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Herzenswunsch und tausend Kraniche

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Herzenswunsch und tausend Kraniche

Ohne auf deine Umgebung zu achten, gingst du den langen weißen Flur entlang. Du nahmst niemanden wahr, weder die beiden Frauen in den einheitlichen cremefarbenen Hemden, die eilig in ein nahegelegenes Zimmer verschwanden, noch den Vater, der trotz seiner hoffnungslosen Gesichtszüge versuchte, seinen weinenden kleinen Sohn zu beruhigen.
 

Diese Anblicke, die sich noch vor einem halben Jahr verstörend in deine Seele gebrannt hatten, waren für dich mittlerweile alltäglich geworden. Viel zu oft hattest du in die tiefen Abgründe geschaut und dich mühevoll wieder nach oben gekämpft. Inzwischen fiel es dir leicht, mit ausdruckslosen Gesicht an ihnen vorbeizuziehen und zielsicher deinen Weg zu gehen. Auch den beißenden Geruch des Desinfektionsmittels nahmst du schon lange nicht mehr wahr.
 

Du fandest die schlichte weiße Tür in den unzähligen, verwirrenden Gängen ohne nachzudenken. Versunken fuhrst du mit den Fingerkuppen über die Klinke, deren Kälte sich durch deine Hand zog, ehe du sie mit einer kraftvollen, fließenden Bewegung nach unten drücktest und selbstsicher in das Zimmer eintratest.
 

Du wusstest, was dich erwarten würde, dennoch warst du jedes Mal von dem Anblick, der sich dir bot, geschockt. Noch immer hofftest du, dass du lediglich aus einem verwirrenden, düsteren Traum aufwachen müsstest und deinen Freund, gemütlich schlafend und sein Gesicht in die weichen Kissen pressend, neben dir vorfändest. Er würde nur durch eine einzelne Lichtspur des hereinfallenden Mondes beleuchtet sein und der helle Schimmer würde seinen sonst so harten Konturen eine ungewohnte Weichheit geben.

Aber dem war nicht so. All dies war kein Traum und du konntest nichts ändern, lediglich hoffnungsvoll warten.
 

Kein Mond schenkte diesem Raum eine düstere und gleichzeitig ruhige, märchenhafte Ausstrahlung. Stattdessen durchflutete helles Sonnenlicht das kleine Zimmer und ließ die Bettwäsche erstrahlen. Zwei müde Augen sahen dir entgegen, bevor sie resignierend geschlossen wurden und der Besitzer seinen Kopf erschöpft zur Seite drehte. Dein Freund war wohl gerade erst aufgewacht.

Du wusstest, dass er ein paar Minuten brauchen würde um die Müdigkeit gänzlich zu vertreiben und ansprechbar zu sein.
 

Du setztest dich auf den gepolsterten Stuhl und strichst deinem Freund gedankenverloren mit dem Handrücken über seine warme Wange. Seine Lider zuckten unruhig, ehe er sie aufschlug und du in seine ausdruckslosen Augen blicken konntest. Normalerweise wütete in ihnen ein erbarmungsloser Sturm, sich allem und jedem widersetzend, aber seit einigen Wochen hatten sie jeden Glanz verloren. Du ließt deine Hand in seinen schlanken Nacken gleiten, kraultest liebevoll seinen Haaransatz, während du einzelne Strähnen seines schwarzen Haares zwischen die Finger zogst.
 

Die vielen Kabel und Schläuche um ihn herum sorgten für einen erschreckenden Anblick. Obwohl du jeden Tag kamst, war es nach all der Zeit immer noch seltsam, diesen einst so starken Mann, dessen Arme dich immer gehalten hatten, so schwach und hilflos zu sehen. Du konntest dir nur schwer vorstellen, wie es in seinem Inneren aussah, immerhin war er vor einiger Zeit Oberarzt geworden, bevor ihn die Krankheit erbarmungslos überwältigt hatte. Es war sein großer Traum gewesen diese Stelle zu bekommen, ein erster Schritt in Richtung einer eindrucksvollen Karriere. Und nun war er selbst Patient und musste um sein Leben bangen. Es war sicherlich seltsam für ihn in Behandlung zu stehen, man sagte nicht umsonst 'Ärzte sind die schlechtesten Patienten'.
 

Warm lächeltest du ihn an, wolltest ein schützendes Tuch um seine Seele hüllen und ihm zeigen, dass er mit seinen unterdrückten Sorgen und Ängsten nicht alleine war.

»Hey...wie geht es dir heute?«, deine Worte waren nur ein Hauch in der erdrückenden Stille des Zimmers. Du hörtest das Vogelgezwitscher von draußen. Es war ein schöner Sommertag, nur wenige Wolken waren am Himmel zusehen, aber die Tage hatten schon lange jede Helligkeit für dich verloren.
 

Du merktest, dass dein Freund seine verschlafene Benommenheit langsam abgelegt hatte und dir mit krächzender, leiser Stimme antwortete.

»Genauso wie gestern. Nicht schlechter, aber auch nicht besser.«
 

»Entschuldige, dass ich dich geweckt habe.«, du verzogst dein Gesicht zu einer entschuldigenden Miene. »Ich habe dir eine Packung von deinen Lieblingskeksen mitgebracht. Als Ausgleich für das Brot, was sie dir hier vorsetzen.«
 

Amüsiert verzog er seine Lippen zu der Andeutung eines kleinen Lächelns. »Danke.«

Dein Freund hasste Brot jeglicher Sorte, aber hier im Krankenhaus konnte selbst der vielversprechende Oberarzt Dr. Trafalgar, bester seines Jahrgangs, sich nicht gegen die übermächtige Klinikküche wehren.
 

Langsam setzte er sich auf, bauschte sein Kissen auf und lehnte sich dagegen. Sanft hauchtest du ihm einen zarten Kuss auf seine trockenen Lippen, bevor du aus deiner Tasche die mitgebrachte Süßigkeit hervorholtest.
 

Du sahst seine müden Augen, sein blasses Gesicht und die tiefen Augenringe. Schon seit dem Beginn des Studiums, wo ihr euch vor so vielen Jahren kennenlerntet, besaß er diese dunklen Schatten im Gesicht. Wehmütig dachtest du an diese unbeschwerte Zeit zurück. Viele Frauen hatten ein Auge auf ihn geworfen, wobei den meisten sein überdurchschnittlich hoher IQ egal war und sie sich lediglich an seiner äußeren Erscheinung erfreuten. Er hätte sie alle haben können, für eine Nacht oder mehrere, aber er hatte sich entgegen deiner Erwartung für dich entschieden.

Er hatte es mit einer unbeschreiblichen Anziehungskraft begründet, als ob er dich schon immer gesucht hätte. Du würdest ihn auf eine seltsame Art vervollständigen, hatte er einmal zu dir gesagt.
 

Ein Rascheln ließ dich aus deinen Gedanken erwachen und du konntest noch den Rest des Schokokekses sehen, der zwischen Laws Lippen verschwand. Du griffst nach der Verpackung und trenntest vorsichtig den oberen dünnen Pappdeckel ab, ehe du ihm den Rest wiedergabst.
 

»Ich habe morgen die nächste Untersuchung.« Er betrachtete nachdenklich deine Finger, die das fast quadratische Stückchen Pappe umklammert hielten.

»Was denkst du, wie es aussehen wird?« Sachte strichst du über seinen Arm, fuhrst die dunklen Symbole seiner Tattoos nach. Dass auf seinen Fingerknöcheln mit feinen Linien das Wort Death stand, gab seiner Krankheit etwas Makaberes. Schon bei seiner Position als Arzt hatte es eine seltsame Ausstrahlung, aber jetzt wirkte es wie ein unglückseliger Blick in die Zukunft.

Du senktest deinen Blick und fingst an, das dünne Pappstückchen zu falten, froh darüber, deine Hände beschäftigen zu können. Mit den Nägeln fuhrst du die Faltkante nach, während deine Gedanken rasten, stolperten und Ängste zurückließen.
 

»Ich erspare dir die medizinischen Details, aber es wird wohl nicht gut aussehen. Es geht bergab.«, bedächtig ließ er seine Hand mit einem angebissenen Keks auf das Lacken sinken. Du linstest zu ihm und konntest sich einzelne Krümel verteilen sehen, die stark auf dem ansonsten weißen Untergrund hervorstachen.

»Ich weiß nicht wie lange mein Körper noch durchhält. Ich brauche dringender den je ein neues Herz.«
 

Er sah aus dem Fenster und das hereinstrahlende Sonnenlicht beschien sein Gesicht, ließ seine Konturen hart wirken. Licht und Schatten wechselten sich ab, spielten miteinander. Traurigkeit durchflutete deinen Körper und hinterließ ein stumpfes Gefühl. Du musstest deinen Blick abwenden, konzentriertest dich wieder auf die Falterrei in deinen Händen.
 

Es war eine Weile still zwischen euch, ihr wart gefangen im Labyrinth eurer wirren Gedanken. Unzählige schmerzvolle Fragen, deren Antworten du nicht hören wolltest, drängten sich dir auf. Wie sollte es weitergehen? Du wusstest nicht, was du tun solltest, falls du ihn verlierst. Er war wie ein kühler Windhauch an einem Sommertag, der dich angenehm umspielte. Gleichzeitig war er der Sturm; er trat in dein Leben und riss dich unweigerlich mit sich, hin zu Orten die du vorher nie kennenlernen durftest. Er rief Gefühle in dir wach, deren Intensität dich noch immer erschaudern ließ.
 

»Was ist das?«, er klang neugierig und beäugte kritisch deine Falterrei. Du legtest sie in deine flache Hand und hobst sie etwas in die Höhe, damit er sie besser sehen konnte.

»Ein Kranich.« Das Papier war nicht ganz quadratisch gewesen, deshalb sah er etwas unförmig aus.
 

Du beugtest dich über die Bettkante und stütztest dein Kinn mit einer Hand darauf ab. Verträumt blicktest du in seine mittlerweile wachen Augen. Erwartungsvoll sahen sie dir entgegen, hatten einen kleinen Funken ihres ursprünglichen Glanzes angenommen. Langsam begannst du zu sprechen.
 

»Wusstest du, dass eine alte japanische Legende besagt, dass derjenige, der tausend Kraniche faltet, von den Göttern einen Wunsch erfüllt bekommt?«
 

Ein kleines Lächeln zierte sein Gesicht. »Tausend Kraniche?«, nur geflüstert vernahmst du seine fragenden Worte, sie waren wie ein Hauch in deinen Gedanken.
 


 


 

Raschelnd fiel die Tüte auf den Küchentisch. Nachdem du Law verlassen hattest, warst du noch einkaufen gewesen, um den Kühlschrank in eurer Wohnung zu füllen. Du ließt die Lebensmittel noch immer eingepackt auf dem Tisch liegen und schrittest durch den Flur zum Wohnzimmer.

Dort angekommen, griffst du in die Tasche deinen Trenchcoats und holtest vorsichtig den Kranich von deinem heutigen Besuch hervor. Sachte stelltest du ihn neben das Telefon und ließt deinen Blick durch den Raum schweifen.
 

Unzählige Papierkraniche hingen überall im Zimmer. Es war nur ein kleiner Teil, die gesamte Wohnung war verziert mit der japanischen Faltkunst. Bunt und einfarbig, aus Papier und teilweise aus Verpackungen, in den verschiedensten Größen. Viele waren unförmig, aber jeder war einzigartig. Nur eines verband sie alle, sie zeugten von unzähligen gemeinsamen Momenten.
 

Tausend Kraniche, tausend Augenblicke, so kostbar wie zerbrechlich, und du hattest nur einen einzigen Wunsch.
 

Minutenlang betrachtetest du sie, vollkommen versunken in deinen trübseligen Gedanken, biss das Telefonklingeln ihnen deine Aufmerksamkeit entriss. Du schieltest nach unten und konntest die Nummer des Krankenhauses erkennen. Dein Herz entfachte ein schmerzhaftes Stechen in deiner Brust. Dein Körper war gelähmt, du konntest deine Hand nicht zum Hörer bewegen. Würdest du nun die Nachricht erhalten, die deine Seele entzwei reißen würde? Dein Blick fiel auf den unscheinbaren Kranich daneben. Das Logo des Keksherstellers stach auf seinem Flügel hervor. Würde es der letzte gemeinsame Moment sein?
 

Angst floss durch deine Venen, ließ deinen Körper zu Eis gefrieren. Jeder Schlag deines Herzens schmerzte und dein Atem wurde flach und hektisch. Unnachgiebig brannte sich das Klingeln des Telefons in dein Gedächtnis. Diesen Moment würdest du nie vergessen, würde sich jetzt dein restliches Leben entscheiden?
 

Du nahmst den Hörer ab und nanntest deinen Namen. Es war eine einfache Begrüßungsfloskel, die dir in diesem Moment nur schwer über die Lippen kam. Deine Stimme klang schwach und brüchig. Bisher hattest du nur schlechte Nachrichten erfahren.
 

»Gut, dass ich sie erreiche!«, es war die hektische Stimme von Nami, einer Schwester auf Laws Station. Oft hattest du dich mit ihr unterhalten, sie hatte immer ein offenes Ohr für die Sorgen der Angehörigen. Das Blut pulsierte laut in deinen Ohren, ein merkwürdiges Zittern ging durch deinen Körper und ließ die feinen Härchen sich auf deinen Armen aufstellen. Deine Welt blieb stehen, hörte sich einfach auf zu drehen und konzentrierte sich auf diesen kleinen Augenblick. Du ahntest Schlimmes. Als du Law verließest, hatte er sich wieder erschöpft auf sein Kissen gebettet und war sofort eingeschlafen. Verkrampft hieltest du den Hörer und wartetest auf ihre nächsten Worte, die dein zukünftiges Leben entscheiden sollten. Die erdrückende Stille des Zimmers wurde nur durch die Stimme am Telefon durchbrochen.
 

»Wir haben ein Herz.«


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe, euch hat der OS gefallen! Reader- FFs hatte ich hier bisher nicht veröffentlicht, ich finde aber diese Erzählperspektive ungemein faszinierend, deshalb gibt nun auch hier einen meiner liebsten One Shots aus meiner Sammlung.
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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  LadyMalice
2016-01-03T19:55:20+00:00 03.01.2016 20:55
Was für eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Ich habe mich echt stark hineinversetzen können, so schön, wie das ganze umschrieben wurde. Insgesamt ist auch die komplette Idee des Geschichte wunderschön und bezaubernd.
Ich hatte zwar einen Augenblick lang echt Bedenken, was die Nachricht werden würde - obwohl ichs geahnt habe -, aber es ist ja perfekt geendet.

Bei solchen Reader-FFs kriege ich echt nicht genug :D Du solltest ruhig mehr davon herzeigen!

Grüßchen
LadyMalice
Antwort von:  -estel-
04.01.2016 00:53
Hey,

vielen Dank für dein Kommentar! Es ist großartig zu hören, dass dir die Grundidee des OS so gut gefallen hat und dass du dich in die ganze Situation hineinversetzen konntest. Es freut mich, dass der OS so gut ankam, gerade weil es ja doch um eine eher ernst zu nehmenden Thematik geht, die mir sehr am Herzen liegt. Also vielen Dank für dein Lob!
Ganz ehrlich? Mit einer negativen Nachricht hätte ich den OS gar nicht enden lassen können, da hat sich alles in mir dagegen gesträubt. Eigentlich wollte ich ein böses, offenen Ende einbauen, aber etwas wirklich Negatives hätte ich bei diesem OS nicht schreiben können.^^
Mittlerweile habe ich ein kleines Faible für den Reader-Stil entwickelt, aber ob und wann hier noch mehr in diesem Stil kommt, kann ich leider gar nicht genau sagen.
Viele Grüße!
Estel


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