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With your Wings

von

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Schicksal

In den 16 Jahren ihres Lebens hätte Ryoko nie geglaubt, dass einmal der Moment kommen würde, in dem man sie brauchte.

Es war dieser flüchtige Gedanke, der das Mädchen durchzuckte, während es sich umwandte und die strahlende Digiwelt überblickte. Jetzt und hier erschien es beinahe, als hätte es die große Krise niemals gegeben. Das Gras, die Blumen und die Bäume blühten wie im schönsten Frühling, einzig berührt von heiterer Sonne. Vor den hohen Bergen am Horizont und dem wolkenlosen, blauen Himmel eine Szene so malerisch wie von einem Gemälde.

"Du bist die Erlöserin dieser Welt, wir haben dir alles zu verdanken."

Die Stimme, welche an ihre Ohren drang, war zweifelsohne die von Qinglongmon. Dennoch brauchte Ryoko noch einen Augenblick länger, um ihre Gedanken zu sammeln und zu antworten, denn hier und jetzt wurde ihr eines klar. Trotz der langen Zeit, die sie hier verbracht hatte, trotz der Gefahren, der Ängste und all der traurigen Erlebnisse auf ihrer Reise, hatte Ryoko eine Ewigkeit nicht mehr an ihr Zuhause gedacht. Es war beinahe, als hätte es überlagert von all den Kämpfen aufgehört zu existieren. Selbst jetzt, nach all diesen Monaten, entdeckte Ryoko nichts in ihrem Herzen, das sich beim Gedanken an ihre Tante, ihre Heimat und ihrem Zimmer als Sehnsucht interpretieren ließ. Viel mehr fühlte es sich an, als sei sie mit der Rückkehr in die reale Welt im Begriff alles zu verlieren, was sie besaß.
 

Ryokos konzentrierter, doch unsicherer Blick traf auf Qinglongmon. Die riesige Schlange stand in so voller Pracht vor ihr, dass sein Antlitz das dünne Hologramm ihrer ersten Begegnung aufwog - eine blasse Erinnerung, fortgewischt vom bloßen Hier und Jetzt. Die Energie, mit der das Digimon den Raum um sich herum verdränge war so intensiv, dass es Ryoko noch am Anfang ihrer Reise vermutlich unmöglich gewesen wäre, überhaupt neben ihm zu verweilen.

"Bevor ich dich in deine Welt zurückschicke", fuhr Qinglongmon fort, "Würde ich dir gern einen Wunsch erfüllen."

Ryoko wusste, dass dies die logische Folge ihrer Taten war. Qinglongmon hatte sie hierher geholt, um die Digiwelt zu retten. Sie war kein Digimon und gehörte nicht hierher. Es war nur natürlich, dass es nun an der Zeit wurde, nach Hause zurückzukehren. Doch ganz gleich, wie oft Ryoko auch versuchte, sich diese Tatsache bewusst zu machen - sie musste ihren Körper und wieder und wieder davon abhalten, aus purem Reflex rückwärts zu treten.

Hier und jetzt ließ es sich einfach nicht mehr leugnen. Es gab keinen Grund, wieder nach Hause zu wollen. Es war ebenso traurig wie simpel. Zuhause gab es niemanden, der auf Ryoko wartete.

"Also...", erhob Qinglongmon abermals seine Stimme, "Hast du einen Wunsch, den ich dir erfüllen kann?"

Von seiner Frage angetrieben huschte ihr Blick zu Agumon, denn ganz so wie immer verweilte das treue Reptiliendigimon an ihrer Seite. Es fing ihren Blick auf, kaum hatte es ihn bemerkt. Sein Ausdruck war gesetzt und beherrscht, doch so voller Sorge, dass es Ryokos Herz noch schwerer machte.

"M-Musst du wirklich gehen?", flüsterte Agumon. Sein Ton war distanziert, um es ihr nicht unnötig schwer zu machen, aber der Unwille in ihm ließ sich einfach nicht verbergen. Das dritte paar Augen, das Ryoko fixierte, war von strahlendem Blau und gehörte Pokomon. Der kleine, goldene Fuchs hatte seinen Mund zu einer geschwungenen, unzufriedenen Linie verzogen. Niemand musste etwas sagen. Ryoko wusste auch so, was vorsich ging.

"Ja...", erwiderte sie letztlich und spähte dabei wieder an der gewaltigen, blauen Schlange empor, die dort noch immer geduldig auf ihre Antwort wartete, "Es gibt da einen Wunsch."

Es brauchte einen weiteren Blick auf Agumon, eine allerletzte Begegnung ihrer Augen, bevor Ryoko fortfuhr.
 

Ein Jahr zuvor
 

Die Nacht war lange schon hereingebrochen, doch das Licht der Lampen, Maschinen und Monitore erhellte den Raum so intensiv, als erschaffe es seinen eigenen Tag. Es war Tage her, dass Hiroshi das Labor verlassen hatte. Der Kühlschrank war schon lange leer, doch der schwarzhaarige Mann fand einfach nicht den Elan, sich von seiner Arbeit zu lösen und nach draußen zu gehen. Es mochte an seiner Übermüdung liegen, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie lange er bereits an seiner Forschung arbeitete. Zum ersten Mal seit Jahren - oder waren es Jahrzehnte? - hatte er das Gefühl, wirklich weitergekommen zu sein. Er nahm das unregelmäßige Flimmern der Lichter um sich herum kaum noch wahr, ebenso wenig den Warnton, den der Laptop auf dem Sideboard seit einiger Zeit dann und wann von sich gab. Hiroshi war so vertieft in seine Arbeit, dass er einmal mehr alles um sich herum vergaß - bis zu dem Moment, in dem sich sein Programmierfenster schloss und stattdessen einem großen, schwarzen Loch wich.
 

Es war ein Augenblick absoluter Stille. Hiroshi saß nur da, spähte auf den Bildschirm vor seinen Augen und fixierte das Tor in die Digiwelt mit so starrem Blick, als habe er seinen Erfolg nicht realisiert. Dann, kaum eine Minute später, fluteten Tränen seine Sicht. Das erste, was Hiroshi angesichts seines Ziels tat, war seine Brille abzunehmen und sein Gesicht zu trocknen.

"I-Ich... Ich habe es geschafft!", rief er dann und sprang so unvermittelt auf, dass sein Bürostuhl krachend hinter ihm zu Boden ging. Der Lärm übertönte abermals das Warnsignal des kleinen Computers in der Ecke.

"E-Es ist da!", fuhr Hiroshi fort, mit zitternden Händen vor dem Eintrittstor zur Digiwelt, "So viele Jahre... So viele Stunden!"

Er hatte nie aufgehört zu glauben. An die Digimon, die Digiwelt - nie. Selbst nach dem Abschluss der Schule, als all die anderen damit begonnen hatten, ihre Wünsche und Träume allmählich Realität werden zu lassen, hatte Hiroshi niemals aufgehört, an der Digiwelt festzuhalten. Er teilte eine so tiefe Verbundenheit für die kleinen, digitalen Wesen, dass er einfach nicht anders konnte. Schon als Kind hatten die Spielzeuge ihm Gesellschaft geleistet, wenn seine Eltern lange arbeiteten und die anderen Kinder ihn ausschlossen. Damals, vor so vielen Jahren war seine Liebe zur digitalen Welt entflammt und sie hatte ihn nie, niemals wieder losgelassen. Er hatte Jahre der Forschung damit zugebracht, einen Weg in die Digiwelt zu finden, um endlich persönlich all die Wesen kennenzulernen, die für ihn sein ganzes Leben lang schon wichtige Freunde waren. Und jetzt, in diesem Moment, hatte er sein Ziel erreicht. Hiroshi wischte abermals Tränen des Glücks aus seinen Augen, bevor er entschlossen, doch aufgeregt seine Brille zurechtrückte. Dann richtete er sich auf, atmete tief durch und legte schließlich seine Handfläche auf den Monitor.

Es dauerte nur eine Sekunde, bis sein Körper sich dematrealisierte. Binnen eines Augenblicks war Hiroshis Körper aus dem Labor verschwunden. Das einzige, das ihm folgte, war der schrille Warnton seines Laptops.
 

Als Hiroshi zu sich kam, fand er sich wieder in einem Gewirr aus Binärcodes und Datensträngen. Das erste, das sein Herz von ihm verlangte, war Furcht, doch der schwarzhaarige Wissenschaftler unterdrückte sie so entschlossen er nur konnte. Er hatte soeben die großartigste Entdeckung gemacht, welche die Menschheit seit langem gesehen hatte und er würde sie sich nicht durch Angst verderben lassen. Außerdem war er kurz davor, endlich die Freunde zu treffen, die ihm immer schon die liebsten gewesen waren. Kopfüber und ohne jede Gegenwehr strauchelte Hiroshi in dem Wirbelsturm aus Dimensionen, in den er sich soeben begeben hatte. Die schwarze Wolke, die ihm durch das Tor der Digiwelt gefolgt war, bemerkte er nicht.

"Hallo?", rief Hiroshi stattdessen mit vor Aufregung dünner, stockender Stimme, "Ich bin Hiroshi! Bitte lasst mich zu euch! Ich möchte euch kennenlernen!"

Gefangen zwischen der realen Welt und der Digiwelt erreichte ihn keine Antwort, doch die schwarze Masse hinter ihm kam rasch und bedrohlich näher. Zum ersten Mal warf Hiroshi einen Blick über seine Schulter und angesichts dessen, was ihm gefolgt war, erstarrte er plötzlich zur Salzsäule. Einen langen, stummen Moment starrte er die Materie hinter sich nur an, bis die Panik sich allmählich in sein Gesicht zu kämpfen vermochte.

"N-N-Nein!", quietschte er mit vor Angst schriller Stimme, während er mit Armen und Beinen versuchte, sich schneller fortzubewegen, "Geh weg!"

Er wusste genau, was das war. Dieses Ding, das ihm folgte. Hatte der Laptop ihn nicht gewarnt? Hatte er den Ton womöglich überhört?

Wieso jetzt, ausgerechnet...?!

"B-Bitte!", wimmerte Hiroshi, doch der dunkle Nebel hatte bereits Besitz von ihm ergriffen und hüllte ihn ein wie ein pechschwarzer Kokon aus Teer. Vollends hilflos versuchte Hiroshi noch, die Masse von sich abzuschütteln, doch sein letztes, klagendes Flehen verließ seinen Mund zu spät. Der Virus hatte seinen Körper längst zu etwas verzerrt, das mit einem Menschen nichts mehr zutun hatte.

...
 

"Ich gehe ins Bett", sagte Ryoko. Ihre Stimme war leise und gesetzt, als sie die Hand an den Türrahmen des Wohnzimmers legte, denn ihre Tante hasste laute Stimmen. In den letzten dreizehn Jahren, die Ryoko bei ihr lebte, hatte sie das längst gelernt. Die schwarzhaarige Schwester ihres Vaters, die das Mädchen nach dem Unfalltod seiner Eltern bei sich aufgenommen hatte, saß wie so oft auf dem Sofa, um die Spätnachrichten zu verfolgen. Weil Ryoko nur ihren Rücken sah, war sie unsicher, ob man sie gehört hatte.

"Minami-San?", fragte sie deswegen vorsichtig nach, "Ich gehe ins Bett, okay?"

Es war immer das Selbe. Jedes Mal, wenn Minami ihre Stimme erhob, zuckte Ryoko zusammen. Dabei war es völlig egal, ob sie tatsächlich eine Antwort von ihr erwartete oder nicht, denn es waren nicht Minamis Worte, sondern die kalte Distanz in ihnen, welche dem Mädchen seit Jahren immer wieder durch Mark und Bein fuhr.

"Ich hab's gehört", sagte Minami nur, ein simpler Satz aus wenigen Silben, bei dem sie keine Anstalten machte, sich zu Ryoko umzudrehen, "Und morgen machst du die Küche sauber, verstanden?"

Ryokos Hand umgriff abermals den Türrahmen. Eine Geste, die ihr ein wenig Sicherheit verschaffte.

"Ja...", versprach sie daraufhin leise, "Tut mir leid, dass ich das heute nicht machen konnte, aber die Schule war...-"

"Oh bitte, verschone mich damit", unterbrach Minami ihre Nichte, noch immer kein bisschen freundlicher als zuvor, "Ich arbeite von früh bis spät, um dich durchzufüttern, also verlange ich von dir, dass du das Mindeste zu der Sache hier beiträgst."

Minami scheute sich nicht davor, ihre Regeln klarzumachen. Ryoko war es nicht anders gewohnt, doch ihre Trauer ließ sich dennoch kaum verbergen. Einmal mehr blickte sie an ihrer Tante vorbei in den Fernseher und versuchte zu verstehen, wieso die Frau sie so wenig mochte. Gleichzeitig kam sie immer wieder von selbst auf die Antwort, denn Minami hasste Kinder. Sie war eine Karrierefrau, die große Pläne für ihr Leben gehabt hatte, bevor Ryokos Eltern bei dem Autounfall ums Leben gekommen waren. Als einzige Verwandte war Minami mehr oder weniger dazu gezwungen worden, ihre Nichte aufzunehmen, wenn sie sich nicht in der gesamten Nachbarschaft unbeliebt machen wollte. Ryoko konnte es nur erahnen, doch wahrscheinlich hatte sie Minamis Ziele durchkreuzt. Ihre Tante sprach nie darüber, also blieb Ryoko nichts weiter, als es sich selbst zu erklären. Der Gedanke daran, dass einzig Minamis Bestreben, nicht ihren Ruf zu ruinieren Ryoko vor dem Heim bewahrt hatte, schlug dem Mädchen immer wieder auf den Magen.

"V-Verstanden", murmelte Ryoko unterwürfig und mit trauriger Stimme, "Ich gehe dann... Gute Nacht."

Ryoko wartete noch einen Moment, bevor sie sich umwandte und schließlich langsam die Tür ihres Zimmers schloss, doch von Minami kam keine Antwort.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Kalliope
2017-08-16T13:50:57+00:00 16.08.2017 15:50
Huh, ich habe diese Fanfiction von dir erst jetzt entdeckt und direkt mal reingelesen. Dein Schreibstil hat sich im Vergleich zu den älteren Naruto-FFs auf jeden Fall erheblich verbessert. Du beschreibst gut, welche Atmosphäre bei Ryoko zu Hause herrscht und gleichzeitig machst du es schon zu Beginn sehr spannend, weil man sich fragt, was mit Hiroshi geschehen ist und was Ryoko in den kommenden 12 Monaten alles erleben wird. Es ist natürlich schade, dass es bislang erst drei Kapitel gibt und die FF schon seit zwei Jahren still steht, aber nichtsdestotrotz würde ich wohl weiterlesen, wenn du sie eines Tages weiterschreiben solltest :)


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