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Zodiac

von

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trügerische Wahrheit

Herbst 2015, Ort unbekannt
 

Selest Peterson

Hektisch renne ich durch einen Wald. Ich weiß nicht wo ich bin, geschweige denn wie ich hierhergekommen bin. Alles was ich weiß ist, dass Kira und ich von Lykan angegriffen wurden.

Noch immer spüre ich seinen faulen Atem. Angewidert verziehe ich mein Gesicht und wische mir einmal mit der Hand drüber. Blutgeruch steigt mir in die Nase und irgendwas Feuchtes scheint meine Wange runterzulaufen. Ich sehe mir meine Hand an und muss mich beinahe übergeben. Sie ist voller Blut.

Ich lasse meinen Blick an mir runtergleiten. Ich trage eine weiße Bluse, auf der sich ein kleiner roter Fleck – es ist Blut – befindet, der immer mehr an Größe gewinnt. Ich reiße mir die Bluse vom Körper. Glücklicherweise trage ich noch ein hauchdünnes Shirt darunter, sodass ich nicht nur mit einem BH bekleidet, durch den Wald rennen muss.

Ein eisiger Wind fegt durch die Bäume, zwischen denen ich Schutz suche. Da ich nur noch knapp bekleidet bin, umschlinge ich meinen Körper mit meinen Armen und versuche mich etwas Warm zu reiben. Auch wenn ich dadurch das Blut, das an meinen Händen klebt, auf meine Oberarme schmiere. Das ist mir egal, denn lieber das, als hier draußen zu erfrieren.

Um mich herum rascheln die Blätter im Wind, der von Minute zu Minute stärker zu werden scheint. Da ich hier draußen nicht erfrieren will, erhebe ich mich wieder und beschließe lieber weiter zu laufen. Auch wenn ich keine Ahnung habe wohin. Ich habe nicht mal einen Schritt getan, als ich eine leicht verzerrte Stimme wahrnehme und wie angewurzelt stehen bleibe. Irgendetwas an ihrem Klang bewirkt, dass ich mich noch unwohler fühle als ohnehin schon.

„Der Plan hat sich geändert. Ich brauche sie lebend. Bringe sie mir.“

„Was wollt ihr von ihr?“ Eine zweite Stimme ist zu hören. Sie klingt rauer und auch wesentlich bedrohlicher als die erste.

„Ihre Macht. Hör zu. Wir werden uns erst dann wieder treffen wenn du sie zu mir bringst. Meine Tochter schafft es immer häufiger mich zurückzudrängen. Scheinbar ist ihr Geist stärker als ich zuerst annahm, weswegen wir vorsichtig sein müssen. Ich will nicht riskieren das sie mich bemerkt und dann alles auffliegt.“

„Das ist nicht das erste Mal, das ihr euch geirrt habt, Herrin. Ich wäre heute fast gestorben, bei dem Versuch diese Hexe zu töten. Ihr habt mir nicht gesagt dass sie über solch mächtige Magie verfügt.“

„Ich wusste es nicht. Und glücklicherweise weiß sie das auch nicht. Und genau so soll es bleiben. Niemand darf erfahren, dass die Tochter dieser Verräterin, eine der fünf Zodiac-Hexen ist. Das würde alles ruinieren. Und genau deswegen musst du sie zu mir bringen. Ich will ihre Macht, koste es was es wolle.“

Zodiac? Was ist das denn nun schon wieder. Und von wem ist hier überhaupt die Rede. Mit heute könnte der Angriff auf mich und Kira gemeint sein und… Das würde sogar Sinn ergeben, da ich mir zu 99 Prozent sicher bin, dass es sich bei der zweiten Stimme, um die von Lykan handelt. So klar und deutlich wie ich die in meinem Kopf vernommen habe, erinnert sie mich doch stark an ihn.

Ich fasse mir an den Kopf und schließe für einen Moment meine Augen. Wenn ich doch nur wüsste, wie ich hierhergekommen bin. Fragen über Fragen strömen auf mich ein.

Wie konnte ich Lykan entkommen, wo er doch schon dabei war mich zu töten? Und ist es Kira gewesen, die Lykans Angriff stoppte und ihn dabei fast tötete? – wer anderes war ja nicht da, also muss es sie gewesen sein. Oder war ich es sogar selber? Ist meine Magie womöglich doch schon jetzt zu mir zurückgekommen, obwohl der Zauber erst Ende des Jahres enden soll?

Ich dränge mich dichter an die dicke Eiche hinter mir. Mein Körper zittert nicht mehr und das, wo Lykan doch in unmittelbarer Umgebung zu sein scheint. Hoffentlich riecht er mich nicht, oder findet auf anderen Wege heraus dass ich hier bin. Das wäre nicht sehr vorteilhaft für mich.

Es ist fast eine halbe Stunde vergangen, in der ich keine der beiden Stimmen mehr vernommen habe. Zaghaft schiele ich hinter meinem Versteck hervor und blicke mich etwas um. Es ist niemand zu sehen, doch das muss nicht zwangsweise auch bedeuten, dass keiner mehr da ist. Dennoch nehme ich all meinen Mut zusammen und gehe endlich weiter. Ich muss hier weg.

Das Knacken des Zweiges, auf den ich eben getreten bin, schallt um mich herum wieder. Lauter als eigentlich üblich, sodass ich erschrocken zusammenzucke. Etwas Hartes legt sich auf meine rechte Schulter und drückt zu. Ich drehe meinen Kopf leicht in diese Richtung. Mein Herz klopft wie wild, als ich die Klauen erkenne, die sich schmerzhaft in mein Fleisch bohrt. Ich schreie laut auf.

Selest!

Ich höre jemanden meinen Namen rufen, doch dieser jemand scheint sehr weit weg zu sein. Lykans grinsende Fratze drängt sich dicht an mein Ohr, sodass ich ein weiteres Mal, seinen faulen Atmen riechen kann.

„Du kannst mir nicht entkommen“, flüstert er und beißt dann zu. Ein spitzer Schrei entweicht meiner Kehle.
 

Herbst 2015, le village de étoiles
 

Kira Vaillant

„Was hat sie nur?“, fragt Constantin und versucht weiterhin Selest aufzuwecken.

Seit mehr als zwei Stunden versuchen wir das jetzt schon, aber bisher ohne Erfolg. Kaum das Arashi uns beide gerettet hat, ist sie in Ohnmacht gefallen – was ich gut nachvollziehen kann, immerhin wäre sie beinahe von Lykan getötet wurden. Und seitdem ist sie nicht wieder aufgewacht.

Anfangs haben wir das für eine ganz normale Reaktion gehalten, aber mittlerweile sieht es nicht mehr danach aus. Seit Selest Schweißausbrüche hat und wie wild um sich schlägt, ist uns allen dreien klar, dass irgendwas nicht zu stimmen scheint.

Ich stehe neben Jolina, die mit besorgter Miene auf Selest blickt. Diese wälzt sich immer noch in meinem Bett hin und her.

„Vielleicht hat sie ja einen Albtraum“, sagt Jolina.

Das mit dem Traum könnte gut möglich sein, denke ich und krame in meinen Erinnerungen nach. Irgendwann hat Antoniella mir und Eileen mal etwas über die einzigartigen Kräfte mancher Hexen erzählt. Darunter auch, woran man erkennt wann eine Hexe eine Traumvision hat. Und ich glaube sie erwähnte sogar, dass es auch schon vorgekommen ist, dass eine Hexe in ihrer Traumvision gestorben ist. Und wenn genau das jetzt auch mit Selest passiert, dann bedeutet das, dass sie nicht nur in ihrem Traum, sondern auch in der Wirklichkeit stirbt.

„Wir müssen sie wachbekommen. Und zwar jetzt“, schreie ich Constantin an. Erschrocken sieht er zu mir auf.

„Was denkst du denn was wir hier versuchen.“

„Ich weiß. Aber wenn wir sie nicht wachbekommen, dann stirbt sie.“ Jolina und Constantin sehen mich überrascht an.

„Was meinst du damit?“, will Jolina von mir wissen.

„Ich meine, dass sie gerade dabei ist in ihrem Traum zu sterben. Wir müssen…“ Ich sehe mich in meinem Zimmer um. „Irgendwo habe ich doch bestimmt… Ah, das dürfte auch gehen.“

Ich hole den kleinen Kerzenständer, der auf meinem Schreibtisch liegt und gehe mit diesem wieder zu Selest. Ohne zu zögern, oder auch Jolina und Constantin mein Vorhaben zu erklären, ramme ich die Spitze, auf die normalerweise eine Kerze gesteckt wird, in Selests Oberarm. Der spitze Schrei den sie daraufhin loslässt, geht beinahe unter ihren anderen Schreien, die wesentlich lauter sind, unter, dennoch ist er gut herauszuhören. Mit einem Ruck setzt sich auf und knallt mit ihren Kopf gegen den von Conny. Beide reiben sich den schmerzenden Schädel.

Hektisch sieht sich Selest um und versucht dabei krampfhaft Luft in ihre Lungen zu pumpen. Ich setze mich zu ihr aufs Bett und fasse sie dann bei den Schultern.

„Schau mich an, Selest“, bitte ich sie. Es dauert ein paar Sekunden, doch dann tut sie es. Noch immer geht ihre Atmung schwer, doch allmählich beruhigt sie sich.

„Was hast du gesehen?“, fragt Jolina sie, woraufhin ich nur mit dem Kopf schüttele.

„Jetzt nicht“, sage ich an Jolina gewandt, ehe ich mich wieder auf Selest konzentriere. „Wie geht es dir?“, frage ich sie.

„Es geht“, antwortet sie. Ihrer kratzigen Stimme nach zu urteilen, ist das glatt gelogen. Scheinbar will sie keine Schwäche zeigen. Als wenn wie uns was beweisen müsste.

„Du kannst uns ruhig die Wahrheit sagen. Wir können verstehen, wenn es dir nicht gut geht. Du bist immerhin knapp einem Mordanschlag entkommen. Und für dich ist das alles noch neu.“

Selest blickt mir in die Augen, wendet sich aber augenblicklich wieder von mir ab. Sie schaut auf ihre Hände und schlägt sie dann vor ihrem Gesicht zusammen. Dann beginnt sie zu weinen.

„Ich kann das nicht“, flüstert sie leise, sodass ich sie kaum verstanden hätte. „Warum passiert das ausgerechnet mir. Ich… Ich verstehe das einfach nicht.“

Vorsichtig streiche ich ihr über den Rücken. Constantin und Jolina sind mittlerweile aus meinem Zimmer verschwunden. Haben sich zurückgezogen, damit Selest ein wenig zur Ruhe kommen kann.

„Es ist ok. Niemand verlangt von dir, dass du mit all dem klar kommst.“

Es vergehen ein paar Minuten, in denen ich Selest zwar weiterhin über den Rücken streiche, sie aber ansonsten in Ruhe lasse. Ich glaube das kann sie gerade wirklich gebrauchen. Sie braucht niemanden der ihr Fragen stellt, oder sie mit irgendwelchen Fakten konfrontiert. Sie möchte einfach nur das das Gefühl vermittelt bekommen, nicht alleine zu sein.

„Ich habe Lykan gesehen“, beginnt Selest ganz von sich aus das Gespräch zu suchen. Ihre Stimme wirkt immer noch etwas brüchig, aber wesentlich besser als vor 10 Minuten. „Er hat mich gebissen und…“ Sie hält inne und fasst sich an ihrer rechten Schulter.

„Es war nur ein Traum“, erkläre ich ihr. Ich weiß nicht ob ich ihr erzählen soll was das für ein Traum war, oder ob ich ihr solche Sachen, eher von Fanny erklären lassen sollte. Andererseits… sollte sie schon die Wahrheit wissen und es ist ja nicht so als wüsste sie nicht, dass sie eine Traumseherin ist.

„Er fühlte sich so real an“, erwidert sie. Selest steht vom Bett auf und sieht erst einmal an sich runter. „Ich konnte das Gras unter meinen Füßen spüren und… auch der Biss von Lykan kam mir so real vor. Und… das ganze Blut, welches überall an meinem Körper und meinen Sachen war… alles fühlte sich so echt an. Ganz anders als beim ersten Traum den ich bereits von Lykan hatte.“ Selest sieht zu mir und greift nach meinen Schultern. Schmerzhaft drückt sie sie und sieht mich dann flehend an.

Ich kann es ihr nicht vorenthalten.

„Du bist eine Traumwandlerin, Selest“, komme ich dann mit der Wahrheit heraus. „Du siehst manchmal in deinen Träumen nicht nur die Zukunft, sondern kannst auch durch deine oder andere Träume wandeln. Eigentlich dürfte das aber erst mit Erhalt deiner Kräfte so weit sein. Ich weiß nicht genau wieso du es jetzt schon kannst, aber ich denke das liegt daran, weil du im Zentrum deines Zirkels bist. Alle Kräfte sind hier viel stärker als Außerorts. Wenn du mehr darüber wissen willst musst du allerdings mit deinem Vater reden. In den Büchern, die wir zu lesen bekommen, steht nicht viel über die außergewöhnlichen Kräfte drinnen, vor allem nicht über deine. Die Traumwandlung zählt mit zu den gefährlichsten, da sie ihren Nutzer auch töten können. Darum solltest du auch niemals zwanghaft versuchen, diese spezielle Kraft einzusetzen.“

Selest nickt und ich befreie mich dann erst einmal von ihrem festen Griff. „Und was ist mit den Visionen?“, will sie wissen.

„Wie gesagt, kenne ich mich da nicht so gut aus“, gestehe ich ihr. Ich gehe zu meinem Schreibtisch und hole mein weißes Buch hervor. „Jede Hexe sollte ihr eigenes Hexenbuch haben. Das hier ist meines“, sage ich und gebe es ihr. „Deine Mutter müsste eigentlich auch eins gehabt haben, aber ich habe keine Ahnung wo es ist. Du könntest Antoniella mal deswegen fragen, vielleicht weiß sie wo es ist, da es nach dem Tod deiner Mutter an sie gegangen ist.“

„Warum hat mein Dad es nicht? Und was ist mit seinem?“

„Es ging nicht an ihn, weil dein Vater seine Magie vollständig bannen lassen hat. Er hat den Zirkel quasi verlassen und somit kein Recht mehr darauf gehabt. Weder auf das deiner Mutter, noch auf sein eigenes. Beide müssten jetzt eigentlich an dich gehen, da du ja so gut wie dem Zirkel angehörst und das weiße Buch von Generation zu Generation weiter gegeben werden muss.“

Weitere Details nenne ich ihr ab dieser Stelle dann nicht mehr, da es besser ist, wenn ihr alles weitere Fanny erklärt. Außerdem habe ich ja auch kein Recht dazu Selest mehr zu sagen. Zwar komme ich mit Fanny gut zurecht und sie hätte bestimmt auch nicht dagegen wenn ihr ihrer Nichte mehr erzähle, aber wenn sie mich nicht direkt darum bittet, tue ich es lieber nicht.

„Wenn du möchtest, kannst du ein wenig durch meines durchstöbern. Es steht noch nicht viel drinnen, da ich es neu anfertigen musste, aber…“

„Wieso hast du nicht das von deinen Eltern?“ Selest hat sich mittlerweile etwas Frisches angezogen. Ich werfe einen Blick in ihren Teil des Kleiderschrankes und bin erstaunt, dass sich dort nur schwarze Sachen befinden. Damit hat sie kein Problem dabei, passende Sachen rauszusuchen, da Farblich eh alles eins ist.

Ich drehe mich von der Tür weg, da ich eigentlich gerade dabei war runter zu den anderen zu gehen und sehe wieder zu Selest. Sie ist gerade dabei sich die Haare zu kämmen.

„Antoniella vermutet, dass die Bücher meiner Eltern, bei dem Krieg vor 17 Jahren abhandengekommen sein müssen. Bist du fertig?“, frage ich sie. Selest nickt. „Dann lass uns runter zu deiner Tante gehen. Fanny möchte bestimmt wissen was passiert ist. Und ich übrigens auch. Arashi wollte es mir nicht sagen. Vielleicht ist er bei dir ja Redseliger, was dieses Thema angeht. Dieser Kerl kann sonst auch nie die Klappe halten, aber wenn er mal was erzählen soll, macht er es nicht.“ Dieser Depp.

Mit Arashi bin ich noch nie sonderlich gut ausgekommen. Zwar ist er der beste Freund von Constantin und war Eileens fester Freund – falls er zu sowas wie Lieben überhaupt fähig ist, bei seinen vielen Frauengeschichten – aber nun ja. Man kann sich ja nicht mit jedem Freund seiner Freunde verstehen. Und schlimm finde ich das auch nicht. Arashi ist mir meistens eh zu anstrengend und außerdem kannte er…

„Wer ist denn dieser Arashi?“, unterbricht Selest meine Gedankengänge.

Wir gehen die Wendeltreppe nach unten, die die Schlafräume mit dem Rest der Wohnung verbindet und gehen dann ins Wohnzimmer. Ich will Selest gerade erklären wer Arashi ist und das sie in seiner Gegenwart sehr vorsichtig sein soll, als sich das – bei dem Bild was sich uns beiden bietet – wohl von ganz alleine regeln wird.

„Was zum…“ Mit offenem Mund beobachtet Selest ihre Tante dabei, wie diese sich bei Arashi für die Rettung von Selest bedankt.

Ich wusste ja das sie das vorhatte, aber ich dachte da eher an ein einfaches Dankeschön oder so, aber nicht, dass sie ihn erlaubt, sich von ihr zu ernähren. Erstens ist es ziemlich waghalsig das ausgerechnet hier zu machen, wo Derek jederzeit reinplatze kann – der Vampire, im besonderen Arashi, hasst – und es zweitens, den Vampiren eh verboten ist, sich von einer Hexe zu ernähren.

„Tante Fanny!“, schreit Selest und stürmt auf die beiden zu.

Selest stürmt sofort vorwärts und will ihre Tante von Arashi wegzerren, doch glücklicherweise schafft Constantin es gerade so noch Selest aufzuhalten, ehe sie auch nur eine Hand an Arashi legen konnte. Denn auch wenn er eigentlich Gut ist, man sollte niemals einen Vampir davon abhalten sich zu nähren. Jedenfalls nicht wenn man nicht den Wunsch hegt zu sterben. Die Instinkte eines sich nährenden Vampirs sind immer in allerhöchster Allarmbereitschaft, um sich falls notwendig, sofort gegen Angreifer währen zu können. Nicht einmal Jolina, Constantin und ich zusammen – auch nicht wenn Derek hier wäre und auf Fanny hätten wir sowieso nicht zählen können – hätten gegen Arashi den Hauch einer Chance gehabt. Dafür ist er viel zu alt und zu mächtig.

„Nicht!“ Constantin hält Selest am Arm fest und zieht sie ein paar Schritte zurück, sodass sie genug Abstand zu Arashi hat.

„Aber…“

„Einen Vampir darfst du niemals beim essen stören“, erklärt er ihr und hält sie dabei immer noch fest.

Wieder einmal bin ich über Constantins gute Reflexe froh. Nicht auszumalen was passiert wäre, wenn Selest,11 Arashi gestört hätte. Was Conny aber für die Zukunft noch in den Griff bekommen sollte ist, erst nachzudenken bevor er was sagt. Immerhin glaube ich kaum, dass das Wort essen, so günstig gewählt war. Einerseits ist es ein sehr unschönes Wort und auf der anderen Seite könnte Selest es falsch verstehen. Schließlich ist Fanny ja nicht Arashis Mittag.

Selest wendet sich Constantin ab und sieht völlig sprachlos auf ihre Tante und Arashi. Dieser ist gerade fertig geworden und leckt sich nun genüsslich über die Lippen. Scheinbar hat es ihm geschmeckt.

„War das gut. Da hat sich das Retten ja mal richtig gelohnt.“ Arashi erhebt sich und legt einen Arm um Constantins Schulter, der kurz zuvor an seine Seite getreten ist. Arashi grinst seinen besten Freund an.

„Tante Fanny!“ Selest hat sich aus ihrer Starre gelöst und setzt sich zu ihrer Tante auf die Couch. Fanny sieht sie aus erschöpften Augen an.

„Musstest du gleich so viel trinken?“, frage ich an Arashi gewandt. Er zuckt nur mit den Schultern und sieht sich wieder mal

nicht dazu verpflichtet mir zu antworten. Das macht der doch mit Absicht.

„Lass gut sein, Kira. Ich habe ihm gestattet so viel zu sich zu nehmen, wie er benötigt. Er hat immerhin dir und Selest das Leben gerettet. Da war das nun wirklich das mindeste was ich für ihn tun konnte.“

„Und was ist mit dem Verbot?“, will Jolina wissen. Sie hat Constantin von Arashi weggezogen und sich mit ihrem Freund zusammen auf ihren Lieblingssessel gesetzt. Arashi setzt sich auf die Sessellehne und schaut Jolina provozierend an.

„Wir müssen es ja nicht unbedingt eurer teuren Hohepriesterin erzählen“, rät Arashi mit einem Augenzwinkern. „Außerdem habe ich mir das wirklich…“

„Jaja“, unterbreche ich ihn. „Wir wissen es.“

Mit finsterer Miene sieht Arashi zu mir. Viele junge Hexen – auch manch ältere – hätten sich davon beeindrucken lassen, oder wären gar einschüchtert gewesen, aber ich nicht. So einen Blick bekomme ich von Derek oft genug zu sehen. Dagegen bin ich inzwischen immun.

Da Arashi das auch weiß, bedenkt er mich nicht lange mit diesem Blick. Stattdessen beobachtet er kurz Selest, die immer noch die Wunde ihrer Tante begutachtet.

„Das heilt wieder“, erklärt er ihr. „Aber mal was anderes…“ Seine immerwährend grinsende Miene verschwindet und wird mit einmal ernst. „Woran kannst du dich alles so erinnern?“ Selest wendet sich Arashi zu und beäugt ihn misstrauisch. Zumindest die ersten Minuten lang. Doch je länger sie sich beide ansehen, desto faszinierter scheint Selest von dem Blutsauger zu werden. Und das ist nicht gut. Ganz und gar nicht gut.
 

Herbst 2015, le village de étoiles
 

Selest Peterson

„Das letzte woran ich mich erinnern kann ist, dass ich Kira zur Seite geschupst habe und dann dieser Lykan auf mich sprang. Ich roch seinen faulen Atem und dachte nur, das war es jetzt mit mir. Jetzt wird er mich töten, doch…“, das hat er nicht. Ich gehe kurz in mich, ehe ich weitererzähle. „Mit einmal fand ich mich in einem Wald wieder. Meine Klamotten waren voller Blut und… nachdem ich ein paar Minuten quer durch den Wald gelaufen bin, konnte ich einem Gespräch von Lykan und einer weiteren Person lauschen.“

„Das meinte ich zwar nicht, aber gut. Erzähl uns halt erst einmal von deiner Traumwandwanderung.“ Dieser Arashi lächelt mich an und zwinkert mir verführerisch zu. Ich drehe mich von ihm weg.

„Moment mal“, unterbricht Jolina Arashis Flirterei. Sie sieht zu Constantin, genauso wie alle anderen auch. „Wolfsmenschen können doch nicht sprechen, zumindest habe ich noch nie davon gehört. Das ergibt ja aber auch keinen Sinn, oder?“

Constantin zuckt mit den Achseln und seufzt einmal laut auf. Also wenn er es als Loup-Garou nicht weiß, woher sollten dann die anderen das wissen.

„Normalerweise sind die dazu nicht im Stande, aber… wer weiß wozu Lykan, durch den Verzehr eines Hexenherzens, alles fähig ist. Möglich wäre es also schon.“

„Mich würde ja viel mehr interessieren wer diese andere Person war“, sagt Kira und setzt sich neben mich auf die Couch. Sie dreht sich mir zu und sieht mich dabei nachdenklich an. „Vertraust du uns?“

Es überrascht mich dass ausgerechnet Kira mich das fragt. Doch noch mehr überrascht es mich, dass ich ohne zu zögern nicke. Wieso tue ich das? Im Grunde kenne ich hier doch, mit Ausnahme meiner Tante, niemanden wirklich lang genug, um behaupten zu können ihnen zu vertrauen.

Und doch tue ich es.

Jolina und Constantin waren von Anfang an nett zu mir und haben mich in ihrer Mitte akzeptiert. Kira war bereit mich zu beschützen, ganz gleich was das für sie bedeutet hätte und Arashi… Ich blicke in seine Richtung. Der Vampir steht mit verschränkten Armen neben der Tür und blickt zu mir rüber. Seine dunkelgrünen Augen fixieren mich und es hat ganz den Anschein, als würden sie durch mich hindurchsehen. Er zwinkert mir erneut zu, was mich dazu veranlasst wieder einmal wegzusehen und mich lieber wieder Kira zuzuwenden.

„Natürlich vertraue ich euch“, sage ich.

„Gut. Und jetzt versuch dich bitte ganz genau an das Gespräch aus deiner Traumwandlung zu erinnern. Schließ dazu deine Augen.“

Eine Sekunde zögere ich, tue aber schließlich wie mir geheißen und schließe meine Augen. Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache. Ich kann es nicht wirklich erklären, aber irgendetwas sagt mir, dass das hier eine ganz üble Idee ist. Doch ich brauche ein paar Antworten und um die zu bekommen, bin ich zu allem bereit.

„Und was nun?“, will ich wissen.

„Konzentriere dich bitte und denke an die Traumbegegnung mit Lykan“, höre ich meine Tante sagen. Sofort spüre ich ihre Anwesenheit genau neben mir. Sie sitzt zu meiner Linken und greift mit ihren Händen nach meinen. Sie drückt sie ganz fest. Und mit einmal durchströmt mich eine unglaubliche Energie. Sie pulsiert in meinem Inneren. Und es fühlt sich einfach großartig an.

„Deine Tante verbindet jetzt ihre Magie mit deiner unterdrückten miteinander“, erklärt mir Jolina. „Und sobald dies geschehen ist, werdet ihr beide euch in deinem Traum wiederfinden.“

Was? Nein!

Ich öffne meine Augen und will die Verbindung lösen, als sich die komplette Umgebung verändert. Das Wohnzimmer inklusive Kira, Jolina und die anderen verschwimmen vor meinen Augen. Da ich mir nicht sicher bin ob ich mir das hier nur einbilde, schließe ich erneut meine Augen, nur um sie eine paar Sekunden später, aufgrund eines leichtem Händedruck seitens meiner Tante – der mir beteuert, dass alles ok ist – wieder öffne. Ich stehe erneut im Wald.

Ich blicke an mir runter und atme erleichtert auf. Es befindet sich kein Blut an meinen Klamotten, nicht so wie heute früh. Ich blicke nach links und sehe meine Tante neben mir stehen.

„Versuch dich jetzt bitte ganz genau an den Weg zu erinnern, den du vorhin genommen hast“, bittet sie mich. Ich tue wie mir geheißen, und atme einmal tief Luft ein, um mich konzentrieren zu können.

Dann, als ich mir sicher bin, setze ich mich in Bewegung.
 


 

Herbst 2015, le village de étoiles
 

Kira Vaillant

Eine halbe Stunde ist mittlerweile vergangen und noch immer sind Selest und Fanny in diesem Traum.

Eigentlich habe ich nicht damit gerechnet, dass es so lange dauern wird, aber da Selest ja noch eine blutige Anfängerin ist, wird das wohl ganz normal sein. Außerdem darf ich nicht vergessen, dass diese Reise für Selest alles andere als einfach ist. Fanny wird es bestimmt nicht einfach haben, ihre Nichte zu überzeugen weiter zu gehen, ganz gleich auf wen sie treffen werden.

„Mach dir keine Gedanken um die beiden, Kira.“ Derek legt mir eine Hand auf die Schulter und drückt sie kurz.

Er ist vor 10 Minuten ins Wohnzimmer gekommen. Er war zusammen mit seinem Bruder draußen laufen und hat ihn dann zu Vincent gebracht. Wir haben Derek dann in knappen Worten erklärt gehabt was vorgefallen ist. Verständlicherweise war er alles andere als begeistert davon gewesen, dass Lykan uns beide angegriffen hat. Auch von Arashis Anwesenheit war er nicht sehr begeistert, doch er hat es sich diesmal nicht so sehr anmerken lassen wie die male davor. Ich schätze das es heute damit zu tun hatte, dass Arashi mir und Selest das Leben gerettet hat.

Es klingelt an der Tür und alle Anwesenden, einschließlich Arashi und Derek, zucken zusammen. Zischend steht Jolina auf und geht Richtung Eingangstür, während ich weiterhin auf Selest und Fanny starre. Es gefällt mir nicht, dass wir Selest dies zumuten müssen, aber wir brauchen Antworten.

Jolina kommt zurück ins Wohnzimmer. „Da ist Besuch für dich Kira“, sagt sie und deutet in Richtung Haustür.

„Wer ist es?“, fragt Derek überrascht. Jolina wendet sich ihm zu und setzt sich dabei wieder zu Constantin.

„Ein junger Polizist. Er untersucht den Mord an Bianca und hat wohl erfahren das Kira und sie nicht sehr gut miteinander auskamen. Jedenfalls will er mit ihr reden und bevor er gleich hier reinkommt und dann Selest und Fanny ihn ihrem Trancezustand sieht, sollte Kira schnell zu ihm gehen.“ Ich seufze leise auf und stehe dann auf.

„Das hat mir gerade so noch gefehlt“, beklage ich mich, mache mich aber dennoch auf den Weg zur Tür. Sie steht offen und in der Tür steht ein attraktiver junger Mann, ich schätze ihn so in etwa in Constantins Alter.

Ich sehe mir den fremden etwas genauer an. Er hat fransige dunkelbraune, ja fast schon schwarze Haare und dunkelblaue Augen. Er trägt einen schwarzen Anzug mit Krawatte, was an ihm irgendwie lächerlich ausschaut. Häufig scheint er sowas nicht zu tragen. Seine linke Hand liegt locker an seiner Hüfte und mit der rechten Hand telefoniert er.

„Ich bin gerade bei… Ja Chef. Ich überprüfe nur noch die Zeugenaussage von Frau Müller und komme dann sofort ins Büro. Nein? Ok…. Wird gemacht Chef. Ich kümmere mich darum.“ Er beendet sein Telefonat und verdreht dabei die Augen. Das Gespräch verlief wohl nicht wirklich zu seiner Zufriedenheit. Er steckt sein Handy wieder weg und wendet sich dann mir zu. „Kira Vaillaint?“, fragt er mich und reicht mir seine linke Hand. Ich nicke bestätigend und lehne dann vorsichtig die Tür an. Die anderen müssen nicht unbedingt mitbekommen worüber wir reden, obwohl Conny, Derek und Arashi eh jedes Wort verstehen. Der junge Polizist nimmt seine Hand wieder zurück und grinst mich kurz an. „Ich bin Kommissar Jäger von der Mordkommission und würde von ihnen… darf ich dich duzen?“ Ich nicke.

„Ja, von mir aus.“

„Sehr schön. Also. Ich würde von dir gerne wissen, was du für ein Verhältnis zu Bianca Bayer hattest.“

„Kein sehr gutes“, sage ich die Wahrheit. Warum sollte ich auch Lügen, ich habe schließlich nichts zu verbergen. Ok. Habe ich schon… irgendwie, aber das hat niemanden zu interessieren. Erst recht ihn nicht. „Wir sind nie wirklich gut miteinander klargekommen. Bianca hat mir irgendetwas, was vor vielen Jahren mit unseren Eltern zu tun hatte, sehr übel genommen. Ich kann ihnen aber nicht sagen worum es da ging, da ich es selber nicht weiß.“

„Hm.“ Er holt sich einen kleinen Schreibblock raus und schreibt sich etwas auf. „Also hatte Bianca ein Problem mit dir und du? Hattest du eins mit ihr?“

„Nein. Ich habe sie meistens ignoriert. Oder es zumindest versucht. Wollen sie mir jetzt verraten, warum sie wissen wollen, wie mein Verhältnis zu Bianca war? Sie glauben ja wohl nicht, dass ich sie ermordet habe, oder etwa doch?“

„Nun.“ Er kratzt sich verlegen am Kopf. „Wir müssen jeder Spur nachgehen, das verstehst du sicher.“ Er fängt sich wird wieder und wird ernst. „Woher weißt du das überhaupt, dass Bianca Bayer ermordet wurde? Davon habe ich nichts gesagt.“

„Erstens. Sie fragten mich was ich für ein Verhältnis zu Bianca hatte und Zweitens..., sagten sie dass sie von der Mordkommission sind. Und da ich durchaus in der Lage bin eins uns eins zusammen zu zählen… bedeutet das, dass Bianca tot ist. Außerdem sind sie hier in einer Kleinstadt, hier spricht sich alles schnell rum.“

„Doch woher weißt du dass sie ermordet wurde?“

„Von mir“, höre ich jemanden neben uns sagen. Erschrocken zucke ich zusammen und sehe dann auf.

Ich blicke in das freundliche Gesicht eines Mannes mittleren Alters. Als der Fremde allerdings den jungen Polizisten ansieht, verhärten sich seine Gesichtszüge.

„Und sie sind?“, will der junge Polizist wissen. Genauso wie ich, doch das werde ich bestimmt nicht laut sagen, wo er mir doch gerade geholfen hat. Auch wenn ich seine Hilfe nicht wirklich gebraucht. Eine zufriedenstellende Antwort hätte ich für den Polizisten bestimmt auch selber gefunden.

„Ich bin Dr. Peterson, der hiesige Gerichtsmediziner und sie muss ich nun bitten, keine weiteren Fragen mehr an Kira zu stellen, Kommissar Jäger. Wenn sie noch weitere Fragen haben sollten, so wenden sie sich bitte an Bürgermeisterin Duvall, das ist Kiras Ziehmutter. Auf Wiedersehen.“

Selest Vater schiebt mich sachte in den Flur herein und will gerade die Tür hinter uns schließen, als ich die provozierende Stimme des jungen Polizisten noch einmal höre.

„Ich wusste gar nicht dass es hier in eurer Kleinstadt üblich ist, über laufende Ermittlungen zu reden, Dr. Peterson.“ Selest Vater dreht sich um und funkelt sein Gegenüber böse an, doch statt ihm eine Antwort zu geben, schließt er vor dessen Nase die Tür.

„Wo ist meine Tochter?“, fragt er mich, kaum dass wir das Wohnzimmer erreicht haben. Sobald er Selest und seine Schwester entdeckt hat, kniet er auch schon vor ihnen. „Was ist mit den beiden“, will er wissen und fühlt vorsichtig Selests Stirn.

„Selest ist in ihrem Traum gewandelt, konnte sich aber nicht wirklich mehr an alle Details erinnern. Da anzunehmen ist, dass Lykan mit jemanden zusammenarbeitet – Selest hat so etwas angedeutet – versuchen die beiden nun herauszufinden, wer das sein könnte“, erklärt Arashi. Er hockt sich neben Dr. Peterson. „Keine Angst. Deiner Tochter geht es gut, Daniel.“

Die beiden sehen sich kurz an, bis sich Selests Vater wieder seiner Tochter zuwendet und sie beobachtet. Da ich der Meinung bin, dass Selest genug Leute um sich hat, schleiche ich mich aus dem Zimmer raus. Jolina, Conny und Derek folgen mir.

„Ich bin in meinem Zimmer und schlafe etwas“, sage ich zu den dreien und verschwinde dann die Wendeltreppe hoch.
 


 

Herbst 2015, le village de étoiles
 

Selest Peterson

Ich schrecke auf und befinde mich im Wohnzimmer wieder. Doch anders als gedacht, nämlich das Jolina, Conny und Kira bei mir sind, sehe ich meinen Vater und diesen Vampir vor mir. Und kaum das ich mich von meiner Tante gelöst habe, wirft sich mir mein Vater entgegen und erdrückt mich regelrecht.

„Jage mir bitte nie wieder solche eine Angst ein, Liebes. Ich habe schon befürchtet dich für immer verloren zu haben. Glücklicherweise war Arashi da und konnte dir und Kira helfen. Nicht auszumalen was passiert wäre, wenn er auch nur eine Sekunde später angekommen wäre.“

Da ich nicht anders kann, schließe auch ich meine Arme um meinen Vater. Es tut gut ihn im Arm zu haben und gleichzeitig von ihm gehalten zu werden. Am sichersten fühle ich mich halt immer noch bei meinem Vater und so wird es wohl auch immer bleiben. Wie sehr ich seine Umarmungen doch vermisst habe, dabei habe ich sie erst gestern zu spüren bekommen. Was so ein angsteinflößender Tag doch bei mir auslösen kann.

„Es ist alles ok bei mir, Dad. Kira war ja bei mir und…“ Dieser Vampir – Ich habe seinen Namen vergessen – kam dann auch. Nur leider als schon alles vorbei war und nicht wie er erzählt hatte.

„Und darüber bin ich mehr als glücklich“, unterbricht mich mein Dad. Er löst unsere Umarmung und drückt dann kurz die Schulter seiner Schwester, ehe er sich an meinen Retter wendet. „Ich danke dir Arashi.“ Genau! So hieß er. Arashi.

„Ich war einfach nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort, und darüber hinaus, hat sich Fanny schon ausgiebig bei mir bedankt. Es ist also alles ok.“

Ich verdrehe meine Augen und sehe mich noch einmal nach den anderen um. Vielleicht sind sie ja doch da und ich habe sie nur nicht wirklich wahrgenommen. Doch niemand ist zu sehen. Keine Kira, keine Jolina und auch kein Constantin, dabei hätte ich gerne mit ihnen darüber geredet, was meine Tante und ich eben gesehen haben.

Ich muss ehrlich zugeben, ich bin ein wenig verwirrt und kann mir nicht erklären, wieso ich eben auch einen kleinen Einblick vom ersten Angriff Lykans gesehen habe und nicht nur den im Wald, so wie es eigentlich hätte sein sollen. Ich verstehe das nicht. Und was ich auch nicht verstehe ist, wieso meine Tante davon nichts mitbekommen hat, oder etwa doch?

Ich wende mich meiner Tante zu, die jetzt auch wieder im Hier zu sein scheint.

„Tante Fanny! War ich eigentlich die ganze Zeit über bei dir?“, frage ich sie und bin ehrlich gespannt auf ihre Antwort. „Oder war ich für ein paar Minuten mal weg.“

„Wir waren die ganze Zeit über zusammen, Liebes. Wieso fragst du?“

„Ach, nur so“, sage ich und zucke mit den Schultern. „Ich dachte nur, dass ich kurzzeitig alleine war.“

„Da irrst du dich. Du warst die ganze Zeit über bei mir. Und nun…“ Meine Tante sieht sich wie ich zuvor auch im Wohnzimmer um. „Wo sind die anderen?“, will sie von Arashi wissen.

„Kira wollte sich etwas ausruhen und der Rest…“ Arashi schließt für einen Moment seine Augen und öffnet sie sofort wieder. Was war das denn? „Conny und Jolina sind in ihrem Zimmer, oh und Derek ist bei Kira. Er hält ihr gerade einen Vortrag darüber, dass sie sich und Selest in Gefahr gebracht hat, weil sie ohne sein Wissen alleine draußen war. Das arme Ding. Derek ist ziemlich sauer. Aber naja, wo er Recht hat…“

„Aber es war nicht Kira“, beschwere ich mich. „Ich bat sie mit mir zusammen Frühstück holen zu gehen. Ich wollte mich bei ihr, Jolina und Conny für ihre Freundlichkeit bedanken. Und darüber hinaus… Du warst gar nicht dabei als Lykan uns angriff. Kira hat mich beschützt.“

„Moment mal. Was?“ Meine Tante fasst Arashi bei den Schultern und zieht ihn zu sich ran. „Soll das etwa bedeuten dass du uns angelogen hast? Und ich gab dir auch noch mein Blut.“

„Vielleicht habe ich die Wahrheit etwas gedehnt“, rechtfertigt Arashi sich und befreit sich vom Griff meiner Tante. „Ich wollte auch eigentlich nur Selests Geheimnis beschützen.“ Er sieht uns einen nach dem anderen an und bleibt dann mit seinem Blick bei mir heften. „Sie ist immerhin eine Zodiac.“

Also doch. Und das bedeutet…

Mein Vater und meine Tante sehen mich geschockt an. Keiner von ihnen sagt ein Wort. Im Gegenteil. Scheinbar hat Arashis Offenbarung sie völlig sprachlos gemacht. Doch was heißt das jetzt für mich?

„Aber ich dachte dass das Kira ist“, sagt meine Tante, als sie endlich ihre Sprache wieder erlangt hat.

„Wir müssen das auf jeden Fall für uns behalten“, sagt mein Vater in strengem Tonfall. „Niemand darf davon erfahren, auch Lady Antoniella nicht. Vor allem nicht sie.“

Eine Zodiac zu sein scheint nicht allzu was Gutes zu sein. Obwohl… Wenn alle dachten das Kira das ist, dann kann es eigentlich nichts schlechtes sein. Doch warum dürfen die anderen es dann nicht herausfinden?

„Was ist denn nun eine Zodiac“, will ich wissen. „Würde mich bitte endlich mal einer von euch aufklären? Und wenn ich wirklich sowas sein soll, heißt das dann, dass Mom eine Verräterin war?“ Diese andere Gestalt hat das immerhin gesagt.

„Nein!“, sagt meine Tante bestimmend. „Es gab zwar eine Verräterin, aber deine Mutter war es nicht.“

Wer dann?
 

Ich stehe vor Kiras und meinem Zimmer und hadere mit mir, ob ich eintreten soll.

Meine Tante und mein Vater sind wieder gegangen, nachdem sie mich haben schwören lassen mit niemanden zu reden. Und auch Arashi hat sich von dannen gemacht. Keine Ahnung wohin der Vampir verschwunden ist, aber das interessiert mich auch nicht. Vielmehr will ich wissen, ob ich mit meiner Vermutung richtig liege.

Da es keinen anderen Weg gibt, lege ich meine Hand auf den Türgriff und drücke ihn langsam runter.

„Kira! Ich muss mit dir…“ Reden. Es ist keiner im Zimmer. Komisch. Ich habe sie es doch gar nicht verlassen hören.

„Scheinbar keiner da“, kommt es von hinter mir. Ich drehe mich erschrocken um und halte mir die Hand auf die Brust. Mein Herz puckert wie wild. Und das liegt nicht nur daran das Arashi mich erschreckt hat.

„Was willst du denn hier?“, frage ich ihn etwas unfreundlich. „Bist du nicht erst vor kurzem von hier verschwunden?“

„Ich bin überall“, scherzt er und deutet mir mit einem Kopfnicken an, dass ich ihm folgen soll.

Ich tue es, warum auch immer.

Arashi betritt eines der anderen Zimmer und setzt sich dort aufs Bett. Ich steuere die Fensterbank an und lehne mich an sie. Von seinem Posten aus beobachtet Arashi mich wieder einmal, was mich mehr als nervös werden lässt. Zumal er mich auch noch so ansieht, als wäre ich was zu essen.

„Sagst du mir jetzt endlich warum ich dir folgen sollte“, frage ich ihn genervt. „Oder willst mich nur weiterhin anstarren. Denn wenn das der Fall sein sollte, dann gehe ich zurück und suche Kira. Ich habe was Wichtiges mit ihr zu bereden.“

Ohne mir zu antworten steht er vom Bett auf und lehnt sich neben mich an die Fensterbank an. Und wieder starrt er mich an.

„Wenn du wissen willst, wer mit Verräterin gemeint ist, dann kann ich dir auch weiterhelfen. Dafür brauchst du nun wirklich nicht Kira.“

„Ach ja.“ Ich gehe auf etwas Abstand zu ihm und verschränke dann meine Arme vor meiner Brust. „Vielleicht rede ich aber lieber mit ihr, statt mit dir.“

Arashi schüttelt amüsiert den Kopf.

„Du hast ja nicht die geringste Ahnung wie mächtig du einmal werden wirst, Selest. Deine Magie ist stärker als du denkst und sie ist auch stärker als dein Vater, deine Tante und alle anderen hier denken. Bisher war es immer Kira, welche mit zu den mächtigsten Hexen zählte – auch wenn sie selber das nicht weiß – doch mit der heutigen Demonstration deiner Kräfte, hat sich das geändert. Und glaube mir wenn ich sage, dass du gut daran tätest den Rat deiner Familie zu folgen und niemanden davon zu erzählen.“

„Wie genau meinst du das?“, verlange ich zu erfahren. „Und wenn Kira wirklich so mächtig sein soll wie du eben sagtest, wieso hat sie dann nichts unternommen, als Lykan uns beide angriff?“

„Weil Kira seit 3 Jahren ihre Magie nicht mehr anwendet.“

„Warum das denn?“, frage ich verdutzt. Wieso verwendet sie sie nicht mehr. Mit Magie ist das Leben doch viel einfacher, oder? „Ist irgendwas passiert Vielleicht etwas was ich wissen sollte?“ Schließlich kann man nie wissen.

„Sagen wir mal so. Sie hat etwas über ihre Eltern erfahren, was sie nicht unbedingt hätte erfahren sollen. Und dann war es noch nicht einmal die ganze Wahrheit.“

„Wäre es dann nicht vielleicht besser ihr die Wahrheit zu sagen?“ Warum nur verschweigen hier alle immer alles Wichtige? Das scheint ja beinahe zwanghaft zu sein.

Arashi streicht sich kurz durch seinen Pferdeschwanz und lehnt seinen Kopf dann an der kalten Fensterscheibe an. Von dort aus sieht er mich prüfend an.

Was jetzt wohl kommen mag?

„Das sie nur so reagiert hat, nachdem sie die harmlose Version erfahren hat, ist ein Glücksfall gewesen. Es hätte auch schlimmer kommen können, das kannst du mir glauben. Es ist besser Kira wendet ihre Magie gar nicht mehr an, als dass sie wie ihre…“ Er bricht mitten im Satz ab – jetzt wo es interessant wurde – und beginnt einen neuen. „Glaube mir wenn ich dir sage, dass es nicht sehr Vorteilhaft wäre ihr die Wahrheit zu sagen. Manch eine Wahrheit, sollte einfach niemals ans Licht kommen.“

„Weil ihre Mutter diese Verräterin war?“, rate ich einfach mal drauf los.

„Ich kenne Kira schon ihr Leben lang, Selest. Diese Wahrheit, würde sie niemals verkraften.“ Ich blicke in Arashis schwarzen Augen, die sich mit einmal blutrot färben.

„Vielleicht hast du recht“, seufze ich und belasse es dann dabei. Auch wenn glaube das sie alle einen riesen Fehler begehen. Irgendwann wird Kira es herausfinden und dann… da bin ich mir sicher, werden sie ihre Entscheidung bereuen. Arashis Augen haben mich noch immer in ihrem Bann gefangen. Um ihm nicht völlig nachzugeben, versuche ich einfach mal das Thema zu wechseln. „Erkläre mir bitte, warum ich niemanden sagen darf dass ich Kira und mich gerettet habe? Ich verstehe nicht was daran so schlimm sein soll.“

„Du hast ja keine Ahnung“, wispert er und kommt meinem Gesicht dabei immer näher.

„Dann erkläre es mir bitte“, wispere auch ich.

„Weil dann herauskommt das du eine Zodiac bist. Diese Nachricht würde sich rasend schnell verbreiten und das wiederum würde bedeuten, das nicht nur Lykan mehr nur hinter dir her sein wird, sondern auch andere Hexen und Hexenmeister. Einfach alle, die hinter der unglaublichen Macht der Zodiac-Hexen her sind.“

Das hört sich in der Tat nicht gut an, aber warum ist dann keiner hinter Kira her, wenn doch alle denken das sie… nun ja, eine Zodiac ist. Das frage ich auch Arashi und seine darauffolgende Antwort macht für mich schon fast Sinn. Aber auch nur fast, denn ich glaube kaum, dass Lykans Herrin schwach ist und Angst hat getötet zu werden.

„An Kira traut sich so wirklich keiner ran, denn wie bereits gesagt, ist ihre Magie nicht zu verachten. Außerdem wird sie von Antoniella beschützt und…“ Sein Gesicht ist mir jetzt so nah, dass ich seinen heißen Atem auf meiner Haut spüre. Dabei dachte ich immer, dass Vampire keine Wärme besitzen, immerhin sind sie ja tot, „…niemand traut sich mehr gegen das höchste Hexengesetz zu verstoßen. Denn Verrat bedeutet Tod. Und? Willst du immer noch, dass Kira die Wahrheit über ihre Eltern erfährt, jetzt, wo du weißt was Verrätern blüht?“

Ich brauche nicht lange zu überlegen, denn die Antwort auf seine Frage ist ganz klar: Nein!

Arashi Lippen liegen hauchzart auf meinen, doch bevor er mich richtig küssen tut, drückt er meinen Kopf sachte zur Seite und beißt dann in meinen freiliegenden Hals. So ein Mistkerl.

Augenblicklich breitet sich ein unangenehmer Schmerz in mir aus. Ich bin versucht Arashi von mir zu stoßen. Meine Hände liegen bereits auf seiner Brust, doch ich drücke ihn nicht von mir. Irgendetwas hindert mich daran es zu tun.

Der anfängliche Schmerz ist fast vollkommen abgeklungen, auch wenn es sich immer noch merkwürdig anfühlt. Doch irgendetwas scheint anders zu sein, als ich es aus den unzähligen Vampirromanen kenne, die ich schon gelesen habe. Und ich meine nicht den nicht mehr vorhanden Schmerz, sondern irgendwas an der Art, wie es sich anfühlt, von ihm ausgesaugt zu werden. Oder bilde ich es mir vielleicht nur ein, dass etwas anders ist?

Gerade als ich versuchen will mit ihm zu reden, und ihn danach zu fragen, warum ich das Gefühl habe dass er mich nicht mehr aussaugt, sondern es sich so anfühlt, als wenn er mir etwas seines Blutes gibt, sehe ich ein Bild meiner Mutter und einer anderen jungen Frau vor Augen aufblitzen.
 


 

Sommer 1998, le village de étoiles
 

Ruby Peterson

Nie hätte ich gedacht, dass Ileana und ich einmal auf unterschiedlichen Seiten stehen würden. Wie konnte es nur soweit kommen? Was ist nur passiert, dass meine beste Freundin sich so verändert hat, und ich es nicht mitbekommen habe? Wann nur begann unsere Freundschaft so schief zu laufen.

Ich renne über das brennende Schlachtfeld. Überall liegen Verletzte und sogar Tote herum. Die meisten davon sind Wicca-Hexen und auch etliche von den Wolfsmenschen. Loup-Garous sind glücklicherweise kaum unter den toten zu finden, was auch ganz gut so ist. Sie dürfen wir als Verbündete am allerwenigstens verlieren, da ihre Stärke mit nichts vergleichbar ist, nicht mal mit denen der Vampire. Zwar gibt es unter den Blutsaugern auch Ausnahmen, zum Beispiel den Kishimoto Clan oder den Nikolov Clan, doch das ist nur eine Handvoll.

Von Ileana und Alex ist bisher nichts zu sehen und doch weiß ich, dass sie hier sind. Denn auch wenn sich vieles bei ihnen verändert haben scheint, etwas wird sich nie ändern und das ist, dass sie andere ihre Schlacht austragen lassen. Sie müssen hier also irgendwo sein. Und ich hoffe sehr, dass ich sie vor den anderen finde.

Wo auch immer ich hinsehe, sehe ich nichts außer Verwüstung und etliche Feuer brennen. Meine Hexenschwestern scheinen es ernst damit zu meinen, diesen Krieg gewinnen zu wollen, was ich ihnen auch nicht verübeln kann.

Merkwürdigerweise kann ich nirgends Anzeichen davon finden, dass die Wicca-Hexen ihre Magie anwenden. Zwar gilt ihr Zirkel nicht als der mächtigste, aber dennoch ist ihre Magie nicht gerade schwach, ganz im Gegenteil… Sobald mehre von ihnen ihre Kräfte erst einmal bündeln, können sie gewaltige Unwetter heraufbeschwören, allen voran Ileana und Alex. Kann es vielleicht sein, dass ich irgendetwas übersehen habe? Ist Ileana vielleicht doch nicht hinter den Zodiacs her?

Ich glaube Ileanas dunkelroten Haarschopf gesehen zu haben. Dort, wo bis vor kurzem noch unser Friedhof war, doch jetzt nichts weiter mehr als Brandflecken und vereinzelte Flammen zu sehen sind. Glücklicherweise haben Lady Antoniella und Fanny ihn noch vor dem ganzen Chaos hier, mit einem Bannkreis versehen.

Ich beschleunige meine Schritte und tatsächlich habe ich mich nicht geirrt. Ileana und Alex stehen auf der einen und Fanny sowie mein Mann Daniel, auf der anderen Seite. Doch keine der beiden Gruppen macht Anstalten die andere angreifen zu wollen. Es besteht also durchaus noch Hoffnung für uns alle.

„Ihr solltet lieber aufgeben, Ileana. Noch ist nicht allzu viel passiert und Opfer gibt es auch noch nicht so viele. Euch kann noch verziehen werden“, höre ich Fanny sagen. Und an ihrer nicht aggressiven Stimme erkenne ich, dass sie es auch ernst meint.

„Ihr habt ja keine Ahnung was hier wirklich vor sich geht, Fanny“, sagt Alex und stellt sich schützend vor seine Freundin. Ich kann wirklich nicht verstehen wieso sich Ileana in ihrem Zustand, auf solch einen Kampf einlässt. Das ist doch viel zu gefährlich für sie, aber vor allem für ihr Ungeborenes Kind.

Endlich habe ich sie erreicht und bevor einer etwas Unüberlegtes tun kann – Fanny sieht mittlerweile sehr Angriffslustig aus – stelle ich mich zwischen die Vier. Ileana sieht mich und schließt für einen Moment ihre Augen. Ihre Hände wandern zu ihrem Bauch und streicheln kurz über diesen. Da hat sich wohl wer gemeldet, und genau das sollte ich ausnutzen.

„Denkt doch bitte an eure Kleine“, wende ich mich an sie und Alex. Ich kann und will nicht gegen sie kämpfen müssen. „Lasst uns über alles reden, ich bitte euch.“

Alex schnaubt leise und sieht zu Ileana rüber. Diese schüttelt ihren Kopf und flüstert ihm irgendwas zu, doch ich kann nicht verstehen was sie ihm sagt.

„Wir tun das hier, weil wir an unsere Kinder denken, Ruby“, sagt Ileana und schaut mich dabei an. Noch immer hält sie sich ihren runden Bauch. Allzu lange kann es bei ihr nicht mehr sein. Sobald ich weiß, ist der Geburtstermin eh in ein paar Tagen. „Ihr habt ja überhaupt keine Ahnung, was hier wirklich los ist. Ihr werdet von oben bis unten von…“ Bevor Ileana ihren Satz zu Ende sprechen kann und ich endlich erfahre was hier wirklich vor sich geht, da wird sie von einer kleinen Feuerkugel und einer Energiekugel am Rücken getroffen. Sie geht stöhnend zu Boden.

Ich will sofort zu ihr rennen und ihr helfen, doch Daniel greift schnell nach mir und zieht mich hinter sich. Ich schätze er geht davon aus das Alex uns als Revanche nun angreifen wird, doch der denkt nicht daran. Im Gegenteil. Er hockt neben der Mutter seines noch ungeborenen Kindes und versucht sie zu heilen.

Ich habe diesen Angriff nicht kommen sehen. Wieso auch, immerhin sind außer uns fünfen hier, keiner in unmittelbarer Umgebung gewesen. Von wem stammt also dieser, mehr als hinterhältige Angriff?

„Geht es ihr gut“, frage ich an Alex gewandt, doch der beachtet mich nicht. Ich sehe wie er eine Hand auf Ileanas Bauch legt und sie keine Sekunde später auch wieder aufsteht.

„Lass uns von hier verschwinden, Schatz.“ Alex greift Ileana unter die Arme und hält sie so aufrecht. Scheinbar scheint es ihr nicht so gut zu gehen, wie es nach einer Heilung eigentlich hätte sein sollen. Und das bedeutet, dass Alex nicht im Vollbesitzt seiner Kräfte ist.

„Wir können nicht“, widerspricht ihm Ileana. „Wir können nicht einfach so aufgeben.“

Da Daniel mich noch immer am Handgelenk festhält, versuche ich mich mit etwas mehr Gewalt von ihm zu lösen. Aber ich schaffe es nicht.

„Nicht“, kommentiert er meinen Versuch und zieht mich mit sich, immer weiter weg von meiner besten Freundin und seinem besten Freund.

„Aber wir müssen ihnen doch helfen, Daniel.“

„Willst du wirklich dabei sein, wenn die drei Hohepriesterinnen sich gegenseitig bekämpfen? Also ich nicht.“

„Aber Ileana ist doch viel zu schwach dafür. Genauso wie Alex. Diesem Angriff werden sie nichts entgegenzusetzen haben. Sie werden sterben, Daniel. Das sind unsere besten Freunde, wir müssen ihnen einfach helfen. Ich bitte dich.“

„Sie haben sich das hier selber zuzuschreiben“, mischt sich Fanny mit ein. Ich sehe meine Schwägerin an und kann nicht verstehen, wie sie so etwas völlig emotionslos sagen kann. Ileana ist auch für sie, einst wie eine kleine Schwester gewesen. „Und wenn du nicht wegen Beihilfe mit verantwortlich gemacht werden willst, dann solltest du endlich aufhören dich um sie zu sorgen.“

„Aber…“

„Nichts aber, Ruby. Du musst dich endlich für eine Seite entscheiden.“

„Meine Schwester hat Recht. Wir müssen uns für eine Seite entscheiden und das ist die unsrige. Ich kann ja verstehen dass das hier nicht einfach für dich ist, für mich ist es das auch nicht, aber wir haben keine andere Wahl.“

Sie haben ja recht, aber trotzdem.

„Ileana hat uns eben etwas wichtiges mitteilen wollen, habt ihr das denn nicht mitbekommen. Und gerade als es…“ Ich mache eine kleine Pause und sortiere meine Gedanken. „Als dieser feige Angriff von Lady Antoniella und Lady Xenia kam, da…“

„Sprich nicht weiter“, zischt Fanny und sieht mich verärgert an. „Antoniella und Lady Xenia sind hier nicht diejenigen, die diesen Krieg angezettelt haben. Das sind ganz klar Ileana und Alex gewesen. Also hör endlich auf die beiden ständig in Schutz zu nehmen.“

Wieso versteht mich nur keiner. Darüber hinaus kann ich es nur immer und immer wieder erwähnen, dass ich nicht glaube, dass Ileana und Alex wirklich unsere Feinde sein sollen. Ich habe das ungute Gefühl, dass wir absichtlich auf eine falsche Fährte gelockt werden. Ileanas Worte von eben weisen klar darauf hin.

Endlich habe ich es geschafft mich von meinem Mann zu lösen. Sofort renne ich den Weg zurück zu Ileana und Alex, wo ich vermutlich auch auf Lady Antoniella und Lady Xenia treffen werde.

Ich bin an der Stelle angekommen, an der wir eben getrennt wurden.

„Du hättest nicht zurück kommen sollen“, höre ich Ileanas höhnisch klingende Stimme schräg hinter mir. Sie ist alleine und scheint völlig in Ordnung zu sein. Und wo steckt Alex? Ich sehe mich um, kann ihn aber nicht entdecken. „Er ist nicht hier. Keiner von ihnen, du bist also ganz auf dich allein gestellt.“

„Das bist doch gar nicht du, Ileana“, versuche ich zu ihr durchzudringen.

„Das stimmt.“ Sie kichert fies und macht einen Schritt auf mich zu. „Mir wurde gesagt, dass ihr beide mehr als nur Freunde seid und es schwer werden wird, euch gegenseitig auszuspielen. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann war es aber verdammt einfach. Und du willst wirklich ihre Freundin sein? Das ich nicht lache.“ Ihre? Was soll das denn jetzt bedeuten.

Ich bin verwirrt über Ileanas Worte und so schüttele ich meinen Kopf. Ich muss wieder einen klaren Kopf bekommen.

„Du irrst dich, Ileana“, rufe ich aus. „Ich kenne dich sehr gut und daher weiß ich auch, dass du zu so etwas hier gar nicht fähig bist. Nie hast du dich für die Macht der Zodiacs interessiert und plötzlich… plötzlich sollst du dir ihre Macht unter den Nagel reißen wollen? Das kann ich nicht glauben.“

„Du bist schlauer als ich dachte und darum…“ Ileana lacht, und stürzt sich dann auf mich.

Ein stechender Schmerz breitet sich auf meinem Unterleib aus. Ich sehe an mir runter und kann nicht glauben was ich dort sehe. Ein breitklingiger Dolch ragt aus meinem Unterleib heraus und dickflüssiges Blut sickert an der Klinge entlang. Mein weißes Hemd färbt sich dunkelrot und ich merke wie ich immer schwächer werde.

„Wieso?“, frage ich an Ileana gewandt. Diese sieht auf mich herab, und grinst mich mit verzehrter Miene an.

Ich hatte also doch Recht.
 


 

Herbst 2015, le village de étoiles
 

Selest Peterson

„Es tut mir Leid….“

„Nein“, schreie ich und strecke meine Hände in Richtung meiner Mutter aus. Alles um mich herum verschwindet und wird in stechendes Licht gehüllt. Da es in meinen Augen brennt, kneife ich sie einen Moment zusammen. Ich setze mich aufrecht hin und sehe mich einen Moment lang verwirrt um, ehe ich erkenne, dass ich immer noch in dem Zimmer bin, in welches Arashi mich vorhin geführt hat. Warum ich allerdings im Bett liege und nicht mehr auf dem Fensterbrett sitze, weiß ich nicht. Wie viel Zeit wohl vergangen ist?

So ganz kann ich noch nicht realisieren was ich eben gesehen habe. Ist dieser verstörende Traum eben Arashis Werk gewesen? Und wenn ja, wieso hat er das getan. Was wollte er damit bezwecken, etwa das Kira und ich…

Kira! Wie soll ich mich ihr gegenüber jetzt verhalten?

Ich mache mich etwas größer und sehe aus dem Fenster raus, doch kann ich nicht mehr allzu viel erkennen, da es bereits dunkel ist. Da muss ich wohl ziemlich lange geschlafen haben, da es vorhin noch hell war. Beim genaueren hinschauen erkenne ich, dass es draußen sogar regnet und Kira zusammen mit Derek unter dem Vordach steht und dort mit ihm zu diskutieren scheint. Ich stehe vom Bett auf und verlasse dann das Zimmer. Auf dem Flur höre ich meine Tante und Arashi miteinander reden. Ich schleiche mich an den beiden vorbei und schnappe dabei ein paar Wortfetzen auf.

„...irre geworden, Arashi. Was hast du dir nur dabei gedacht?“

„Ich habe mich diesmal wohl von meinem Instinkt leiten lassen. Deine Nichte macht es mir schwer mich in ihrer Gegenwart zu kontrollieren.“

„Dann meide diese in Zukunft.“

Ich kümmere mich nicht weiter um ihr Gezanke und gehe weiter die Treppen nach unten. Im Wohnzimmer sitzen Constantin und Jolina vor dem lodernden Kamin und kuscheln sich aneinander. Auch an den beiden schleiche ich mich vorbei.

Draußen angekommen schenke ich Derek ein vorgetäuschtes Lächeln als er an mir vorbei geht und wieder nach drinnen verschwindet. Kira steht noch immer draußen und schaut den Regentropfen zu. Sie scheint so tief in ihren Gedanken zu sein, dass sie mich noch nicht mitbekommen hat. Ich habe also noch Zeit wieder rein zu gehen und das ohne dass sie mich mitbekommt.

Je länger ich Kira dabei beobachte wie sie den Regen betrachtet, überkommt mich eine Welle des Zornes. Ich bin traurig, sauer, wütend und… keine Ahnung was noch alles. Das was ich eben in meinem Traum gesehen habe, war diesmal kein Ereignis von der Zukunft, sondern aus der Vergangenheit. Meiner Mutters Vergangenheit.

Ich lehne mich an die Hauswand und starre mit wütendem Blick auf Kiras Rücken.

„Wie sind deine Eltern eigentlich gestorben“, frage ich ohne Umschweifen. Kira wendet sich mir zu und es dauert etwas, bis sie mir antwortet.

„Nimm es mir bitte nicht übel Selest, aber das geht dich nichts an. Außerdem frage ich dich ja auch nicht nach dem Tod deiner Mutter.“

„Kannst du aber ruhig“, antworte ich pampig. Meine Stimme verhärtet sich deutlich, was auch Kira auffällt. Sie zieht eine Augenbrauen nach oben, sagt aber nichts weiter dazu. Also werde ich wohl weiter machen müssen. „Weißt du wie meine Mutter gestorben ist?“, will ich nach einer Schweigeminute von ihr wissen.

Kira lehnt sich neben mich an die Hauswand an und starrt wieder in die Dunkelheit hinaus. Es vergehen gut zehn Minuten, bis sie mir antwortet. Nur leider nicht so wie erhofft, oder sollte ich vielleicht sagen, zum Glück?

„Nein, aber wieso sollte ich auch.“

Vorhin war ich noch der Meinung, dass es besser wäre Kira nicht die Wahrheit über ihre Eltern zu sagen, doch da wusste ich ja auch noch nicht, dass diese für den Tod meiner Mutter verantwortlich sind. Aber jetzt wo ich es weiß, kann ich Arashi nicht Recht geben, denn diese Wahrheit muss ausgesprochen werden.

Ich stelle mich vor Kira und blicke ihr direkt in die Augen. Sie wirken traurig und dabei habe ich ihr noch gar nichts erzählt. Was Derek wohl von ihr wollte? Egal. Im Moment gibt es wichtigeres. Ich hole einmal tief Luft und nehme dann all meinen Mut zusammen.

„Weil deine Mutter und…“ Ich zögere die Wahrheit hinaus. Soll ich es wirklich tun? Ja. Ich muss es tun. Für Kira... und auch für mich. Vor allem aber für mich, denn ich muss wissen wie Kira reagiert, damit ich dann für mich entscheiden kann, ob ich ihr weiterhin vertrauen kann oder nicht. Denn wenn ich es nicht kann…

dann wird das weitere zusammenwohnen von uns schwer werden.

„Sag endlich was los ist, Selest“, drängt mich Kira. Und damit bestätigt sie mich in meinem Vorhaben. Ich werde es ihr jetzt sagen. „Was ist denn nun mit meiner Mutter.“

„Unsere Mütter haben sich gekannt, Kira.“ Wieder mache ich eine kleine Pause.

„Und?“ Sie wird ungeduldig. Und ich wütend.

Ich drücke Kira dichter an die Hauswand, was sie sich widerstandslos von mir gefallen lässt. Aus mir unerklärbaren Gründen werde ich dadurch nur noch wütender.

„Und? Deine Mutter hat meine, nein, nicht nur meine… Sie hat alle Hexen verraten und wofür das Ganze? Um die Macht der Zodiac-Hexen für sich zu haben.“ Meine Stimme wird immer lauter. „Und nachdem sie und dein Vater einen Krieg begonnen haben, hat deine Mutter… hat sie…“ Meine Augen füllen sich mit Tränen und ich kämpfe regelrecht darum, die folgenden Worte laut auszusprechen. „Sie hat meine Mutter kaltblütig umgebracht … sie hat ihre beste Freundin umgebracht.“ Ich habe es gesagt.

Ich sehe mir Kiras Reaktion genau an. Sie sieht mich bestürzt an und schnappt hörbar nach Luft. Ihre Augen weiten sich und dann schupst sie mich mit zitternden Händen von sich, sodass wir unsere Positionen nun gewechselt haben. Kira stolpert nach hinten, immer mehr in den Regen hinein.

Der Regen wird immer heftiger.

Ich kann nicht erkennen ob die Tropfen, die Kiras Wangen hinunterkullern vom Regen stammen, oder ob es sich dabei gar um Tränen handelt. Doch spielt das überhaupt eine Rolle?

Ich würde sagen Ja, das tut es.

Je länger ich in Kiras entsetztes Gesicht blicke, desto mehr schwindet meine Wut und wird durch mein schlechtes Gewissen ersetzt.

Arashi hatte doch Recht gehabt.

Ich gehe auf Kira drauf zu und strecke meine Hände nach ihr aus. Doch bevor ich sie erreichen kann, dreht sie sich blitzschnell um und ist dann auch schon in der Dunkelheit verschwunden.



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