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Ohne Titel

Tänzer und Fotograf
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Lied für Kapitel 3: Lizz Wright - Speak your heart Komplett anzeigen

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Contretemps

Juliens Höhenflug hielt nicht lange an.

Jeden Tag hatte er der Realisierung seines Projekts gewidmet.

Er hatte Skizzen notiert, Leute angerufen, Materialien abgeholt. Bis alles bereit war und nichts in ihm größer war, als die Vorfreude auf den Shooting-Termin mit Leo.

Er hatte sein Model, er hatte das Equipment klar gemacht und er hatte eine Location, die genau die Atmosphäre brachte, die er sich für sein Foto wünschte.

Aber plötzlich hatte er keinen Teamkollegen mehr.

Pascal hatte ihm nur eine Stunde bevor sie aufgebrochen wären, abgesagt.

„Tut mir leid. Meine Schwester bekommt gerade ihr Kind. Und meine Oma ist gestorben. Und das alles auf einmal...“

„Ach, halt's Maul Pascal. Ich weiß doch, dass heute Abend 'Dirty Dancing' Nacht im Ü-40 Club angesagt ist. Ich dachte nur, du könntest einmal für mich deine merkwürdige Neigung für ältere Herren vergessen und mir helfen. So als mein bester Freund.“

„Julien, wenn es so einfach wäre. Weißt du... Herr Auerbacher wird da sein, das weiß ich aus sicherer Quelle.“

„Vergiss es einfach. Wir sehen uns Freitag.“

Julien legte entnervt auf. Wieso nur hatte er den unzuverlässigsten Typen der Welt zum besten Freund? Wie er sah, brachte ihm das gar nichts. Nur große Enttäuschung.

Julien war völlig in seinen negativen Gedanken verfangen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Beim Hochschauen blickte er direkt in zwei kristallene Seen.

„Hey, ist doch halb so wild. Dann ziehen wir das eben zu zweit durch. Lass uns am besten jetzt schon losfahren.“

Leo sah klasse aus. Julien wusste nicht, womit der Tänzer seine letzten Nächte verbracht hatte, dass er vorher keine Zeit gehabt hatte, aber er war hellwach und topmotiviert.

„Okay.“

Dann würden sie eben nur zu zweit sein. Das machte das ganze nicht weniger stressig, aber damit mussten sie wohl jetzt leben.

Nach der ganzen Arbeit würde er noch ein schönes Wörtchen mit Pascal zu reden haben. Aber vorerst konzentrierte er sich auf das Bild. Auf Leo und sich.

Und die kleine Überraschung, von der er sich bisher immer noch nicht getraut hatte, sie bei Leo anzusprechen...
 

„Was ist das?“

Julien und Leo waren etwa eine halbe Stunde zu dem verlassenen, ehemaligen Industriegrundstück gefahren und waren gerade dabei die Sachen rauszuholen. Julien hievte einen Baustrahler nach dem anderen raus und erstarrte zur Salzsäule, als er Leos Frage hörte.

„Julien... ist es das, was ich denke?“

Ganz langsam nur drehte sich der Fotograf auf den Hacken zu seinem Model um. „Ehm, jah..?“

Leo hielt etwas hoch. Etwas aus weißem Tüll, wie man trotz des bereits fehlenden Lichts unschwer erkennen konnte. „Ein Tutu?“

Julien nickte langsam. „Jah, ich hatte überlegt, wir könnten vielleicht das Tutu als klischeehaftes Stilelement verwenden..., um den Bruch zwischen...“

„Ich soll das anziehen? Wie eine Primaballerina?“

Julien schluckte. Leo sah nicht begeistert aus über diese Idee. Wenn er Julien jetzt absprang, wäre sein Fotoprojekt völlig gelaufen. Note Sechs.

Egal, es hieß Augen zu und durch.

„Ja.“

Stille.

Julien und Leo starrten sich beide unverwandt an. Ein Blickduell von solcher Intensivität, dass Julien unbewusst den Atem anhielt.

Schließlich wandte Leo als erster den Blick ab. „Okay.“

Julien blinzelte überrascht. „Okay?“

„Ja, ich mach's.“ Seine stechend blauen Augen trafen erneut auf Juliens. Diesmal jedoch mit diesem schlemischen Aufblitzen, das ihnen manchmal innewohnte.

Als hätte Julien es gewusst, begann Leo direkt sich auszuziehen.

Er wandte den Blick ab und schaute erst wieder hin, als er keine Geräusche von fallender Kleidung mehr wahrnahm. Julien ließ den Blick erst vorsichtig über den Boden schweifen, wo er Hose und Hemd nebst Schuhen und Socken achtlos auf den Boden geworfen vorfand. Weiter höher erblickte er Leo.

Nackt.

Bis auf das weiße Tutu, das wie ein weißer Zensurbalken genau auf Hüfthöhe hing.

Juliens Augen glitten über Leos Körper, als scannte er jede noch so kleine Stelle. Als wolle er den Körper, den er gleich fotografierte, erst genau studieren. Jedes Detail kennenlernen, ehe er es zu einem Teil seines Kunstwerkes machte.

Er starrte ihn unverwandt an – und Leo ließ es regungslos über sich ergehen.

Obwohl sich ihm ein für Außenstehende unwahrscheinlich komischer Anblick bot, machte Julien keinerlei Anstalten zu lachen. Nicht mal ein Schmunzeln legte sich auf seine Lippen. Sein Mund öffnete sich lediglich zu einem stummen „Ah“.

Fasziniert betrachtete er sein Model.

Der menschliche Körper vor ihm war nun nichts mehr als eben dies: ein Modell, ein Motiv, das es abzulichten galt.

„Licht. Wir müssen noch das Licht aufstellen.“

Hochprofessionell schnappte sich Julien die Baustrahler und platzierte sie genau dort, wo er sie haben wollte. Als Leo Anstalten machte, ihm zu helfen, fuhr er ihn laut an: „Bleib genau da stehen, wo du bist! Keinen Zentimeter rühren!“

Und obwohl der Fotografiestudent einen Kopf kleiner und deutlich schmächtiger war, als sein Model, lag in seiner Stimme eine solche Schärfe, dass Leo es nicht ein zweites Mal wagte, sich ohne Aufforderung zu rühren.
 

Julien war in seinem Element.

Er räumte noch schnell Leos Kleidung beiseite und betätigte dann den Kippschalter, der den Strom auf die Baustrahler leitete.

Leo wurde von dem grellen Licht so stark angestrahlt, dass er blinzeln musste.

Julien holte seine Kamera hervor und ließ Leo erst mal Zeit, sich an die unnatürliche Helligkeit zu gewöhnen. Während er seine Kamera einstellte, registrierte er nichts mehr, was nicht mit ihm selbst direkt zu tun hatte.

Als er dann Leo fixierte, war er völlig von diesem Moment, den er gleich aufnehmen würde, in Bann geschlagen.

„Geh bitte noch ein bisschen näher an die Wand heran. Jah, genau... und jetzt... Ballett-Pose. Wie besprochen... Gut.“

Klick.

„Bleib so.“

Klick. Klick.

„Gesicht mehr zur Wand. Augen weiterhin zu mir.“

Klick.

„Augen schließen.... und öffnen!“

Klick.

„Jaah, das ist es. Nächste Pose.“

Klick. Klick.
 

Auf diese Weise arbeiteten sie fünf verschiedene Posen durch. Alle entnommen aus dem Ballett, das Leo mit aufgeführt hatte. Und obwohl Julien mehrmals Worte wie „genial“, „grandios“ und „klasse“ rausrutschten, war doch keines der Bilder dabei, das ihn so überwältigte, wie er es sich wünschte.
 

Leo machte gerade eine kleine Pause und machte ein paar Dehnübungen, da er ohne Bewegung bei den nächtlichen Außentemperaturen langsam etwas auskühlte.

Julien sah derweil seine bisherigen Aufnahmen durch. Sie waren klasse. Weit über dem Durchschnitt, den Herr Auerbacher für dieses Projekt wohl von den anderen Studenten abgeliefert bekäme.

Aber Julien wollte mehr. Er wollte das Gefühl haben, ein Meisterwerk geschossen zu haben. Eines, dass Blumenfeld würdig war.

Und, was ihm noch schwieriger fiel, was seinen eigenen Ansprüchen nicht nur gerecht wurde, sondern sie regelrecht übertrumpfte.

Plötzlich spürte er zwei Hände, die sich auf seine Schultern legten und begannen, sie vorsichtig, aber dennoch mit viel Kraft durchzukneten.

Julien blickte überrascht von seiner Kamera auf und sah direkt in Leos strahlend blaue Augen. Er lächelte ihn an.

„Vielleicht täte dir ein Motivwechsel ganz gut. Ich meine, das ist eine wahnsinnig schöne Location und man fühlt sich als Model auch sehr wohl mit deinen Anweisungen... aber noch wohler wäre mir, wenn ich wüsste, dass du bald zufrieden dein Bild geschossen hast und ich mich wieder anziehen darf.“

Julien rang sich ein müdes Lächeln ab. „Tut mir leid. Ich habe dich jetzt schon wie lange in Anspruch genommen? Sorry... manchmal vergesse ich ein wenig die Zeit, wenn ich richtig drin bin.“ Er seufzte und schloss die Augen, um die Massage noch besser genießen zu können.

„Das ist eigentlich auch kein Problem. Ich finde das sogar sehr faszinierend an dir. Dass du dich so reinsteigern kannst in diese ganze Sache. Ehrlich gesagt, habe ich eher die Befürchtung, dass es wegen mir nicht so recht funktioniert.“

Verwirrt öffnete Julien wieder die Augen. Leo hörte auf, ihn zu massieren und stellte sich wieder vor ihn. Im Augenwinkel sah Julien , dass er das Tutu mit seiner Hose ausgetauscht hatte.

„Du willst dieses Bild unbedingt mit Leben füllen. Mit einer Verbindung zwischen Fotograf, Kamera und Motiv. Aber vielleicht hast du dir dafür einfach das falsche Motiv ausgesucht. Ich stehe zwar vor der Kamera, gehe in die Posen, die du haben möchtest, aber ich glaube, ich fühle es nicht so sehr wie du.“ Leos Einwand klang auf seine Weise logisch.

Dennoch wollte Julien nicht so recht daran glauben. „Nein, ich habe es aber doch gespürt.“

„Was gespürt?“

„Na, als du auf der Bühne warst. In deinem Blick, als du mich angesehen hast. Ich habe genau das gespürt, was ich mir für dieses Foto wünsche. Du musst nur...“

„Als ich dich angesehen habe? Daran kann ich mich gar nicht erinnern, wenn ich ehrlich bin.“

Leo war nur ehrlich.

Aber diese Tatsache traf Julien wie einen scharfen Gegenstand in der Brust.

Natürlich hatte er ihn nicht angesehen. Nicht direkt jedenfalls. Es war Zufall gewesen, purer Zufall. Julien hatte mehr in die ganze Sache rein interpretiert, als da eigentlich war.

Es tat weh.

Diese Wahrheit tat ihm mehr weh, als er gerne zugegeben hätte.

„Tut mir leid, wenn dich das jetzt enttäuscht. Aber wenn man auf der Bühne steht, ist es eigentlich fast unmöglich jemanden zu fixieren, der im Publikum sitzt. Vor allem, wenn man die Person nicht kennt. Man selber wird so sehr vom Licht angestrahlt, dass man nichts sehen kann. Es passiert öfter, dass Leute im Publikum sitzen und meinen, man hätte sie angesehen. Aber meistens ist das völlig unbeabsichtigt. Man sucht sich einen Orientierungspunkt an der Wand und... hey, Julien?“

Warum ihm jetzt die Tränen kamen, wusste er nicht.

Vielleicht war er einfach fertig von dem ganzen Druck, den er sich selber aufgebaut hatte. Oder er war enttäuscht, weil er es nicht geschafft hatte seine Erwartungen zu erfüllen.

Julien spürte nur, dass es gut tat, jetzt von Leo im Arm gehalten zu werden.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das dritte Kapitel. Contretemps - der Zwischenfall.
Die genaue Definition bezeichnet bei einem Contretemps einen Verbindungsschritt, der für gewöhnlich mit einem Richtungswechsel verbunden ist. (ballettlexikon
Die direkte Übersetzung - (in etwa) "gegen die Zeit" - passt natürlich auch sehr gut in Juliens Situation, unter Zeitdruck seine Arbeit fertigzustellen. Dass er dabei auch in eine andere Richtung abdriftet, ist ja irgendwie abzusehen.

Das Lied, das ich für dieses Kapitel gewählt habe, entspricht vor allem der Atmosphäre gen Ende des Kapitels.
Im Übrigen habe ich für Kapitel 2 ein Lied nachgetragen. Wenn du möchstest, kannst du es ja nochmal nach-hören :)

Und wie war dieser "Zwischenfall" für dich? Wie denkst du, wird es weitergehen? Welche Richtung wird Juliens (Gefühls-)Welt wohl nehmen? Komplett anzeigen

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