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Steingeplätscher

von

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Steingeplätscher

Territorium des Warschauer Garnison Stützpunktes,

228. Jahr der Revolution
 


 

oOo
 


 

Wie war sie hierhergekommen?
 

Wo war sie?
 

Was war passiert?
 

Sie wusste es nicht. Je mehr sie versuchte sich zu erinnern, desto mehr verschwanden ihre Erinnerungen. Sie konnte nichts sehen, die Dunkelheit nahm ihr die Sicht. Rabenschwarz; alles um sie herum war schwarz. Es war wie ein Loch, in das sie fiel.
 

Ich falle...?
 

Ja, das war es, was hier passierte, dachte sie sich. Und dennoch; obwohl sie fiel, war es ihr nicht möglich, sich zu bewegen. Irgendetwas hielt sie gefangen.
 

Wo war sie?
 

Was passierte hier?
 

Eine Eiseskälte durchfuhr sie, als sie die Wand an ihrem Rücken spürte. Eine Wand aus Stein. Und sie dicht an ihr. Ihr Körper verlor mit jedem weiteren Herzschlag an Wärme, ihr wurde kalt. Es war, als würde das raue Gestein all ihre Lebensenergie aus ihr heraussaugen. Mit jedem weiteren Impuls fühlte sie die Temperatur sinken.
 

So kalt...
 

Ihre Muskeln begannen zu schmerzen, ihre Haut brannte vor Kälte. Wo waren ihre Kleider? Hatte man sie ausgezogen? Wer hatte sie ausgezogen? Wieso war sie nackt? Wer hielt sie fest? Wieso war es ihr nicht möglich sich zu bewegen? Sie war vollkommen von Finsternis und Frost umgeben und da war nichts, was sie sonst noch innerhalb ihrer Reichweite wahrnehmen konnte.
 

Und dennoch wusste sie, dass sie nicht allein war. Da war etwas - jemand.
 

Jemand war bei ihr.
 

Sie müsste sich nur anstrengen, dann könnte sie es erkennen. Wenn sie sich nur mehr Mühe geben und sich nicht ihrer Angst und Unsicherheit hingeben würde, sondern sich zur Konzentration zwang. Wenn sie nur ihre Gedanken ordnen könnte.

Ihre Wahrnehmung klärte sich, doch je deutlicher es wurde, desto tiefer kroch die Furcht und der Schock in ihr bis in ihre Knochen.
 

Jemand presste ihren entblößten Körper gegen das eisige Gestein an ihrem Rücken. Es war so kalt - ihre Glieder versteinert, die Muskeln erschlafft aus Kälte und Angst.
 

Was...?
 

Sie wollte schreien und fühlte ihre Lippen, die sich zwar zitternd öffneten, aber es ihr doch nicht gestatteten um Hilfe zu rufen. Ihre Kehle blieb stumm und trocken. Ihre Sinne spielten ihr einen Streich und die Angst raubte ihr langsam die Kontrolle über ihr Empfinden, über ihr Selbst und ihren Verstand.

Obwohl die Kälte unaufhaltsam von allen Seiten auf sie eindrang, wusste sie, dass die Ursache ebendieser direkt vor ihr stand.

Sie wagte es nicht, ihre Lider zu senken, starrte weiter in diese Finsternis, in die sie fiel und die sie gleichzeitig gefangen hielt. War es wirklich Finsternis? Sie war gänzlich von ihr umgeben, endlose Schwärze, eine Wand aus Stein in ihrem Rücken und dieser harte Druck an ihren Handgelenken. Stählern. Und dennoch fühlte sich etwas an dem Gedanken, dass Klauen der Finsternis sie umschlossen, falsch an.
 

Es durchfuhr sie wie ein Blitz und sie fühlte den Schock ihre Knochen entlang wandern, als sie realisierte, was diese vermeintliche Finsternis war, in die sie blickte, in der sie sich zu verlieren schien.
 

Es war nichts anderes als die unnachgiebige Unberührtheit zweier Iriden. Kalt wie Eis, leblos. Ein letales Blau, das sie anvisierte und doch durch sie hindurch blickte.
 

„A....Akito...?“
 

Sie fühlte sich nackt vor ihm - sie war es. Was zur Hölle passierte hier? Es war sein stählerner Griff, der sie packte. Es war seine Kraft, die sie gegen die Wand presste. Es war seine Ausstrahlung, die sie bis ins Mark spürte und sie frösteln ließ. Aber warum? Es war so kalt. Er war es. Und trotz allem wusste sie, dass sie nicht mehr fiel. Sie war hier direkt vor ihm. Gefangen und ihm schutzlos ausgeliefert. Es war Akito, der vor ihr stand. Der durch sie hindurch blickte. Der sie in dieser fatalen Stille festhielt.
 

„Meine Hure, genau das wirst du sein!“ Wie ein Donner durchfuhr der Schall ihren Körper, als sie die Stimme vernahm, die wie ein Unwetter die Stille durchbrach. „Du wirst meine Geliebte sein!“
 

Johann?!
 

Aber sie konnte nur Akito sehen. Da stand nur Akito vor ihr. Die Wand aus Stein hinter ihr und vor ihr Akitos Mauer aus Stahl. Aber das war doch die Johanns Stimme? Es waren seine Worte.

Sie spürte eiskalte Finger, die an ihrem Körper hinauf glitten, eine raue Hand, die ihre Haut und ihr Fleisch packte.
 

„Das passt doch gut zu dir Leila!“ Sie hörte, wie Spott und Hohn im Raum verhallten, spürte ihn an ihrer bloßen Haut und vermochte es nicht, ihren Blick zu senken. Sie konnte ihre Augen nicht von Akitos Gesicht wenden. Akito, der sie mit dieser Unverfrorenheit ansah.
 

Da war dieses Lächeln, das sein Gesicht zierte, verbunden mit diesem Wahnsinn in seinen Augen. Den Wahnsinn, dem er auf dem Schlachtfeld entgegentrat. Es war jenes morbide Grinsen, welches sie schon einmal an ihm gesehen hatte. Eine groteske Fratze.
 

War es seine Hand, deren Berührungen sie abwärts ihres Oberkörpers spürte? Waren es seine Finger an ihrem Unterleib? War es wirklich Akito, der sie mehr und mehr gegen diese Wand presste? Der sie mit dieser diabolischen Morbidität fixierte?
 

Amüsierte ihn ihre Angst? Ihrer Schwäche und Schutzlosigkeit? Sie fühlte sich so ausgeliefert. Und sie war es. Wieso war sie hier? Was passierte hier und warum? War das die Strafe für das Suizid-Kommando Anous, das sie zu spät aufgehalten hatte? War es für all die jungen Soldaten, die wegen der Wyvern-Einheit bereits ihr Leben lassen mussten? Ihrer Einheit.
 

Sie fühlte ihn näherkommen. Näher und näher. Das Vordringen seiner Berührungen, seiner Hand und jedes einzelnen seiner eiskalten Finger. Näher und näher, tiefer und tiefer; und die Wand, deren kleine Erhebungen sich in ihren Rücken bohrten. Sein eisiger Atem an ihren Wangen.
 

Der Wahnsinn in seinen Augen ließ ihren Atem stocken und sie spürte ihr Herz von innen gegen ihren Körper pochen. Ihre Muskeln waren starr vor Angst und sie spürte den Schreck bis in ihre Knochen.
 

Akito... Akito... Akito... Akito...
 

„Stirb!“
 


 

oOo
 

„Nein!“
 

Sie schreckte auf, aufgerüttelt von den Gespinsten, die sie heimsuchten und durch ihren eigenen Schrei, der nach endloser Zeit letztendlich ihre Lippen verließ. Ihre Haut und Kleider waren verschwitzt von dem Horror, der immer noch in ihr wütete. Ihre Atmung schwer und geprägt von den Streichen, die ihr ihr Verstand spielte.

Um sie herum war es still und dunkel, nur der gleichmäßige Atem der anderen war zu hören.
 

Es war also alles nur ein Traum.
 

Als sie sich aufsetzte, spürte sie einen Arm, der sie umklammerte und fest in seinem Griff gefangen hielt.

„Ayano...“ Das Mädchen lag tief und friedlich schlummernd neben ihr und hatte sich eng um Leilas Körper geschlungen. Ayano hielt sie nicht nur so fest wie einen Teddybär, sondern klemmte sie auch noch zwischen sich selbst und dem kühlen Blech der Wagonwand an ihrem Rücken ein.
 

Leila Malcal atmete erleichtert aus. Deshalb hatte sich ihr Traum also so real angefühlt; sie hatte wirklich eine Wand im Rücken.

Behutsam fuhr sie mit ihrer Hand durch das dunkle Haar der Frau, der sie mitunter den Erfolg ihrer Einheit und das Leben vieler Menschen anvertraut hatte - auch ihr Leben. Sie sah so friedlich und unschuldig aus, wenn sie schlief. Als hätte der Wahnsinn dieser Welt es noch nicht geschafft, den Krieg in ihre Träume zu bringen. Als wäre sie ein ganz normales Mädchen und nicht die Pilotin eines Alexander, mit dem Auftrag den Feind aus dem Hinterhalt anzugreifen.
 

Vorsichtig und darauf bedacht, Ayano nicht zu wecken, wand sie sich aus ihrer eiserner Umklammerung und stieg aus ihrem gemeinsamen Bett weit oben unter dem Dach des Reisewagens. Sie musste hier raus, sie brauchte frische Luft. Sie wollte jetzt nicht in diesem Wagon bleiben. Noch immer fühlte es sich an, als wäre sie inmitten des Geschehens, gefangen in ihrem Traum. An einer Wand, entblößt und ausgeliefert.
 

„...Akito“
 

Mit einem schnellen Griff entledigte sie sich ihres nassen Gewands und zog sich ein herumliegendes Top über.
 

Seit bereits über zwei Wochen lebten sie mit den alten Damen in ihrer Karawane, Zigeunerinnen, die ihr Leben in gewohnten Bahnen weiterlebten und sich von dem Krieg nicht beirren ließen, der in so greifbarer Nähe war. Und obwohl sie Soldaten waren, hatten die älteren Damen sie bei sich aufgenommen und ihnen Verpflegung, Kleidung und einen Schlafplatz geboten.

Nach ihrer Mission in Slonim war dies letztendlich der einzige Unterschlupf, der ihnen gewährt wurde, seitdem ihre IDs gesperrt wurden. Sie konnten nicht zur Warschauer Garnison zurück, ihre Zugänge waren gesperrt und hätten sie die Gruppe der älteren Damen nicht getroffen, wer weiß, was sie getan hätten. Auch wenn die Ladys sie ursprünglich um ihr Geld bringen wollten. Leila konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, wenn sie sich daran erinnerte.

Sie schätzte die Gastfreundschaft, die ihnen von den Frauen entgegengebracht wurde - vor allem jetzt, da der Krieg allgegenwärtig war und ein jeder des anderen Feind sein konnte.

Das Leben hier wirkte so friedlich und der Horror des Schlachtfeldes, der Tod, der ihnen dort auflauerte, so unwirklich.
 

Das Lächeln verschwand aus ihren Zügen.
 

Der Aufstieg des Heiligen Imperium Britannias, die Übernahme Japans vor sieben Jahren und dessen Kolonialisierung als Gebiet 11, der Widerstand der Europäischen Republik… die Kriegsgeflechte hatten kein Ende genommen. Doch so sehr sie den Krieg auch hasste, all ihre Verluste durften nicht umsonst gewesen sein.
 

Eines Tages wollte sie gemeinsam mit den anderen Japan besuchen.
 

Als Leila die Tür des Wagons hinter sich schloss und das kalte Blech der Stufen an ihren Fußsohlen spürte, beruhigte sich ihr Gemüt und sie entspannte sich mit dem Plätschern des Wassers und des sanften Windes Stück für Stück.
 

Leichtfüßig überbrückte sie die kurze Entfernung zum Fluss, blieb an seinem Ufer stehen und musterte das dunkle Nass, wie es unaufhörlich weiterfloss.
 

Dem Wasser war es egal, ob die Welt durch Krieg entzweit würde, ob Britannias Herrschaft sich ausweitete und ob das Japanische Volk seiner Existenz nicht nur durch den Verlust seines Namens, sondern auch durch Auslöschung seiner Angehörigen beraubt wurde. Es war irrelevant, wessen Blut sich mit seinem Klar vermischte. Das Wasser nahm das vergossene Blut als ein Teil von sich auf und trug es mit sich; völlig ungestört, als wäre nichts gewesen. Es würde einfach weiterfließen - genau wie die Zeit.

Sie beobachtete die ruhige Strömung, die Dunkelheit, die sie bei Nacht aufnahm und den Mond, der sich verschwommen in der fließenden Naturgewalt spiegelte. Ruhig, dunkel und klar – sollte dies wirklich der Spiegel der Welt sein? Die Welt in der sie lebten war nicht ruhig. Sie nahm nicht jegliche Flüssigkeit gleich ihrer Beschaffenheit, Farbe oder Herkunft auf. Dieser blaue Planet, auf dem sie sich bewegten, kämpfte, tötete und klassifizierte sie aufgrund der Erde, auf welcher sie geboren wurden. Japaner wurden in keinem Land mehr aufgenommen, ihr Blut floss in Strömen für das Leben derer, die es laut Gesellschaft wert waren; Bürger, deren Existenz und Sein akzeptiert wurde.
 

Es machte sie krank mitanzusehen, dass das Leben eines Japaners nichts zählte. Der Wert eines Menschenlebens – das Leben einer ganzen Nation – ausgelöscht. Innerhalb kürzester Zeit war die Existenz der Japaner unterjocht worden, sie waren keine Bürger mehr – nur Elevens. Sie hatten kein Land und keinen Ort mehr, dem sie noch angehörten.
 

Weil man es ihnen blutrünstig genommen hatte.
 

Das Blut, das zwar durch sie alle floss, war dennoch nicht mehr für alle dasselbe; es machte sie nicht länger, wie es eigentlich sein sollte, zu einem Ganzen – zu Menschen.
 

Dieser blaue Planet würde schon bald nur noch eine verwüstete Landschaft sein, deren blutgetränkter Boden keinen Halt mehr gab. Doch all das spiegelte der Fluss vor ihr nicht wider. Er war nicht der Spiegel ihres Diesseits. Er war nur ruhig, dunkel und floss unaufhörlich weiter so wie auch die Welt sich drehte.
 

Gedankenversunken setzte sie sich auf einen der am Ufer gelegenen Felsen, fühlte seine Kälte an ihrer Haut. Kaltes Gestein an ihrem Körper, wie in ihrem Traum. Sie löste den Blick nicht von der Flussströmung, versuchte ihre Gedanken wieder in eine gerade Linie zu lenken. Doch je verzweifelter sie es versuchte, desto mehr dachte sie an ihren Traum und all die wirren Assoziationen, die ihr Gehirn ihr gnadenlos vor die Füße warf.

Sie stand noch immer neben sich und mit jeder weiteren Minute, die sie in das Wasser starrte, manifestierten sich mehr und mehr Akitos Augen vor ihr. Das tiefe Blau, in dem sie sich verlieren konnte, wenn sie nicht aufpasste. Iriden, die sonst so kalt und gleichgültig wirkten und im nächsten Moment diese grenzenlose Trauer und Intensität verströmten... Und dann gab es noch diese Momente, in denen...
 

„Eben weil wir Brüder sind, weil das gleiche Blut in unseren Adern fließt, will er mich töten.“
 

„Ich starb einst. Und genau deshalb werde ich diesen Gefallen erwidern und ihn dieses Mal töten!“
 

… in denen sie diese Aggressivität und diesen Wahnsinn in seinen Augen, nein, in seiner ganzen Ausstrahlung sehen konnte. Diese groteske Morbidität.

Sie erinnerte sich an jedes Detail. Er hatte sie in ihrer Bewegung gestoppt, hielt ihr Handgelenk fest umschlossen und hatte sich ihr ganz zugewandt. Seine sonst so ruhige unergründliche Fassade und die Loyalität in seinen Zügen waren gänzlich verschwunden. Mit seinen Worten hatte er sich endgültig ihrer ganzen Wahrnehmung bemächtigt. Für einen Moment hatte ihr alles an ihm Angst eingejagt. Diese Angst und der Schock, die sie in dieser Situation ergriffen hatten, hatten sie eisern festgehalten und ihr keine Möglichkeit gelassen, zu reagieren.

Sie spürte erneut die eisige Kälte, die sich allein bei dem Gedanken daran bis tief in ihre Glieder ihren Weg bahnte und ihr langsam den Rücken hinab schlich. Es war, als wäre eine völlig fremde Person in diesem Augenblick vor ihr gestanden. Ein Akito, den sie nicht kannte.
 

Sie schluckte und versuchte, jene Erinnerung zu verdrängen. Blanker Irrsinn. Sie musste sich beruhigen, wollte sie diese Nacht noch einmal Schlaf finden. Es hatte keinen Sinn, sich hier selbst nur noch mehr in den Wahnsinn zu treiben.
 

Sie nahm einen der kleinen Steine zu ihren Füßen in die Hand, spürte das kalte Hart an ihren schmalen Fingern. Für einen Moment ruhte ihr Blick auf dem dunklen Grau. Für einen Moment versank sie erneut in ihren Gedanken. Für einen Moment hoffte sie, dass dieser kleine Stein ihr verraten würde, wie man Kriege beendete. Für einen Moment gab sie ihrer Verzweiflung nach.
 

Nur für einen Moment.
 

Dann richtete sie ihre Augen erneut auf den Fluss, holte aus und warf den Stein. Ein kurzes Plätschern und er war im Wasser verschwunden. Versunken in der Strömung, zu Grunde gegangen, wo viele Seinesgleichen bereits ihren ewigen Untergang ausharrten. Erneut plätscherte es. Erneut sank ein Stein. Und wieder. Und immer wieder. Keiner der Steine konnte ihr eine Antwort geben.

Leila seufzte, stieß bezwungen die Luft aus ihren Lungen.
 

„Eine junge Dame sollte sich hier nicht so freizügig zeigen.“
 

Sie zuckte merklich zusammen. War sie etwa schon die ganze Zeit nicht alleine gewesen? Ihre Muskeln spannten sich an, sie wagte es nicht, sich zu rühren. Leila ärgerte sich über sich selbst, doch ihr Traum hatte sie noch immer fest in der Hand. Sie hörte die leisen Schritte und das Knirschen des Untergrunds unter seinen Bewegungen.

Sie dachte, sie wäre alleine gewesen. Aber wann...? Hätte sie denn nicht zumindest das leise Quengeln der alten Waggontür hören müssen, die unter dem anfänglichen Rost litt? Aber vielleicht hatte er sich auch gar nicht in einem der Betten schlafen gelegt, Anna hatte so etwas mal erwähnt, nachdem sie ihn ganz zu Beginn unter Beobachtung gestellt hatten. Anfangs, als er neu ins Weißwolfschloss gekommen war und Vizekapitän Hamel ihm nicht getraut hatte. Weil er ein Japaner war.
 

„Akito?“
 

Leila löste ihre Starre und drehte sich um, suchte den Ort, von dem seine Stimme gekommen war. Doch sie hatte zu lange gezögert und zuckte erneut erschrocken zurück – sie hatte nicht gemerkt, dass er bereits hinter ihr war. Sie musste sich unbedingt zusammenreißen, sie stand völlig neben sich.

Vorsichtig legte er ihr seine Jacke um die Schultern; es wirkte, als ob seine gesamte Aufmerksamkeit ausschließlich auf dieser Geste ruhte – als hätte er ihre Reaktion nicht bemerkt; er vermied gezielt Blickkontakt. Er wollte nicht von oben zu ihr herabsehen. Leila wusste nicht, ob dies an den hierarchischen Rängen zwischen ihnen lag, die ihm ein solches Verhalten untersagten, oder ob es von der Verletzlichkeit rührte, die sie an den Tag legte. Nein, diese Blöße konnte und durfte sie sich nicht länger erlauben.
 

Sie zog sich keck die Jacke enger um ihren Oberkörper und streckte ihr Rückgrat, versuchte ihren Rotschimmer zu verstecken. „Keine Sorge, Leutnant! Auch, wenn ich hier nicht sehr nützlich erscheine, so habe ich doch noch immer den schwarzen Gürtel in Aikido.“
 

Akito nahm ein Stück neben ihr Platz, stützte sich mit den Unterarmen entspannt auf seinen Beinen ab. Noch immer wollte er ihr nicht in die Augen sehen. Das letzte Mal als er es getan hatte... Leila stockte. Ein weiterer Schauer lief ihr kalt den Rücken hinab. Wie so oft in letzter Zeit, wenn Akito in ihrer Nähe war. Das erste Mal, dass Akito diese Reaktion bei ihr ausgelöst hatte war, als sie nach ihrem Einsatz an dem hiesigen E.U. Militärstützpunkt angekommen waren und sie mit den dortigen Obrigkeiten gesprochen und Hilfe ausgehandelt hatte. Damals hatte Akito ihr das Blut in den Adern gefrieren lassen, er war wie ausgewechselt gewesen. Und obwohl sie es gewesen war, die mit ihrer Frage in Akitos persönlichen Raum vorgedrungen war, so-
 

„Eine Aikidoka. Ob Ihnen eine rein defensive Kampfstrategie behilflich sein wird?“, unterbrach Akito ihre Gedanken, bevor sie ihre schemenhaften Erinnerungen zu etwas Greifbaren formen konnte.
 

Doch seine Frage fühlte sich wie ein Schlag ins Gesicht an. Einen weiteren, den sie nicht hatte kommen sehen.
 

Zwischen ihnen wurde es still – wie sollte sie mit Akito umgehen? Ihr Blick trübte sich und wanderte ziellos den Fluss entlang. Schweigend leistete Akito ihr Gesellschaft, seine Frage blieb unbeantwortet. Ob er eine Antwort erwartete? Ob er sie bereits wusste? Wusste er, wie der Krieg zu beenden war? Wusste er, was sie in den Ruin trieb? Wusste er, wie man all dem entkommen konnte? Manchmal trat er so wissend und entschlossen auf. Furchtlos. Als läge alles klar auf der Hand, als sei es abgeschlossen. Ob es an seinem Kampfstil lag? Aber was war sein wahrer Kampfstil? Was passierte da auf dem Schlachtfeld mit Akito? Warum konnte Leila ihn dann nicht erreichen, warum reagierte er nicht? Was war in Slonim mit dem Mann passiert, der ihr noch einen Moment zuvor in seiner respektvollen Art zugesichert hatte, persönlich sicherzustellen, dass sie nicht umgebracht wurde bevor nicht zumindest all ihre Drohnen zerstört worden wären? Wo war der Akito, dessen freches Versprechen, ihr lediglich verdeutlicht hatte, dass sie auf diesem Schlachtfeld in ihrem Knightmare weniger ausrichtete als eine Attrappe?
 

„Es ist... “, sie zögerte. Leila musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass ihr Akitos geballte Aufmerksamkeit galt. Seine tiefblauen, ruhigen Iriden lagen schwer auf ihr, sie fühlte es. Ihre Lider senkten sich langsam, bevor sie sich wieder hoben und die unendliche Trauer ausdrückten, die sie tagtäglich verfolgte. Wie sollte sie es in Worte fassen? So viele Verluste, so viele Tote, die sie mittlerweile verzeichnen mussten. So viele Menschen, die sie verloren hatten. Kinder ihre Eltern, Ehefrauen ihre Ehemänner, Partner ihre Verbündeten. Eltern, die ihre toten Schützlinge in den Armen hielten oder sie vergebens in den zurück gebliebenen Trümmern ihres einstigen Lebens suchten. Freunde, die ihre Liebsten zwischen Schutt und Asche vermissten. Geschwister, die versuchten bis zum Ende aufeinander aufzupassen. Kollegen, die einander beim Sterben zusahen. Menschen, die wussten, dass auch sie verlieren würden. Wo sollte das alles enden?
 

„Ich... ich habe nachgedacht...“
 

Sie fühlte sich beschämt von ihrer eigenen Unfähigkeit. War sie als leitende Führungsperson ihrer Einheit nicht auch eine dieser Obrigkeiten, die diese Misere mitzuverantworten hatten? Sie selbst hatte andere in den Kampf geschickt, um Dinge zu vollbringen, die sie mit ihren eigenen Händen nicht übers Herz brachte. Sie selbst hatte nicht die Konditionen, um ihren Theorien Handlungen folgen zu lassen. Sie orderte.
 

Sie schämte sich, fühlte sich in ihrer Haut unwohl und trotz der Jacke merkte sie, wie ihr immer kälter wurde. Akitos Jacke, die von der Hitze seines Körpers angenehm warm war, als sich der Stoff um ihre Schultern schmiegte.
 

Leila wagte es nicht, Akito jetzt anzusehen. Sie fühlte sich nicht in der Lage, ihm unter die Augen zu treten. Nicht in diesem Moment. Nicht mit ihren wirren Gedanken, denen sie nicht Einhalt gebieten konnte.

Akitos unergründliche Augen, die ihr schon so oft die Kraft gegeben hatten, in ihren Entscheidungen standhaft zu bleiben und weiterzumachen.
 

Was war es, das sie in seinen Iriden sah? War es der Krieg? Der Tod, dem er bereits so oft ins Auge blicken musste? Konnte sie sich denn überhaupt anmaßen zu behaupten, was seine so unendlich tiefen Seelenspiegel zu Tage förderten und offenbarten, was seine Lippen unter Verschluss hielten?

Sie wusste nichts über seine Vergangenheit. Sie war wie in Schock, als sie von seinem Bruder erfahren hatte. Als Akito zu der Wyvern Einheit kam, hatte man keine Information über ihn preisgegeben. Auch nicht, als er zu ihrem persönlichen Schutz abgestellt wurde – man hatte ihn lediglich für eine kurze Zeit unter Beobachtung gestellt. Als er zu ihrer Einheit kam, war er nichts weiter als ein Eleven. Es war von keinerlei Belang gewesen, welche Ziele und Ambitionen er hatte, ob er sich bereit fühlte, in diesem Krieg zu agieren und welche Bürden er auf seinem bisherigen Weg hatte schultern müssen.

Es zählte nur, ob er der Wyvern Einheit nützlich sein konnte. Ob er im Anblick des Todes die Ruhe bewahrte – ganz gleich, ob es sich dabei um den Tod seiner Feinde, Mitstreiter oder seines eigenen handelte. Nur weil er überlebte fand er Beachtung.
 

Es war abscheulich und allein der Gedanke daran ließ ihre Magensäure sich widerlich ihren Weg nach oben bahnen. Sie hatte das System nicht ändern können, nicht einmal innerhalb der Wyvern-Einheit. Unzählige junge Japaner hatten ihr Leben gelassen. Unzählige Familien warteten umsonst auf deren Heimkehr. Familien, die nur durch den Tod ihrer Liebsten eine Aufenthaltsberechtigung in der E.U. bekommen hatten.

Und ihre Nachfolger? Japaner. Und sie selbst hatte sie erwählt. Weil sie Talent hatten. Weil sie nicht wollte, dass irgendein Sprengstoff oder jegliche Art von Kugel Britannias ihre Herzen und Lungen zerfetzte. Weil sie ihnen eine Chance und einen Ort geben wollte, wo sie bleiben konnten. Weil sie hoffte, jetzt als Kommandantin, zumindest die Gesinnung ihrer eigenen Einheit wandeln zu können. Keine Elevens – Japaner. Keine Soldaten – Menschen. Nicht Unbekannte – Ayano, Yukiya und Ryo.
 

Akito.
 

„Wenn die Nationen ihre Taten überdenken würden, dann-“
 

Sie hörte das höhnende Zischen, das seine Lippen verließ und sie jäh unterbrach. Leila stockte, für einen Moment war ihr Kopf wie leer gefegt – ihre imaginären Gefilde und Überlegungen einfach weg. All ihre Gedanken und Gefühle verhöhnt und abgewertet mit einer einzigen Geste. Einer Geste, die so viel Widersetzen und Ekel ausdrückte, dass Akitos komplettes Erscheinungsbild diese eine Aussage ausdrückte. War es Verbitterung, oder Abscheu? Sie schluckte ihre unausgesprochenen Worte ihre trockene Kehle herunter, fühlte den Druck in ihrer Brust. Ihre Bedenken und die Trauer, die sie gerade noch verspürt hatte, wurden von Akito genauso präzise durchtrennt, wie ihr Wort. Mit einer so kleinen Geste. Leila war sich nicht sicher, ob es nur Wut und Frust über seine Zurückweisung waren, die sie dazu zwangen, sich zu kontrollieren und ihm für einen Moment Raum zu geben ohne unüberlegte Worte vorzubringen. Auch, wenn Letztere indessen nur so in ihr brodelten, darauf wartend, die letzte Grenze über ihre Lippen zu überqueren. Doch etwas hielt sie zurück. Wollte sie es wirklich auf einen Streit ankommen lassen?
 

„Etwas, das nur funktioniert, wenn alle mitmachen und sich daran halten, funktioniert nicht.“
 

So einfach war seine Erklärung. So einfach war diese Welt. So einfach wurde ihr aller Leben, ihr Glück und ihre Zukunft abgeschrieben.
 

So viel Hass und Enttäuschung von diesem Leben...
 

Es waren wie zwei Welten, die aufeinanderprallten. Sie, die Kommandantin aus wohlbehütetem Haus und der seiner Heimat beraubte Soldat. Es würde seinen Handlungen ihr gegenüber niemals an Respekt mangeln, er würde sich ihr nicht widersetzen und seine Pflicht gewissenhaft erfüllen. Doch die Grenze zwischen ihnen verschwamm, wenn sie allein waren. In den Momenten, wenn er sich öffnete, wenn er ihr einen winzigen Teil seines Inneren offenbarte. Momente, die ihr die Angst vor dem in ihm tobenden hässlichen Chaos gelehrt hatten.

Sollte sie nicht eigentlich froh um das ihr entgegengebrachte Vertrauen sein? Denn das war es, was Akito ihr dadurch zeigte – vielleicht sogar unbeabsichtigt.
 

Leila schluckte. Sie konnte die Richtung, die ihre Gedanken einschlugen nicht kontrollieren und sie ertappte sich dabei, sich vorzustellen, was Akito wohl bereits erlebt hatte. Was er in diesem Leben bereits hatte miterleben müssen. Ob ihn das rechtfertigte? Ob ihn das rechtfertigen durfte? Hatte er das Recht, Leben zu beenden, weil das seine einst beendet wurde?

Die Missbilligung seiner Worte und der unablässige Krieg im tiefen Blau seiner Iriden fochten ihren Widerwillen, Akitos Worte ohne Weiteres hinzunehmen, an. Sie durfte sich jetzt nicht von ihrem Weg und ihren Werten abbringen lassen. Nicht, wenn sie diesen Weg mit Akito und den anderen beschreiten wollte. Sie wollte ihr Ziel erreichen, auch wenn sie nicht wirklich wusste, wie genau das Endergebnis aussah, das sie anstrebte, geschweige denn erwarten durfte. Momentan war es schwer zu erkennen, was in diesem großen Chaos noch realistisch und erreichbar war. Aber sie würde voranschreiten und sie musste Akito an ihrer Seite wissen. Es durfte noch nicht vorbei sein. Was wäre mit all den anderen - Ryo, Ayano und Yukiya? Abgesehen davon, dass sie ihnen die Sicherheit ihrer Leben versprochen hatte, würden sie ihren Bedingungen zustimmen und kollaborieren. Sie würde unter keinen Umständen diesen ausgesprochenen Vertrag auf halber Strecke liegen lassen. Nicht so einfach.
 

„Rechtfertigt das etwa das willkürliche Ermorden Unschuldiger?!“
 

„Haben Sie denn darauf keine Antwort, Aristokratin?“
 

Und wieder kehrte Ruhe ein. Doch ihr Missmut hatte sich noch nicht gelegt, es war lediglich Akitos Schweigen, das auch ihre Worte zum Versiegen brachte.

Akito wirkte so unnahbar, als würden sie sich in völlig verschiedenen Welten befinden. Und vielleicht war dem auch so.
 

Letztendlich war es nicht nur das Imperium, sondern auch die E.U., die keinerlei Wert auf das Leben der Japaner legte. Trotz der Zuflucht, die die E.U. den Japanern seither bot, grenzten sie sie von der Gesellschaft ab und hielten sie in eingezäunten heruntergekommenen Bezirken. Die E.U. schickte junge japanische Piloten in den Kampf, die als nichts anderes als Kanonenfutter dienten, um den Feind zu schwächen und die eigenen Reihen nicht zu gefährden.

Es war abscheulich. Und sie selbst war ein Teil davon geworden. Die Narva Operation war genau diesem Prinzip gefolgt, den Piloten wurde sogar einen aktiver Selbstzerstörungsmechanismus in den Maschinen aufgebürdet, nur um die feindlichen Reihen aufzuhalten. Alle Piloten kamen dabei ums Leben.
 

Alle, bis auf Akito – wenn sie doch nur vorher eingegriffen und Anou die Strategie nicht hätte abändern lassen...
 

Wenn dieser Krieg doch nur enden würde, wenn sie nicht länger Menschen an die Front schicken müssten, um eine Schlacht zu führen, von der die eigentlichen Übeltäter in ihren Anwesen in weiter Ferne keinerlei Vorstellung hatten. Wie gerne würde sie mit Akito und den anderen eines Tages gemeinsam Japan besuchen…
 

Erneut drang das leise Plätschern des Flusses an ihre Ohren. Sie griff nach einem weiteren Stein und wieder spritzten kleine Wassertropfen über die Oberfläche, als das kalte Gestein die Wasserdecke durchbrach. Fast hätte sie sich auf die Lippen gebissen, um sie geschlossen zu halten. Auch, wenn sie nicht wusste, was sie ihm hätte entgegnen können, das ihn auch erreichte - ihr Kampfgeist brannte auf ihrer Zungenspitze. Und dennoch – sie blieb stumm, beobachtete den kalten Steinkörper und wie er im Dunkel verschwand. Versteckt und im Geheimen ging er unter und in wenigen Augenblicken würde keiner mehr dessen Existenz wahrnehmen. Erneut lauschte sie dem Plätschern und versank ihre Verbitterung mit Hilfe eines weiteren Kiesels, der ihr keine Antwort auf ihre Fragen geben konnte. Mit jedem weiteren Stein erlosch ein weiterer Funke der Wut, die in ihr schwelte.
 

Ihre Fingerspitzen tasteten bereits nach dem nächsten Stein, mit dem sie versuchte, sich ihres Missmuts zu entledigen. Es beruhigte sie, diese kleinen Steine untergehen zu wissen; das leise Geräusch des Wassers, wenn sie Teil der Strömung wurden. Ihre schmalen Finger spielten mit dem kleinen Objekt in ihrer Hand, bevor sie es mit einer kleinen Bewegung auf den Weg schickte.
 

Sie horchte auf, als sie im gleichen Augenblick ein weiteres Geräusch vernahm. Der Laut, den sie hörte, war nicht der, den sie erwartet hatte. Ein sanftes Zischen, als die Flussdecke berührt wurde. Dann noch eines und noch eines. Schließlich das Schnalzen, als zwei Steine mit Geschwindigkeit aufeinander prallten.
 

Platsch – die Wasseroberfläche wurde durchbrochen. Platsch – noch einmal. Zwei...?
 

Sie wusste mit Sicherheit, dass sie nur einen Stein geworfen hatte. Doch die Geräusche, die sie gehört hatte, waren ihr seltsam vertraut vorgekommen, sie kannte sie aus ihrer Kindheit. Ein Stein, der über die Wasseroberfläche hüpfte. Ihr Vater hatte es ihr einmal vorgeführt. Steineschnippen hatte er es genannt.
 

Den zweiten Stein konnte nur Akito geworfen haben. Hatte er tatsächlich das kleine Gestein so präzise geworfen, dass es mit dem ihren zusammenzustieß – trotz der Dunkelheit?
 

Überrascht und fragend wanderte ihr Blick zu dem Mann neben ihr; in seinen Zügen konnte sie die Antwort auf ihre Frage erkennen. Er wirkte entspannt, fixierte noch immer den Ort, an dem die beiden Gesteine aufeinandergeprallt waren; der nächste Stein tanzte bereits zwischen Akitos Fingern.
 

Unglaublich.
 

Für den Bruchteil einer Sekunde stand die Zeit still. In diesem einen Moment war ihr Kopf von all der Wut und ihrer tobenden Gedanken leer gefegt. Übrig blieb nur die Bewunderung, die sie schon so oft für Akitos Fähigkeiten empfunden hatte – und jedes Mal wieder spürte sie, wie ihr dabei warm ums Herz wurde und sie ein angenehmer Schauer ergriff.
 

Es war seltsam, wie sie sich zwischen diesen beiden Extremen – Angst und Bewunderung - bewegte.
 

Doch Akitos Einsatz als Soldat war makellos und seine Fähigkeiten außerordentlich; wenn er den Alexander steuerte, saß jeder Zug, kein einziges Mal hatte er den Feind verfehlt.

Treffsicherheit. Akito hatte sie mehr als einmal unter Beweis gestellt. Und dennoch hatte es ihre Aufmerksamkeit niemals zuvor so sehr eingefangen wie jetzt.
 

Nein, Akito war nicht nur ein Soldat, er war ihr Vertrauter – ganz gleich, wie zwiegespalten seine Persönlichkeit sein mochte. Sie vertraute ihm ihr Leben und das all derer an, die sie retten wollte. Sie hatte dies niemandem gegenüber je zur Sprache gebracht und auch ihm hatte sie es nicht gesagt. Aber das musste sie nicht. Es war weder Hoffnung, die sie in Akito setzte, noch eine Bürde, die sie ihm auferlegte. Nur ihr schlichtes Vertrauen. Dafür brauchte sie keine Worte, ihre Handlungen sprachen eine eindeutige Sprache.
 

Die Stimme des jungen Mannes riss sie aus ihren Gedanken, löste sie aus der starren Haltung, in die sie verfallen war.
 

„Kommandantin, ist es nicht ironisch? In den lateinischen Buchstaben für den japanischen Befehl zu sterben sieht ein Britannier nichts weiter als das englische Wort für Glanz.“
 

„Akito...?“ Es war, als würde ein eiskalter Windstoß sie ergreifen, der bis unter ihre Kleidung und über ihre Haut wirbelte. Leila schluckte. Sie hatte jedes einzelne seiner Worte verstanden, auch die, die er nicht ausgesprochen hatte. Das Gewicht, das auf ihren Schultern lastete, drohte sie zu erdrücken. Wie gerne hätte sie in diesem Moment nach Akitos Hand gegriffen, sie fest in die ihre genommen und damit versucht auszudrücken, was sie nicht in Worte fassen konnte.
 

„Lassen Sie es mich umformulieren. Ist es denn folglich nicht so, dass für uns der ausgesprochene Befehl zu sterben den Glanz und Erfolg Britannias bedeutet?“
 

Aber genau deswegen kämpfen wir. Deswegen geben wir nicht gegen das Imperium auf.
 

Wie gerne hätte sie ihm das gesagt, doch im Endeffekt würde es nichts ändern, es wäre wahrscheinlich sogar eine Beleidigung, sein Leid mit einer solchen Aussage abzufertigen. Sie kämpften. Und solange sie das taten, würden weitere Japaner ihr Leben verlieren. Akitos Worte trafen sie tief und sie offenbarten so viel.
 

Verzweiflung. Verbitterung. Frust. Es war ein Schlag in die Magengrube, den sie weder abfangen konnte, noch wollte. Es war Teil von Akitos Leid. Und gerade eben hatte er es mit ihr geteilt. Einen ganz kleinen Teil. Und sie wusste, dass sie absolut machtlos war. Sie konnte ihm sein Leid nicht nehmen und ebenso wenig konnte sie ihm versprechen, dass dies alles ein Ende haben würde. Akito hatte sie mit nur einem Zug Schach gesetzt. Ein Zug, den sie sich doch eigentlich erhofft hatte. Ein Einblick, nach dem sie sich gesehnt hatte. Um ihn zu verstehen. Um zu wissen, dass er nicht nur seine Kommandantin in ihr sah, sondern dass er ihr auch auf menschlicher Ebene begegnen wollte und dass er ihr vielleicht doch ein klein wenig vertraute. Sie wollte glauben, dass es nach all diesem sinnlosen Töten noch einen Menschen auf dieser Welt gab, der ihr noch aufrichtig vertraute und sie nicht einfach nur blind einem Befehl folgend unterstützte.
 

Aber… hatte sie sein Vertrauen überhaupt verdient? Nach allem, was sie ihm angeordnet hatte. Durch die Alpträume, durch die sie ihn geschickt hatte. Doch all diese Fragen waren nichtig. Akito hatte sie mit nur einer einzigen Frage ausgelöscht. Diese wenigen Worte gegen den Wind, die ihr doch so viel Boden unter den Füßen nahmen. Aber noch konnte sie stehen. Und solange dem so war, würde sie für ihre Ziele einstehen. Für das Ende dieses Krieges. Für diese Welt und für die Elevens - Japaner. Ryo, Ayano und Yukiya. Und auch für Akito. Denn selbst, wenn dies nicht ausreichte... es war alles was sie hatte. Und sie war bereit es zu geben.
 

Akito erwartete keine Antwort von ihr. Das war kein Thema, auf das sie ihm eine hätte geben können – das stand ihr nicht zu. Sie konnte und wollte es sich nicht anmaßen Akitos Leid - das der Japaner - zu kommentieren.

Sie seufzte im Stillen, schwer.
 

„Wer hat dir das beigebracht, Akito?“ Ihr Blick ruhte auf seinen Zügen, doch Akitos Iriden richteten sich auf starr auf die Strömung des Flusses. Es war fast, als würden seine Gedanken mit ihr fortgetragen, irgendwohin weit weg.
 

Sein Kiefer verhärtete sich, seine Muskeln spannten sich sichtbar an und Leila hörte das Knirschen seiner Zähne. Seine dunklen Augen füllten sich mit Verbitterung, doch seine Stimme blieb kühl und ruhig.
 

„Sie haben ihn bereits kennen gelernt, Kommandantin.“
 

Akitos Bruder. Der Mann in dem Knightmare…
 

Leila wandte sich ab. Die Erinnerung an ihren Einsatz in Slonim spielte sich in ihrem Inneren erneut ab. Der Kampf, ihre Gegner und dann der goldene vierbeinige Knightmare, der sich erst ganz zum Schluss gezeigt hatte; ein Modell, das sie noch nie zuvor gesehen hatte.
 

Es war gleich nachdem… nachdem… sie wusste nicht einmal, was dort während ihres Kampfes passiert war. Es war nicht nur Akito, der plötzlich wie ausgewechselt gewesen war, sondern auch Ryo, Ayano und Yukiya.
 

Besessen.
 

Akitos Worte, die sie über die Lautsprecher gehört hatte, hatten sie nicht losgelassen.
 

„Stirb!“
 

„Stirb!“
 

„Stirb!“
 

Immer und immer wieder hatte er es gesagt, es war wie ein teuflisches Mantra gewesen, das ihn antrieb. Dazu die Art wie er kämpfte – ohne Rücksicht auf Verluste, als wären es nur Maschinen ohne Pilot, auf die sie losgingen. Und trotzdem zielte er im Kampf direkt auf die Pilotenkammer nicht die Maschine, um den Gegner auszuschalten.
 

Leila konnte nicht mit Gewissheit sagen, was es gewesen war, das Akito in Slonim aufgehalten hatte. Doch mit ihm stoppten auch die anderen Alexander, ihre Kampfkraft fiel gegen Null und sie wurden nahezu gleichzeitig von den Knightmares Britannias besiegt. Ihr Alexander war der einzige, der unbeschädigt geblieben war.
 

Weil Akito sie beschützt hatte.
 

Sie hatte nur zugesehen, wie der britannische Soldat ausgestiegen war und auch Akito die Pilotenkammer des Alexander verlassen hatte.
 

Akitos Bruder.
 

„Ich will, dass du stirbst.“
 

Sie hatte nicht glauben wollen, dass dieser Mann Akitos älterer Bruder sein sollte. Wünschte er ihm wirklich den Tod? Es schmerzte sie, wenn sie daran dachte, wie zerrissen die beiden waren. Sie würde darüber schweigen, doch Akitos Stimme, der Ausdruck in seinen Zügen in diesem Moment hatte ihr wahrlich das Herz zerfetzt. Nie zuvor hatte sie Akito so angreifbar, so verletzlich, so in Angst und Schock versetzt gesehen.
 

So menschlich.
 

Sie spürte ihren Widerwillen, das alles einfach so hinzunehmen, obwohl es sie nichts anging. Sie sollte sich da nicht einmischen, und dennoch… es musste doch irgendeine Möglichkeit geben, dass die beiden eine Einigung fanden, dass sie miteinander redeten.
 

Leila konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Akitos eigener Bruder ihn tot sehen wollte. Die bloße Vorstellung von Akitos Tod… sie schluckte.
 

Damals, als sie die Worte von Akitos Bruder gehört hatte, hatte sie ihren Ohren nicht trauen wollen. Es hatte sie so überwältigt, dass sie nahezu reflexartig ihre Waffe auf ihn gerichtet hatte, bereit zu feuern. Wie konnte dieser Mann so mit seinem eigenen Bruder, seiner Familie, sprechen? Was musste geschehen, dass sich Geschwister in einem Krieg auf verfeindeten Seiten gegenüberstanden? Er wollte Akito umbringen und sie zweifelte nicht daran, dass er es auch ohne mit der Wimper zu zucken tun würde.
 

Und Akito…?
 

„Eben weil wir Brüder sind, weil das gleiche Blut in unseren Adern fließt, will er mich töten.“
 

„Ich starb einst. Und genau deshalb werde ich diesen Gefallen erwidern und ihn dieses Mal töten!“
 

Ihre Brust zog sich schmerzhaft bei dieser Erinnerung zusammen. Es musste einfach eine Möglichkeit geben, das durfte nicht das Unvermeidliche sein, mit dem es enden würde. Leila konnte sich nicht helfen und trotz allem, was passiert war und was sie gesehen hatte, konnte sie nicht glauben, dass seinen Bruder zu töten wirklich das war, was Akito wollte. Diesen Weg zu beschreiten… keiner konnte sagen, wohin ihn das letztendlich führen würde. Nein, das konnte und durfte nicht der einzige Ausweg sein. Doch welches Recht hatte sie, sich einzumischen?
 

„Hast du jemals so etwas wie Geschwisterliebe empfunden, Akito?“, fragte sie stattdessen.
 

„Mag sein.“
 

„Man sagt, dass Liebe stark macht; sie gibt einem Kraft.“
 

Akito schwieg, sein Blick war undurchschaubar. Es war einer dieser Momente, in denen sie nicht wusste, wie sie mit ihm umgehen sollte. Einer dieser Momente der Stille, als hätte man die Zeit angehalten und sie aus dem Hier und Jetzt gerissen. Wenn sie mit Akito allein war, stand ihre Zeit still und alles um sie herum rückte in weite Ferne. Er lebte in einer anderen Zeit. Er kämpfte auf einem anderen Schlachtfeld. Er bestritt einen anderen Krieg. Weit entfernt von ihrer Realität. Weit entfernt von dem jungen Mann und der zierlichen Frau, die in dieser Nacht am Fluss saßen.
 

Und jedes einzelne Mal konnte sie deutlich seine Einsamkeit spüren.
 

„Was macht Sie stark, Kommandantin?“
 

Was sie stark machte…? Sie musste nicht lange darüber nachdenken, es war, als ob es bereits seit Langem klar auf ihrer Hand läge. All die Dinge, die sie nicht wusste, all die Fragen, die sie nicht beantworten konnte; diese eine gehörte nicht dazu. Sie wandte sich Akito zu, ihr Blick lag fest auf ihm.
 

„Du. Meine Kraft bist du.“
 

Er merkte überrascht auf und sah sie – wenn auch nur kurz – aus großen fragenden Augen an. Mit dieser Antwort und der Entschlossenheit ihrer Stimme hatte er nicht gerechnet.
 

„Ich meine“ Ein sanftes trauriges Lächeln umspielte ihre Züge, „wenn du nicht gewesen wärst, wenn ich dich nicht an meiner Seite gehabt hätte, dann wären alle meine Missionen fehlgeschlagen, meine Pläne nicht existent und meine Erfolgschancen gleich Null. Die Wyvern-Einheit wäre damals ausnahmslos zerschlagen worden. Wenn ich dich nicht hätte, wäre ich nur ein weiteres Mädchen mit irrsinnigen Träumen in einer E.U. - Einheit. Eine weitere unqualifizierte Stimme in diesem Krieg, die Japaner in den Tod schickt.“
 

„Sie hätten jemand anderes gefunden.”
 

„Nein.“
 

Mit nur diesem einen Wort zeigte sie ihm, dass es hierfür keine Widerworte gab, die sie jemals zulassen würde - auch wenn das normalerweise nicht ihre Art und Weise war. Ihre abrupte Antwort verstärkte nur den Ernst ihrer Worte, machte sie echt. Sie musste nicht erklären, warum es stimmte und Akito im Unrecht war. Sie hatte es Akito zu verdanken, dass sie so weit gekommen war und dass die Wyvern Einheit noch lebte. Er war es, der nicht nur sie, sondern auch die anderen Piloten überzeugt und angetrieben hatte.
 

Sie senkte den Blick, ihr Herz wurde schwer. Ob Akito auch die indirekte Nachricht verstanden hatte, die sie mit ihm damit geteilt hatte? Eigentlich hatte sie sich nicht in diesem Aspekt offenbaren wollen; sie wusste nicht, was in sie gefahren war. Wahrscheinlich war sie nervlich bereits an ihre Grenzen gelangt. Diese Nacht hatte es nicht besser gemacht – nein, sie hatte ihr Innenleben nur noch mehr aufgewühlt.

Wie Akito jetzt wohl reagieren würde? Würde er einfach aufstehen und gehen? Sie darauf hinweisen, dass ein Kommandant rational bleiben musste? Und auf dem Schlachtfeld solch Belanglosigkeiten erst recht nicht existent sein sollten? Weil in ihr das Blut Britannias floss?

Sie presste ihre Knie enger aneinander, krallte ihre Finger in den weichen Stoff der Jacke, als ob sie mit aller Kraft versuche, ihre Fassade aufrecht zu erhalten und sich von der Kälte, die sie so unnachgiebig befiel, abzuschirmen. Stille. Immer diese Stille, die sie so nervös machte. Bestimmt hatte Akito auch jedes nicht ausgesprochene Wort verstanden.
 

Ihr Magen begann sich zu verkrampfen. Ein kaltes, flaues Gefühl machte sich in ihr breit. Was für ein blauäugiges und gutgläubiges Mädchen sie doch sein konnte. Ein Mädchen aus wohlbehütetem Hause, das es wagte, Akito auf Augenhöhe zu begegnen. Dabei befanden sie sich auf so unterschiedlichen Ebenen, ihre politische Hierarchie komplett außen vor gelassen; sie sah sich in keinem Moment Akito übergeordnet, nur Akito hatte immer und immer wieder darauf verwiesen. Innerlich belächelte sie bitter die hohe Position, die man ihr in dieser Schlacht beimaß. Eine großartige Kommandantin war sie… ein Alptraum und sie wurde sentimental, wenn sie doch Ruhe bewahren musste.
 

Auf eine für Leila unbegreifliche Art und Weise rief das Schweigen zwischen ihnen eine unsägliche Kälte in ihr hervor. Es war kein frischer Wind mehr, der sie erfasste und auch kein langsames Auskühlen. Sie fror; trotz der Jacke, die ihr Akito umgelegt hatte.
 

Akito hatte gleich nach ihren Worten den Blick abgewandt, beobachtete das sanfte Rauschen des Flusses, das leichte Plätschern des Wassers am Ufergeröll. Nur zu gern hätte sie gewusst, was in seinem Kopf vorging. Er sah so ruhig und entspannt aus, unbewegt.
 

„Akito.” Wie sollte sie sich erklären? Wie –
 

Das Zischen eines weiteren Steins, der über die Wasseroberfläche hüpfte, holte sie aus ihren Gedanken zurück. Sie hörte noch eines und noch eines, bevor der Stein im Fluss unterging. Dann:
 

„So soll es sein.”
 

Sie horchte auf; nun war es an ihr, den jungen Mann an ihrer Seite verwundert anzusehen. Ein leiser, verwirrter Laut verließ ihre Kehle, als sie sich fragend zu ihm wandte. Was wollte Akito damit sagen?

Akito nutzte seine Worte immer bewusst, er hatte immer ein klares Ziel – und wenn es nur jenes war, sie zu provozieren. Oder er schwieg. Doch es war nicht seine abweisende Art, die sie jetzt wahrnahm - so wie er ihr bereits viele Male zuvor die Welt kommentiert hatte.
 

Nein, Akitos Stimme war leise, aber bestimmt. Irgendetwas an ihr verlieh seinen Worten eine Endgültigkeit, die ihr bis unter die Haut ging.
 

Es war ein Entschluss, den er für sich – für sie beide? - getroffen hatte, unterstrichen durch den klaren Glanz seiner tiefblauen Augen. Leila konnte die Präsenz seines starken Willens spüren. Akitos Kraft, die sie nicht ein einziges Mal verunsichert zurück gelassen hatte, seitdem sich ihre Wege gekreuzt hatten; ihr Fels in der Brandung.
 

Ein weiterer Stein durchbrach die Wasseroberfläche, bevor sie Akitos sanfte Stimme hörte. Und obwohl seine Züge unbewegt blieben, kam es ihr vor, als würde er lächeln.
 

„Euer Wille soll Eure Kraft sein.”



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