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Goldkehlchen

Zwischen Spielen und Rätseln...
von

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... oder auch „I want you“

Das schrille Läuten an meiner Wohnungstür reißt mich unsanft aus dem Schlaf. Einen Moment lang bin ich völlig desorientiert und blinzle verwirrt in die ungewohnte Helligkeit. Mein Herz rast und ich fühle mich seltsam zittrig, während sich mein Blick allmählich klärt. Erneut ertönt das nervtötende Geräusch, erinnert mich daran, dass sich in diesem Moment jemand vor meiner Tür befindet. Noch etwas unkoordiniert erhebe ich mich von meinem Sofa und wanke zur Tür. Besuch habe ich keinen erwartet, jedenfalls nicht um diese Uhrzeit.

Auf meinem Weg durch den Flur werfe ich einen flüchtigen Blick auf die kleine Uhr, die auf dem schmalen Schränkchen neben dem Eingang thront. Es ist erst früher Nachmittag und damit eindeutig zu früh für unangekündigten Besuch.

Etwas zu ruppig öffne ich die Tür, um einem erneuten Klingeln zuvorzukommen. Wie sich herausstellt, gerade rechtzeitig, denn vor mir schwebt eine Faust, die wohl eben dazu angesetzt hatte, das Klingeln durch ein nicht weniger nerviges Klopfen zu ersetzen.

Obwohl ich alles andere als wach bin, schaffe ich es reflexartig einen Schritt nach hinten auszuweichen, um einer möglichen Kollision zu entgehen. Parallel zu meinem Blick wandern meine Augenbrauen nach oben, als ich meinen Überraschungsgast erkenne. Karyu. Was mich eigentlich nicht verwundern sollte. Wenn einer unangemeldet bei mir auf der Matte steht, dann ist es Karyu. Auf dessen Gesicht macht sich indessen ein schiefes Grinsen breit, während er hastig die Hand sinken lässt.

„Wolltest du mich schlagen?“ Meine Begrüßung klingt barscher als beabsichtigt, was aber einfach mit meinem sich noch im Traumland befindlichen Geist zusammenhängt – normalerweise bin ich wirklich freundlicher. Sofort wird Karyus Grinsen eine Spur entschuldigend.

„Nein, wo denkst du hin? Ich dachte nur, vielleicht hast du die Klingel nicht gehört.“

„Ah ja… Weil Klopfen auch so viel lauter ist…“ Müde reibe ich mir mit einer Hand über das Gesicht, ziehe dabei mit der anderen die Tür weiter auf, um meinem Gegenüber die Möglichkeit zum Reinkommen zu geben, die dieser augenblicklich ausnutzt. Seine Schuhe hinterlassen nasse Flecken auf dem Boden, als er sie sich von den Füßen tritt und mich gleichzeitig unentwegt zu mustern scheint.

„Sag mal, hab ich dich geweckt?“ Auf meinen fragenden Blick hin ergänzt er: „Ich hab dich bisher nur dreimal so knurrig erlebt … und das war kurz nach dem Aufstehen.“ Ohne dass ich es verhindern kann, fangen meine Mundwinkel an zu zucken. Wo er recht hat. Ich bin zwar nicht immer die Gute-Laune-Fee schlechthin, für gewöhnlich aber durchaus weniger schnippisch unterwegs. Inzwischen fühle ich mich allerdings schon deutlich wacher als vor ein paar Minuten und meine Laune hebt sich bereits. Vielleicht trägt auch Karyus Anwesenheit einen Hauch dazu bei. Wer weiß...

„Mhmmm… irgendwie ist mein Mittagsschlaf länger ausgefallen, als von mir gewollt.“ Mit diesen Worten dränge ich mich an dem Großen vorbei Richtung Küche.

„Tee?“, rufe ich zurück in den Flur, schalte dabei meinen Wasserkocher an.

„Gerne“, kommt es unerwartet laut zurück. Karyu ist mir gefolgt, wie mir ein schneller Blick über die Schulter bestätigt. Während ich in den Untiefen meines Teevorrats nach Karyus Lieblingssorte fahnde, die er stets trinkt, wenn er mich besucht – was häufig der Fall ist – fallen mir seine Schuhe wieder ein.

„Regnet es eigentlich? Hab noch gar nicht rausgeschaut.“

„Nein, nicht mehr. Wobei es sich dafür nicht weniger nass anfühlt. Ist ziemlich schwül draußen.“

Ich schnaube kurz, um meine nicht vorhandene Begeisterung über das Wetter mitzuteilen, und endlich habe ich auch den passenden Tee gefunden. Ich muss bald neuen besorgen, denn er geht bedrohlich zur Neige.

Nachdem ich die Kanne vorbereitet habe, drehe ich mich zu meinem Gast um, der immer noch im Durchgang zum Flur steht und mich ansieht. Der Wasserkocher rauscht leise vor sich hin. Ein wenig unruhig macht es mich schon, wie er nur schweigend im Türrahmen lehnt und mein Treiben beobachtet. Ich kann nicht mal genau sagen, warum. Sein warmer Blick und das leichte Schmunzeln, das seinen Lippen anhaftet, verwirren mich. Und das nicht zum ersten Mal. Aber vielleicht liegt das momentan daran, dass ich bis vor wenigen Minuten im Tiefschlaf war und erst einmal in die Gänge kommen muss, was meist dauern kann. Und sonst… Ach egal.

Ich räuspere mich, breche damit die Stille, die sich um uns herum auszubreiten droht, und lehne mich mangels Sitzgelegenheiten gegen die Küchenzeile.

„Was führt dich heute eigentlich her?“

„Darf ich meinen Lieblingsbassisten nicht einfach mal so besuchen?“ Ich meine, für den Bruchteil einer Sekunde etwas in seinen Augen aufblitzen zu sehen, während er mich schelmisch angrinst und es jedoch gleichzeitig schafft, seiner Stimme einen fast schmollenden Unterton zu verleihen. Ich lache auf. Lieblingsbassist. Ist klar.

In diesem Moment erklärt der Wasserkocher seine Arbeit für beendet. Ich wende mich um und befülle die Kanne, ehe ich mir zwei Tassen schnappe und damit beladen dicht an Karyu herantrete.

„Du darfst mich sehr gern besuchen, das weißt du…“, antworte ich mit einiger Verzögerung. „... auch wenn ich deinem ‚Einfach mal so‘ selten besonders viel Glauben schenke. Und nun mach dich dünne, die Kanne wird schwer.“ Ich stoße ihm spielerisch mit dem Ellenbogen in den Bauch, was ihn einen Schritt zurücktreten lässt und mir die Chance gibt, mich an ihm vorbei ins Wohnzimmer zu mogeln. Sein murrendes „Ey“ kontere ich mit einem amüsierten Grinsen. „Na komm, setz dich. Dann kannst du versuchen, mich von deinem ‚Einfach mal so‘ zu überzeugen.“
 

~*~
 

Irgendwann ist die Kanne geleert und ich gänzlich wach. Egal, wie unangemeldet oder gar unpassend Karyus spontanes Auftauchen im ersten Moment war, so bin ich doch ganz froh über seine Gesellschaft – irgendwie bringt er mehr Schwung in meinen bisher ziemlich langweiligen Tag. Denn nachdem wir wie so oft von den allgemeinen Gesprächsthemen schließlich bei Karyus neuesten, musikalischen Ideen angelangt sind, ist er nicht mehr zu stoppen. Und Karyu bei seinen Ausführungen zuzuhören, wird nie langweilig. Sein Ideenreichtum ist manchmal echt bewundernswert.

In dem halben Jahr unserer mittlerweile andauernden Bekanntschaft – inzwischen würde ich es sogar als Freundschaft bezeichnen – haben wir so einige Abende auf diese Art und Weise verbracht und anscheinend kennt Karyus Kreativität diesbezüglich keine Grenzen. Aber ich freue mich darüber. Anders als in meiner vorherigen Band treffen seine Ideen eindeutig meinen Geschmack. Auch kann ich es insgeheim gar nicht abwarten, sie im Laufe der nächsten Tage mal in unserem provisorischen Proberaum zu testen. Obwohl wir momentan noch viel experimentieren und nur einige ausgearbeitete Songentwürfe haben, macht mir unser Zusammenspiel definitiv viel Spaß. Es fühlt sich einfach richtig an und ich bereue nach wie vor keine Sekunde aus meiner anderen Band ausgestiegen zu sein. Spätestens wenn Karyu und ich nicht mehr nur zu zweit in dem Kellerraum der Bar, in der Karyu gelegentlich jobbt, hocken und sein Kumpel zu uns stößt, wird das Gefühl, dass wir zusammen gut harmonieren, immer stärker. Außerdem hat Tsukasa eine angenehme Gesangsstimme, beziehungsweise eine deutlich bessere als wir beide, und verleiht damit unseren bisherigen Akustiksongs noch einmal eine ganz andere Note. Auch wenn sein Gesang hinter dem Schlagzeug recht schnell untergeht.
 

Ein gut vernehmbares Grummeln ist plötzlich zu hören und unterbricht damit für einen Augenblick unser Gespräch. Ich kann nicht verhindern, dass meine Mundwinkel anfangen spöttisch zu zucken, während ich mein Gegenüber mustere, dessen Wangen gerade eine Nuance rötlicher werden. Typisch.

„Hunger?“ Ich warte seine Antwort gar nicht erst ab, sondern stehe vom Sofa auf und begebe mich in die Küche. Karyus hastiges „Nein, Zero… du musst nichts für mich kochen!“ übergehe ich augenrollend und beginne damit, meinen Kühlschrank zu durchforsten. Er müsste mich inzwischen besser kennen. Was wäre ich denn für ein Gastgeber, wenn ich ihn hungern lassen würde? Ich stelle den Reis von gestern und ein paar weitere Zutaten für das schnelle Notfallessen raus und muss unwillkürlich grinsen, da die Bilder unseres überraschenden Wiedersehens im Frühjahr vor meinem geistigen Auge auftauchen. Damals hatte Karyus Magen ebenso ein gewisses Mitspracherecht gehabt. Mir drängt sich der Verdacht auf, dass der Große womöglich einfach gerne Essen von mir abstaubt und aus Prinzip vorher nichts isst. Oder sein Magen ist eben ein gewaltiges, schwarzes Loch. Ich schnaube amüsiert beim Gedanken daran. Nicht, dass ich ungern für ihn koche – sein zufrieden lächelndes Gesicht danach ist mir jedes Mal Lohn genug.
 

„Darf ich den Fernseher anmachen?“, durchdringt Karyus Frage meine Erinnerungen.

„Klar.“ Was fragt er noch? Eigentlich ist meine Wohnung ja schon beinahe sein zweites Zuhause – oder drittes, wenn man den Proberaum mit einrechnet.

Wenige Sekunden später ist die hohe, aufgeregt klingende Stimme einer Frau zu hören, kurz darauf abgelöst von der deutlich gelasseneren eines Mannes. So geht es eine ganze Weile weiter, als Karyu sich durch die Fernsehsender schaltet, ehe er schließlich bei irgendeiner Gameshow hängenzubleiben scheint. Jedenfalls lassen die übereifrigen Stimmen der Moderatoren, die zu mir in die Küche herüberschallen, darauf schließen.

Nach einiger Zeit ist das Essen endlich fertig und wie von mir vermutet, strahlt Karyu, als ich mit den beiden Tellern ins Wohnzimmer zurückkehre. Wie schön, dass ein schlichtes Omuraisu einen Menschen derart glücklich machen kann.
 

Wir essen schweigend vor uns hin, lassen uns entspannt vom Fernsehprogramm berieseln. Ein wenig muss ich mich schon selbst loben, denn das eigentliche Resteessen ist mir ziemlich gut gelungen. Ich versuche ein Grinsen verstecken und werfe Karyu aus den Augenwinkeln einen prüfenden Blick zu. Ja, so sieht ein zufriedenes Gesicht aus.

Als ich fertig bin, bringe ich meinen Teller in die Küche und pflanze mich wieder in eine Ecke der Couch, während mein Gast weiter vor sich hin kaut und scheinbar hochkonzentriert das Geschehen auf dem Bildschirm verfolgt. Da mich dieses nicht sonderlich interessiert, gehe ich lieber dazu über, Karyu zu beobachten – wie ich es gerne mal mache – und bin ein wenig verwundert. Derart spannend ist die Show nun nicht, um die ganze Zeit darauf zu stieren. Er mutiert geradezu zu einer Statue. Okay, einer kauenden Statue. Ich runzle die Stirn. Beziehungsweise einer kauenden Statue, die unruhig auf dem Sofa hin und her rutscht. Entweder mache ich ihn nervös oder etwas anderes lässt ihn unruhig werden. Ich kann mir nicht helfen, aber er wirkt eindeutig zappeliger als noch vor dem Essen. Auch huscht sein Blick immer wieder wie von allein zu der Uhr, die an der Wand hängt.

Vielleicht sollte ich ihn nicht ganz so unverhohlen anstarren – Wer wird schon gern beim Essen beobachtet? – aber das erklärt nicht die Sache mit der Uhr.
 

Meine Neugier ist definitiv stärker als meine Geduld, weshalb ich frage: „Sag mal, hast du was vor?“

Entweder ist der Große wirklich mehr in der Gameshow vertieft gewesen, als ich vermutet habe, oder mit seinen Gedanken ganz woanders. Jedenfalls zuckt er augenblicklich zusammen und blickt ertappt wirkend zu mir. Ich schmunzle.

„Na ja…“, beginnt er, nachdem er seinen Bissen runtergeschluckt hat. „Eigentlich nicht so richtig.“

Aha, eine sehr präzise Aussage. Meine Augenbraue zuckt amüsiert.

„Und uneigentlich?“

Einen Moment lang ist nichts weiter als das Gequassel der Moderatoren und das leise, kratzende Geräusch von Karyus Essstäbchen, die die letzten einsamen Reiskörner einfangen, zu hören.
 

Mit einem Mal verändert sich seine Haltung sichtbar. Geräuschvoll stellt er den Teller auf dem Tisch ab, strafft sich und dreht sich gänzlich zu mir.

„Hast du heute Abend noch was vor?“

„Nein…?“ Ich komme nicht umhin, dass meine Antwort wie eine Frage klingt. „Ich hatte nur ein Date mit meinem Sofa und meiner Küche geplant. Und beides hab ich bereits abgehakt.“

„Ah gut.“ Die Worte kommen beinahe einem erleichterten Aufatmen gleich. Na, jetzt bin ich gespannt auf das, was folgt. „Kommst du dann… Ich meine, würdest du dann mit mir ausgehen?“

Den bittenden Blick aus diesen großen, braunen Augen beantworte ich mit einem fragenden Stirnrunzeln. Nicht, dass ich was gegen Ausgehen habe, aber ein paar mehr Informationen hätte ich schon gern, bevor ich zu später Stunde möglicherweise meine angenehm kühle Wohnung gegen das schwüle Wetter draußen eintausche. Da ich ihn weiterhin schweigend und abwartend anschaue, seufzt Karyu auf und fährt sich durchs Haar.

„Also, weißt du… Heut Abend tritt eine Band auf, die ich gern sehen würde.“

Daher weht also der Wind. Ich versuche mir ein Grinsen zu verkneifen, vermute ich doch noch etwas anderes dahinter. Nur der Auftritt einer Band? Das kann nicht alles sein, denn so wie ich Karyu in den letzten Monaten erlebt habe, ist er aktuell nicht mehr der Typ für spontanes Ausgehen. Zu oft hatte er mir etwas von zu kurzen Nächten und seinem dringend benötigten Schlaf vorgejammert. Ich vermute sogar, dass der Auftritt meiner alten Band, bei dem wir uns kennengelernt haben, einer der letzten gewesen ist, den Karyu seither besucht hat. Also muss es irgendwo einen Haken für den heutigen Konzertwunsch geben. Bisher waren ihm meine Wohnung und der Proberaum Abendunterhaltung genug.

„Ich hab ein paar Sachen von ihnen gehört und ich fand sie echt gut… oder vielmehr den Sänger“, fügt er kleinlaut hinzu.
 

Ich kann nicht anders, als aufzulachen. Jetzt ist mir einiges klar. Wenn Karyu meint, dass er den Sänger gut findet, dann nicht, weil er einfach allgemein gern die Musik hört. Seitdem ich ihn kenne, ist er dauernd auf der Suche nach seiner perfekten Bandzusammenstellung. Und egal, wie viel Mühe Tsukasa sich bei der gesanglichen Interpretation von Karyus Songs gibt, ich weiß, dass es noch nicht das ist, was Karyu will. Etwas fehlt. Etwas, das uns voranbringt und weitertreibt. Okay, nicht etwas, sondern jemand. Ein Sänger, der Karyu begeistern kann. Außerdem ist ein singender Schlagzeuger nicht unbedingt die ideale Dauerlösung. Auch wenn das heißt, dass Karyu wieder jemand abwerben wollen wird so wie mich einst – indirekt.

Um mir nicht zu anmerken lassen, dass ich ahne, worauf der Konzertbesuch eigentlich hinausläuft, erkundige ich mich: „Klingt nach einer interessanten Abendplanung, wie bist du auf die gekommen?“

Ich sehe regelrecht, wie die Anspannung von ihm weicht, nachdem er bisher keine Absage von mir kassiert hat. Er lehnt sich zurück und blickt nachdenklich auf den Tisch.

„Tsukasa hat von ihnen erzählt und wollte, dass ich sie mir mal anschaue. Er kennt den Sänger wohl von früher. Ich glaub, sie haben irgendwie in derselben Gegend gewohnt oder so. Jedenfalls hat er ihn durch Zufall vor ein paar Tagen getroffen und sie kamen auf das Thema.“

Ah, wenigstens kein völlig Unbekannter.

„Und Tsukasa konnte heut wohl nicht mit?“

„Nein, er muss arbeiten. Außerdem…“ Ein verschmitzter Blick trifft mich. „Ich wollte gerne mit dir dorthin.“

Ich kann nicht verhindern, dass mein Lächeln breiter wird und mein Herz anfängt erfreut zu hüpfen. Einen Moment lang schweige ich, sehe Karyu einfach nur an. Seine Augen scheinen zu leuchten. Wie könnte ich da ‚nein‘ sagen?
 

Ruckartig stehe ich auf und strecke mich kurz, den irritierten Gesichtsausdruck Karyus ignorierend.

„Gut. Wann wollen wir los? Ich muss aber noch duschen.“

„Du kommst wirklich mit?“ Er klingt überraschter, als ich gedacht hätte. Anscheinend hat er tatsächlich damit gerechnet, allein hingehen zu müssen.

„Ja, aber du zahlst, damit das klar ist.“

„Natürlich.“

Jetzt leuchten seine Augen eindeutig.
 

~*~
 

Laute Musik schlägt uns entgegen, als wir Stunden später vor dem Eingang des Clubs stehen und darauf warten, dass die Warteschlange sich endlich ein Stück weiter nach vorne bewegt. Ich bin dezent genervt. Mittlerweile stehen wir uns hier schon geschlagene dreißig Minuten die Beine in den Bauch und sind gefühlt erst zehn Schritte vorangekommen. Und ich schwitze. Es ist wirklich schwül und die Luftfeuchtigkeit lässt meine Kleidung regelrecht am Körper festkleben. Nichts, was für eine gelöste Stimmung sorgen würde. Und das Gedränge um mich herum trägt sein Übriges dazu bei.

Von Zeit zu Zeit spüre ich Karyus Augen auf mir ruhen, mal länger und intensiver, mal nur flüchtig prüfend. Doch ich bin gerade nicht in der geistigen Lage, mir darüber Gedanken zu machen oder gar darauf einzugehen.

Wehe, das Anstehen lohnt sich nicht. Hätte mir Karyu nicht in den letzten Stunden mehr Details zu der Band beziehungsweise unterschwellig viel mehr zu Hizumi, seinem auserwählten Gesangstalent, verraten und mich mit seiner Begeisterung leicht angesteckt, so hätte ich mir das mit dem Konzert womöglich noch mal überlegt. Sommer ist einfach nicht meine Jahreszeit.
 

Endlich bewegt sich die Reihe vorwärts. Während wir den anderen ein Stück weiter zum Eingang folgen, gebe ich mir innerlich einen Ruck und rufe mich zur Ordnung. Karyu kann schließlich nichts für den spontanen Absturz meiner guten Laune. Und den Abend will ich ihm definitiv nicht versauen, besonders nicht, nachdem er den ganzen Weg hierher so hoffnungsvoll ausgesehen hat.

Automatisch stiehlt sich ein Schmunzeln auf meine Lippen, als ich an Karyus strahlendes Gesicht denke. Ja, da ist wirklich jemand voller Erwartungen. Das ist schon beinahe… niedlich… würde ich sagen. Innerlich über mich selbst den Kopf schüttelnd blicke ich verstohlen nach oben zu Karyu, der in diesem Moment den Hals reckt – anscheinend um die Länge der Schlange und die weitere Wartezeit abschätzen zu können. Inzwischen geht es in gemäßigtem Tempo Stückchenweise voran.
 

Ob er damals auch so voller Erwartungen gewesen war, bevor wir uns das erste Mal getroffen haben? Ich habe ihn bisher nie direkt gefragt, was ihn eigentlich dazu bewogen hatte gerade mich anzusprechen. So im Nachhinein fühle ich mich durchaus geschmeichelt und so generell würde mich seine Sicht der Dinge schon interessieren. Vielleicht werde ich ihn irgendwann mal danach fragen. Aber nicht jetzt.

Einer plötzlichen Eingebung folgend pikse ich Karyu leicht in die Seite, was diesen zusammenfahren lässt. Sein Blick schnellt verwundert zu mir und ich kann mein Grinsen nicht verstecken.

„Ich hoffe ja, die Band ist die Warterei wert. Langsam bekomme ich echt Durst.“

Karyu wirft noch einen kurzen Blick zum Eingang, welcher derweil deutlich näher gerückt ist, ehe er sich mir zuwendet.

„Ich denke doch. Besonders nach dem, was Tsukasa erzählt hat. Und ich glaube nicht, dass er dermaßen daneben liegen kann.“ Er lächelt zuversichtlich. „So und nun komm. Ich geb dir was zu trinken aus.“

Ich spüre, wie er seine Hand auf den unteren Teil meines Rückens legt und mich sanft mit sich nach vorne schiebt. Dass mein Shirt unangenehm auf der Haut klebt, versuche ich zu ignorieren.

Auch nachdem er für uns beide den Eintritt bezahlt hat, bleibt Karyu dicht bei mir stehen und lotst mich durch die anderen Clubbesucher hindurch. Seine Hand liegt dabei weiterhin auf meinem Rücken. Und wieder einmal bin ich mir nicht ganz sicher, was ich von solch einer geradezu intimen Geste seinerseits halten soll. Es ist nicht das erste Mal, dass er sich mir auf die Art nähert und jedes Mal bin ich im ersten Augenblick leicht irritiert, obwohl ich diese Geste nicht als unangenehm empfinde. Doch ich kann und will mich jetzt nicht damit beschäftigen. Meine Kehle ist trocken, verlangt nach Wasser und außerdem muss ich mich erstmal orientieren und die vielen Eindrücke um mich herum verarbeiten.

Während ich für uns einen passenden Platz am Rand und mit guter Sicht auf die Bühne suche, sorgt Karyu für Getränke. Wenige Minuten später steht er wieder neben mir und drückt mir eine Flasche in die Hand. Er wirkt zufrieden mit unserem Platz und schaut sich neugierig um. Hinter uns bläst einer der großen Ventilatoren frischere Luft in die recht überschaubare Halle, was mich langsam abkühlen lässt. Vermutlich werde ich mich in nächster Zeit nicht von hier wegbewegen, denn diese Brise macht alles deutlich angenehmer.

„Ich bin echt gespannt, habe es gar nicht so voll hier erwartet“, vernehme ich plötzlich Karyus Stimme dicht an meinem Ohr. Er hat sich zu mir gebeugt. Sein Atem streicht über meine Haut und ich bekomme unwillkürlich eine Gänsehaut.

„Ich muss ja gestehen, an sich ist mir die ganze Band egal, mich interessiert eigentlich nur der Sänger.“

Ich lache leise auf, ignoriere die spontane Reaktion meines Körpers und rücke dafür ein wenig von Karyu ab, um ihn besser ins Gesicht sehen zu können.

„Das war mir schon von Anfang an klar.“ Ein verwunderter Blick trifft mich und ich schnaube unhörbar, denn inzwischen ist der Geräuschpegel um uns herum deutlich angestiegen. So trete ich erneut eng an ihn heran und mustere ihn einen Moment lang vielsagend, ehe ich ihm im Gegenzug ins Ohr raune: „Man sieht dir solche Gedanken zu gut an der Nasenspitze an, mein Lieber.“ Ich tippe ihm gegen besagte Nase und genieße für einige Sekunden sein verblüfftes Gesicht, ehe ich einen Schluck aus meiner Flasche nehme, um gleich darauf das Gesicht zu verziehen. Einen Kühlschrank hat mein Wasser wohl schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Na ja, trotzdem besser als nichts.

Ich merke, wie Karyu mich weiterhin ansieht und sich dabei unbewusst mit dem Finger über das leicht gerötete Ohr reibt. Sofort zucken meine Mundwinkel, während ich unseren Blickkontakt halte und geneigt bin, noch einen koketten Augenaufschlag hinterherzuschicken. Wenn er mir auf die Pelle rückt, kann ich das ebenso. Ich mag es einfach ihn auf diese Weise ein wenig zu necken. Denn obwohl er meistens recht selbstsicher wirkt, manchmal – gerade in solchen Situationen – überrascht er mich doch immer wieder mit seinen beinahe unbeholfenen Reaktionen. Als könnte er sich selbst und mich nicht richtig einordnen. Aber im Endeffekt ist es wie ein kleines Spiel zwischen uns: mal überrascht er mich mit seiner Art und seinen Annäherungen und mal ich ihn. Und ich kann durchaus behaupten, dass mir dieses Spiel gefällt.
 

Eine Ansage unterbricht unseren Blickkontakt und lässt uns synchron zur Bühne schauen. Ein kleiner, schmächtiger Mann, der irgendwie nicht in das Bild, das diese Location vermittelt, passen will, verkündet soeben, dass es in fünf Minuten losgehen wird. Höflicher Applaus ist zu hören. Es wird spannend. Erneut drehe ich mich zu Karyu.

„Sag mal, hat dir Tsukasa verraten, wie der Sänger mit richtigem Namen heißt?“

„Hmmm… nein.“

Na ja, wenn alles gut klappt, würden wir es womöglich erfahren, denn ich denke, wenn Karyus Begeisterung nach dem Konzert noch vorhanden ist, wird er nicht lange zögern. Bevor es richtig losgeht, kann ich mir eine letzte Anspielung nicht verkneifen: „Du solltest dir nachher vielleicht einen anderen Platz suchen.“

Ich fange einen fragenden Blick auf.

„Warum?“

Ich lehne ein Stück weiter zu ihm. Meine Mundwinkel zucken, als die Erinnerung an unsere erste Begegnung hochkommt.

„Wenn du einen bleibenden Eindruck hinterlassen willst, solltest du dich direkt vor die Bühne stellen. Damit deine Blicke auch bemerkt werden – so wie von mir damals.“

Einen Augenblick lang hält Karyu inne, dann lacht er, vermutlich weil er ebenfalls an unser erstes Treffen und seine Direktheit zurückdenken muss.

„Ja, vielleicht sollte ich das tun.“ Er grinst zwar, wirkt im gleichen Zug aber etwas verlegen, als er mich ansieht. „Doch ich denke, für heute bleibe ich lieber an deiner Seite.“

Ehe ich mich von meiner, aufgrund von Karyus Worten eingetretenen, Sprachlosigkeit erholen kann, bricht Applaus los, während die einzelnen Bandmitglieder nacheinander die Bühne betreten und somit unsere Aufmerksamkeit einfordern.

Im ersten Moment erinnern sie mich an meine vorherige Band, obwohl ihre engen Lederkostüme deutlich düsterer ausfallen. Ich bin gespannt, was mich erwartet. In meinem Magen kribbelt es leicht.
 

~*~
 

Mein erster Eindruck bestätigte sich. Ihre Musik war düster, aber energetisch geladen und riss mich sogar von Zeit zu Zeit mit. Das Gesamtkonzept gefiel mir gut, die einzelnen Songs nicht immer, denn ab und zu störten die schiefen Töne der Gitarre etwas und der Bass ging völlig unter. Eben eine Band in ihren Anfängen. Dennoch gelang es ihnen dem Publikum ordentlich einzuheizen. Was aber – und da muss ich Karyus vorheriger Begeisterung zustimmen – eindeutig am Sänger lag. Mit seiner rauen, mal sanften, mal kraftvollen Stimme schaffte er es schon in den ersten Minuten mich in seinen Bann zu ziehen. Auch seine manchmal fast spielerisch laszive Bühnenshow lenkte hervorragend von den Fehlern seiner Kollegen ab. Irgendwie war es faszinierend ihn dabei zu beobachten, wie er völlig in der Musik und seiner Rolle aufging.

Somit endete das Konzert schneller als gedacht.
 

Ich atme auf. Die letzten Minuten der Show waren nur so an mir vorbeigeflogen, was allerdings weniger an der Band, sondern viel mehr an Karyu lag. Denn ohne mein bewusstes Zutun waren meine Augen irgendwann ab der Hälfte des Konzerts zu ihm gewandert. Vielleicht einfach, um seinen Gesichtsausdruck zu ergründen. Wobei es nicht viel zu ergründen gab, denn die Begeisterung war ihm die ganze Zeit deutlich anzusehen gewesen. Bei diesem Funkeln in den Augen könnte man glatt eifersüchtig werden.

Ich denke, der Abend ist ein Volltreffer, nur ob sich Karyus Objekt der Begierde so schnell von ihm einlullen lässt wie ich mich, wird sich nachher zeigen.

Ich werfe einen prüfenden Seitenblick auf Karyu, der gerade so wirkt, als würde er langsam wieder im Hier und Jetzt ankommen. Seine Augen glänzen, sein Blick hängt weiterhin an der mittlerweile leeren Bühne fest. Unwillkürlich frage ich mich, ob er uns oder besser mich damals auf dem Konzert auch so angesehen hat. Ein leichtes Ziehen in der Magengegend lässt mich stutzen und ich kann nicht anders, als den Kopf über mich selbst zu schütteln. Was für Gedanken. Es ist schließlich nicht so, dass ich Karyus ungeteilte Begeisterung nur für mich gepachtet hätte.
 

Während sich die Menge um uns herum langsam auflöst und die Ersten gen Ausgang strömen, trete ich näher an Karyu heran und schaue ihn abwartend an.

„Und was sagst du?“

Er blinzelt noch einmal, ehe er sich auf meine Frage besinnt und sich grinsend zu mir dreht.

„Ja… Ich würde sagen… Ja.“

Ich lache wegen seiner äußerst präzisen Aussage laut auf. Er lacht ebenfalls und kratzt sich kurz am Kopf. „Er gefällt mir.“

Mir zweifellos auch. Dennoch antworte ich nur mit einem: „Gut zu wissen.“

Jetzt ist es an Karyu die nächsten Schritte einzuleiten und Hizumi irgendwie zu überzeugen, sich mal ein paar Sachen von uns anzuhören. Ich hoffe einfach, dass es klappt, denn er wirkt auf jeden Fall sympathisch. Es könnte definitiv gut werden.

„Ich frage Tsukasa gleich morgen, ob er ihn nicht mal zu unserer Probe einladen kann“, holt Karyus Stimme mich aus meinen Überlegungen. Bitte?! Ungläubig starre ich ihn an. Ich glaube mich verhört zu haben. Er will jetzt gehen und den Rest Tsukasa überlassen? Das ist ja wohl nicht sein Ernst?

Anscheinend doch, denn er hat sich abgewendet, um langsam Richtung Ausgang zu trotten. Ich fasse es nicht, denn das habe ich wirklich nicht erwartet. Vor meinem geistigen Auge hatte ich ihn schon hinter die Bühne stürmen sehen, um seinen auserwählten Sänger abzupassen. Ähnlich wie nach meinem letzten Auftritt. Für einen Moment hat es mir die Sprache verschlagen – ich werde echt nicht schlau aus ihm. Immer wenn ich denke, sein Tun irgendwo einordnen zu können, macht er mir einen Strich durch die Rechnung. Und ich verstehe nicht, was jetzt das Problem ist, sonst ist er auch nicht auf den Mund gefallen. Außerdem sehe ich es gar nicht ein, plötzlich abzuhauen, obwohl es doch kein Hindernis ist, jemanden von der Band einfach anzusprechen. Es ist schließlich ein kleiner Club, fast familiär.

Ich spüre, wie sich ein gewisser Trotz in mir breit macht, unterlegt von etwas anderem, das ich nicht einzuordnen weiß, das mir aber gerade auch nicht wichtig ist.
 

Mittlerweile hat Karyu gemerkt, dass ich ihm nicht folge. Er schaut mich verwundert an.

„Zero?“

Oh Mann, tief durchatmen. Ich wusste ja schon von Anfang an, dass er öfter mal eine lange Leitung hat, aber so?

Ich schnaube leicht frustriert, als ich beschließe ihm auf die Sprünge zu helfen. Nicht, dass er mir demnächst in den Ohren liegt, weil er die heutige Chance ungenutzt hat verstreichen lassen. So trete ich auf ihn zu und greife nach seinem Handgelenk. Dieser Mann ist wirklich unmöglich und mir einmal mehr ein Rätsel. Nun gut, sollte das heute Abend und in Zukunft klappen, hätte ich ja noch einige Möglichkeiten meinem persönlichen Rätsel namens Karyu auf den Grund zu gehen.

Dessen Blick schwenkt derweil unruhig zwischen meinem Gesicht und meiner Hand hin und her.

„Dir hat das Konzert und Tsukasas Bekannter doch gefallen, oder nicht?“, breche ich mein Schweigen.

„Ähm… ja…?“, kommt es verunsichert zurück.

„Und du willst ihn für unsere Band, richtig?“ Eigentlich ist das keine Frage mehr, sondern eine Feststellung, schon allein nach Karyus Gesichtsausdruck zu urteilen. Ich lasse die Worte zwischen uns in der Luft hängen, darauf wartend, dass es bei ihm ‚Klick‘ macht – dass er merkt, worauf ich hinauswill. Scheinbar nicht, denn die großen, dunklen Augen blinzeln mir unsicher entgegen. Hach, diese lange Leitung ist ja fast bewundernswert.

„Ach Karyu…“ Ich trete dicht vor ihn und schaue ihm fest in die Augen. „Mich hast du damals gleich angesprochen und die halbe Nacht lang mit Gesprächen festgehalten. Und nun willst du wirklich einfach alles anderen überlassen?“

„Das war doch nur -“ Bevor er versuchen kann sich zu rechtfertigen, ziehe ich ihn ein Stück weit nach unten auf meine Augenhöhe, um ihm ins Ohr zu raunen: „Manchmal bist du mir ein echtes Rätsel, Karyu... Eines, das ich gern ergründen möchte.“ Ich gehe wieder ein wenig auf Abstand und grinse ihn verschmitzt an, während er mich beinahe fassungslos anstarrt.

„Wie dem auch sei.“ Ich nehme ihn fester bei der Hand und ziehe ihn langsam Richtung Bühne.

„Nun lass uns zusammen das Goldkehlchen einfangen. Nicht, dass es wegflattert.“
 

ENDE



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