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61 Tage

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So, hier nun das dritte und letzte Kapitel des Prequels. Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen

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Jean

Er hatte ihn angefüttert. Natürlich.
 

Die Tasse Kaffee war nur der Anfang gewesen und Andrew rollte über seine eigene Nachgiebigkeit mit den Augen. Dummheit war Jostens Aufgabe, nicht seine. Und doch saß der Rabe neben ihm in einem der beiden Schaukelstühle und starrte in den Garten, als sähe er so etwas zum ersten Mal.
 

Andrew wusste nicht, was an den Büschen. Bäumen und Sträuchern so besonders sein sollte, die Abby angepflanzt hatte und mit viel Geduld hegte und pflegte. Überall blühte und summte es, während Vögel von einem Strauch zum anderen flogen. Eine Vorstadtidylle wie aus dem Bilderbuch. Dieses Mal sogar ohne störende, pädophile Schweine.
 

Eine Gänsehaut verursachte sie Andrew trotzdem, auch jetzt noch, nach den hunderten Malen, die er schon hier gewesen war: alleine, mit Aaron und Nicky, dann auch mit Kevin, nun war Neil ebenfalls mit dabei. Und die neueste Errungenschaft: Moreau.

Abby nahm das hin, ohne zu murren, ebenso wie sie auch Wymack hinnahm ohne zu murren.
 

Andrew zog an seiner Zigarette und runzelte die Stirn bei dem Gedanken daran, dass er ebenso ertragen wurde wie der alte Mann in grauen Langweilerrippboxershorts. Widerlich.
 

Moreau bewegte sich zum ersten Mal seit gefühlten Stunden und Andrew maß ihn desinteressiert. Es war warm, trotzdem lag eine Decke über den zerstörten Beinen. Seicht schaukelte Moreau hin und her und hatte sich mühevoll zu etwas hinuntergebeugt, das Andrew angewidert anstarrte.
 

„Es hat acht Beine, läuft komisch und ist eine Spinne“, sagte er und der andere Junge zuckte zusammen. Unter offensichtlichen Schmerzen richtete er sich wieder auf und lehnte sich steif zurück, die Augen wieder abwesend in den Garten gerichtet.

„Lass mich raten, bei euch im dunklen Schloss gab es so etwas nicht? Oder durfte jeder von euch seine eigene Giftschlange halten?“, spottete Andrew, erntete jedoch nur verwirrtes Schweigen.

„Es war verboten, Tiere zu halten“, erwiderte der Rabe krächzend, die Stimme selbst bei dieser kurzen Antwort immer wieder wegbrechend. Er trank zu wenig, rührte das Wasser nicht selbstständig an, wenn er es nicht vorgesetzt bekam. Fragte auch nicht danach. Sagte zumindest Abby und hatte Andrew mit diesem ganz bestimmten Blick angesehen, der ihm viel davon erzählte, was von ihm erwartet wurde. Als Wiedergutmachung.
 

„Deine raue Stimme widert mich an“, schnarrte Andrew und Moreau presste seine Lippen aufeinander, zog natürlich die falschen Schlüsse. Schnaubend nahm Andrew die offene Wasserflasche hoch, die neben dem Raben stand und hielt sie ihm hin.

„Du trinkst zu wenig. Mach sie leer.“
 

Moreau griff zögerlich danach, sicherer als vorher. Zumindest konnte er die Flasche aufrecht halten und sie an seine Lippen führen. Vorsichtig trank er einen Schluck nach dem anderen, bis nichts mehr in der Flasche war und setzte sie zitternd auf seinem Schoß ab.

„Zufrieden?“, fragte Moreau mit seinem eigenen, beißenden Spott, der immer öfter durchkam, und Andrew hob die Augenbraue. Sie beide wussten, dass er mehr Erfolg als Abby hatte, Moreau dazu zu bringen, etwas zu trinken oder zu essen. Moreau tat das, was er sagte, auch wenn alles seinen Preis hatte.
 

Beißender, wahrheitsgeladener Spott war ihre Währung.
 

„Ich könnte dich im Tierheim aussetzen“, schlug Andrew vor. „Du machst dich sicherlich gut neben den anderen misshandelten Streunern in den Käfigen.“

„Glaubst du, nur weil du Erfahrung mit deinem misshandelten Streuner hast, bist du jetzt ein Experte?“ Wie sehr doch die Stimme mit etwas Wasser erblühen konnte und wie weit sie sich von ihrer devoten Unterordnung entfernte, die ihr Gast insbesondere Abby und Wymack gegenüber zeigte.

„Dir ist klar, dass er dich ebenso markiert hat.“

Moreau würgte angeekelt und verzog verächtlich das Gesicht. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Josten mich angepinkelt hat.“

„Sag du es mir, schließlich warst du mehrere Wochen mit ihm in eurem Folterkeller eingesperrt.“

Er schnaubte, was durch die lädierte Nase wie ein Pfeifen klang. „Er hätte sich viel Leid erspart, wenn er nicht so vorlaut gewesen wäre.“
 

Andrew nahm das schweigend zur Kenntnis. Er wollte Moreau nicht sehen lassen, wie sehr er ihm zumindest in diesem Punkt zustimmte. Lieber widmete er sich einer Frage, die er sich schon gestellt hatte, als Kevin mit der vollen Wahrheit über seinen sadistischen Ex-Kapitän herausgerückt war.
 

„Hat Riko ihn auch ficken lassen?“, fragte er so neutral wie möglich, mit wenig Erfolg allerdings.
 

Moreau fror in seiner momentanen Bewegung ein und gab dem achtbeinigen Monstrum so die Gelegenheit, die Decke hochzukrabbeln. Nutzlos öffneten und schlossen sich die aufgesprungenen Lippen und der Rabe zitterte unter der anscheinenden Wucht seiner Gedanken. Er schloss die Augen, nur um sie kurz danach wieder entsetzt aufzureißen und verschränkte die Arme vor der Brust, als wäre ihm kalt.

Andrew ahnte, was die Antwort sein würde und er ballte selbst die Hand zur Faust.
 

Für einen elendig langen Moment war die Antwort ja…solange, bis sie es nicht mehr war.
 

Moreau schüttelte den Kopf.
 

„Nein. Riko hat auch bei mir damit aufgehört, bevor er kam“, flüsterte er und streckte vorsichtig seine bandagierte Hand in Richtung des Monstrums aus, das nur zu bereitwillig mit seinen haarigen, langen, schwarzen Beinen in Richtung des Raben kroch. Andrew verzog angewidert die Nase, als Moreaus Finger so sacht, wie es ihm möglich war, über den dicken Körper der Spinne strichen. Ganz zu deren und zu Andrews Unbill. „Wie du ja von Kevin weißt…“, schob er leise hinterher.
 

Andrew nickte knapp. Er hatte Kevin dazu gezwungen, ihm alles zu erzählen, auch die unschönen, ätzenden Erinnerungen an die Vergewaltigungen. Es war seine Bedingung dafür gewesen, dass er Moreau nicht weiter zusetzte. Umfassende, vollständige Informationen. Andrew lehnte sich zurück und zog ein Bein zu sich auf den Schaukelstuhl.
 

„Es wird nie gut werden, wenn du zurückkehrst“, sagte er schließlich und wurde weiterhin ignoriert. „Er wird nicht aufhören. Er wird sich steigern. Er wird sich immer neue Metho-“

„Ich habe nicht vor, meinen Abschluss zu überleben“, unterbrach Moreau ihn und Andrew warf ihm einen zweifelnden Blick vor.

„Du kehrst dahin zurück um dich umzubringen?“, spottete er, doch das traf auf keinen fruchtbaren Boden.

„Ja.“
 

Die ruhige und ernste Finalität des Ganzen sowie die ungewohnte Entschlossenheit überraschten Andrew.

„Ist das so?“

„Ich werde das College beenden und dem Ganzen dann ein Ende bereiten.“

„Na so etwas, wächst dir etwa ein Rückgrat?“, spottete er und dieses Mal schloss Moreau tatsächlich seine Augen, seine Mimik ein gequältes Wechselspiel. Das achtbeinige Monstrum nutzte die günstige Möglichkeit und floh wieder zurück in den Garten.

„Ich will einfach nicht mehr.“
 

Andrew kannte den Gedanken. Nur zu gut. Zustimmend brummte er und verfiel in sein Schweigen. Moreau schien das nicht zu stören, denn er suchte von sich aus nicht mehr das Gespräch, sondern schlief nach einer unanständig kurzen Zeit einfach ein, als hätte man von jetzt auf gleich einfach das Licht ausgeknipst.
 

~~**~~
 

Räum deine Scheiße dieses Mal selbst auf und mache wieder gut, was du dem Jungen angetan hast, hatte Wymack in seiner unvergleichlich charmanten Art gesagt und Andrew hatte kurz amüsiert gelacht. Dann hatte er festgestellt, dass der bissige Kampfhund, den sich Riko gezüchtet hatte, momentan nicht viel mehr war, als ein verzweifelter, misshandelter Streuner, der sich eigentlich nach nichts Anderem sehnte, als dass Menschen ihn zur Kenntnis nahmen und ihn ebenfalls als solchen behandelten. Gleichzeitig hatte er jedoch Angst vor jedwedem Kontakt in diese Richtung und so war ihr Haustier, Versuchskaninchen und Pflegefall hin und hergerissen zwischen Abstand und Nähe.
 

In Renees Fall definitiv Nähe, immer und zu jeder Sekunde. Josten war ein Mittelding aus beidem und Andrew selbst ließ Moreau nicht den Hauch einer Wahl, was seine Gesellschaft anbetraf.

So oblag es ihm, dem Misshandelten einen normalen Schlafrhythmus beizubringen und ihn davon abzuhalten, mitten am Tag einzuschlafen, weil es ihm die letzten Jahre seines Lebens so eingetrichtert worden war. Ebenso oblag es ihm, ein Auge darauf zu haben, dass ihr unfreiwilliger Gast etwas aß und trank. Nicht genug in Andrews Augen, aber er war nicht der Vater des sturen Bocks.
 

Andrew suchte sich eine unverletzte Stelle an dem dösenden Körper und stieß Moreau mit seinem Fuß an. Der Junge saß auf der Couch in Abbys Wohnzimmer und eigentlich würde es gleich Abendessen geben. Uneigentlich aber hatte der Rabe die günstige Gelegenheit einer unbeobachteten Minute genutzt um wegzusacken. Wie tot ruhte der Kopf an der Couchlehne, bevor er mit einem Ruck hochschoss und Moreau sich erst ein paar Sekunden später bewusst wurde, dass er nicht mehr im dunklen Schloss des Möchtegernkönigs war.
 

Erst nach und nach wich die Angst aus seinen Augen und er erkannte Andrew.
 

„Nicht einschlafen, Dornröschen. Es gibt gleich Essen.“

Das traf auf wenig Gegenliebe, ebenso wie sein konstantes Wachhalten. Doch der Rabe sollte lernen, nachts zu schlafen.

„Ich habe keinen Hunger.“

Andrew hob die Augenbraue. „Bist du schon wieder in deiner Trotzphase?“, fragte er mit bedeutungsschwanger erhobener Augenbraue und Moreau fletschte die Zähne, während er sich auf der Couch zurechtrückte, seinen Körper enger in sich zusammenfaltete. Wenn es ihm half…

„Was interessiert’s dich?“

„Fehlerhafte Annahme. Es interessiert mich nicht, ich bin nur derjenige, der dich holen kommt.“

„Wegen mir kannst du wegbleiben. Ich will schlafen.“
 

Die Worte waren mit soviel Verve ausgesprochen worden, dass Andrew anerkennend pfiff. Davon anscheinend angelockt, kam Neil in das Wohnzimmer, seine Augen neutral auf Moreau gerichtet.

„Unserem kleinen Streuner hier wächst ein Rückgrat, Josten, hach, ich bin so stolz auf den Racker“, erläuterte Andrew, ohne Neil anzusehen. Als er den Kopf wandte, wurde erst er, dann Moreau, gemustert, der mit grimmiger Ablehnung zur Kenntnis nahm, wie Josten sich ebenfalls auf die Couch setzte und ihn vom Schlafen abhielt.

„Um was geht es?“

„Nichts.“

„Er will lieber schlafen, der konditionierte Rabe.“
 

Hasserfüllt durchbohrten ihn die grauen Augen und Andrew lehnte sich zurück. Knapp zuckte er mit den Schultern.

„Jetzt tun wir alle mal nicht so, als hättest du noch Geheimnisse vor uns“, winkte Andrew ab und lächelte dunkel, als Moreau zusammenzuckte. Ja, er wusste, dass fehlende Geheimnisse eine Schwäche waren und dass sie jemandem, der keine guten Absichten hatte, sehr wohl zunutze waren.
 

„Wie hältst du es mit ihm aus?“, wandte sich das Findelkind an Neil, der nonchalant mit den Schultern zuckte.

„Da rein, da raus“, deutete eben jener auf seine Ohren und Andrew maß den Junkie stumm. Sie Beide wussten, dass das eine glatte Lüge zu Moreaus Gunsten war.

„Das liegt an den mangelnden Hirnzellen, die meine Worte festhalten könnten“, merkte er an und Neil zeigte ihm den Mittelfinger.

„Du meinst eher, deine sinnentleerten Worte haben keine kleinen Finger, mit denen sie sich festhalten können.“

„104 Prozent, Josten.“

„Taten statt Worte, Minyard!“
 

Andrew warf einen kurzen Blick auf den Raben und trat ihm erneut vor die unverletzte Stelle seines Schienbeins, als dieser ihren kurzen Schlagabtausch dazu genutzt hatte, die Augen zu schließen und anscheinend wieder schlafen zu gehen.

Moreau fuhr erschrocken hoch. Unerfreut runzelte er die Stirn. „Ich will eurem liebeskranken Gesäusel nicht zuhören“, murrte er, machte aber keine Anstalten, sich von seinem Platz wegzubewegen.

Andrew grinste freudlos. „Dann schneid dir die Ohren ab.“

„Schneid du dir doch die Zunge raus“, gab das Findelkind zurück. Na da wurde jemand mutiger. Wäre er ein Elternteil, würde er den Fortschritt zu schätzen wissen. So, nicht so sehr.
 

„Es gibt Abendessen, Jungs!“, bewahrte Abby den Aufsässigen vor einer entsprechenden Antwort und Neil sprang auf. Ohne einen Blick auf sie beide eilte er in die Küche. Opportunistischer Junkie.

Andrew erhob sich langsamer, starrte auf Jean hinunter und rollte mit den Augen.

„Du hast keinen Hunger, willst schlafen und hasst uns alle. Alles schon gehört. Interessiert mich nicht. Jetzt steh auf und geh in die Küche.“

„Es gibt Lasagne“, rief Abby fröhlich in seine gar nicht mal so freundlichen Worte hinein und hatte damit mehr Erfolg als er es jemals haben könnte.

„Du hast es gehört. Es gibt Lasagne, Jean.“
 

Auch wenn der Rabe es gut zu verstecken wusste, so erkannte Andrew Interesse, wenn er es sah. Wohlversteckt unter der indignierten Wut.
 

~~**~~
 

„Ich habe mit Thea und Jeremy telefoniert.“
 

Andrew fragte sich, ob Kevin dafür ein Fleißsternchen haben wollte. Wohlweißlich schwieg er, in der Hoffnung, dass dieser Moment vorbeiging und er nicht Zeuge unsinniger Schwärmerei für Captain Sunshine und der Frau wurde, die laut Kevin die ruchloseste und brutalste Frau in ihrem Sport war und ihn mit 16 entjungfert hatte…während sie 20 war.
 

Sachen gab’s.
 

Als er nach Kevins Eintreffen bei den Foxes brutale, schonungslose Ehrlichkeit von diesem gefordert hatte, hatte Andrew nicht damit gerechnet, dass er sein Liebesleben vor ihm ausbreiten würde. Er hatte viele wichtige und lebensnotwendige Informationen über die Ravens und die potenziellen Gefahren, die dort lauerten, erfahren, aber alles, was Muldani und ihn betraf… hätte er lieber vergessen.
 

Ebenso wie die Schwärmerei für den besten und talentiertesten Striker der Class I College Exy-Liga, dessen Fähigkeiten unübertroffen gut waren. Letzteres konnte Andrew mittlerweile mitsprechen und war entsprechend genervt, wann immer das Thema aufkam.
 

„Es ging um Jean.“
 

Das war schon eher von Interesse und Andrew sah von seinem Lehrbuch hoch. Nonverbal gab er Kevin zu verstehen, dass er fortfahren sollte.
 

„Wie du weißt, hasst Jean mich.“

„Mit Recht“, erwiderte Andrew lakonisch und erntete dafür einen wutentbrannten Blick. Er zuckte mit den Schultern. Dass Kevin französischer Staatsfeind Nummer eins war, war nun kein Geheimnis, schon seit der Rabe hier angekommen war. Mittlerweile wusste Andrew auch, dass eine mögliche Entführung durch Moreau im Auftrag von Evermore alleine schon daran scheiterte, weil der Junge sich weigerte, Kevin auch nur anzusehen, geschweige denn zu treffen oder anzufassen.
 

Andrew erinnerte sich noch sehr gut an die Laute des Missfallens, die aus dem Schlafzimmer gedrungen waren, als sich Kevin tatsächlich in das Rabennest gewagt hatte. Wäre der gar nicht mal mehr so heimliche Sohn von David Wymack nicht von alleine herausgekommen, so hätte er ihn spätestens ein paar Minuten später herausgeschleift. Zu seiner und zu Moreaus Sicherheit und auch für Andrews eigenes Seelenheil.
 

„Aufgrund der Differenzen zwischen uns wird er vermutlich kein Teil der Foxes sein wollen.“

„Und ich will deinen bedauernswerten Arsch nicht vor ihm und seinen berechtigten Rachegelüsten schützen müssen, ja. Mein Tag hat nur 24 Stunden.“

„Als wenn ich mit Jean nicht fertig werden würde.“

„Hmh.“

Kevin grollte wütend. Wirklich beeindruckt war Andrew davon allerdings nicht. Eigentlich so gar nicht.

„Die Trojans würden sich bereiterklären, ihn aufzunehmen in der nächsten Saison, wenn Evermore ihn abgibt.“

„Was sie tun werden, weil Renees Mutter ihnen sonst die PR-Hölle heiß macht und der Clan alles andere als Aufmerksamkeit möchte. Ebenso wenig wie der Präsident von Evermore.“

„Richtig. Deswegen sind seine Unterlagen auch per Kurier auf dem Weg hierhin und sollten morgen oder übermorgen ankommen.“
 

Andrew legte seine Lernunterlagen zugunsten einer Zigarette zur Seite und ging zum geöffneten Fenster. Er steckte sie sich an und nahm einen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch aus dem Apartmentfenster in den Regen hinaus. Es roch gut. Frisch und sauber.

„Das wird Moreau nicht mit sich machen lassen“, mutmaßte er und Kevin nickte.

„Jemand wird ihn überzeugen müssen.“

„Und das bist nicht du.“

„Ich würde, aber bei mir wird er auf jeden Fall nein sagen.“

„Und du sagst mir das, weil…“
 

Kevin sah ihm frustriert in die Augen. „Du und Neil habt einen Zugang zu ihm, den ich nicht habe. Er hört auf dich. Verdammt nochmal, er trinkt und isst, wenn du es ihm sagst. Warum auch immer.“

„Vielleicht, weil ich ihn nicht verarscht und alleine gelassen habe?“

„Du hast versucht, ihn unter Drogen zu setzen.“

„Wollen wir wirklich darüber reden, ob „ich lasse einen Jungen, der jahrelang gequält wurde, alleine in den Händen von Psychopathen“ schlimmer ist als „ich jage ihm eine Nadel unter die Haut“?“

„Dein Verhalten war scheiße.“

Andrew nahm einen tiefen Zug und blies ihn dieses Mal in den Raum. „Ja, das war es. Und deine Untätigkeit hätte ihn beinahe das Leben und mit hoher Wahrscheinlichkeit seine geistige Gesundheit gekostet. Auf der Erfahrungspunkteskala von „ich bin scheiße“ hast du mir also etwas voraus.“
 

Kevin starrte ihm abweisend in die Augen, bevor er schließlich nickte und den Kopf senkte. „Mag sein.“

Na also. Sie beiden hatten das vorher schon gewusst, aber anscheinend brauchte der große Kevin Day manchmal eine Erinnerung an das, was er hinter sich gelassen hatte.
 

„Zurück zu Moreau. Die Trojans“, kam Andrew wieder auf das zu sprechen, was das eigentliche Thema war. „Captain Sunshine und seine Gummibärenbande.“

„Sie werden ihm gut tun.“

„Sie werden vollkommen überfordert mit ihm sein. Und er mit ihnen.“

„Aber an ihnen ist nichts Böses.“

„Glaubst du.“

„Weiß ich.“

„Sagt der Jeremy-Knox-Fanboy.“

„Das hat damit nichts zu tun.“
 

Andrew brummte nichtssagend.

„Ich glaube, es wird gut gehen. Und sie werden ihn entsprechend fordern und sein Spiel fördern“, fuhr Kevin fort und Andrew war so ganz und gar nicht seiner Meinung. Tatsächlich wäre Moreau hier am Besten aufgehoben gewesen, wäre da nicht schon Kevin Day. Hier hatte er Josten, den er schon kannte und mit dem er sich auf dem Spielfeld verausgaben konnte. Hier hatte er ein dysfunktionales Team, das ihm in all seiner brutalen Dysfunktionalität am Ähnlichsten war. Sein Trauma war hier auch gut aufgehoben, nicht zuletzt bei Renee, die wie eine Glucke über ihn wachen würde.
 

Los Angeles war mehr als 3840 Kilometer von hier entfernt. 35 Stunden mit dem Wagen, zweieinhalb Tage mit der Bahn und sieben Stunden mit dem Flugzeug. Wenn Moreau sich anschickte, von Küste zu Küste zu laufen, wären das 33 Tage. So amüsant die Rechnung auch war, sie würde für Moreau nicht aufgehen und er würde wieder alleine in eine neue Stadt geschickt werden, zu Fremden, die er nicht kannte. Das Gleiche hatte er spiegelverkehrt vor neun Jahren durchgemacht, nur dass die Sonnenscheinmannschaft das komplette Gegenteil von Evermore war.
 

„Er wird es hassen.“

„Hast du eine bessere Lösung?“, fragte Kevin frustriert und Andrew brummte.

„Am Besten ist, dass er diesen Scheißsport komplett aufgibt.“

„Das werden die Moriyamas niemals zulassen und ihn umbringen.“

„Scheiß Mafiasport“, ätze Andrew und erntete nur ein verzweifeltes Aufstöhnen. Aber Kevin hatte Recht. „Unter den Umständen sind die Trojans eine akzeptable Lösung“, stimmte er schließlich zu und rollte mit den Augen. „Was sagt Theodora dazu?“

„Sie hat den Vorschlag überhaupt erst gemacht. Und sie möchte mit Jean sprechen, wenn es ihm wieder besser geht.“

„Sonst nichts? Keine sonstigen, guten Ratschläge an ihr junges Boytoy?“

„Halt die Fresse, Andrew.“

Mit gespieltem Entsetzen fasste der blonde Junge sich an sein Herz. „Du machst mich traurig.“

„Du machst mich seit meiner Ankunft hier traurig.“
 

„Geh dich zwischen den Schenkeln deiner Brutalofreundin ausheulen“, grinste Andrew und schnippte den Zigarettenstummel aus dem Fenster.

„Scheiß Umweltverschmutzer.“

„Fick dich, bigottes Arschloch.“
 

Die Tür ging auf und sie beide starrten Neil an, der gerade das Zimmer betrat. Er sah fragend erst zu Kevin, dann zu Andrew.
 

„Ist was?“, fragte er in seiner beinahe schon liebenswürdigen Ahnungslosigkeit und blinzelte. Andrew schnaubte und rollte mit den Augen. „Erklär du es ihm“, wälzte er die Verantwortung auf Kevin ab und ging ins Badezimmer.
 

~~**~~
 

Der grundsätzliche Fehler war, beschloss Andrew, dem Flüchtigen Kleidung zu geben.
 

Eigentlich hatte Renee das klug angestellt, ihn mit nichts außer seinem T-Shirt und seiner Boxershorts aus Evermore herauszuholen. Damit wäre er wenigstens nicht versucht gewesen, durch die Stadt zu geistern auf der Suche nach einem Bus zurück nach Evermore. Das sah nun in seiner bunt aus Boyds Klamotten zusammengewürfelten Kleidung anders aus.
 

Die gutherzigen Idioten seines Teams hatten ihm natürlich eine Hose, ein T-Shirt und sogar noch Socken und Schuhe geben müssen, auf dass er nochmal einen Fluchtversuch wagen konnte.

Gut, Andrew gewann damit den Wetteinsatztopf, aber das war nicht der Punkt.

Das war nur ein positiver Punkt gegen sehr viele negative, allen voran Renees Geweine, wenn er Moreau einfach weiterhumpeln lassen würde und dieser schlussendlich in Evermore ankam.
 

Der dumme Trottel.
 

Gemächlich fuhr Andrew an den Bürgersteig heran und blieb neben Moreau stehen, der ihn in all seiner Erschöpfung verspätet zur Kenntnis nahm. Überrascht zuckte er zusammen und unweigerlich wich er einen Schritt zurück, bereit zur Flucht, die ihn nicht weit führen würde.

„Steig ein“, kürzte Andrew alle vor Schmalz triefenden Überredungsversuche auf zwei Worte zusammen und nickte auf den Beifahrersitz. Natürlich stieß das nicht auf Gegenliebe.
 

„Nein.“

Der Rabe war gut darin geworden, nein zu sagen, dank Renees Hilfe. Nein zu süßem Nachtisch, weil seine Indoktrinierung es ihm verbot. Damit konnte Andrew leben, denn er war derjenige, der davon profitierte, wenn Moreau ihm mit angewiderter Verweigerung seien Portion zuschob. Nein zu Jostens Versuchen, ihn dazu zu überreden, einen Film mit ihm zu schauen. Nein zu Nickys Versuchen, ihn in längere Gespräche zu verwickeln. Nein zu Reynolds Versuchen, ihn einzukleiden. Und ein ganz besonders hasserfülltes Nein war an Kevin gegangen.
 

Irgendwo verständlich, brachte ihn aber jetzt nicht weiter.
 

„Ihr fahre dich zum Bahnhof“, sagte Andrew und holte somit die Aufmerksamkeit des Rabenkindes zu sich. „Währenddessen reden wir und ich werde dir einen Vorschlag machen, den du annehmen oder ablehnen kannst.“

Misstrauisch starrte der Tod auf zwei Beinen erst ihn, dann den Beifahrersitz an.

„Du wirst mich doch nur zurückbringen. Das ist eine Falle.“

Andrew rollte mit den Augen. Klar dachte Moreau so, Evermore hatte es ihn nicht anders gelehrt.

„Habe ich dich angelogen, seitdem du hier bist?“, hielt er dagegen und nach einem Moment des kritischen Überlegens schüttelte Moreau den Kopf. „Also. Warum sollte ich das dann jetzt tun?“

So ganz konnte ihm der Rabe seine Frage nicht beantworten und Andrew deutete erneut auf den Beifahrersitz.

„Wenn du den Vorschlag nicht annimmst, dann setze ich dich am Bahnhof ab und bezahle dir sogar noch dein Ticket, damit du das von Abby gestohlene Geld rausrücken kannst.“
 

Moreau hatte den Anstand, wenigstens schuldbewusst auszusehen, als er schlussendlich zögernd in den Wagen stieg und sich noch viel zögerlicher anschnallte. Andrew fuhr schweigend los und fädelte sich in den dahinplätschernden Verkehr ein, der sie über Umwege zum Bahnhof bringen würde.

„Wenn du zurückkehrst, wird es für dich noch schlimmer werden. Sie werden dich die restlichen zwei Jahre bis zu deinem Abschluss mehr quälen, mehr foltern, mehr missbrauchen als sie es jetzt schon getan haben, weil sie deinen Verrat nicht akzeptieren. Allen voran Riko, wenn er dich in seinem Wahn nicht umbringt.“

Ruhig zählte Andrew auf, was er für die Zukunft hielt und angespannt hörte Moreau ihm zu. Kein Ton verließ die starr zusammengepressten Lippen und aus dem Augenwinkel heraus sah Andrew, dass der andere Junge zitterte.
 

Vor Angst? Vermutlich. Vor Erschöpfung? Mit Sicherheit.
 

„Dein Tod wird auf jeden Fall schmerzhaft sein, egal, wann er eintritt. Wenn ich raten müsste, wird es eine Kombination aus Erstechen, zu Tode prügeln und Verbluten sein. Vielleicht noch ein bisschen mehr.“
 

Der Junge neben ihm war vollkommen still, selbst das Atmen hatte er eingestellt.
 

„Ich biete dir eine Lösung an“, sagte er, bevor Moreau ersticken konnte und der verwundete Körper zuckte zusammen, als hätte er ihn geschlagen.

„Du bleibst weg aus Evermore.“

„Das kann ich nicht, sie werden mich holen kommen.“

„Werden sie nicht. Wymack hat mit dem Präsidenten von Evermore gesprochen und dafür gesorgt, dass sie dich freigeben.“

„Was…?“

„Renees Mutter hat den Weg geebnet und mit einem handfesten Skandal gedroht, wenn ihrer Tochter dieser kleine, aber feine Wunsch nicht erfüllt wird.“

Moreau gab einen Laut der Angst von sich. „Sie werden sie umbringen.“

„Werden sie nicht. Zuviel mediale Aufmerksamkeit. Da ist dein Transfer die geräuschärmere der beiden Möglichkeiten.“
 

Natürlich fiel es dem Raben schwer, ihm das zu glauben. Andrew verstummte und fuhr die vierte Runde im Stadtring, dieses Mal nach Osten. Ein kurzer Blick auf seinen Beifahrer sagte ihm, dass dieser durchaus Interesse an seiner Umgebung zeigte, so wie seine Augen versuchten, alle Details nachzuverfolgen, die sich ihm boten.
 

„Ich gehöre ihnen“, murmelte das Findelkind schließlich und Andrew schnaubte.

„Keine Sorge, vermutlich werden sie dich weiterhin um Geld erpressen. Aber Moriyama junior wird seine Finger nicht mehr in deine Richtung ausstrecken. Du kannst in aller Seelenruhe in einer anderen Mannschaft spielen.“

„Ich werde nicht für euch spielen“, zischte es vom Beifahrersitz so wütend und hasserfüllt, dass Andrew tatsächlich eine Augenbraue hob. Na so etwas. Da konnte jemand doch noch Widerstand leisten.

„Weil?“

Kevin.“
 

Andrew rollte mit den Augen. Aber er verstand.
 

„Sieht Kevin genauso und hat auf Muldanis Vorschlag hin Kontakt zu seinem Lieblingsstriker aufgenommen. Die USC Trojans würden sich nach erstem Stand dazu bereiterklären, dich unter Vertrag zu nehmen.“

Es dauerte seine paar Sekunden, dann lachte Moreau. Es war kein angenehmer Laut, aber einer, den Andrew gut zuordnen konnte. Die Trojans waren die Guten in ihrer Rechnung. Mehrfacher Träger des Day Spirit Awards, notorisch für ihre sauberen Spiele ohne Fouls bekannt. Alleine, dass sie neun gegen neun gegen sie gespielt hatten, ohne Gebrauch von ihrer 28-köpfigen Mannschaft zu machen, war ein Zeugnis, dass sie die Guten, aber nicht die sonderlich Klugen oder Verschlagenen waren. Überhaupt gar nicht. Andrew persönlich hasste sie für ihre Sonnenscheinattitüde und ihre gute Laune bis aufs Blut. Er mied sie, wo es nur ging.
 

„Ist das allen Ernstes dein Vorschlag? Mich bei den USC Trojans unterzubringen?“, spottete der Rabe verächtlich und Andrew lächelte.

„Nein, das ist Muldanis und Kevins Vorschlag. Mein Vorschlag ist es, dich bei deinem Selbstmord zu unterstützen. Wenn du ihren Vertrag annimmst, erledige ich das Töten für dich kurz und schmerzlos. Ein Schuss, ein Treffer, die Welt wird dunkel und alles Leid hört auf zu existieren.“
 

Die darauffolgende Stille beherrschte seine Runden für die nächsten drei Blocks. Moreau starrte ihn an, durchdringend und nervenzerreibend. Andrew schmeckte das überhaupt nicht, doch er begnügte sich damit, die Hände ums Lenkrad zu krampfen.

„Warum?“, presste sein Mitfahrer schließlich all seine Emotionen in ein Wort. Andrew konzentrierte sich auf die rote Ampel vor sich, bevor er Moreau kurz maß.

„Warum was?“

„Warum kannst du einfach einen Menschen töten? Warum soll ich dafür erst den Vertrag annehmen? Warum machst du es nicht jetzt?“
 

Die Ampel sprang auf grün und der Wagen vor ihm würgte den Motor ab. Andrew grollte und genervt wartete er, bis es der Fahrer dann doch schaffte, seinen Arsch über die Kreuzung zu schieben. Sie dadurch natürlich nicht mehr.

„In der Reihenfolge. Weil es einfach ist. Weil ich dafür eine Gegenleistung von dir erwarte. Weil es jetzt noch zu früh ist. Weitere Fragen?“

Die bandagierten Hände strichen unruhig über Boyds Trainingshose.

„Welche Gegenleistung? Und warum ist es zu früh?
 

Sie hatten ja Zeit, bis die Ampel auf Grün sprang, also musterte Andrew Moreau ausgiebig, in dessen Augen Verzweiflung, Unglauben, aber auch Hoffnung standen. Was für ein dummer, naiver Junge. Konnte sich gleich mit Josten zusammentun, das würde die beiden noch mehr wie Brüder aussehen lassen. Von verschiedenen Vätern. Und Müttern.
 

„Ich will zwei Monate von dir. Exakte einundsechzig Tage, in denen du dort ankommst, dir ihren Regenbogenzuckerfreundschaftsmist in den Arsch blasen lässt und einfach mal deine ach so tolle Sportart ausübst, während du ausnahmsweise mal nicht gefoltert wirst. Nachdem die zwei Monate vorbei sind, werde ich dann zu dir kommen und dir eine Kugel durch den Kopf jagen, kurz und schmerzlos.“
 

Groß und rund waren sie, die grauen, hübschen Augen in dem zerstörten Gesicht. „Wieso?“, flüsterte der Rabe auf der Suche nach Wahrheit und Andrew lächelte kalt. Hinter ihnen hupte es und er sah, dass die Ampel bereits wieder auf Grün gesprungen war. Es konnte ihm nicht egaler sein. Insbesondere weil das, was er bisher gesagt hatte, nun unweigerlich dazu führte, dass der Junge neben ihm immer und immer kurzatmiger wurde, immer unsicherer, bleicher und fahriger. Andrew erkannte eine Panikattacke, wenn er sie sah und rollte innerlich mit den Augen. Moreau hatte sie bei Abby selten gehabt, lediglich immer dann, wenn ihn etwas triggerte, was ihnen allen verborgen blieb. Dass er durch sein Angebot nun überfordert und verängstigt war, begriff Andrew, es stimmte ihn aber nicht fröhlich. Ganz und gar nicht.
 

Unwillig legte er eine Hand in den wunden Nacken des Ex-Raven und drückte warnend zu. Ein Aufjaulen antwortete ihm, doch er ließ sich davon nicht beeindrucken.

„Schluss mit dem Hecheln, Moreau. Atme“, sagte er bestimmt, mit einer Dominanz in der Stimme, die selbst Kevin von seinen Egotrips herunterbrachte. Beinahe beschwörend redete er auf den Jungen ein. „Langsam. Ein. Langsam. Aus. Verstanden?“

Moreau erwiderte nichts. Er brauchte lange Zeit – Andrew vermutete dem Gehupe nach eine oder zwei weitere Grünphasen – bis seine Worte auf fruchtbaren Boden stießen und Moreau es überhaupt in Erwägung zog, seinem Rat zu folgen.
 

Den zweiten Tipp, seine Muskeln zu entspannen, verkniff Andrew sich. Der Rabe hatte keinen einzigen Muskel entspannt, seitdem er hier war. Vermutlich hatte er das seit Jahren nicht und deswegen würde Andrew auf eine Mauer des Unverständnisses stoßen. Der dritte Tipp, an etwas oder jemanden zu denken, was ihm Sicherheit gab…nichts leichter als das.
 

„Und jetzt stellst du dir Renee vor. Ihre Regenbogenhaare, das bleiche Gesicht, ihre Augen. Ruf dir ihr Versprechen ins Gedächtnis, das du in Sicherheit bist und dass sie von nun an für immer dafür sorgen wird, dass du es auch bleibst. Wort für Wort.“
 

Auch das brauchte seine Zeit, aber es wirkte. Moreau wurde ruhiger und ruhiger und konnte schließlich auch einen normalen Atemzug schöpfen. Aus dem einen wurden zwei, daraus drei und dann unzählig viele. Er konnte seine Hand aus Moreaus Nacken nehmen und sich zurücklehnen. Moreau gelang es sogar, ihn schlussendlich anzusehen. Zittrig noch, aber mit Erkennen und nicht mit Panik in seinen Augen.
 

Andrew kam zum Wesentlichen zurück. „Du sollst wissen, wovon du sprichst, wenn du mir sagst, dass ich dein Leben beenden soll. Das, was du bisher abgeliefert hast, war alles, nur kein Leben.“

Die Ampel sprang wieder auf Rot und Andrews Augen kehrten zurück zur Straße vor ihnen. Er wartete, bis es grün wurde und fuhr dann tatsächlich los, legte die zwei Kilometer bis zum Bahnhof schweigend zurück, Moreau seinen Gedanken überlassend. Ebenso stumm fuhr er auf den Parkplatz, hielt an und machte den Wagen aus. Langsam wandte er sich an das Findelkind und hielt den ihn sezierenden Blick.
 

„Auf Gleis drei fährt der Zug nach Columbia. Von dort aus kommst du mit dem Nachtzug nach Huntington, wo dich deine netten Freunde aus Evermore abholen können. Kostet dich nur einen Tag, wieder in deine unterirdische Hölle aus Folter und Vergewaltigung zurück zu kehren“, deutete Andrew auf den Eingang. Er bezweifelte, dass Moreau diese Geste wahrnahm, so blind, wie er ihn anstarrte.

„Bleibst du sitzen, gilt der Deal. Egal, ob du den Vertrag mit der USC unterschreibst oder mit einem der anderen Colleges. Zwei Monate Gnadenfrist, bevor ich vorbeikomme und deinem Leben schmerzfrei ein Ende setze. Ich gebe dir für deine Entscheidung fünf Minuten, von jetzt an.“
 

Andrew holte sein Handy heraus und machte den Timer an, widmete sich dann aber wieder den Nachrichten die er während seiner unnötigen Rundfahrt durch die Stadt erhalten hatte.

~Ich habe ihn eingesammelt~, schrieb er Renee, deren Sorge zwischen den einzelnen Buchstaben ihrer Frage nur so triefte. ~Sitzt neben mir. Wir sind am Bahnhof. Ich warte auf seine Entscheidung.~
 

„In Evermore… als sie… als Day zu sehr von dem Kapitän der Trojans geschwärmt haben…“, begann Moreau, unsicher und unfähig, weiter zu sprechen, sondern zupfte an seinen Verbänden. Wie gut, dass Andrew da aushelfen konnte.

„…hat Riko dich vergewaltigen lassen um Kevin zu zeigen, wie ein Mann einen Mann richtig fickt. Ja, das hat er mir erzählt und er hasst sich auch heute noch dafür. Wenn nicht sogar mehr als damals, denn selbst die sture Eisenbahnschiene Kevin Day ist mittlerweile in der Lage, auch mal vom Weg abzuweichen. Er vergeht vor Reue, sozusagen.“
 

Moreau schluckte und schloss gepeinigt die Augen. „Wie kann ich denn sicher sein, dass dort nicht…ich meine, Knox ist schwul…“

Nun war es doch Wut, die Andrew zischen ließ, abrupt und überschwemmend. „Ja, Jeremy „mir scheint die Sonne aus dem Arsch“ Knox ist schwul, er steht auf Männer. Das bedeutet aber nicht, dass er sich genauso an dir bedienen wird wie die Ficker aus Evermore.“

Das Findelkind zuckte vor dem Zorn in seiner Stimme zurück und für einen Moment war es gut so.
 

„Ebenso wenig wie ich, Neil oder Nicky ein Interesse daran haben, uns dir aufzuzwingen, nur weil wir auf Männer stehen.“

„Wie kann ich ihm denn unter die Augen treten, wenn ich wegen ihm...wenn sie mir wegen ihm…“

„Genauso wie ich dir unter die Augen treten kann, obwohl du in Evermore Beihilfe zu Neils Folter geleistet hast.“

Moreau verstand nicht, was er sagen wollte und Andrew rollte mit den Augen.

„Du warst ein Bestandteil, aber nicht der Täter.“
 

Das Erkennen sah er an der nachdenklichen Falte, die sich unter den ganzen Verbänden und Pflastern bildete. Andrew warf einen Blick auf sein Telefon.

„Anderthalb Minuten noch“, merkte er an und Moreau nutzte die kommenden Sekunden, um mit seinen Fingern - den krummen, verstümmelten Überbleibseln menschlicher Abgründe - über das Armaturenbrett zu streichen.
 

„Woher weiß ich, dass es in Los Angeles nicht genauso schlimm wird?“

„Los Angeles ist nicht Evermore.“

„Deine Familien sind auch nicht Evermore gewesen in all ihrer vorgetäuschten, heilen Welt.“

Natürlich musste der Schlag unter die Gürtellinie kommen. Andrew hatte mit nichts Anderem gerechnet.

„Manchmal sind Traumschlösser eben doch Realität.“

„Woher weiß ich, ob sie es sind?“

„Indem du es ausprobierst.“

Moreau schwieg für lange, verstreichende Sekunden. „Zwei Monate“, sagte er dann langsam.
 

„Ja.“

„Nur einundsechzig Tage.“

„Keinen mehr.“

„Das würdest du wirklich tun?“

„Ja.“

„Warum?“

„Ich habe was wieder gut zu machen.“

„Bei wem?“

„Bei dir.“

„Und deswegen bringst du mich um?“

„Wenn du es so willst.“

„Und wenn nicht?“

„Dann nicht.“

Moreau runzelte die Stirn. „So einfach ist das?“
 

Natürlich war es das nicht. Es erforderte eine detaillierte Vorausplanung und entsprechende Maßnahmen. Es erforderte ebenso den unbedingten Willen der Gummibärchenbande, Jean bei ihnen aufzunehmen und ihn zu integrieren, mit allem, was er zu bieten hatte an Trauma und schlechten Erinnerungen an das letzte Jahrzehnt. Moreau von seinem Leid zu erlösen war sicherlich in Andrews Handlungsrahmen, aber es war nicht die bevorzugte Option, die er für den Jungen neben sich hatte, so konnte er nur darauf hoffen, dass die Trojans ihren Teil dazu beitrugen, auch wenn sie nicht wussten, was auf dem Spiel stand. Und Renee. Und Neil. Und…nein, nicht Kevin. Der garantiert nicht.
 

Wie gut, dass Moreau noch viel zu wenig vom Leben wusste um ein Taktiker zu sein und einen offensichtlichen Plan zu durchschauen.
 

„Zwei Monate?“

„Immer noch. Ja.“

„Und du würdest es wirklich tun?“

„Ja. Deal ist Deal.“
 

Moreau verstummte und nickte zaghaft, bevor er die Worte fand, zuzustimmen. Das Krächzen, was seiner Kehle entkam, war ein scheues, ängstliches Ding voller Misstrauen. Aber es war ein Ding, das nicht zu Gleis drei wollte.
 

Und Andrew verdammt reich machte, vorbei an Allison. Ihr Wetttopf gehörte ihm.
 

„Gut. Und jetzt sprichst du mit Renee, sie möchte wissen, ob es dir gut geht.“

Von Neil wusste Andrew, dass Jean keine wirkliche Ahnung hatte, wie er ein Smartphone zu bedienen hatte, also rief er Renees Kontakt auf und wählte ihre Nummer. Er warf es dem hilflos schluckenden Jungen zu und startete den Wagen, während vom anderen Ende der Leitung aus Renees Stimme erklang. Andrew verstand nicht genau, was sie sagte, aber er konnte es sich vorstellen. Ungeduldig fädelte er sich in den fließenden Verkehr in Richtung Universität ein.
 

„Nein…hier ist Jean. Wir fahren wieder. Nein. Nein, ich kehre nicht nach Evermore zurück.“
 

~~~~~~

Das Ende.

Wird fortgesetzt in „Force of Nature“.



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