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Silvester

Oder: Schon wieder eine Überraschung
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallü! :)

Das hier ist OS 3 über Henry und Ben (OS 2: http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/autor/532277/323958/). Wenn man nicht will, muss man die anderen aber nicht zwingend gelesen haben, sie sind alle einzeln verständlich ... Obwohl ich in diesem hier auf die anderen beiden anspiele.

Ich wünsche viel Spaß beim Lesen und einen wundervollen Rutsch!!

LG,
lady Komplett anzeigen

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Silvester

„Ich wäre wesentlich weniger skeptisch gegenüber deinen Silvesterplänen, würdest du sie mir verraten“, erläutere ich Henry, meinen störrischen Koffer hinter mir herziehend. Von dem Scheißteil ist eine Rolle kaputt, was bedeutet, dass es laut schabend über den Boden rutscht, anstatt vernünftig zu rollen. Am liebsten würde ich dem Ding einen gehörigen Fußtritt verpassen, aber nicht mal ich würde unnötige Energie in dieses aussichtslose Unterfangen investieren, auch wenn es meinem Ärger eventuell guttäte.

Mein Freund und ich sind gerade auf dem Weg vom Bahnhof zu der S-Bahn, die uns zu ihm nach Hause transportieren soll. Und sein Koffer ist natürlich heile. Wenigstens einer von uns beiden, der nicht das Interesse aller umstehenden Personen auf sich zieht, weil er so viel Lärm veranstaltet.

„Dann wäre aber die Überraschung weg“, erklärt Henry geduldig, wie er es, seit wir in Osnabrück aufgebrochen sind, schon gefühlte tausend Mal getan hat. Zufriedenstellen tut es mich allerdings noch immer nicht.

„Du immer mit deinen Überraschungen.“

„Du immer mit deinen Nicht-Überraschungen.“

Ich rolle mit den Augen. „Der Konter war jetzt schlecht. Nicht-Überraschungen ist kein zulässiges Wort.“

Seufzend wendet er mir sein Gesicht zu und setzt sein wirklich entwaffnendes Grinsen auf. „Ja und? Kannst du dich nicht einfach freuen, hier zu sein?“

Eigentlich will ich widersprechen – obwohl ich mich durchaus freue, hier zu sein, nur so rein aus Prinzip den Gegenpol bilden – aber ich bringe es nicht fertig. Stattdessen lächele ich und ziehe schweigend meinen lärmenden Koffer hinter mir her durch Bremen.

Denkt man genauer darüber nach, ist alles, was ich, abgesehen von mich freuen, tun könnte, auch nicht besonders respektvoll, denn ohne Henry wäre ich jetzt nicht hier – was logisch ist, weil ich außer ihm niemanden in Bremen kenne, den ich besuchen könnte, aber das meine ich nicht: Wegen ihm darf ich überhaupt hier sein.

Er ist derjenige, der meine Eltern belabert hat bis zum Umfallen, so lange, bis sie ihre dämlichen Befürchtungen vergessen haben – und das waren viele. Allen voran die, ich könnte HIV positiv zurückkehren, weil schwuler Sex viel zu häufig ungeschützt abläuft … als hätte ich bereits mit Henry geschlafen; ist bei einer Fernbeziehung auch so einfach. Zwar hat mein Freund die komplette letzte Woche bei mir verbringen dürfen (ein weiteres Wunder seiner Überredungskünste und gleichzeitig sein Weihnachtsgeschenk für mich), doch passiert ist absolut nichts, abgesehen von Küssen und Händen auf Höhe meines Hinterns. Und so wird es wahrscheinlich noch eine Weile bleiben.

„Magst du mir sagen, wo du gedenkst hinzugehen?“, kommt es plötzlich von hinter mir und holt mich aus meinen Gedanken.

Irritiert drehe ich mich um, Henry steht ein paar Meter hinter mir an einer S-Bahn-Haltestelle, sein Grinsen ist so breit, als könnte es mir gleich mit voller Breitseite ins Gesicht springen. Das gewohnte Gefühl von zu viel Blut in meinem Kopf stellt sich ein, während ich umdrehe, um zu ihm zurück zu trotten.

„Aww, das ist Klein-Ben peinlich“, lacht er leise, als ich angekommen bin, streicht mir beinahe beiläufig über die Wange. Bei dieser Geste muss ich leicht lächeln. Ginge es nach Henry, stünden wir vermutlich knutschend in Bremens Fußgängerzone, für alle Welt mitten auf dem Präsentierteller. Zu meinem Glück kann er sich allerdings beherrschen, denn ich persönlich will nicht jedermanns Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Zwar habe ich alles andere als ein Problem damit, einen Freund statt einer Freundin zu haben, aber ich fühle mich schrecklich unwohl, wenn ich in imaginärem Scheinwerferlicht stehe – und sein wir mal ehrlich: In der Öffentlichkeit ist ein schwules Paar tatsächlich eine mittelgroße Sensation, getoppt vielleicht dadurch, dass Paris Hilton mit ihrem Chihuahua in der Handtasche vorbeistöckelt.

Die wenigsten starren dich wirklich offensichtlich an, aber diese ganzen neugierigen Blicke, die sich in deinen Rücken bohren, tun fast körperlich weh.

Die Bahn kommt, bevor ich antworten kann und Henry winkt mich hinter sich hinein.

„Fahren wir lange?“, frage ich, während wir es uns in einem Vierer gemütlich machen, was mein Freund mit einem kurzen Kopfschütteln beantwortet. Öffentliche Transportmittel sind mir alles andere als lieb, am liebsten würde ich auf der Stelle wieder aussteigen, vor allem, als sich uns gegenüber ein grimmig guckendes Mädchen mit einigen Kilos zu viel auf den Hüften niederlässt, das so laut Kaugummi kaut, als wolle es damit die komplette Bahn unterhalten. Mein Freund hat über meine Abneigung nur den Kopf geschüttelt und gemeint: „Ich weiß gar nicht, was du hast. Man kann so unauffällig andere Leute beobachten und froh sein, dass man selbst nicht so ist. Oder man denkt sich Geschichten aus, was die in ihrem Leben so machen.“

Darüber konnte ich nur den Kopf schütteln.

Schon seltsam aber ich glaube, an „Gegensätze ziehen sich an“ ist wirklich was dran, sonst wäre unsere ohnehin schon etwas problematische Beziehung bereits zerbrochen. (Problematisch deshalb, weil ich ihn in unserer fünfmonatigen Beziehung bisher, heute eingerechnet, genau neun Tage gesehen habe, was nun wirklich keine überragende Bilanz ist.) Obwohl Henry und ich uns nur in den wenigsten Dingen ähnlich sind, etwa unsere Abneigung gegen Birnen und Senf oder unsere Liebe zum Skaten betreffend, verstehen wir uns auf unserer ganz eigenen Ebene großartig. Wir wissen meistens ganz genau, was der andere gleich sagen will, können exakt abschätzen, was gefällt und was eher auf Ablehnung stößt und verstehen uns, auch wenn es irgendwie kein anderer tut. Das ist ein Geschenk, das ich nicht bereit bin, leichtfertig wieder herzugeben – und zum Glück ist das auch in nächster Zeit nicht vorgesehen.

Ungefähr 15 Minuten, für mich allerdings eine gefühlte Stunde, später steigen wir aus, befinden uns plötzlich in einer ruhig wirkenden, freundlichen Wohngegend, die der Trubel der Innenstadt scheinbar unbeeindruckt lässt. Es ist jedoch zu vermuten, dass es spätestens um Mitternacht auch hier mit der Ruhe vorbei sein wird, wenn alle auf die Straße gehen, um das neue Jahr mit Raketen und Sekt zu begrüßen.

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dich mal mit zu mir zu nehmen, Babe“, flüstert Henry neben mir und nimmt meine Hand. Reflexartig gucke ich mich um, will sie zurückziehen, doch er hält sie fest. „Glaubst du wirklich, hier könnte uns wer dumm anmachen?“

Er hat recht: Weit und breit ist niemand in Sicht, nicht einmal an hinter den nahegelegenen Fenstern scheint jemand zu stehen, also entspanne ich mich wieder. Eigentlich ist mein Verhalten komplett lächerlich, ich weiß, trotzdem kann ich irgendwie nicht anders: Jegliche Chance auf Aufmerksamkeit ist mir unangenehm – Henrys Aktion im Sommer hat mehr als ausgesorgt.

Zu meiner heutigen Empfindlichkeit sei aber auch gesagt, dass an ihr auch die Tatsache Schuld ist, dass ich heute zum ersten Mal auf Henrys Eltern treffen und zu ihm nach Hause kommen werde. In den Herbstferien habe ich Bremen zwar einen Besuch abgestattet, wir sind jedoch in der Stadt geblieben, haben ein bisschen geshoppt und sind ein Stück Kuchen essen gegangen – und die kurze Begegnung mit Henrys Eltern und kleiner Schwester via Skype bezeichne ich nicht als wirkliches Treffen. Ich habe also allen Grund, nervös zu sein.

Als hätte er meine Gedanken erraten, nein, ich bin mir sicher, er weiß sogar, was ich gedacht habe, drückt mein Freund meine Hand etwas fester. „Mach dir keinen Kopf, meine Familie wird dich lieben. Die können gar nicht anders, ich tue es schließlich auch!“

Sein Augenzwinkern ist tatsächlich aufmunternd genug, um mir für kurze Zeit meine Anspannung zu nehmen.
 

Wie so häufig hat Henry recht gehabt: Ich hätte mir keinen Kopf machen müssen. Seine Eltern haben mich mit offenen Armen empfangen, auch seine kleine Schwester Melina hat mich angegrinst und gekichert, als ich etwas schüchtern nach ihrer Hand gegriffen habe.

Jetzt gerade sitzen wir alle am Tisch und essen verspätet zu Mittag, es gibt Kartoffelbrei mit Würstchen, etwas unkreativ, aber durchaus essbar.

„Nun erzähl doch mal“, sagt Henrys Mutter irgendwann völlig unvermittelt mitten in das angeregte Tischgespräch hinein, aus dem ich mich bisher möglichst rausgehalten habe, erschreckenderweise unmissverständlich an mich gerichtet, „wie war die letzte Woche? Hattest du Spaß mit meinem Sohn an Weihnachten?“

Mein Kopf wird heiß, mein Hirn kann nicht anders, als zweideutig zu denken.

Sie lässt mir kurz Zeit, da ich aber keine Antwort gebe, fährt sie lächelnd fort: „Ich habe wohl ein Recht darauf, das zu wissen, immerhin musste ich mein Kind an Heiligabend entbehren.“

Henry lacht herzlich und scheint zu spüren, wie hilflos ich mich fühle, denn er legt mir schützend einen Arm um die Schultern. „Ach Mama, gib es doch zu, du warst froh, mich los zu sein!“

„Stimmt, dann musste sie nicht so viel kochen, du isst ja für drei“, bemerkt Melina grinsend, wofür sie sich einen Knuff in die Seite von ihrem Bruder einfängt.

„Melli!“, schaltet sich da auch der Vater der beiden gespielt empört ein. „Wie kannst du so was sagen?“

„Na ja, in gewisser Weise hat sie ja recht“, zwinkert die Mutter, wendet sich dann wieder an mich, „Nun? Ich warte immer noch auf Antwort.“

Ich räuspere mich leise und versuche, an dem Kloß in meinem Hals vorbei zu sprechen: „Ähm … also … ja, es war sehr schön … Henry hat mich wirklich überrascht.“

Mein Lächeln geht ein bisschen in die Hose, fürchte ich, aber ich bin schon froh, überhaupt einen Ton rausbekommen zu haben.

Scheinbar sind meine Bemühungen auch durchaus ausreichend, denn Henrys Mutter lächelt mich wohlwollend an, bevor sie sich an ihren Sohn wendet: „Und ihr wollt heute Abend zu Markus?“

Beinahe verschlucke ich mich an meinem Kartoffelbrei. Wir wollen was? – Da geht es schon wieder los mit den Überraschungen.

„Ja, genau. Er hat uns eingeladen, außer ihm sind aber noch ein paar andere da. Sara, Tarek und Felix, soweit ich weiß.“

Das wird ja immer besser!

An mich gerichtet fügt mein Freund noch hinzu: „Von denen habe ich dir erzählt. Du weißt schon, meine Clique und so. Wir feiern extra nur klein, damit du dich nicht so unpassend fühlst.“

Ach, wie freundlich von ihnen! „Aha.“

„Du siehst hellauf begeistert aus … Und damit meine ich, du siehst aus, als würde dir ein Stück von deinem Würstchen querstecken! Das muss bis heute Abend noch besser werden!“

Ich nicke tapfer, Henry grinst und sagt zum zweiten Mal an diesem Tag: „Mach dir keinen Kopf. Ich bin mir ziemlich sicher, ihr werdet euch super verstehen.“

Tatsächlich erinnere ich mich daran, was er mir über seine Freunde erzählt hat. Markus ist sein bester Kumpel, die beiden haben sich in der fünften Klasse kennen gelernt. Sara und Tarek kennt er bereits seit der Grundschule, aber eine wirkliche Freundschaft ist wohl erst später entstanden und Felix kam erst vor einem Jahr in seine Klasse. Generell hat Henry mir noch von x weiteren Personen erzählt, deren Namen in den Tiefen meines Hirns verborgen bleiben, aber egal, welche es wären, man käme immer zu dem Schluss: Mein Freund ist verdammt beliebt, hat viele Freunde und könnte, wenn er wollte, zu Silvester eine Riesenfete schmeißen, nur mit den Leuten, die er wirklich mag – plus die, die kommen, obwohl sie keine explizite Einladung bekommen haben. Von daher kann ich wohl wirklich dankbar sein, dass wir heute „nur“ zu sechst sind. … Würde ich feiern, wären wir fünf. Und das wären dann auch schon alle, die ich einladen will.
 

„Mir bleibt auch wirklich nichts erspart, was?“, frage ich.

Wir stehen vor dem Haus, in dem Markus wohnt und ich habe mir die Ärmel meines Pullovers über die Hände gezogen, weil mir das die Illusion gibt, mich ein bisschen sicher zu fühlen.

Henry grinst. „Jetzt mach hier mal nicht so ein Drama, okay? Es ist alles wunderbar!“

Ja, abgesehen von der Tatsache, dass ich gleich vier wildfremden Personen gegenüberstehen werde, denen ich zu allem Überfluss auch noch gefallen will. Ich war noch nie besonders gut darin, Freunde zu finden. Vermutlich, weil ich mich einfach nicht traue, auf andere zuzugehen.

Noch ein tiefes Durchatmen meinerseits wartet Henry ab, dann drückt er auf den Klingelknopf.

Es dauert keine zehn Sekunden, da wird die Tür überschwänglich aufgerissen und wir gucken geradewegs in das lachende Gesicht eines blonden Jungen. Seine Haare sind ein wenig hochgegeelt und mit seinen braunen Augen erinnert er mich tatsächlich ein bisschen an den Markus aus den Wilden Kerlen, nur älter.

„Hi“, begrüßt er uns, während er zur Seite tritt, um uns einzulassen. Henry, der mein Zögern bemerkt, legt mir einen Arm um die Schultern und drückt mich sanft aber bestimmt durch die Tür.

Im Flur wartet der Rest. Felix, Tarek und Sara stehen da und mustern mich wie das achte Weltwunder. Mir dreht sich der Magen um, am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrt gemacht, doch ich beherrsche mich erfolgreich, versuche stattdessen, ein freundliches Lächeln aufzusetzen.

„Hallo“, sagt Henry erfreut an meiner Seite, nimmt seinen Arm auch nicht von meiner Schulter, als er alle vier einzeln per Handschlag begrüßt. „Na, was geht? Schon Essen für nachher vorbereitet und Böller bereitgelegt?“

Er erhält keine Antwort. Stattdessen deutet Sara neugierig auf mich. „Das ist also Ben?“

Henry nickt beinahe stolz. Ich hingegen schrumpfe unter den Blicken seiner Freunde immer weiter zusammen, wenn ich könnte, würde ich vermutlich im Erdboden versinken. Meine Hände spielen nervös mit den Enden meiner Ärmel und ich verspüre den unglaublichen Drang, einfach meinen Kopf zu drehen und mein Gesicht in Henrys Hemd zu vergraben. Aber ich bin leider kein Kleinkind mehr und eine solche Reaktion wäre noch peinlicher als alles andere.

„Oh Mann, der ist wirklich so niedlich, wie du gesagt hast!“, quietscht sie fröhlich, sie erinnert mich mit ihrer Begeisterung an das Mädchen, das damals auf Korsika neben mir im Publikum gesessen hat. Das hat auch gequietscht und war begeistert von … wahrscheinlich auch von Niedlichkeit. Eigentlich widerstrebt es mir zutiefst, als niedlich bezeichnet zu werden, doch angesichts der aktuellen Situation, werde ich einen Teufel tun zu widersprechen.

„Ich weiß!“ Henry lächelt, beugt sich zu mir herüber und gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Aber ich fürchte, wenn er sich erst mal traut, vernünftig mit euch zu reden und du ihn immer noch niedlich nennst, dann ist Schluss mit lustig.“

Sara lacht und verspricht: „Ich werde mich hüten!“

Dann tritt Markus vor mich, gibt mir die Hand und meint: „Nett, dich jetzt endlich auch mal kennen zu lernen. Henry redet so oft von dir, das kommt einem schon fast wieder zu den Ohren raus.“

„Stimmt“, bestätigt Tarek, „aber ich kann damit wohl leben. Womit ich aber nicht leben kann, ist das schwarze Loch in meinem Bauch, ich hab einen Scheißhunger. Essen wir?“

Die kommenden Stunden vergehen wie im Flug. Wie ich feststelle, sind die anderen wirklich so nett, wie sie auf den ersten Blick gewirkt haben, weshalb es mir schneller als gedacht gelingt, normal mit ihnen zu kommunizieren. Wir essen gemeinsam, lachen über irgendeinen komischen Film, den Felix mitgebracht hat und dessen Handlung ich nicht wirklich folgen kann, weil ich viel zu sehr auf Henry konzentriert bin, an den ich mich gekuschelt habe, und reden über alles Mögliche, was uns so im Verlauf den Abends in den Sinn kommt.

Irgendwann kurz vor Mitternacht verabschiedet sich mein Freund mit der Begründung, er müsse aufs Klo. Noch während er aufsteht, steigt in mir wieder Unruhe auf: Bisher hat alles gut funktioniert mit den anderen, aber ist es anders, wenn Henry nicht dabei ist? Sagen sie mir dann, dass sie mich nicht leiden können?

Felix scheint meinen Gesichtsausdruck bemerkt zu haben, denn er klopft mir freundschaftlich auf die Schulter: „Junge, jetzt mach dich mal ein bisschen locker, wir fressen dich schon nicht auf.“

Tatsächlich lebe ich noch, als Markus ein paar Minuten später alarmiert auf seine Uhr deutet. „Okay, wir müssen jetzt raus. Wenn wir noch länger warten, bis Henry auf dem Klo fertig ist, verpassen wir das neue Jahr.“

Etwas widerstrebend folge ich den anderen, die zielsicher voraus in den Flur stiefeln, wo schon die Feuerwerkskörper bereit liegen. Ich will nicht ohne Henry raus, nachher kommt er zu spät zum Beginn von 2014 und … ach, eigentlich ist es ja auch egal, ob er zu spät auf den Hof kommt oder zu spät in den Hausflur. Kommt er zu spät, kommt er nun mal zu spät. Also ziehe auch ich meine Schuhe an und warte, bis Markus die Tür öffnet.

… Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen. Ich hätte so was von damit rechnen müssen! – Aber ich habe es nicht. Wann werde ich endlich lernen, dass ich bei Henry auf alles gefasst sein muss?

Am Grinsen seiner Freunde merke ich sofort, dass sie ganz genau wussten, dass er keineswegs auf dem Klo war, sondern hier auf dem Hof ein Meer aus Teelichtern aufgestellt hat, die ein H&B formen, darum herum ein Herzchen. Himmel, das ist schon wieder schrecklich kitschig … und ich bin trotzdem begeistert. Was angesichts der Tatsache, dass ich immer wieder so vehement gegen Überraschungen schimpfe, wirklich etwas traurig für meine Disziplin ist.

Grinsend kommt Henry auf mich zu. „Ich wollte eigentlich Wunderkerzen nehmen“, erklärt er entschuldigend, während er die Arme ausbreitet, „aber die brennen nicht lange genug. Teelichter passen nicht so gut zu Silvester, sorry.“

„Scheiß drauf!“, gebe ich zurück, lasse mich in den Arm nehmen und drücke ihm einen Kuss auf die Wange.

Neben uns stemmt Sara die Hände in die Hüften. „Das nennt ihr einen Kuss?“

Henry lacht. „Das heben wir uns für Mitternacht auf.“

„Dann aber schnell bereitmachen!“, kommt es von Markus, der bedeutungsschwer auf seine Uhr tippt. „In 20 Sekunden haben wir 2014.“

Mein Blick gleitet zu Tarek, der in Windeseile mit Felix zusammen die erste Rakete startbereit macht. Ich muss grinsen, die beiden sehen aus wie zwei übereifrige Kinder, vor allem, als Sara und Markus beginnen, herunterzuzählen: „10, 9, 8, 7 …“ Henry und ich stimmen ein. „… 6, 5, 4, 3 …“ Henry wendet sich mir zu, legt eine Hand an meine Wange. „… 2, 1, 0!“

Die Rakete startet in Richtung Himmel und mein Freund lächelt mich strahlend an. „Frohes Neues, Babe!“

Und dann küsst er mich. Es ist mein absolut erster Neujahrskuss und ganz ehrlich: Ich bin mir zu 100% sicher, das neue Jahr hätte nicht besser anfangen können.
 

„Wann lerne ich eigentlich endlich, dass ich sowieso immer gegen meinen Willen überrascht werde?“ Bibbernd laufe ich neben Henry her, meine Hand in seiner, während wir die paar Straßen zu ihm nach Hause zu Fuß gehen. Ich hätte wirklich eine Jacke mitnehmen sollen, doch irgendwie habe ich nicht mehr daran gedacht, bevor wir los sind. Zum einen, weil ich zu nervös war und zum anderen, weil es noch warm genug war – leider hat die Kälte beschlossen, im Laufe der Nacht zu kommen, was jetzt mir und auch Henry zu schaffen macht.

„Hoffentlich nie“, erwidert dieser lächelnd. „Sonst wäre es nicht mehr so schön, dich zu überraschen. … Du könntest stattdessen endlich zugeben, dass du Überraschungen gar nicht so scheiße findest, wie du immer sagst!“

„Niemals!“, erwidere ich prompt. „Das wäre dann doch viel zu langweilig. Außerdem mag ich Überraschungen wirklich nicht … nur deine sind eigentlich ganz okay.“

„Eigentlich ganz okay?“ Henry bläst die Wangen auf wie ein beleidigter Kugelfisch.

„Ja, eigentlich ganz okay. Teelichter aufbauen? Mal ehrlich, das ist jetzt nicht unbedingt aufwändig, hätte ich auch gekonnt.“

„Hast du aber nicht gemacht.“

„Weil ich keine Überraschungen mache, das ist gegen meine Prinzipien.“

„Aha“, lacht Henry, bleibt plötzlich stehen und zieht mit einem Ruck an meinem Arm, sodass ich direkt vor ihm stehe. Langsam hebt er eine Hand, lässt die in meinen Nacken gleiten. Seine Finger sind eiskalt, beinahe hätte ich aus Reflex die Schultern hochgezogen. Stattdessen widerstehe ich diesem Impuls und lehne meine Stirn gegen seine, umschlinge mit meinen Armen seinen Hals, schließe die Augen. Es dauert nicht lange, bis unsere Lippen sich finden, sich ganz sanft aufeinander legen. Der zweite Kuss im Jahr 2014. Und hoffentlich werden noch viele folgen. Inklusive dem Abschiedskuss, den ich ihm geben muss, wenn ich am 2. in den Zug nach Hause steige, mich auf unbestimmte Zeit verabschieden muss. Wehmütig schließe ich die Augen noch etwas fester, versuche, nicht daran denken zu müssen.

Als wir uns voneinander lösen, schlucke ich hart und hoffe, Henry übersieht das Tränchen, das sich in meinem Augenwinkel gebildet hat.

„Ich liebe dich, mein kleiner Überraschungs-Miesepeter“, sagt er leise, ein sanftes Lächeln im Gesicht.

„Ich dich auch, Überraschungs-Macher.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Syrachan
2014-01-06T19:41:57+00:00 06.01.2014 20:41
Awwww... sehr süß!! Tolle FF :-)


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