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Geliebter Blutsbruder

von

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Alles vorbei

Mittlerweile war es Abend geworden und die Dunkelheit senkte sich über die Schlucht. Wir warteten noch einen Moment, bis das Feuer so groß geworden war, dass sein Schein weit in das Tal hineinreichte und wir die ersten erschreckten Stimmen der Geier hörten, dann traten Winnetou und ich aus dem Gebüsch und schritten eine kleine Strecke in die Schlucht hinein, bis wir in Sichtweite der Banditen waren. Diese hatten sich regelrecht in einen aufgeschreckten Haufen verwandelt, und einige von ihnen waren gerade im Begriff, zu der Ursache des Brandes zu eilen, als ich meinen Bärentöter hob und einen Schuss daraus abgab, der durch das ganze Tal drang und für unsere Gefährten oben an den Abgründen ein Zeichen war, jetzt allergrößte Aufmerksamkeit walten zu lassen. Sofort stand die ganze Geierbande wie von Geisterhand gestoppt starr vor Schreck an ihrem Platz.

Mit lauter Stimme rief ich sie nun an:

„Hier spricht Old Shatterhand! Wenn euch euer Leben lieb ist, dann werdet ihr jetzt genau das tun, was ich euch sage!“ Ich wartete einen Augenblick, um zu sehen, welche Wirkung meine Worte entfalten würden. Die Geier standen immer noch wie erstarrt, wussten nicht, wie ihnen geschah. Ich fuhr fort:

„Ihr seid vollständig umzingelt und habt keine Chance, hier unversehrt wieder rauszukommen! Seht nach oben an die Ränder dieser Schlucht und ihr wisst, woran ihr seid!“ Die Blicke sämtlicher Schurken wandten sich nach oben, wo sie zu ihrem Entsetzen unsere Gefährten sahen, die allesamt mit angelegten und entsicherten Gewehren auf die Banditen zielten. Daraufhin erhoben sie ein lautes Wehgeschrei und begannen, wild gestikulierend durcheinander zu rufen. „RUHE!!“ donnerte ich mit all meiner Kraft in der Stimme, und sofort trat wieder Stille ein.

„Ihr habt jetzt die Wahl,“ erklärte ich ihnen. „Entweder ihr ergebt euch sofort bedingungslos - in diesem Fall werdet ihr auf der Stelle eure Waffen ablegen und euch in unsere Hände begeben. Oder ihr versucht zu kämpfen und zu fliehen, dann werdet ihr auf der Stelle bis auf den letzten Mann ausgelöscht! Ihr habt genau zwei Minuten Zeit, um euch zu entscheiden!“ Nach diesen Worten zogen mein Freund und ich uns wieder etwas in den Schatten zurück, um den Kerlen kein Ziel zu bieten und auf ihre Entscheidung zu warten.
 

Firehand und Surehand gesellten sich mit Bloody Fox zu uns, und gespannt warteten wir, was die Banditen nun tun würden. Surehand fragte mich:

„Wer soll ihre Waffen einsammeln, wenn sie auf unsere Bedingungen eingehen?“ Ich überlegte einen Augenblick, dann antwortete ich ihm:

„Am besten wird es sein, wenn wir sie einzeln zu uns kommen lassen. Sie sollen Winnetou ihre Waffen übergeben und wir anderen binden sie anschließend. Habt ihr genügend Stricke mitgenommen?“

„Natürlich, wofür hältst du uns? Sehen wir aus wie Greenhorns?“ entgegnete mir Firehand in gespielter Entrüstung.

In diesem Moment erinnerte uns Fox daran, dass das Ultimatum abgelaufen war. Also traten Winnetou und ich wieder in den Lichtschein der Feuer, die übrigens jetzt auch an den Seiten und am Ende der Schlucht brannten, damit die Banditen sich nicht ins Dunkel zurückziehen konnten, um uns kein Ziel mehr zu bieten. Entfacht hatten diese ein paar Apatschen; sie hatten sich vor wenigen Minuten im Schutz der Dunkelheit mit Seilen die Schluchtwände hinunter gehangelt und die auch dort vorbereiteten Holzstöße angezündet.
 

Als ich sicher war, von der Bande gesehen zu werden, sprach ich sie erneut laut an:

„Die Zeit ist um! Wie habt ihr euch entschieden?“ Es folgte ein kurzer Augenblick der Stille, dann tönte plötzlich eine Stimme herüber, die ich als die des Anführers erkannte:

„Ergeben sollen wir uns? Den Teufel werden wir tun! Da habt ihr unsere Antwort!“ Im gleichen Moment riss er sein Gewehr hoch und schoss sofort. Wir hatten mit so einer Reaktion dieses Cholerikers gerechnet und warfen uns auf der Stelle zu Boden, so dass niemand von uns getroffen wurde. Jetzt krachten von den Anhöhen rund um die Schlucht viele Schüsse auf einmal, worauf hin ein oder zwei Banditen ein lautes Schmerzensgeheul hören ließen, mehr aber waren wohl nicht getroffen worden, denn auch sie hatten sich alle flach auf den Boden oder nahe der Büsche, die überall in der Schlucht wuchsen, fallen gelassen, so dass sie nicht mehr so gut unter Feuer genommen werden konnten.
 

Winnetou stieß mich jetzt an, deutete auf unsere Gewehre, zeigte dann in die Richtung, in der die Banditen lagen, und ich verstand ihn sofort. Ich wies unsere Gefährten an, in Deckung zu bleiben und unter allen Umständen zu verhindern, dass die Geier durch den Ausgang der Schlucht hindurch brechen konnten, dann krochen mein Freund und ich langsam, ohne ein Geräusch zu verursachen und jede Deckung ausnutzend, in die unmittelbare Nähe der Halunken. Nicht lange, da hatten wir die ersten erreicht; sie lagen immer noch am Boden. Der Boss allerdings war gerade dabei, sich vorsichtig zu seinen beiden Unteranführern heranzupirschen, er musste unbedingt besprechen, wie es jetzt weiter gehen sollte.

Der Apatsche und ich visierten mehrere Geier an, unter anderem auch einen der Unteranführer, dann ließen wir unsere Gewehre sprechen. Wir hatten so gezielt, dass wir die Betreffenden nur verwundet, nicht aber getötet hatten, aber der Erfolg war immens. Winnetou hatte zwei, ich dank meines Henrystutzens fünf der Kerle erwischt, und die verfielen jetzt in ein lautes Wehklagen, während der Rest der Bande völlig verschreckt hinter Felsen und Büschen Deckung suchte.
 

Jetzt stand Winnetou auf und stellte sich so, dass er für alle gut sichtbar war. Beleuchtet vom Schein des Feuers, hoch aufgerichtet, mit blitzenden Augen und fest entschlossenem Gesichtsausdruck gab er ein beeindruckendes Bild ab. Er herrschte die Verbrecher an:

„Hier steht Winnetou, Häuptling der Apatschen! Die feigen Hunde der Geier mögen hören, was er zu sagen hat! Rund um dieses Tal haben sich die mutigsten Männer des Westens versammelt, und jeder einzelne von ihnen wäre in der Lage, es allein mit den hier am Boden liegenden winselnden Kojoten aufzunehmen. Deshalb sage ich es nur einmal: Ihr werdet euch jetzt sofort in unsere Hände begeben, sonst werden Old Shatterhand und Winnetou einen Großteil von euch sofort erschießen, während Old Firehand, Old Surehand, Dick Hammerdull, Pit Holbers, Bloody Fox und viele andere berühmte Männer sowie die tapferen Krieger der Apatschen alle anderen Geier vernichten! Jeder, der sich entschließt, aufzugeben, begibt sich zu mir und händigt mir seine Waffen aus, aber einzeln hintereinander! Beim geringsten Widerstand wird geschossen! Howgh!“
 

Diese kraftvolle Rede und vielleicht auch die Nennung so vieler berühmter Namen verfehlte ihre Wirkung nicht. Nach einem Moment des Zögerns kam der erste der Kerle zu Winnetou und legte sämtliche Waffen ab. Ich winkte ihn dann zu mir, um ihn zu binden und einigen Apatschen zu übergeben, die sich mittlerweile zu uns gesellt hatte. Dieses Beispiel war ausschlaggebend, jetzt kam einer nach dem anderen, um sich zu ergeben. Es waren immerhin weit über sechzig Leute, die wir so behandelten, wenn man die am Boden liegenden Verwundeten abrechnete, um die sich Surehand sowie Tsai-tonkee kümmerten.
 

Wir arbeiteten eine Weile schweigend und höchst konzentriert, als ich aus den Augenwinkeln bemerkte, wie der Boss der Bande sich Winnetou näherte, um seine Waffen abzugeben. Ich spürte mehr, als dass ich sah, dass er absolut nicht bereit war, sich zu unterwerfen, und auf Rache sann. Bei dem Burschen, den ich gerade fesselte, brauchten nur noch die Beine zusammengebunden werden; ich übergab ihn schnell an Firehand und bewegte mich Richtung des Apatschen, um ihn im Notfall zu unterstützen, als mehrere Dinge gleichzeitig geschahen.

Der Anführer hielt sein Gewehr auffällig in der vorgestreckten Hand, wohl um Winnetous Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Von meiner Position aus konnte ich aber erkennen, dass er in der anderen Hand, die er halb hinter dem Rücken verborgen hatte, ein Messer hielt. Bevor ich dazu kam, meinen Freund zu warnen, der in diesem Augenblick die Waffe entgegennehmen wollte, hob der Verbrecher die Hand mit dem Messer und wollte es ihm in den Hals stoßen. Er wurde in seiner Bewegung aber durch Winnetous Arm unterbrochen, der diese Absicht erahnt hatte, jetzt mit seinem Unterarm die Messerhand stoppte, dem Anführer gleichzeitig die andere Faust in den Magen rammte, und als der sich nach Luft schnappend zusammenkrümmte, bekam er von meinem Freund den Gewehrkolben so über den Kopf gezogen, dass er augenblicklich bewusstlos zusammenbrach.
 

In diesem Augenblick war ich auch schon bei ihm, und der Schreck über diesen unerwarteten Angriff stand mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn Winnetou versuchte mich zu beruhigen, indem er mir seine Hand auf den Arm legte, gleichzeitig aber die anderen Banditen nicht aus den Augen ließ, falls diese sich durch das Beispiel ihres Bosses genötigt sahen, es ihm gleichzutun. Er flüsterte mir zu:

„Mein Bruder sieht, dass er sich keine Sorgen um Winnetou machen muss!“ und nahm dann direkt die nächsten Waffen der jetzt offensichtlich eingeschüchterten Halunken an sich. Ich nickte ihm lächelnd zu, blieb aber trotzdem an seiner Seite, um ihn bei seiner Aufgabe zu unterstützen und vor allem zu verhindern, dass sich das einer der Kerle noch einmal getraute.

Die weitere Entwaffnung der Geier verlief nun reibungslos. Unsere Gefährten oben auf den Anhöhen verließen ihre Plätze, als wir mit den letzten Verbrechern beschäftigt waren, um sich ebenfalls in die Schlucht zu begeben. Surehand und Tsain-tonkee hatten nun auch alle Verwundeten versorgt und gefesselt, daher machten sie sich jetzt zum Eingang der Schlucht auf, um die restlichen Männer von dem glücklichen Ausgang unseres kleinen Abenteuers zu informieren.
 

Es waren nun fast alle Anwesenden in der Schlucht versammelt, und wir banden gerade die letzten der Schurken zusammen, als Surehand wieder zurückkehrte und auf mich zutrat. Er wirkte etwas nervös und begann auch sofort: „Charlie, ich habe gerade erfahren, dass der Unteranführer, den wir in dem Verschlag auf der Farm eingesperrt hatten, ausgebrochen und geflohen ist!“

„Wie ist das möglich?“ fragte ich erschrocken. „Und woher weißt du das?“

„Ob du es glaubst oder nicht“, fuhr Surehand fort. „Der Doktor hat sich mit Treckführer Schumann direkt auf den Weg hierhin begeben, nachdem sie den Ausbruch bemerkt hatten, um uns zu warnen. Und die beiden haben es tatsächlich geschafft, trotz der Dunkelheit diesen Ort hier nur den Beschreibungen nach, die sie von uns gehört hatten, zu finden!“ Ich sah Winnetou an, dessen Gesicht aber unbewegt blieb.

„Aber es kann doch eigentlich keine Gefahr von diesem Kerl ausgehen, er ist ja schließlich nicht mehr Herr seiner Sinne“, überlegte ich laut.

„Da wäre ich mir nicht so sicher“, entgegnete Surehand. „Der Doktor meinte, die Art des Ausbruchs lässt darauf schließen, dass er offensichtlich wieder orientiert ist!“
 

Das war natürlich eine neue Sicht der Dinge. Wer wusste schon, wie lange der Kerl wieder klar denken konnte, und aus seinem Gefängnis heraus hatte er durchaus die Möglichkeit gehabt, einigen wichtigen Besprechungen von uns zu lauschen. Sollte er wissen, was heute Abend geschah, könnte es möglich sein, dass er einen Befreiungsversuch wagen wollte. Wir würden also erhöhte Aufmerksamkeit aufbringen müssen, um keine unangenehme Überraschung zu erleben.
 

Ich war gerade mit meinen Überlegungen soweit gekommen, als das Unheil schon über uns, vor allem aber über Winnetou hereinbrach. Ich registrierte mit einem Mal eine schnelle Bewegung seinerseits, dann war er auch schon bei mir, drängte mich etwas zur Seite und stand sofort mit seinem ganzen Körper und ausgebreiteten Armen hochaufgerichtet vor mir. Das Ganze geschah so schnell, dass ich zu keiner Regung fähig war. Und dann spürte ich auch schon den Schlag. Irgendetwas hatte meinen Freund getroffen, und die Wucht des Schlages war so heftig, dass sie ihn mit Gewalt gegen mich warf und ich die Erschütterung noch mit meinem eigenen Körper wahrnehmen konnte.

Für einen Moment schien die Welt still zu stehen. Dann aber krallten sich die Finger des Apatschen in mein Jagdhemd an meiner linken Schulter, er versuchte mit einem krampfhaften Atemzug, Luft zu holen und begann im gleichen Augenblick zu schwanken.
 

Vor meinen inneren Auge erschien nur das eine Wort: NEIN! Hatte ich es laut geschrien? Ich weiß es nicht. Die nun folgenden Szenen spielten sich wie in Zeitlupe ab, ich hatte das Gefühl, alles wie durch Watte zu hören, eigentlich drangen gar keine Geräusche zu mir durch. Nur dieses NEIN war immer wieder zu hören, entweder schrie ich oder meine Gefährten oder alle zusammen es wieder und wieder laut heraus, oder es befand sich nur in meinem Kopf. Ich sah, wie mein über alles geliebter Freund langsam und mit schmerzverzerrtem Gesicht in sich zusammensackte. Das konnte, das durfte nicht sein, er musste stehenbleiben, er durfte nicht fallen! Ich ergriff ihn am Arm, schlang meinen anderen Arm um seine Taille herum und versuchte, völlig irrational, ihn zu halten, ihm vielleicht sogar hoch zu helfen, und dann hörte ich mich doch schreien? Oder flüstern? Oder war auch das nur in meinem Kopf?

„Nein! Winnetou, nicht! BITTE NICHT!!“ Währenddessen vernahm ich erst ganz leise, dann lauter, aber immer noch wie durch ein Nebelmeer, eine Stimme, die mir aber wahrscheinlich nicht leise, sondern sehr laut regelrecht ins Ohr schrie:

„Leg ihn hin! Um Gottes Willen, Charlie, leg ihn hin!!“ Ich konnte meinen Freund jetzt auch tatsächlich nicht mehr stützen, er selbst versuchte zwar, sich noch bei mir festzuhalten, aber seine Kräfte schwanden zusehends, und dann brach er in die Knie. Eine Schockwelle nach der anderen rollte nun über mich hinweg, was um mich herum geschah, bekam ich gar nicht mit, ich sah nur das jetzt vor Schmerz verzerrte Antlitz des kostbarsten Menschen vor mir, den es für mich auf der Welt gab.
 

Jetzt griffen auch andere Hände zu; schemenhaft erkannte ich Surehand, Firehand und Emery, und in ihren Gesichtern spiegelte sich das gleiche höllische Entsetzen, das auch mich fest im Griff hatte. Langsam, vorsichtig legten wir den Apatschen auf den Boden, und ein neuerlicher Schock erfasste mich, als ich sah, wo ihn die Kugel, denn etwas anderes konnte dieser Schlag nicht gewesen sein, getroffen hatte. Wieder in die Brust, links neben dem Brustbein, wo sich jetzt auch rasch ein großer Blutfleck ausbreitete. Emery riss meinem Freund sofort das Jagdhemd vom Leib, und jetzt erst sahen wir die schwere Verletzung in ihrem ganzen erschreckenden Ausmaß vor uns. Ich nahm den Kopf meines Freundes in meinen Schoss, konnte ihn aber fast nicht mehr erkennen, weil mir inzwischen die Tränen nur so über das Gesicht liefen. Immer noch stand dieses NEIN! wie ein steinernes Mal vor meinem inneren Auge. Soviel aber konnte ich noch sehen, als dass Winnetou die Augen mittlerweile geschlossen hielt und offenbar immer noch krampfhaft versuchte, Luft zu holen. Ich sah diese Pein, die seinen Körper jetzt auch erzittern ließ, und hätte alles, wirklich alles darum gegeben, an seiner Stelle zu sein, um ihm das zu ersparen.
 

Wieder durchlief ein starkes Beben seinen Körper, und nun gelang es ihm auch, wenigstens einmal verzweifelt nach Luft zu schnappen. Und in diesem Augenblick war, und ich wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, der Doktor da, der gute Doktor Hendrick, und allein dessen Anwesenheit brachte meinen inneren Aufruhr etwas zur Ruhe. Er ertastete sofort Winnetous Puls an Hals und Handgelenk, fühlte den Herzschlag, die Atmung, und sein Gesicht sagte uns deutlich, dass ihn das Ergebnis erschreckte.

Im gleichen Augenblick erschlaffte der Körper meines Freundes, und der Arzt, dessen Hand immer noch auf seinem Herzen lag, schrie auf:

„Hinlegen! Legt seinen Kopf auf die Erde, Shatterhand!“ Geschockt folgte ich seiner Weisung, er legte beide Hände übereinander mittig auf die Brust des Apatschen und begann, diese in schnellen, regelmäßigen Abständen einzudrücken. „Mein Gott, was ist mit ihm?“ hörte ich neben mir Emery entsetzt fragen. „Herzstillstand!“ antwortete Hendrick keuchend, der seine ganze Kraft darauf verwendete, Winnetous Brustkorb weiter einzudrücken. Lähmendes Entsetzen machte sich auf allen Gesichtern breit; mir wich das Blut aus dem Gesicht, und nur die Gewissheit, dass ich für meinen geliebten Freund stark bleiben musste, verhinderte wahrscheinlich, dass ich selber zusammenklappte.
 

Jedes Zeitgefühl ging verloren, und wenn mir jemand gesagt hätte, dass inzwischen Stunden vergangen wären, ich hätte es geglaubt. Ich spürte Emerys Hand auf meiner Schulter, der irgendwie versuchte, mir Trost und Halt zu spenden, aber in diesen furchtbaren Minuten konnte mich nichts mehr trösten.

Dem Doktor stand inzwischen der Schweiß auf der Stirn, er bearbeitete den Brustkorb meines Freundes mit aller Kraft, und jetzt rief er verzweifelt:

„Komm schon, verdammt noch mal! Du gibst doch sonst nicht so schnell auf!“ Ich nahm Winnetous Hand und hielt sie an meine Wange, flüsterte unter Tränen immer nur die Worte: „Bitte! Mein Bruder, gib jetzt nicht auf, bitte!“
 

Hatte er mich gehört? Hatte mich der Herrgott erhört, zu dem ich zwischendurch ein Stoßgebet nach dem anderen geschickt hatte? Ich weiß es nicht, aber plötzlich regte sich der Apatsche, begann zu husten. Der Doktor unterbrach sofort seine Bemühungen, untersuchte direkt wieder Herz und Kreislauf. Ich sah ihn unter Tränen fragend an, er verstand mich und nickte, woraufhin ich Winnetous Kopf erneut in meinen Schoß nahm und ihm immer und immer wieder Stirn und Wangen streichelte, dabei seinen Namen flüsterte. Dieser hustete in kurzen Abständen, sein Atem ging stoßweise, unregelmäßig, und immer wieder durchlief ein Zittern seinen Körper. Ich hörte wie aus weiter Entfernung den Doktor seine Anweisungen treffen.

„Jemand muss sofort meine Tasche holen, mein Pferd steht am Ausgang der Schlucht!" Dann wandte er sich mir zu und erklärte mir hektisch:

„Ihr müsst ihn gleich wieder hinlegen, denn die Kugel steckt zwischen Herz und Lunge - ich muss sie sofort herausoperieren, oder er hat überhaupt keine Chance mehr!“ „Das Herz ist nicht getroffen?“, wagte ich mit ganz leise aufkeimender Hoffnung zu fragen.

„Nein, aber die Kugel steckt nur wenige Milimeter daneben, und leider ist schon wieder eine Arterie getroffen! Er verliert viel zu viel Blut, daher muss ich sofort operieren!“ Eine erneute Schockwelle durchlief mich. Nicht schon wieder, nicht schon wieder so eine schwere Verletzung! Wie um Himmels willen sollte mein Freund das denn nochmals überstehen??
 

Wieder erbebte der Körper des Apatschen. Mit einem Mal holte er tief Luft und schlug die Augen auf. Sein Blick traf mich, glitt an mir herauf und herunter, dann fragte er leise, stockend:

„Scharlih! Du....du bist nicht getroffen... worden, nicht wahr?“ Ich konnte nicht sprechen, nur unter Tränen den Kopf schütteln. Er fuhr fort:

„So....hat Winnetou dennoch... seine...Aufgabe erfüllt...“ Seine Kräfte verließen ihn und er schloss die Augen. Ich konnte es nicht fassen. Hatte er das vorausgeahnt? War es das, was er meinte, als er gestern, vor gefühlten Ewigkeiten, von einer Aufgabe sprach, die er erfüllen musste?

Ich küsste ihm die Stirn, und als er erneut die Augen öffnete, flehte ich ihn an:

„Ich bitte dich, mein Bruder, gib jetzt nicht auf! Verlasse mich nicht, Winnetou, ich bitte dich!“ Er sah mich an, und trotz des Schmerzes, der in seinen Augen überdeutlich zu erkennen war, hatte ich das Gefühl, dass sie förmlich strahlten, als er nun flüsterte:

„Scharlih....ich kann die....die Sterne singen hören!“ Oh Gott, nein, bitte nicht, dachte ich entsetzt, konnte aber nur stumm den Kopf schütteln, als Winnetou weiter sprach, nein, eher hauchte, und dabei ein fast unwirkliches Lächeln, ja fast schon ein Leuchten über sein Antlitz glitt:

„Ich habe den Himmel......den Himmel gesehen, Scharlih!......Es.....gibt nichts Schöneres.....,weißt du?“ Ich strich ihm über die Wange und versuchte, obwohl ich eigentlich nur noch weinen wollte, ihn dazu zu bringen, nicht aufzugeben, bei mir zu bleiben:

„Bitte – ich bitte dich, mein Bruder, bleib bei mir! Gib jetzt nicht auf, ich brauche dich, ich kann ohne dich nicht leben! Tu mir das nicht an!“ Nochmals erzitterte sein ganzer Körper, der Schmerz raste in Wellen durch ihn hindurch, und er flüsterte, unter Aufbietung seiner letzten Kräfte, mir zu:

„Jetzt.....noch nicht, Scharlih.....jetzt noch nicht.....es wird alles.....gut, glaube.....mir, Scharlih.....“ Das letzte Wort sprach er mit einer solchen Wärme, einer solch innigen Liebe zu mir aus, dass mir die Tränen nur so über das Gesicht strömten. Sein Körper erschlaffte, nachdem er nochmals von einem heftigen Zittern überrollt wurde, ich nahm ihn in meine Arme, drückte ihn, so fest ich konnte, an mich, verbarg meinen Kopf in seiner Halsbeuge und konnte dann nichts anderes mehr tun als meinen Tränen freien Lauf lassen.



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