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Der letzte Schlag

von

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Garou

Das heisere Krächzen eines Rabens in seinem Garten fuhr wie ein Blitz in Garous Gehörgang. Keine Sekunde später saß er aufrecht in seinem Bett. Seine Haare standen in alle Richtungen von seinem Kopf ab, aber Garous Augen waren geradewegs auf die Esche vor seinem Schlafzimmerfenster gerichtet, die ihre Zweige wie dürre Knochenfinger in den Himmel reckte. Auf einem der verschneiten Äste saß ein Rabe und beschimpfte lautstark den blass anbrechenden Morgen.

Verwirrt rieb sich Garou die Augen. Er war sich nicht sicher, ob er noch schlief und die Tatsache, dass es schon Morgen war und er offenbar die ganze Nacht durchgeschlafen hatte, nur in seinem Traum stattfand. Oder hatten die Glocken tatsächlich nicht geläutet?

Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.

 

 

Der Schlüsselbund klimperte leise, als Chastel die Hand hob und einen der Schlüssel in das Schloss des Kirchhoftors schob. Er hielt in seiner Bewegung inne und blickte stumm den Mann an, der ihm gegenüber auf der anderen Seite des schmiedeeisernen Tors stand.

"Guten Morgen, Garou." Chastel rang sich ein halbes Lächeln ab, das von seinem Gegenüber ohne Regung hingenommen wurde. Das Schloss quietschte schrill, als Chastel den Schlüssel darin herumdrehte. In der morgendlichen Stille klang es fast unerträglich laut in seinen Ohren. "Hast du gut geschlafen?" Er hob den Blick und gab sich Mühe, ihn nicht gleich wieder zu senken, als ihn Garous eisblaue Augen musterten.

Garou schnaubte. Als ob der Schwarzkittel darauf eine Antwort haben wollte. Er wusste, dass er es getan hatte.

"Was soll dieser Sinneswandel, Chastel?"

Der Angesprochene zuckte ertappt zusammen. Er seufzte kaum hörbar und ließ den Kopf hängen. "Es war nur ein Gefallen, den ich dir tun wollte."

"Ein nicht ganz uneigennütziger Gefallen, wie ich vermute", bellte Garou heiser. Dass Chastel ihm nicht einmal mehr normal in die Augen schauen konnte ärgerte ihn fast noch mehr, als dessen offensichtliche Beweggründe, warum er ihm diesen Gefallen, wie er es nannte, getan hatte.

Blitzschnell griff Garou zwischen den Eisenstangen hindurch nach Chastels Hand, die reglos auf dem Türgriff lag. Die Hand des Pfarrers war ungewöhnlich heiß und Garou zuckte zurück. In seinen Fingerspitzen kribbelte es.

Endlich sah Chastel auf. Die Augen weit aufgerissen starrte er Garou an, der sich noch fragte, woher diese Hitze unter der Haut des Pfarrers herkam.

Es war nicht das erste Mal, dass Garou diese Hand berührte und auch nicht das erste Mal, dass es sich anfühlte, als würde jede Zelle seines eigenen Körpers dabei zerfließen, aber noch nie zuvor hatte ein so heiß glühendes Feuer darin gewütet, wie es das heute tat. Die Berührung hatte geschmerzt, anstatt ihn dazu zu bringen, dass er gar nicht mehr genug davon bekommen konnte.

Chastel musste in Garous Gesicht gelesen haben, dass dieser wieder im Begriff war, erneut nach der blassen Hand zu greifen oder gar das Tor aufzustoßen. Und noch ehe Garou sein Vorhaben umsetzen konnte, hatte Chastel das Tor wieder abgeschlossen und war einen Schritt nach hinten getreten.

"Ich hoffe, dass du auch diese Nacht deine Ruhe bekommst, Garou, du hättest es verdient." Chastel lächelte sein stirnrunzelndes Gegenüber fast schüchtern an. Er wandte sich um und hielt auf den Seiteneingang der Kirche zu, ohne sich noch einmal zu Garou umzudrehen, der vor dem verschlossenen Tor stand und sich die noch immer kribbelnden Fingerspitzen rieb.

 

 

Garou schrak aus dem kurzen, frustrierenden Dämmerschlaf auf, der normalerweise alles war, was ihm noch an Nachtruhe vergönnt war. Doch dieses Mal war es etwas anderes als das Geläute der Kirchenglocken, das ihn sonst immer geweckt hatte.

Das Feuer im Kamin war um die Hälfte herabgebrannt, doch es würde noch bis Sonnenaufgang reichen, ehe er den nächsten Scheit darauflegen musste.

Reglos starrte Garou an die Decke über seinem Bett und wagte es kaum, zu atmen.

Um sein bescheidenes Haus heulte ein Schneesturm. Wimmernd und jammernd tobte ein dichter Vorhang aus Schnee und Wind zwischen den Häusern hin und her.

Was war er doch nur für ein Angsthase geworden, dass ihn ein bisschen säuselnder Wind so aus dem Konzept bringen konnte.

Müde zog Garou die Decke bis zum Kinn. Er schloss die Augen und wartete auf den Schlaf für den Rest der neuerdings ruhigen Nacht.

 

Garous neugewonnene Ruhe wurde erneut gestört, als ihn etwas aus dem seltsam tiefen Schlaf weckte, der ihn seit der letzten Glockenlosen Nacht umfing, kaum dass er ausgestreckt auf seiner Matratze lag. Und dieses Mal saß er kerzengerade im Bett. Fahrig tastete er im Dunkeln nach der Lampe an seinem Bett und schaltete sie ein. Goldgelbes Licht ergoss sich sogleich in den Raum und vertrieb einige der Schatten.

Garou nahm den Wecker in die Hand und schüttelte ihn sachte. War er kaputt? Er zeigte definitiv sieben Minuten nach Drei an, doch er fühlte sich, als hätte er mindestens zwölf Stunden durchgeschlafen, was, nach Meinung des Weckers, nicht zutraf.

Er hielt sich den Wecker an sein Ohr. Ein leises Ticken, begleitet von flüsternd einrastenden Rädchen klang aus dem metallenen Inneren. Der Wecker funktionierte einwandfrei.

Er musste sich getäuscht haben. Es war tatsächlich so, dass er nicht mehr als vier Stunden geschlafen hatte, auch wenn er sich erholter fühlte als jemals zuvor. Er könnte aufstehen und den Tag beginnen, wie sonst auch, so wach fühlte er sich.

Das war unmöglich...

Garou rutschte wieder in seine vorherige Schlafposition zurück. Auf der Seite liegend hielt er sich den Wecker gut sichtbar vors Gesicht. Schlafen konnte er jetzt auch nicht mehr. Wollte er nicht mehr. Er musste die nächste Stunde abwarten und das Glockenschlagen, ehe er glauben konnte, dass der Wecker ihn nicht belog.

 

Wie Schnecken so langsam krochen die Zeiger des Weckers über das Zifferblatt.

Garous Finger, die den Wecker fest umklammert hielten, wurden langsam taub. Er wechselte die Hand und blinzelte hastig die Müdigkeit weg, die seinen Kopf wieder mit einem dichten Schleier zu umfangen versuchte. Mittlerweile hasste er dieses Gefühl. Es lähmte ihn auf eine Art, der er sich völlig ausgeliefert vorkam. Es war nichts wohltuendes mehr am Einschlafen. Kein sanftes Gleiten vom Wachsein in den Schlaf. Sein Bewusstsein wurde praktisch von der einen auf die andere Sekunde ausgeschaltet.

Garou hielt sich die Hand vors Gesicht, mit der er Chastel gestern morgen berührt hatte. Das Licht seiner Nachttischlampe fiel zwischen seinen Fingern hindurch, die er hin und her drehte, um sie sich von allen Seiten aus zu betrachten. Die Fingerspitzen juckten noch immer.

 

Endlich war es vier Uhr. Noch länger würde er es nicht in seinem Bett aushalten.

Garou setzte sich wieder auf und streckte sich ausgiebig. Warum musste ihm der Schlaf unbedingt dann Angst machen, wenn er ihn so gut gebrauchen konnte, wie jetzt? Und warum wurde er das Gefühl nicht los, dass Chastel die Antwort darauf kannte?

 

Über Garous Haus lag eine unheimliche Stille. Selbst der Wind hatte aufgehört, mit dem Schnee Fangen zu spielen. Das Feuer im Kamin war erloschen. In sich zusammengesunkene graue Ascheberge ließen erahnen, wo der Holzstapel gelegen hatte.

Es war nicht richtig. Das Feuer war viel zu schnell erloschen. Es hätte noch mindestens zwei Stunden reichen müssen.

Ein kalter Schauer überlief Garous Schultern. Er trug nichts außer einem dünnen Schlafanzug. Mehr war auch eigentlich nicht nötig. Der Kamin in seinem Zimmer war groß genug, um den gesamten Raum lange genug warm zu halten.

Die Glocken.

Garous Zähne schlugen zitternd aufeinander.

Sie hatten tatsächlich nicht geschlagen. Wie es Chastel angedeutet hatte, als er ihm eine weitere ruhige Nacht gewünscht hatte.

Und es war eisig kalt. Er musste Feuer machen, sonst fing er sich eine dicke Erkältung ein.

Garou schlug die Daunendecke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Im gleichen Moment, als seine Zehen den Teppich vor seinem Bett berührten, erklang ein tiefes, kehliges Knurren nicht weit von ihm entfernt.

Garou fuhr zurück. Seine Hand stieß gegen die Lampe, die polternd zu Boden fiel. Der Schirm zersprang in tausend Scherben, doch die Glühbirne blieb heil und warf tapfer ihr goldenes Licht in die Zimmerecke neben seinem Nachttisch.

Wieder grollte das Knurren heran. Es kam näher, doch Garou, der mit schreckgeweiteten Augen zur Salzsäule erstarrt auf seiner Bettkante saß, konnte nichts erkennen. Bis auf die erleuchtete Ecke, wo die Lampe lag, lag der Rest des Zimmers in undurchdringlicher Schwärze.

Irgendetwas schreckliches ging hier vor. Garou zwang sich, normal zu atmen, was ihm mehr als schwer fiel. Seine Kehle war so eng, dass er gut hörbar nach Luft zu schnappen begann.

"Was – wer ist da?"

Seine bebende Stimme verklang unbeantwortet.

Garou überwand seine aufkommende Panik. Er beugte sich vor und tastete nach einer Scherbe des kaputten Lampenschirms. Er fand eine, die groß genug war und schloss seine Hand fest um sie.

Als er sich aufrichtete, strich ein warmer Lufthauch über seinen Handrücken.

Garou hielt inne. Direkt vor dem Bett lag Dunkelheit wie schwarzer Nebel über dem Boden. Unendliche Finsternis umgab seine Füße und kalte Luft wehte um seine Knöchel, obwohl das Licht der Lampe eigentlich hell genug sein musste, um auch diesen Bereich auszuleuchten. Vergessen waren die schweigenden Kirchenglocken.

Er fühlte dichtes, raues Fell über seine Hand gleiten. Seine Hand zuckte kurz und die Scherbe in ihr drückte ihre scharfen Kanten fest in sein Fleisch.

Das dichte Fell, das über seine Hand kratzte, wechselte mit etwas feuchtkaltem ab. Es stieß ihn an und Garou meinte, gleich das Bewusstsein zu verlieren. Ein gleißend heißer Hauch folgte dem kalten Stupser. Ätzender Geifer tropfte auf Garous Handrücken und verbrannte seine Haut.

Er kannte das Gefühl. Genauso hatte sich Chastels Haut angefühlt. Es war die gleiche Hitze, nur dass sie dieses Mal unter seiner eigenen Haut wie glühende Lava wallte.

Die aufsteigende Übelkeit überwindend hob Garou die Hand und stieß mit der Scherbe in den grollenden, atmenden Schatten, der sich vor seinem Bett aufzurichten begann.

 

 

"Chastel!" Wie ein betrunkener Seemann wankte Garou über den verschneiten Vorhof der Kirche. Nachdem er in seinem Bett wieder zu Bewusstsein gekommen war, hatte er sich sofort auf den Weg gemacht. Er hatte nicht mal überlegen müssen, wohin, und auch die blutigen Spuren im Schnee, die wie riesige Pfotenabdrücke mit noch riesigeren Krallen aussahen und die von seinem Haus wegführten, hatte er nicht als Wegweiser gebraucht. Es gab nur einen Weg.

Garous Füße traten in die Pfotenabdrücke. Ihm war schwindelig und aus seiner Hand tropfte dunkelrotes Blut in den weißen, frisch gefallenen Schnee. Er trug noch immer nicht mehr als seinen dünnen Schlafanzug. Barfuß wankte er auf die erleuchtete Kirche zu, deren Türen weit offenstanden.

"Chastel, du Hundesohn!", schrie Garou, als er den Innenraum des Gotteshauses betrat. Seine Stimme hallte ihm als einsames Echo zurück.

Die Kirche war leer, doch alle Kerzen in den Leuchtern brannten, als wäre Chastel gerade dabei, alles für eine Messe vorzubereiten. Garous fahrige Blicke glitten über die Orgel, an der er so lange schon nicht mehr gesessen und darauf gespielt hatte. Und an allem war er selbst schuld.

Blutend und kurz vor der Besinnungslosigkeit taumelte Garou zu der Tür hin, die sich im seitlichen Bereich der kleinen Kirche befand und die zu Chastels Pfarrwohnung führte. Ein schmaler Flur erstreckte sich vor ihm und Garou tappte mit tauben Füßen über den kalten Marmorboden.

 

Chastel kniete vor dem Vertiko. Seine Lungen schmerzten. Der Weihrauch brannte wie flüssiger Stahl in ihnen und egal, wie sehr er den würzigen Rauch auch einatmete, er konnte das Feuer dieses Mal nicht stillen, das wie ein Waldbrand in ihm loderte.

"Schön, hier bin ich!"

Reglos empfing Chastel seinen Gast, der im Türrahmen stand.

Garou hielt seine linke Hand mit seiner rechten fest gegen seine Brust gepresst. Ein tiefroter Fleck hatte sich darunter auf dem dünnen Stoff gebildet.

Der Rücken des knienden Pfarrers beugte sich weiter nach vorne. Garous Blut. Es roch so gut, dass Chastel einen kurzen Moment auf seine Lippen biss, um mit dem Schmerz das aufkommende Verlangen zu überlagern.

Garou hatte Todesangst. Noch nicht einmal den Weihrauch, der das Zimmer in einen rauchigen Höllenschlund verwandelt hatte, nahm er bewusst wahr.

"Verzeih mir, Garou." Er konnte Garous Angst riechen, die ihm aus allen Poren trat, wie aus einem übervollen Schwamm, der sein Wasser verlor. Und er hörte seinen Herzschlag, der donnernd wie eine Eisenbahn in seiner Brust hallte.

"Was – hast – du – getan, Chastel?"

Chastel schlug die Hände vors Gesicht. Seine Schultern bebten. "Ich habe gelogen, Garou, verzeih mir bitte."

"Die Glocken", knurrte Garou den schluchzenden Pfarrer an, der vor ihm auf dem Boden kniete und ihm den Rücken zugewandt hatte.

Chastels gebeugter Rücken streckte sich. Ein erstickter Schmerzlaut entrang sich seiner verkrampften Kehle. Es klang schrecklicher, als alle Laute, die Garou in seinem Leben schon gehört hatte. Als säße etwas in Chastels Brust fest, das dieser mit aller Kraft heraus zu schleudern versuchte. Etwas giftiges, das dabei war, seinen ganzen Körper zu zersetzen und das ihm unsägliche Schmerzen bereitete.

"Die Glocken", begann Chastel weinend. "Die Glocken schlagen nicht, um Dämonen von der Kirche fernzuhalten", gestand er unter Tränen.

Garou vergaß einen Moment seine blutende Hand. Er machte einen Schritt auf Chastel zu, der ihn noch immer nicht ansah. Zitternd legte er seine unverletzte Hand auf die Schulter des Pfarrers.

Tränen liefen wie Sturzbäche über Chastels Gesicht. Garous Hand auf seiner Schulter tat das, wozu der Weihrauch nicht mehr im Stande war. Sie erfrischte seine brennenden Muskeln, die sich langsam entspannten.

Garou zuckte kein bisschen, als sich Chastels Hand auf seine legte. Er fühlte tiefes Mitleid mit dem Pfarrer, der nun seine Wange gegen seine Hand lehnte, als wäre er der Sünder und nicht der Diener Gottes.

"Die Glocken schlagen, damit die schrecklichste aller Kreaturen nicht aus der Kirche heraus kann."

Chastels Hand sank erschöpft von Garous Hand herab. Ein roter schmieriger Streifen blieb zurück.

Garou sah auf das frische Blut auf seinem Handrücken. Es war nicht seines. Er ging neben Chastel auf die Knie und packte ihn an den Schultern. Er musste ihn zwingen, sich zu ihm herumzudrehen.

 

Garous Angst war in dem Moment spurlos verschwunden, als er in Chastels Augen sah. Ihr taubes Lähmen wurde von einem aufwallenden Glühen verdrängt, das ihn vor Kummer aufschluchzen ließ, als er Chastels tränenüberströmtes Gesicht sah, über dessen Wange sich ein tief klaffender Schnitt wie von einer Scherbe befand.

"Du warst der Einzige, der sich nicht täuschen ließ." Chastels herabströmende Tränen hinterließen blassrosa Spuren unter dem blutenden Schnitt.

Garou packte Chastels Kopf. Er drückte den Mann, der wieder zu weinen begonnen hatte, fest an sich und küsste seine Haare. Seine Hand strich an dem gebeugten Nacken hinab, der mit dichtem, rauem Fell bedeckt war.

"Ich verzeihe dir, Chastel."

 

 
 

* E N D E *
 



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