Prolog
Endlich war das fünfte Schuljahr zu Ende und Harry saß im Zug. Tief in Gedanken versunken starrte er durch die Scheibe in die vorbeirauschende Landschaft. Ron und Hermine, seine ‚Freunde’, hatten das Abteil mit der fadenscheinigen Ausrede verlassen, sich die Füße vertreten zu müssen. Harry hatte ihnen nur schweigend hinterher gesehen und den, sich entfernenden, Schritten der beiden gelauscht. Denn er war sich sicher, dass sie kein ehrliches Spiel mit ihm spielten. Tief in seine Gedanken versunken lauschte er den leisen Gesprächen der vorbeigehenden Schüler auf dem Gang. Es war so viel geschehen seit er sich entschlossen hatte, dass er Ron und Hermine auf Abstand halten würde und das hatte er auch durchgehalten. Das war aber bei weitem nicht die einzige Veränderung gewesen. Seit Anfang des Jahres benahm sich Draco seltsam, oder viel mehr Wankelmütig. Trafen sie sich alleine auf dem Flur, benahm sich Draco höflich beinahe schon freundschaftlich. Dann konnten sie sich ganz normal unterhalten. Was steckte nur dahinter? Warum war der Andere nur auf einmal so nett zu ihm? Er mochte den nervigen Blondschopf, der manchmal so nervig arrogant sein konnte. Aber dennoch hatte der Blonde einen verdammt scharfen Biss was seinen Witz betraf. Waren er selber oder Draco in Begleitung ihrer ‚Freunde’ gifteten sie sich nach alter Manier gegenseitig an. Doch Harry hatte das untrügliche Gefühl, dass ihre Streitereien nicht mehr so verbissen waren wie früher. Ja, sie verhexten sich gegenseitig und beleidigten sich auch gerne einmal, aber sie taten es nicht mehr mit dem Ziel einander wirklich verletzten zu wollen.
Erschrocken wandte er den Kopf und rutschte in seinem Sessel bis auf die Kante nach vorne, als sich die Tür mit einem Ruck öffnete. Draco grinste ihn verschwörerisch an und schob die Tür wesentlich leiser wieder zu, nur um sich von innen an die Tür zu lehnen.
„Was machst du hier?“, wollte Harry verwundert wissen und ließ sich schwer seufzend wieder zurück sinken. Mit einer unachtsamen Bewegung schob er mit einem Finger, seine Brille wieder auf seiner Nase hoch, bevor er mit der Hand durch seine verstrubbelten Haare fuhr.
„Hab gesehen, dass Granger und Wiesel auf dem Gang rumlungern. Dachte mir, ich besuche dich.“, gluckste er mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht und ließ sich auf den Sitz gegenüber von Harry fallen, bevor er Harry noch einen prüfenden Blick zuwarf und sich vorbeugte. Seine eisigen hellgrauen Augen bohrten sich schon fast in Harrys und ließen ihn unbehaglich auf seinem Platz herum rutschen. Warum tat der Andere das? „Irgendwas ist mit dir! Früher hättest du nicht so mit mir gesprochen. Das ganze Jahr über habe ich mir darüber den Kopf zerbrochen.“
Draco lehnte sich entspannt wieder zurück und beobachtete Harry eingehend. Der ließ ein zynisches Grinsen auf seinen Lippen entstehen als er daran dachte, wie das alles gekommen war.
Er war zu Beginn des Schuljahres mit den Weasleys in der Winkelgasse Schulsachen kaufen gewesen. Er hatte gerade um eine Ecke gehen wollen, da hatte er die Zwillinge reden hören. Eigentlich hatte er doch nur Tränkezutaten kaufen wollen. Doch die gehässigen Worte, die er dann zu hören bekommen hatte, hatten ihn in ein tiefes Loch gestoßen. Ihre Mutter hätte mehr Geld verlangen sollen um ihn, Harry, durchzufüttern. Harry hatte erst nicht verstanden. Doch als er darüber nachdachte kamen ihm einige Sachen doch merkwürdig vor. Ab dem zweiten Schuljahr waren die Klamotten von Ron besser geworden. Auch der neue Zauberstab war nicht gerade billig gewesen. Und noch einige Dinge mehr, die ihn stutzig gemacht hatten. Danach hatte er sowohl seine ‚Freunde’ als auch seine Umgebung genauer beobachtet. Wenn sich die beiden unbeobachtet gefühlt hatten, dann hatte Harry ihre Blick bemerkt. Blicke, die ihm gezeigt hatten, dass sie ihn nicht mochten. Rons Blicke waren so hasserfüllt gewesen. Und Hermine, die sah ihn so geringschätzig an als wäre er nur eine Laborratte.
„Kennst du das, wenn du dich fragst, ob du die richtige Entscheidung getroffen hast? Ob du da, wo du bist, richtig bist? … Weißt du, der sprechende Hut wollte mich eigentlich nach Slytherin schicken. Doch ich hab ihn angefleht, mich nach Gryffindor zu schicken. Jetzt frage ich mich, ob ich bei den Slytherins besser aufgehoben gewesen wäre.“ Verwundert zog Harry die Stirn in Falten. Warum hatte er das getan? So ehrlich hatte er gar nicht sein wollen. Sein Mundwerk war mal wieder schneller gewesen als der Geleehaufen zwischen seinen Ohren. Er könnte sich gerade in den Hintern beißen. Vorsichtig warf er einen schnellen Blick auf den blonden Slytherin, der immer noch stumm blieb. Sein Blick war immer noch genauso stechend, wie das letzte Mal als er ihm in die Augen gesehen hatte, nur dass er jetzt auch noch den Kopf schief gelegt hatte und zu überlegen schien.
„Eine Sinneskrise also! Das beantwortet aber nicht meine Frage! Ich weiß zufällig, dass du dich von Granger und Wiesel distanziert hast. Ich kann gut beobachten, weißt du.“ Ein süffisantes Grinsen schlich sich auf Malfoys Gesicht als er sich vorbeugte um Harry noch eingehender betrachten zu können.
„Du bist gut!“, seufzte Harry schwer und nahm seine Brille ab um sich die Augen zu reiben. „Ich bin mir nicht sicher, ob sie meine Freunde sind. Ich habe sie beobachtet, wenn sie sich unbeobachtet gefühlt haben. Ich vertraue ihnen einfach nicht mehr.“
Eine Augenbraue wanderte nach oben. Doch bevor Draco etwas sagen konnte, waren Schritte draußen zu hören. Schritte, die direkt vor der Tür verstummten. Schnell erhob sich Draco und setzte sein typisches herablassendes Grinsen auf.
„So ganz alleine Potter. Hast du gar keine Freunde mehr?“, ließ er in seinem typischen schnarrenden Ton vom Stapel. Innerlich verdrehte Harry nur die Augen. So ein Clown aber auch. Er mochte den Blonden mittlerweile wirklich gerne und musste sich wirklich zusammen reißen um nicht laut loszulachen.
„Verschwinde Malfoy!“, schnarrte Rons Stimme von der Abteiltür her, bevor Harry auch nur eine gepfefferte Erwiderung raus bringen konnte.
Draco drehte sich um und grinste ihn herablassend an. „Sonst was?“ Damit drängelte er sich an den beiden vorbei und verschwand im Flur des Zuges. Wenn Harry ehrlich zu sich selber wäre, dann würde er jetzt aufspringen und dem Anderen hinterher laufen. Hauptsache so weit weg wie nur irgend möglich.
„Was wollte er“, wollte Hermine besorgt wissen und ließ sich gegenüber von Harry nieder. Sie sah ihn forschend und besorgt an. Als wenn sie sich um mich sorgen macht, murrte Harry in Gedanken. Er zog es vor, die Frage nicht zu beantworten, denn er vermutete, dass jedes Wort, dass er von sich gab oder schrieb ungefiltert weitergegeben wurde. Ob seine Briefe wohl auch abgefangen wurden? Würde er Draco schreiben können? Oder müsste er sich darüber Sorgen machen, dass diese Briefe bei Dumbledore oder sonst wem landen würden? Denn so wie er das sah, würde er diese Ferien wieder im Ligusterweg versauern. Er würde morgens um sechs aufstehen müssen um Frühstück für seinen viel zu fetten Onkel und Cousin zu machen. Er müsste wieder das Haus auf Hochglanz polieren und sich unsichtbar machen, wenn Geschäftsleute zu Besuch waren. Seine so genannten Freunde würden sich wohl wieder herausreden. Sie würden ihm nicht schreiben, oder wenn doch, dann würden sie mit Fadenscheinigen Ausreden kommen, warum er sie nicht besuchen kommen könnte. Auch das war, wie in allen anderen Ferien.