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Reisebekanntschaften

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Ein Anfang...?

Reisebekanntschaften
 

– Man sieht sich immer zweimal im Leben. Oder dreimal. Oder doch viermal? –
 

Fasziniert beobachtete er, wie die schlanken Finger einen Rhythmus, den wohl nur der Brünette kannte, auf die Armlehne trommelten. Die Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, die Augen konzentriert auf das Buch in seinem Schoß gerichtet. Anscheinend war der Inhalt derart fesselnd, dass er nichts um sich herum wahrnahm. Und dennoch hatten sich seine Finger vor einer Weile selbstständig gemacht und somit Tsukasas Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Stirnrunzelnd betrachtete er sein Gegenüber. Irgendwie irritierte es ihn, dass der andere zwar in der Handlung des Buches gefangen zu sein schien, aber trotzdem parallel mit den Fingern vor sich hin trommelte und zwar so, dass es nicht nur willkürlich, sondern annähernd gekonnt klang.

Tsukasa erinnerte sich an seine Eigenart, ständig auf irgendetwas herum zu trommeln, was aber mehr dem geschuldet war, dass er Schlagzeug spielte. Berufskrankheit eben. Jedoch konnte er dabei definitiv kein Buch lesen. War der andere womöglich ebenfalls Schlagzeuger? Hatten sich die Rhythmen schon derart in seinem Kopf manifestiert, dass er sie ständig in seinen Gedanken hatte und so unbewusst nach außen trug?

Während Tsukasa auf die Finger starrte und sich über das Multitasking seines Gegenübers wunderte, kam der Zug mit einem sanften Ruck zum Stehen. Augenblicklich hielten die Finger in ihrem Tun inne und holten ihn damit aus seiner Betrachtung. Ertappt sah er auf. Doch der andere blickte nur interessiert aus dem Fenster, musterte die Häuser vor dem Fenster.

„Irgendwie zieht es sich heute ziemlich“, hörte Tsukasa sein leises Murmeln.

Plötzlich sah sich er mit großen, braunen Augen konfrontiert. Der andere blinzelte ihn überrascht an, während Tsukasa gar nicht recht wusste, wie er reagieren sollte. Für unauffälliges Wegsehen war es eindeutig zu spät.

Allerdings schien das sein Gegenüber gar nicht zu stören, denn ein schiefes Grinsen zierte sein Gesicht, als er sich kurz verlegen am Kopf kratzte.

„Hab ich das gerade laut gesagt?“

Eigentlich war Tsukasa niemand, der sich einfach so in Gespräche mit Fremden stürzte, ein bejahendes Lächeln hätte womöglich auch gereicht, doch irgendwie hatte der andere etwas Einnehmendes an sich, so wie er ihn angrinste.

„Ja, war nicht zu überhören.“

Das Grinsen wurde eine Spur breiter.

„Sorry, ist irgendwie eine schlechte Angewohnheit von mir, alles laut auszusprechen, ohne vorher groß drüber nachzudenken.“

Da gab es definitiv Schlimmeres, wie Tsukasa fand.

„Ach, mich stört es nicht.“

„Dann ist gut.“

Der Unbekannte lachte leise, entlockte Tsukasa damit ein Schmunzeln. Unwillkürlich fragte er sich, während er beobachtete, wie der andere das Buch in die Tasche packte und einen Schluck aus seiner Wasserflasche trank, wie alt dieser wohl war. Er hatte auf den ersten Blick vermutet, dass sie beide fast aus dem gleichen Jahrgang stammten, doch wenn der andere lachte, wirkte er deutlich jünger. Aber eigentlich war das ja nicht wichtig. Oder?

„Ich heiße übrigens Hizumi“, unterbrach die weiche Stimme seine Überlegungen.

Verdutzt blickte Tsukasa sein Gegenüber an. Dass jener ihn so direkt ansprach, war mal eine nette Abwechslung zu seinen sonstigen Mitmenschen. Und er selbst konnte sich dieser Offenheit und dem Lächeln gerade nur schwer entziehen.

„Tsukasa. Freut mich.“
 

*
 

Die Zeit schien ebenso wie die Landschaft draußen am Fenster vorbei zu rasen. Vor einer Stunde hätte Tsukasa seinem neuen Bekannten glattweg zugestimmt, dass sich die Zugfahrt heute zäh wie Kaugummi zog. Doch inzwischen hätte sie für ihn durchaus langsamer vergehen können.

Hizumi war ein guter Erzähler und wirklich unterhaltsam. Irgendwie konnte sich Tsukasa seiner Art nur schwer entziehen und eigentlich wollte er das auch gar nicht. Denn je länger sie sich unterhielten, desto mehr stieg in Tsukasa das Gefühl auf, den anderen schon deutlich länger zu kennen und einen alten Freund vor sich zu haben. Etwas, dass ihm schon seit Ewigkeiten nicht mehr passiert war, da sich seine Kontaktfreudigkeit sonst eher stark in Grenzen hielt. Doch sein Gegenüber schaffte es, seine Barrieren spielend zu überwinden, als wären sie nie da gewesen.

Ein wenig bedauerte er, dass sich ihre Reisebekanntschaft trotz allem mit großen Schritten dem Ende zu neigte. Er hatte schon lange keine Zugfahrt derart unterhaltsam gefunden, besonders wenn der andere so, wie im Augenblick mit umfangreicher Gestik und Mimik Anekdoten aus seinem Alltag zum Besten gab. Tsukasa kam aus dem Schmunzeln nicht heraus. Und selbst, wenn Hizumi gerade mal nicht erzählte, grinste er vor sich hin. Wie sollte man sich davon nicht anstecken lassen?
 

Inzwischen hatten sie neben der Tatsache, dass sie beide in Tokio wohnten, feststellen dürfen, dass auch ihr Endziel dasselbe war – inklusive obligatorischen Familienbesuchs. Eine Gemeinsamkeit, die Hizumi abermals in Gelächter hatte ausbrechen lassen. Generell lachte er viel. Etwas, das Tsukasa gute Laune bereitete.

Hatte er noch vor Reiseantritt mit sich gehadert, ob er überhaupt fahren und sich freiwillig in die anstrengende Gegenwart seiner Verwandten begeben sollte, so war er nun ganz froh darüber. Diese Reisebekanntschaft machte das Kommende auf jeden Fall wett.
 

„Spielst du eigentlich Schlagzeug?“, wechselte Tsukasa in einen kurzen Moment des Schweigens das Thema und stellte die Frage, die ihn vorhin schon kurzzeitig beschäftigt hatte. Wobei… es wäre schon ein ganz schön großer Zufall, wenn sich ausgerechnet zwei Schlagzeuger im Zug in eine vergleichsweise verschlafene Gegend gegenübersaßen.

„Hm, nein? Warum fragst du?“

Tsukasa sah vielsagend auf die feingliedrige Hand, die erneut angefangen hatte, auf die Lehne zu trommeln. Der andere lachte verstehend.

„Ach so, nein. Ist nur eine weitere, blöde Angewohnheit, besonders wenn ich mal wieder einen Ohrwurm habe. Spätestens, wenn ich dann gedanklich mitsinge, machen sich meine Finger selbstständig.“ Kurz hielt er inne, ehe er nachdenklich hinzufügte: „Wenn ich so drüber nachdenke, habe ich lauter komische Angewohnheiten.“

Tsukasa schnaubte amüsiert. Wollte er die anderen wissen? Im Moment nicht.

„Wenn es dich beruhigt: Ich neige selbst dazu, ständig überall drauf zu trommeln und damit den Leuten in meiner Umgebung die Nerven zu rauben.“

„Ach, spielst du etwa Schlagzeug?“

Er beugte sich interessiert vor und schien Tsukasa genauer unter die Lupe zu nehmen. Auf sein Nicken fuhr Hizumi sogleich fort: „Das ist ja cool. Ich hatte vor ein paar Monaten mal angefangen, Bass zu lernen, aber irgendwie habe ich keine Geduld dafür.“ Wieder dieses verlegene Kratzen am Kopf. „Und vielleicht auch kein Talent.“

Ruhig erwiderte Tsukasa den Blick seines Gegenübers, während er sich dessen Worte durch den Kopf gehen ließ. Zwar kein Schlagzeuger, aber anscheinend doch in irgendeiner Art und Weise an Musik interessiert. Das ungewohnte Gefühl der Vertrautheit wuchs in Tsukasa, als er antwortete: „Ist doch nicht schlimm, wenigstens hast du dich ausgetestet und kannst jetzt sagen, was dir mehr liegt.“

Einen Moment lang starrte Hizumi ihn schweigend an und Tsukasa fragte sich schon, was er denn von sich gegeben hatte, um den anderen so um eine Antwort verlegen zumachen, als sich erneut ein Grinsen auf die Züge des anderen schlich.

„Stimmt, so hab ich das noch gar nicht gesehen. Kam mir schon wie ein Versager vor.“

Mehr als ein simples „Oh“ brachte Tsukasa nicht zustande, während er Hizumi ungläubig musterte, was diesen dazu animierte, fortzufahren: „Na ja, ich wollte immer etwas mit Musik machen, aber Instrumente scheinen mich einfach nicht zu mögen. Dafür singe ich ab und zu mal bei einem Bekannten in der Band, was mir eigentlich auch ganz gut gefällt. Aber irgendwie hatte ich ständig im Hinterkopf, dass ein Instrument trotzdem drin sein müsste.“

Die dunklen Augen sahen Tsukasa um Bestätigung bittend an, sodass ihm unwillkürlich der Gedanke kam, den anderen singen hören zu wollen. Schließlich hatte er eine interessante und angenehme Stimme, die in Tsukasa schon die ganze Zeit den Wunsch weckte, er möge einfach weiterreden. Innerlich rollte er über sich selbst die Augen, schob seine Wünsche schnell zur Seite und räusperte sich.

„Ein Instrument zu spielen als Sänger ist kein Muss für eine Band, besonders wenn es dir keinen Spaß macht. Bei vielen Gruppen konzentriert sich der Sänger schließlich nur auf seine Stimme. Bei den meisten sogar.“

„Ja, du hast recht. Irgendwie war ich in letzter Zeit anscheinend zu versessen auf dieses Thema. Du merkst, ich bin gerade erst frisch dabei.“

Erneut erklang dieses einnehmende Lachen, das Tsukasa zum Schmunzeln brachte.

„Du kannst gerne mal zu einem Auftritt von uns kommen, wenn du magst. Zum Beispiel nächste Woche. Versprich dir aber nicht zu viel, wir stehen wirklich ziemlich am Anfang.“

„Ich werde bestimmt darauf zurückkommen.“

Das war nicht nur so dahingesagt. Tsukasa wollte ihn wirklich singen hören. Einfach um herauszufinden, ob diese Stimme ihn noch mehr faszinieren konnte als ohnehin. Außerdem, wie hätte er diesen begeistert funkelnden Augen etwas abschlagen können?
 

*
 

Das Zirpen der Grillen konnte definitiv als Konzert bezeichnet werden. Er hatte sowas schon lange nicht mehr in dieser Intensität wahrgenommen. Die nächstgrößere Straße lag zu weit weg, als dass der Lärm bis hier auf die Wiese drang. Somit blieb Tsukasa nur das vereinzelte Rascheln der Gräser und Blätter um ihn herum und eben das abendliche Konzert der Grillen. Es hatte etwas ungemein Beruhigendes und Entspannendes an sich. Einem Durchatmen gleich, abseits von der alltäglichen Hektik der Millionenmetropole. Das hier war eben das Landleben – mehr oder weniger, denn einige hunderttausend Einwohner hatte sein Geburtsort dann doch. Trotzdem kein Vergleich zu Tokio, denn besonders hier im absoluten Randbezirk Yamagatas konnte man so etwas wie ländliche Idylle erleben.
 

Bedächtig lehnte sich Tsukasa zurück, stützte sich mit den Ellenbogen auf der Decke ab. Mittlerweile hatte die Sonne beinahe den Horizont erreicht und tauchte die Welt in sanftes, orangefarbenes Licht.

Ja, so ließ es sich aushalten. Endlich Ruhe. Seit er gestern angekommen war, hatte es kaum eine Minute zum Verschnaufen gegeben. Ständig wollte irgendjemand seine Aufmerksamkeit. Entweder war seine Mutter um ihn herumgeschlichen und hatte ihn betüdelt und wenn sie gerade nicht zur Stelle gewesen war, hatten seine Geschwister eine gewisse, manchmal nervenaufreibende Anhänglichkeit entwickelt. Warum tat er sich das eigentlich an? Es war ja nicht so, dass sie sich ein Jahr lang nicht gesehen hätten. Er kam schließlich mindestens dreimal im Jahr vorbei, aber anscheinend reichte das seiner Familie nicht.

So sehr Tsukasa sie auch liebte, gerade wünschte er sich einfach nur zurück nach Tokio – in sein eigenes Leben, das aktuell um einiges entspannter wäre als dieses hier.
 

Er schloss für einen Moment seufzend die Augen, als er sich unweigerlich an das Gespräch erinnerte, zu dem sein Vater ihn vor wenigen Stunden gebeten hatte. Wieder einmal.

Sein alter Herr war selbst nach zwei Jahren noch der Meinung, dass die Hauptstadt nichts für seinen Sohn wäre und er lieber zurück in den elterlichen Betrieb kommen sollte. Kein neues Thema und nichts, was sie nicht schon zur Genüge durchgesprochen hatten. Doch Tsukasa konnte sagen, was er wollte, sein Vater ließ sich nicht von seiner festgefahrenen Meinung abbringen. Somit endeten diese Tage in der alten Heimat beinahe jedes Mal in anstrengenden Diskussionen und Kopfschmerzen. Ein Grund mehr, warum die sporadischen Besuche genügen mussten.
 

Leises Vogelgezwitscher ließ Tsukasa aufblicken. Unweit von ihm zog ein Schwarm seine Kreise, nur unzählige kleine Punkte am abendlichen Himmel. Gut, sowas bekam er in seiner neuen Wahlheimat eher selten zu sehen. Dennoch gefiel es ihm dort einfach besser.

Er vermisste die schöne Natur hier schon von Zeit zu Zeit, denn städtische Parks waren nun einmal nicht hiermit vergleichbar. Dennoch gab es so vieles, was er in den vergangenen Monaten zu schätzen gelernt hatte. Insbesondere die unumstrittene Anonymität der Metropole, wo nicht alle glaubten, jeden über vier Ecken bestens zu kennen und sich dann ungefragt in dessen Leben einmischen zu müssen.
 

Versonnen beobachtete Tsukasa die schwindende Sonne, während seine Gedanken weiter schweiften. Ja, es war die richtige Entscheidung gewesen, wegzuziehen. Niemals hätte er gedacht, dass sich sein neues Leben so… befreiend anfühlen würde. Egal, auf wie viele Widerstände er bisher in Tokio gestoßen war, nichts hatte sich derart schwierig und einengend gestaltet wie die letzten Jahre in Yamagata. Dass genau diese Erklärung bei seinem alten Herrn auf wenig Gegenliebe gestoßen war, hatte Tsukasa bereits erwartet. Wie gesagt, sie führten diese Diskussion nicht zum ersten und wohl auch nicht zum letzten Mal. Doch mit jeder weiteren Auseinandersetzung stand Tsukasa stärker hinter seiner Entscheidung. Er gehörte nach Tokio.
 

Das leise Knirschen von Schritten holte Tsukasa aus seinen Erinnerungen und ließ ihn überrascht aufblicken.

Da kam jemand. Hierher, wo sonst kaum eine Menschenseele unterwegs war, und wo er gehofft hatte, endlich mal ein paar Stunden ungestört zu sein.

Doch sein Unmut verflog so schnell wie er gekommen war, als er den braunen Haarschopf erkannte, der auf dem schmalen Kiespfad gerade auf den Baum zusteuerte, unter dem Tsukasa sein Lager aufgeschlagen hatte. Der andere schien ebenfalls überrascht jemanden anzutreffen, denn er stockte mitten im Schritt, als er ihn entdeckte.

„Huch. Mit dir hab ich ja hier gar nicht gerechnet.“

Die weiche, amüsiert klingende Stimme zauberte Tsukasa augenblicklich ein Lächeln aufs Gesicht, als er sich ein Stück weit aufrappelte, während der andere langsam nähertrat und schließlich nur wenige Schritte neben ihm stehen blieb. Zufälle gab‘s – manchmal durchaus sehr nette.

„Das könnte ich genauso zurückgeben.“

Einer stummen Einladung gleich rückte Tsukasa etwas zur Seite, um seinem neuen Bekannten genug Platz zu machen, sich mit auf die Decke zu setzen. Kurz darauf landeten nicht nur dessen schlanke Beine neben ihm, sondern auch drei Flaschen Bier.

Verdutzt blickte Tsukasa auf die Mitbringsel.

„Eigentlich wollte ich mich alleine betrinken, aber hey, in Gesellschaft macht das doch mehr Spaß! Also bedien dich.“

Amüsiert schnaubend über Hizumis Worte kramte Tsukasa nun seinerseits in seinem Rucksack, aus dem er zusätzlich zu der großen Weinflasche, zwei weitere Hopfengetränke und einige Snacks zutage förderte. Jetzt war es an Hizumi ihn einen Moment lang sprachlos anzustarren, ehe er leise lachte.

„Du hattest heute wohl einiges vor, wie mir scheint. Aber ich glaube, wir verstehen uns.“

Dem konnte Tsukasa nur stillschweigend zustimmen, als er eine der Bierflaschen öffnete und seinem Gegenüber unaufgefordert in die Hand drückte. Warum lange zögern, wenn es sich gerade perfekt anbot, den Abend in einem zweisamen Besäufnis enden zu lassen.
 

Während das mittlerweile eher lauwarme Getränk Tsukasas Kehle hinunterrann, versuchte er die neue Situation zu verarbeiten. Unauffällig beobachtete er den anderen aus den Augenwinkeln, welcher mit einem Schmunzeln auf den Lippen aus seiner Flasche trank und den Blick zu der Stelle schweifen ließ, an der die Sonne gerade versank.

Wieso er sich derart über die Gesellschaft von jemanden freute, den er kaum einen Tag kannte, war Tsukasa selbst ein Rätsel, aber Hizumi hatte einfach eine Art an sich, der er sich nicht verwehren konnte. Und es gab sicher dramatischeres.

Nach einigen Minuten des Schweigens siegte die Neugier und er räusperte sich leise, um den anderen nicht zu erschrecken, der gedankenverloren vor sich hinstarrte.

„Ich bin überrascht, dass du diesen Ort kennst.“

Kurz blinzelte sich Hizumi in die Realität zurück, ehe er verschmitzt grinsend antwortete: „Ganz meine Meinung. Wobei es mich noch mehr überrascht, dass wir anscheinend aus demselben Stadtteil kommen. Oder bist du etwa quer durch die Stadt gefahren, um dir hier den Sonnenuntergang anzuschauen?“

Die Frage brachte Tsukasa zum Lachen.

„Nein, ganz bestimmt nicht. Meine Familie wohnt circa zehn Minuten entfernt und ich war früher schon ganz gerne hier.“

„Kann ich verstehen, ist schließlich auch einer meiner Lieblingsplätze.“

Eine weitere Gemeinsamkeit, die das vertraute Gefühl in Tsukasa stärkte. Das war schon fast gruselig, wie sehr sie sich teilweise zu ähneln schienen.

„Ich muss gestehen“, fuhr Hizumi fort. „ich komm oft aus nostalgischen Gründen her, wenn ich auf Heimatbesuch bin. Hatte früher in der Nähe so etwas wie eine kleine Höhle, wo ich mich gerne versteckt habe. Okay, Höhle ist übertrieben, es war mehr ein sehr großer Busch, unter dem genug Platz für ein Kind war. So ein bisschen wie ein Mini-Urwald.“

Über die Vergangenheit sinnend fuhr Hizumi sich durch die Haare, ehe er einen Schluck von seinem Bier nahm. Tsukasa konnte ihn wiederum nur verblüfft anstarren, während er die Geschichte, die ihm so verdammt bekannt vorkam, verarbeitete.

„Ähm, Hizumi?“

„Hm?“ Fragende Augen blickten ihn an.

„Es klingt vielleicht seltsam, wenn ich das sage, aber ich hatte schon die ganze Zeit das Gefühl, dass dich länger zu kennen.“

„Ja, das klingt wirklich seltsam, aber ich weiß, was du meinst.“

Das entwaffnete Lachen ließ Tsukasas Mundwinkel zucken.

„Gut, dann kommt jetzt ein kleiner Ausflug in meine Kindheit.“ Nicht ganz ernst gemeint, zwinkerte er seinem neuen Trinkkumpan zu, als er weitersprach: „Diese Gegend war so etwas wie meine ‚Spielwiese‘, die ich regelmäßig unsicher gemacht habe, um wahlweise Cowboy, Indianer oder Schatzsucher zu sein. Und ich hatte natürlich ebenfalls einen Unterschlupf, der mir allerdings regelmäßig streitig gemacht wurde.“ Kurz hielt er inne und beobachtete genau die Reaktion des anderen, dem es anscheinend langsam dämmerte. „Mein Unterschlupf hatte übrigens gewisse Ähnlichkeit mit einem großen Busch, beziehungsweise dem Eingang zu Totoros Höhle. Solltest du das Märchen kennen.“

„Du veralberst mich doch!“

Tsukasa lachte, während der Braunhaarige ihn mit großen Augen ansah. „Und ja, natürlich kenne ich das Märchen. Wer nicht? Irgendwie finde ich das jetzt etwas gruselig. Und damit meine ich nicht Totoro.“

„Das habe ich vorhin auch gedacht“, feixte Tsukasa. Manchmal war die Welt wirklich ein Dorf.

„Na, nun weiß ich wenigstens, wer damals mein ärgster Konkurrent war und mir meine Schätze geklaut hat. Dafür könnte ich eigentlich eine Revanche fordern.“

Mit übertrieben zusammengekniffenen Augen wurde Tsukasa gemustert, welcher daraufhin beschwichtigend die Hände hob.

„Also an sich war es mein Versteck und du hast versucht, es mir wegzunehmen.“

„Ich glaube, die Erinnerung trügt dich.“

Amüsiert schnaubend griff Tsukasa nach der Weinflasche und hielt sie Hizumi entgegen.

„Das glaube ich nicht, aber wie dem auch sei, wir können uns ja einfach diesen Tropfen teilen, wenn‘s mit der Höhle schon nicht geklappt hat.“

„Ein guter Plan“, lachte der Braunhaarige. „Wenn wir uns damals schon nicht einig waren, dann wenigstens jetzt. Auf unseren geheimen Lieblingsplatz.“
 

*
 

Neben der ausgetrunkenen Flasche Wein füllten inzwischen einige offene Snackverpackungen und zwei weitere Bierflaschen den Platz zwischen ihnen. Mangels vorhandener Gläser hatten sie sich den Wein kurzerhand einfach so geteilt und in kürzester Zeit geleert. Mittlerweile war es merklich dunkler geworden, aber dafür kein Grad kühler. Der Alkohol hatte eine erstaunlich wärmende Wirkung, wie Tsukasa fand, während er Hizumi lauschte, der gerade über die verschiedenen Weinsorten Japans philosophierte.

Irgendwie hatte die ganze Situation etwas Komisches. Da machte man sich auf den Weg zu seiner Familie, stellte sich auf sehr anstrengende Tage ein und plötzlich war da ein neuer, alter – man konnte schon sagen – Bekannter, mit dem er nun seit einer geraumen Weile auf Brüderschaft trank und der ihm im Handumdrehen gute Laune bereitete. Hätte das jemand Tsukasa vor einer Woche prophezeit, hätte er einfach nur die Augen verdreht und demjenigen einen Vogel gezeigt.

„Also kommst du nächste Woche zu unserem Auftritt?“

Verwirrt blinzelte er Hizumi an, der ihn einmal mehr mit großen Augen ansah. Wie waren sie denn so schnell vom Thema abgekommen? Unwillkürlich runzelte er die Stirn. Hizumis Dauergrinsen war verschwunden, er schien einem Mal regelrecht unruhig zu wirken. Beinahe nervös.

„Ähm, klar gerne. Hatte ich nicht gestern schon zugesagt?“

Anscheinend lag dem anderen wirklich etwas daran, so wie er ihn jetzt wie auf Knopfdruck erneut anstrahlte. Tsukasa wurde eine Spur wärmer.

„Ich war mir nicht sicher. Man sagt das doch meist einfach so daher. Aber es wäre wirklich klasse, wenn du vorbeikämst. Außerdem heißt es ja ‚Man begegnet sich immer dreimal im Leben‘, oder nicht?“

Schalk blitzte in den dunklen Augen auf, während Tsukasa schmunzelnd nach den richtigen Redewendungen suchte.

„Soweit ich weiß, heißt es: ‚Man begegnet sich immer zweimal im Leben‘ und ‚Aller guten Dinge sind drei.‘“

„Ach, letzteres finde ich auch nicht schlecht. Wobei… wenn ich so drüber nachdenke, sind wir dann schon beim vierten Mal, wenn man das Höhlen-Problem als Ganzes mitzählt. Also, Tsukasa…“

Grinsend hob Hizumi seine Bierflasche und hielt sie Tsukasa auffordernd hin.

„Lass uns anstoßen. Auf das vierte Mal.“
 

– Ende –



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