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Geliebter Blutsbruder

von

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Fragen, Antworten und die wahre Liebe

Ich saß wie betäubt auf dem Bett, mit meinem in diesen Minuten emotional regelrecht zusammenbrechenden Freund in meinen Armen und war einfach nur noch fassungslos über das, was gerade eben geschehen war. Nein, nicht nur fassungslos, sondern richtiggehend entsetzt: darüber, was ich da eigentlich getan hatte, darüber, dass er offensichtlich überhaupt nicht gewusst hatte, was mit ihm geschah, darüber, dass ich seine Freundschaft und sein Vertrauen so leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatte, und nicht nur das, sondern eigentlich sogar seine Gesundheit, und nicht nur die körperliche, auch seine seelische.
 

Während ich ihm immer wieder beruhigend über seinen Kopf, seinen Rücken und sein Gesicht streichelte und ihn so fest wie möglich an mich drückte, schoss mir ein ganzes Fragenkarussell durch den Kopf.
 

Wie hatte es dazu nur kommen können? Seit wann trug ich solche Neigungen in mir? Trug ich überhaupt solcherlei Neigungen in mir oder war das nur eine Folge der außergewöhnlich innigen Zweisamkeit in den letzten anderthalb Wochen? Was, wenn er jetzt gerade eben zu dem Schluss kam, dass ich seine Freundschaft und seine momentane Schwäche und Hilflosigkeit aufs Schändlichste ausgenutzt hatte? Wenn er sich, vielleicht auch nicht sofort, langsam von mir abwendete, mich aus seinem Leben ausschloss? Hatte ich seine tiefe, freundschaftliche Liebe zu mir überhaupt noch verdient?
 

Und ich? Konnte ich überhaupt mit dem soeben Geschehenen weiterleben? Konnte ich das vor mir selbst und meinem Herrgott verantworten? Hatte ich nicht gerade eine furchtbare Sünde begangen?

Seltsamerweise machten mir die drei letzten Fragen nicht so viel zu schaffen wie die Sorge, dass ich Winnetou schwer enttäuscht haben könnte und die Angst, ihn für immer verlassen zu müssen.
 

Warum hatte ich mich auch nur dazu hinreißen lassen?? Ich hätte mich für meine unglaubliche Dummheit am liebsten selbst kräftig durchgeschüttelt. Außerdem war ich regelrecht erschrocken über die überwältigende Wirkung, die seine Reaktionen auf meinen Körper gehabt hatten - diese unglaubliche Intensität der Gefühle hatte mich zutiefst überrascht, ich war ja wie im Rausch gewesen.
 

Allerdings....wenn ich mich schon von Anfang an so zu ihm hingezogen gefühlt hätte, dann hätte ich ja gar nicht seit zehn Tagen und mehr diese intime körperliche Pflege durchführen können, ohne dass es bei mir zu derartigen Reaktionen kam - also, wieso dann auf einmal jetzt, heute?
 

Ich hatte genug Zeit, mir über diese Fragen Gedanken zu machen, denn Winnetou schien einfach nicht in der Lage zu sein, seine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich begann mir wirklich ernstliche Sorgen zu machen, denn so hatte ich ihn überhaupt noch nicht erlebt; selbst beim Tod seines Vaters und seiner geliebten Schwester hatte er sich, bis auf eine einzelne Träne abgesehen, vollkommen im Griff gehabt, zumindest, wenn er nicht allein war. Was hatte ich ihm nur angetan, dass er sich überhaupt nicht mehr beruhigen konnte?
 

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, nach endlos scheinenden Minuten oder sogar Stunden – ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren – wurde er ruhiger, blieb aber, so wie er war, in meinen Armen liegen.
 

Wäre ihm mein Verhalten als Verrat, als absoluter Missbrauch seiner Freundschaft zur mir vorgekommen, würde er sich dann nicht spätestens jetzt von mir auch körperlich distanzieren? Oder nicht?

Er aber hielt weiterhin engsten Körperkontakt, und in mir stieg die leise Hoffnung auf, dass noch nicht alles vorbei war. Bis jetzt konnte ich aber nichts anderes tun als ihn weiter festzuhalten und ihm leise und beruhigend über den Rücken zu streicheln.
 

Eines allerdings war ganz klar: reden mussten wir über das Geschehene! Wir konnten es nicht einfach im Raum stehen lassen und versuchen, darüber hinwegzugehen, als ob nichts passiert wäre. Das Ganze würde in dem Fall wahrscheinlich, wenn auch nicht sofort, langsam aber sicher einen Keil zwischen uns treiben und unsere Freundschaft, solange Winnetou diese überhaupt noch wollte, im Laufe der Zeit wie Säure zersetzen.
 

Noch eine ganze Weile später begann er, sich langsam von mir zu lösen. Mein Herz begann zu rasen, denn jetzt, genau in diesem Moment, würde sich vielleicht entscheiden, ob es eine gemeinsame Zukunft für uns gab oder nicht!
 

Winnetou ergriff, weil er nichts anderes erreichen konnte, die Bettdecke und fuhr sich damit einmal über das Gesicht, um seine Tränen zu trocknen. Er blickte vor sich nieder und ich spürte, dass ihm das Sprechen schwer fiel, als er begann: „Mein Bruder mag Winnetou bitte nicht zu den zahnlosen alten Squaws rechnen, wenn er heute seine Seele nicht beherrschen konnte! Winnetou wird das nicht wieder …“ Sofort unterbrach ich ihn; das wollte und konnte ich auf gar keinen Fall zulassen, dass er sich jetzt hier noch in Selbstvorwürfen aufrieb, während ich doch derjenige war, den man mit Vorwürfen überschütten sollte!

„Nein, Winnetou, bitte, sprich nicht weiter! Es tut mir so leid, was passiert ist!“ Ich sprach viel schneller, als ich beabsichtigte und meine Stimme zitterte hörbar: „Ich weiß wirklich nicht, was da in mich gefahren ist, ich konnte es einfach nicht mehr aufhalten! Ich bitte dich nur, mir nicht zu sehr zu zürnen, ich will ...“

Jetzt war er es, der mich, sogar etwas verwundert klingend, unterbrach: „Warum sollte Winnetou seinem Bruder zürnen? Er hat ihm doch nichts Böses getan! Es ist nur so, dass Winnetou noch nie so etwas Schönes erlebt hat und ...“ Hier stockte er und wurde leiser: „...und nicht gewusst hat, dass ein Mensch so etwas überhaupt empfinden kann ...“ Er wusste wohl nicht, wie er das weiter erklären konnte und brach ab.
 

Es war ihm wieder mal gelungen, mich vollkommen zu überraschen. Da rechnete ich mit dem Schlimmsten und er machte sich nur Sorgen, dass ich ihn seiner Tränen wegen für schwach hielt!

Es war wirklich so, wie ich gedacht hatte; er hatte tatsächlich die körperliche Liebe noch nie kennengelernt. Und jetzt war mir der Grund für seinen Gefühlsausbruch auch völlig klar: es war für ihn eine so neue, eine so überwältigend intensive Erfahrung gewesen, und er hatte das zusammen mit seiner verletzungsbedingten körperlichen Schwäche nach seinem schweren Kampf gegen den Tod einfach nicht mehr kompensieren können.
 

Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich fast schon froh darüber war, dass er endlich einmal sozusagen sein Innerstes nach außen gekehrt hatte, weil mir jetzt einiges klar wurde. Er war, wenn er nicht mit mir zusammen war, ständig, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr gezwungen, sich vollkommen unter Kontrolle zu haben; gerade als oberster Häuptling der Apatschen durfte er sich nie auch nur die kleinste Schwäche erlauben. Er hatte weder Frau noch Kinder, seine Eltern und seine Schwester waren tot, nahe Verwandte gab es nicht, er hatte also niemals und nirgends die Möglichkeit, sich auch einmal seelisch fallen zu lassen - und all diese jahrelangen Belastungen waren wahrscheinlich jetzt mit seinen Tränen aus ihm herausgebrochen. Der Einzige, mit dem er ab und zu über seine Sorgen und Nöte sprechen konnte, war ich, und wann war ich denn für ihn da? Sicher meistens nicht dann, wenn er es dringend brauchte! Ein weiterer Grund für mich, dem Entschluss, für immer bei ihm zu bleiben, Folge zu leisten – wenn er es denn noch wollte!
 

Und ich selbst? Wenn ich bei ihm blieb, wie wollte ich denn dann mit ihm zusammen leben? So wie früher, wenn wir über Monate zusammen durch den Westen geritten waren? Oder erhoffte ich mir sogar, dass sich das heute Abend Erlebte wiederholen sollte? War ich tatsächlich so veranlagt, ohne dass ich das in all den Jahren bemerkt hatte? Oder war es mir nur möglich, auf Winnetou so zu reagieren? Und wenn ja, warum?
 

Auf die letzte Frage immerhin konnte ich mir sofort und unmissverständlich eine Antwort geben: weil ich ihn von ganzem Herzen liebte! Ich hatte ihn schon als was ganz Besonderes empfunden, als ich ihm zum ersten Mal begegnet war; schon Tage danach hätte ich, obwohl er mich als seinen Feind behandelte, mein Leben für ihn gegeben. Und das hatte sich in all den Jahren nicht geändert, im Gegenteil. Und anscheinend steigerte sich diese Liebe jetzt sogar ins Körperliche hinein, ausgelöst wahrscheinlich durch unser inniges Zusammensein während seiner Genesungsphase.

Als ich ihn mir jetzt so betrachtete – er hatte sich, vielleicht unbewusst, wieder an mich gelehnt - konnte ich mir sogar vorstellen, dass es nicht bei diesem einmaligen Erlebnis bleiben musste.
 

Aber würde er das wollen? Und wenn ja, wie würden seine Apatschen darauf reagieren, wenn sie es aus irgendeinem Grund bemerkten? Wie ging eigentlich die rote Rasse im Allgemeinen mit diesem schwierigen Thema um?
 

Unwillkürlich hatte ich, während wir schwiegen und unseren Gedanken nachhingen, wieder begonnen, ihm leise über Stirn und Wangen zu streicheln.

Ich war jetzt mutiger geworden, was dieses intime Thema anging, welches zwischen uns noch nie in irgendeiner Weise Thema gewesen war, und wagte es darum, ihn zu fragen: „Könnte sich mein Bruder vorstellen, das auch einmal mit einer Squaw zu erleben?“ Er antwortete nicht sofort, schien nachzudenken. Dann sagte er leise: „Winnetou hätte es sich vielleicht bei der Rose der Assineboins vorstellen können, aber das ist lange her und nie wieder wird er eine Squaw in sein Herz lassen.“ Er holte tief Luft und fuhr fort: „Es wird vielleicht auch gar nicht mehr möglich sein, da sein Herz schon vor langer Zeit gesprochen hat und deshalb für niemand anderen Platz darin ist.“ Wieder eine Pause, in der ich es nicht wagte, auch nur einen Ton hören zu lassen. „Winnetou hat das bis heute aber nicht gewusst!“
 

Jetzt war ich regelrecht perplex! Ging es ihm etwa genauso wie mir? Hatten wir beide unsere Beziehung bisher für eine liebevolle, tiefe, brüderliche Freundschaft gehalten und wurden heute Abend eines Besseren belehrt? Oder befanden wir uns auf einem Irrweg, weil wir nicht erkannten, dass so viel intensive körperliche Nähe zwangsläufig immer so enden würde, wenn man sich nicht unter Kontrolle hatte?
 

Mir schwirrte mittlerweile der Kopf von diesen vielen Fragen, ich wusste einfach nicht, was richtig und was falsch war. Aber vielleicht sollte ich ausnahmsweise einfach mal nicht auf meinen Kopf, sondern auf mein Herz hören, und das bedeutete mir, Winnetou, der mich jetzt fragend ansah, wieder fest in meine Arme zu schließen und ihm zu sagen, was ich schon oft in dieser Form zu ihm gesagt, aber vielleicht noch nie genauso gemeint hatte: „Ich liebe dich!“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: haki-pata
2015-07-31T07:14:07+00:00 31.07.2015 09:14
Diese drei kleinen Worte sind sicherlich niemals mit mehr Gefühl ausgesprochen worden.


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