen, die wir gestern besprochen haben und die Hälfte der Probe nutzt du dann zum Text lernen. Am Schluss trägst du sie mir alle einmal vor. Je nachdem legen wir heute Abend noch mal eine Probe fest.“

Das klang wie eine unumgängliche Tatsache, nicht wie etwas, über das man verhandeln könnte. Enyas Tatendrang vom Frühstück verschwand allmählich endgültig und die vage Idee verblasste noch mehr.

„In Ordnung Vater.“

„Dann nimm deine Haltung ein.“

Enya bewegte sich in die Mitte des Raumes und straffte ihre Schultern.

„Dann üben wir jetzt die hohen Töne. Wärme dich kurz auf.“

Die Probe dauerte gefühlt doppelt so lange wie die gestrige. Erst ein endloses Üben der hohen Töne, dann korrigierte er immer wieder ihre Haltung. Enya schloss immer wieder unbewusst die Augen beim Singen und ihr Rücken rundete sich mit jeder Strophe mehr. Irgendwann begann ihr Vater sie ins Kreuz zu schlagen, zwar sehr leicht, dennoch mit Druck.

Als die hohen Töne soweit saßen, musste sie die Arie mehrmals komplett vortragen. Da sie den Text ab Strophe 4 nicht so gut beherrschte, las sie ihn von einem Blatt ab. So musste sie zumindest die Augen offen halten, stichelte ihr Vater.

Am Ende konnte man behaupten, dass Enya den Text zu 80 Prozent fehlerfrei beherrschte und ihre Haltung passabel war. Dadurch entging sie knapp einer weiteren Probe am Abend. Sie sollte ihm und ihrer Mutter am Abend nur die Arie komplett ohne Spickzettel vorsingen, um zu zeigen dass sie den Text vollständig gelernt hatte.

Damit gab sich Enya zufrieden und verließ das Musikzimmer, das ihr immer mehr wie ein Zimmer für Strafarbeiten in der Schule vorkam.

Nach einer kurzen Pause machte sie sich direkt auf den Weg in die Königliche Bibliothek. Dafür schwamm Enya am Haupttor des Schlosses vorbei in Richtung des Nebengebäudes. Natürlich könnte man auch durch den Haupteingang hinein, aber dann würde man von allen Wachposten angestarrt und gefragt werden wo man hinmöchte. Am Schlimmsten wäre es, wenn Bekannte ihrer Eltern sie erkennen würden und anfingen zu plaudern. Wie groß sie geworden sei, wann sie endlich den Orchester beitrete und, und, und. Durch das Nebengebäude, welches an den Westflügel direkt angrenzt, dürfen auch zivile Meeresbewohner das Schloss betreten. Über einen Zwischengang gelangt man direkt zur Bibliothek oder zur Anmeldung, für den Fall, dass man ein Anliegen für das Königspaar vorzutragen hat. Auch die Anmeldungen für offene Stellen werden über das Nebengebäude gesteuert. Den Eingang mochte Enya schon immer lieber und das nicht nur, weil sie dadurch mit weniger Leuten interagieren musste. Es herrschte hier eine angenehme Atmosphäre. Das Gebäude selbst befand sich in einer riesigen Spiralmuschel. Man schwamm durch die Spirale nach oben zu dem Durchgang des Westflügels. Es wirkte nicht so überdimensional wie das Schloss selbst.

Enya steuerte direkt die Tür rechts mit dem goldenen Schild „Bibliothek“ an. Ihr stockte der Atem, wie eigentlich jedes Mal wenn sie diesen Raum betrat. Bücherregale soweit das Auge reichte. Enya war sich unsicher, ob sie den Raum schon jemals komplett durchschwommen hatte oder ob das überhaupt schon einmal jemand geschafft hatte. An den Außenwänden sah sie Aufgänge zu einer zweiten Ebene mit noch mehr Regalen. Das komplette Wissen des gesamten Ozeans und bestimmt auch vieles von der Oberwelt war hier auf einem Fleck zu finden. Unbewusst schweifte ihr Blick über die Schilder der Kategorien und blieb wie immer bei Märchen und Legenden hängen. Sie schüttelte kurz den Kopf. Heute nicht. Sie zog das Buch ihrer Mutter aus der Tasche. „Echotechnik“ Was für eine Kategorie könnte das sein? Enya überflog die verschiedenen Schilder und schwamm quer durch den Raum. Natur, Tiere, Biologie, Wirtschaft, Finanzwesen, Kochbücher, gefolgt von Fiktion, Märchen, Legenden, Romane, Comics. Sie schwamm gefühlt alle Regal ab, fand aber keine Überschrift, die ihr zusagte. Schließlich beschloss sie einen Mitarbeiter zu fragen. Sie zeigte einem jungen Meermann, der gerade die Bücher im Finanzsektor umsortierte das Buch ihrer Mutter.

„Entschuldigung? Habt ihr vielleicht ähnliche Bücher hier?“

Er murmelte den Titel nach und überlegte kurz. „Die müsstest du im Regal für Kampftechniken finden.“

Enya war freudig überrascht. „Vielen Dank!“ Direkt machte sie sich auf die Suche nach besagtem Regal. Es befand sich auf der zweiten Ebene, schräg links von ihr. Kampftechniken, da hätte sie tatsächlich nie danach gesucht.

Enya schwamm das Regal mit verdrehtem Kopf langsam ab, um die Titel auf den Buchrücken lesen zu können. „Kampfsport zur Selbstverteidigung“, „Schwertkampf für Anfänger“, „Speerwerfen“. Und hier sollten wirklich Bücher zur Echotechnik sein? Enya trieb an mehreren Regalen in der Abteilung vorbei ohne auch nur ein Buch zu finden, welches entfernt nach der Methode klang. Doch endlich sah sie ein Licht. Im obersten Regal, versteckt zwischen zwei herausragenden Büchern las sie den Titel „Gegenstände mit Echo herstellen und kontrollieren – mit Entstehungsgeschichte der einzigartigen Technik.“

Enya schnappte sich das Buch und las den Klappentext. Ihre Augen weiteten sich. Dieses Buch vereinte das gesamte Wissen über die Technik, ihre Anwendung und ihre Entstehungsgeschichte. Genau das was sie suchte. Von jetzt auf gleich war sie aufgedreht, sie wusste schon gar nicht mehr wo der Ausgang war. Am liebsten würde sie das Buch auf der Stelle lesen, doch sie zügelte sich. Sie brauchte Ruhe um sich zu konzentrieren. Nachdem sie sich mehrmals um sich selbst gedreht hatte, sah Enya die Tür. Sie hielt bei der Theke um das Buch auszuleihen, und war kaum, dass sie den Zettel bekam, schon aus der Bibliothek verschwunden.

Sie wusste selbst nicht genau wieso, aber sie hatte das dringende Bedürfnis zur heiligen Stätte zu schwimmen und dort das Buch zu lesen. Sie gabelte Delf bei ihm zu Hause auf. Er behauptete zwar sehr beschäftigt zu sein, doch als Enya ihm das Buch zeigte und erwähnte, darin fände sich die Erklärung für alles, entschied er sich, das was auch immer er tat, zu vertagen. So schwammen die Zwei zurück zur Bühne und setzten sich auf die Wiese, auf der Enya schon gestern ihre Zeit mit Lesen verbracht hatte.

Enyas Herz raste, dabei war es nur ein Buch. Doch seitdem sie es in die Finger bekommen hatte, war ihre vage Idee von heute Morgen wieder zurückgekehrt. Und sie war sich sicher, diese nicht mehr los zu werden.

„Hier die Entstehungsgeschichte. Siehst dus?“

„Ja, ich kann auch lesen Enya.“

Ursprünglich war die Technik entwickelt worden, um die Gesänge der Wale zu imitieren bzw. um mit Walen zu kommunizieren. Doch per Zufall wurde ein Waljunges entdeckt, dessen Gesang sich leicht in der Tonart von den Anderen unterschied. Das Wasser um den Wal sprudelte und schlug Wellen, wann immer er sang. Das weckte die Neugier von einigen Forschern und sie freundeten sich mit dem Jungen an. Bei den weiteren Untersuchungen fanden sie heraus, dass das Echo des Gesanges in Resonanz mit dem Wasser gelangte, was dann die Bewegungen im Wasser hervorrief. Jahrelang wurde weiter untersucht, bis Forscher in der Lage waren eigene Melodien so zu komponieren, dass das Wasser um sie herum sich so formte, wie sie es wollten.

„Der Wahnsinn!“ Enya war fasziniert.

Besonders Zauberkünstler und Meermenschen im Unterhaltungsbereich lernten die Methode für ihre Shows. Doch nach wenigen Jahren und mit dem Fortschritt der Technik verschwand das Interesse an „Zaubertricks“, weshalb es heute kaum noch jemanden gab, der diese Technik beherrschte.

„Also bedeutet das, dass dieses Notenblatt von der Arie zufälligerweise in der Tonart geschrieben wurde, durch die sich eine Harfe aus Wasser formt. Irgendwie ernüchternd. Hatte schon auf etwas mehr Geheimnisse und Action gehofft“, motzte Delf neben Enyas Kopf, „So etwas mit Magie und Prophezeiungen und du wärst die Auserwählte. Du weißt schon, was ich meine.“

Enya blickte ihren Freund schief an. „Hast du dir wieder ‚Der Herr der Ringelmuschel‘ angeschaut‘?

„Nein“, zog der Falterfisch das Wort beleidigt in die Länge. „Ich habe das Buch gelesen! Das ist ein Unterschied!“

„Okay, okay. Pass auf. Ich werde versuchen die Harfe nochmal herzuzaubern.“

„Das ist kein Zauber.“

„Ja, was auch immer.“

„Warum willst du das überhaupt können? Ist doch nur ein Taschenspielertrick.“

„Mag sein, aber ich habe da eine Idee. Für meinen Auftritt übermorgen.“

Delfs Augen weiteten sich. „Was? Du willst deinen Auftritt damit aufpolieren? Meinst du nicht, dass du nur Riesenärger bekommst, wenn du an dem Traditionstag mit Zaubertricks auf die Bühne gehst?“

„Möglich, aber ich habe mir etwas überlegt. Wenn ich schon zu einen total ätzenden Auftritt gezwungen werde, der überhaupt nichts mit mir als Musikerin zu tun hat, dann werde ich diesem Auftritt einfach meine persönliche Note geben.“ Enya lächelte und das zum ersten Mal, während sie an ihren Auftritt dachte. „Jetzt heißt es auf jeden Fall üben, üben, üben.“

Den restlichen Nachmittag verbrachten die beiden auf der Wiese und Enya versuchte erst übermütig die Harfe wieder herzustellen, doch vor Aufregung traf sie die nötigen Töne nicht. Das Wasser sprudelte nur auf und ab. Dann versuchte sie sich an den Anfängertricks aus dem Buch ihrer Großmutter. Die kleinen klappten ohne Probleme, auch die Bücher schweben zu lassen, war eine leichte Übung. Dann schwamm Enya auf die Bühne und nahm ihre geübte Haltung ein. Rücken gerade, Gesicht geradeaus und die Schultern entspannt. Sie konzentrierte sich. Sie begann zu Singen. Das Wasser sprudelte und die Luftblasen schwebten in Kreisen um sie herum. Sie bemühte sich dieses Mal die Kontrolle zu bewahren und atmete wie trainiert. Die Blasen sammelten sich vor ihr und begannen sich zu verformen. Schon kurz darauf war die Form einer Harfe zu erkennen, doch Enya zwang sich die Melodie bis zum Ende zu singen. In dem Buch aus der Bibliothek hatte sie gelesen, wie wichtig es war die Melodien komplett zu singen, damit die Gegenstände ihre Form auch so lange behielten wie beabsichtigt.

Als sie fertig war, stand eine wunderschöne transparente Harfe vor ihr auf der Bühne. Das Wasser floss der Form nach, wie flüssiges Glas. Delf war inzwischen näher gekommen um die Harfe näher anzuschauen. „Jetzt ist es auch nicht mehr so gruselig wie gestern.“

„Ja, wer hätte gedacht, dass das Proben mit Vater dafür auch nützlich ist.“

Ihre Finger streichelten die Harfe sanft und sie ließ die Finger über die Saiten gleiten. Wieder ertönte der wunderschöne Klang, der mit nichts zu vergleichen war, was die Freunde bisher gehört hatten.

„Und was ist jetzt genau dein Plan?“

„Hier ich zeig es dir.“

Am nächsten Tag schwamm Enya sogar früher zum Musikzimmer. Sie konnte die letzte Probe vor dem Auftritt kaum noch erwarten, denn endlich hatte sie etwas worauf sie sich freuen konnte.

„Vater? Können wir heute etwas früher beginnen?“

Ihr Vater schaute überrascht von seinem Tisch auf. „Na sowas, bist du aus dem Bett gefallen? Ja natürlich können wir früher beginnen, einen Moment noch.“

Während sich ihr Vater sortierte, schwamm Enya wieder zum Flügel und begann zu spielen. Dieses Mal sang sie direkt mit, sehr zur Verwunderung ihres Vaters. Er näherte sich dem Flügel, als sie bei der dritten Strophe war und lauschte konzentriert. Enya sang alle Strophen fehlerfrei und auch ihre Schwachstellen waren kaum mehr zu hören.

„Sehr schön! Was ein bisschen Proben und Arbeit nicht alles bewirken kann.“

„Ja ich bin auch etwas stolz“, lächelte Enya verlegen. Ihr Lampenfieber war immer noch ihr größtes Problem. Vor ihrem Vater zu singen war inzwischen keine Herausforderung mehr und das war viel wert.

„Dann arbeiten wir heute nur noch an den Details. Soll ich dich dieses Mal am Flügel begleiten?“

„Ja, unbedingt!“, jauchzte sie. Enya konnte sich kaum erinnern, wann ihr Vater einfach mal so Klavier gespielt hatte.

Sie nahm ihre Haltung ein und schaute zu ihrem Vater. Er gab ihr ein Zeichnen für ihren Einsatz. Sie sang. Klar und deutlich. Berührend und mit Respekt. Sie empfand in diesem Moment so Vieles und war doch nicht in der Lage ihre Emotionen zu beschreiben. Sie fühlte sich wohl und mit ihrem Vater verbunden. Was hatte sie solche Gefühle der Geborgenheit vermisst. Sie blickte zu ihm und sah das Lächeln auf seinen Lippen. Ihm ging es wohl genauso. Ihre Schuppen verfärbten sich von Tiefblau in ein sanftes violett. Mit ein paar deckenden Magenta Tönen dazwischen. Genau die Farben die ihre Mutter am Abend vorschlug, als sie von dem unheilvollen Auftritt erfuhr. Das meinte sie wohl mit Emotionen übermitteln.

Die Probe verging diesmal wie im Flug, obwohl sie sogar länger übten als ursprünglich geplant war. Doch ihr Vater wusste nicht, dass seine Tochter für ihren Auftritt noch etwas anderes geplant hatte, als das was sie probten.

Dann war der Tag der Zeremonie gekommen. Enya wurde mit jeder Minute angespannter. Ganz früh war sie mit ihren Eltern zur heiligen Stätte geschwommen. Das Orchester bereitete sich ebenfalls auf seinen späteren Auftritt vor und baute um die Bühne herum alles auf. Auf der Bühne selbst würde nur Enya sein.

Ihre Mutter bemerkte das Zittern ihrer Tochter. „Atme tief durch, Schätzchen, du schaffst das. Wenn du wüsstest, wie sehr dein Vater gestern von dir geschwärmt hat.“ Sie streichelte beruhigend über die Arme ihrer Tochter und schmiegte sich an ihren Rücken, während sie ihr einen Kuss auf die Stirn gab.

Enya genoss die Wärme und versuchte ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen.

So langsam füllte sich der Platz um die Bühne, das Publikum wurde immer größer. Auch die sieben Königfamilien trafen ein und tauschten Höflichkeiten miteinander aus. Gleich ging es los. „Verdammt warum muss ich die Eröffnung sein?“, fluchte Enya innerlich. Ihre Schuppen funkelten in rot und grün nervös hin und her, genauso wie ihr Herzschlag. Vielleicht sollte sie einfach den Standard Auftritt hinlegen, ihre Idee war ja total dämlich und peinlich. Sie blickte über die Reihen der Zuschauer. Dunkelbau und blassblau. Manche trugen schwarz dazwischen. Es gab kaum Unterschiede. Die Blicke der Meermenschen fühlten sich bereits jetzt wie Messerstiche an. Enya schaute zum Orchester und auch hier trugen alle die gleichen Grautöne. Sie fühlte sich auf einmal unfassbar müde, ihre Augen fielen auf Halbmast. Genau das war der Grund, weshalb sie nicht ins Orchester wollte. Alles gleich, alles traditionell, alles trist. Sie holte ihr Märchenbuch aus ihrer Tasche und strich sanft über das Cover. Es war zu einer Art Talisman für sie geworden. Sie legte das Notenblatt auf das Buch und betrachtete es still. Sie wollte ihrem Auftritt eine persönliche Note geben. Das war ihre Chance! Ihre Augen waren wieder hellwach und ihre Schuppen beruhigten sich auch wieder auf Blau und Lavendel.

„Enya, Du bist dran!“, hörte sie ihren Vater flüstern.

Sie schluckte ihren Kloß im Hals herunter, zumindest redete sie sich das ein, atmete tief ein und aus. Dann schwamm sie auf die Bühne.

Sie nahm ihre Haltung ein und blickte auf das Publikum, sie blendete die Messer aus. Stille. Dann begann sie zu singen, aber nicht die geprobte Version, sondern nur die Melodie von dem Notenblatt ohne Text.

Ihrem Vater stand der Schock ins Gesicht geschrieben, doch Enya hatte gelernt alles um sich auszublenden, wenn sie sich konzentrierte. Sie spürte die Luftblasen um sich herum, sie kitzelten leicht an ihren Armen. In Form einer Spirale sprudelten sie Richtung Oberfläche. Als würden sie zur gesungenen Melodie tanzen, bewegten sich die einzelnen Blasen auf und ab. Ein Raunen war im Publikum zu hören.

Dann manifestierte sich langsam die Harfe vor der Sängerin.

Das Grinsen ihrer Mutter, war ihr nicht entgangen, dennoch blieb sie fokussiert bis zum Ende der Melodie. Die Farben ihrer Schuppen nahmen nun langsam ein wunderschönes Türkis ein, mit einzelnen Magenta Schuppen dazwischen. Sie funkelten und leuchteten zwischen allen anderen, ein herausstechender Farbtupfer im Zentrum der Tradition.

Eine ehrfürchtige Stille folgte auf Enyas Melodie. Sie bewegte sich auf die transparente Wasserharfe zu und lehnte sie sich gegen ihre Schulter. Delf hatte ihr unbemerkt einen Hocker auf die Bühne geschoben, als alle gebannt auf die Luftblasen gestarrt haben.

Dann begann Enya mit der eigentlich geprobten Version der Arie. Sie begleitete sich selbst dabei auf der wunderschönen Wasserharfe. Die Töne der Harfe schwebten sanft über die Zuhörer hinweg, so klar, so ehrlich. Darüber ihre Stimme voller Emotion und Respekt gegenüber dem, was sie sang. Die Harmonie ihrer Stimme mit den Klängen der Harfe verursachte ein angenehmes zittern im Ozean, wie Gänsehaut. Das Publikum lauschte gebannt. Einige fingen an zu weinen, andere lächelten nur, auch diejenigen welche schon lange nicht mehr gelächelt hatten. So etwas hatte hier in diesem Königreich noch niemand gehört. Oder schon sehr lange nicht mehr.

Zum Ende des Liedes strich Enya nochmals über alle Saiten der Harfe. Dann erhob sie sich und genau in dem Moment löste sich die Harfe in unzähligen Blasen auf. Sie blickte auf das Publikum.

Die Stille zerriss Enya innerlich, während die letzten Bläschen ihre Arme streichelten. Sie wartete auf irgendeine Reaktion. Es folgte tosender Applaus und Jubelrufe. Ihr Herz setzte kurz aus, doch ihre Panik löste sich in Euphorie auf. Enya lachte, von ganzen Herzen lachte sie auf der Bühne vor dem Publikum. Sie hob ihre Arme und verbeugte sich, was den Applaus nochmals verstärkte. Dann suchte sie den Blick ihres Vaters. Er nickte ihr zu, mit Tränen in den Augen. Ihre Mutter lehnte an seiner Schulter und lächelte ihrer Tochter mit voller Stolz entgegen. Da spürte sie wieder das Gefühl von Verbundenheit und fühlte wie auch ihr eine Träne an ihrer Wange herunterlief. Sie schwamm auf ihre Eltern zu und fiel ihnen in die Arme. Delf kuschelte sich in ihre Haare. Die Tränen des Glückes ließ sie nun ungehindert laufen und drückte ihre Mutter und ihren Vater fester an sich. „Danke!“ gluckste sie und genoss die Umarmung ihrer Familie.

„Enya, das war wunderschön. Wie hast du…?“ Ihrem Vater versagte die Stimme und er drückte sie noch fester an sich.

„Ich hoffe du bist mir nicht böse, Papa.“

„Wie könnte ich dir böse sein. Du bist wahrlich eine Meisterin der Harfe.“

Bei dem Titel musste Enya lachen.

So lauschte die kleine Familie den weiteren Beiträgen der Zeremonie. Immer wieder wurden sie angesprochen und Enya konnte sich vor Gratulanten zu ihrem Auftritt kaum retten. Selbst das Königspaar fand ein paar Minuten Zeit, um der Familie ihre Glückwünsche auszudrücken. Dass der Tag der Zeremonie so enden würde, hätte sich Enya noch vor ein paar Tagen nicht träumen lassen.

Sie blickte über die Menge und zur Bühne und lächelte.



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