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Crystal Riders

Reanimation
von

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Filmriss

Jet – Filmriss
 

Linkin Park - Easier to Run (Piano Cover)
 

Der Schmerz kam sofort, scharf und feuerrot. Erst an der Schulter, dann wenige Zentimeter neben dem Herzen. Ich erstickte den Schrei mit aller Kraft, schluckte ihn herunter und ging leicht in die Knie, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

„Jet!“, keuchte Crystal hinter mir erschrocken und ich hörte, dass sie aufstehen wollte.

„Nicht!“, wies ich sie hastig an, die Arme so ausstreckend, dass ich sie noch weiter von den Polizisten abschirmen konnte, die von meinem plötzlichen Einfall noch zu desillusioniert waren, um das Feuer fortzusetzen. Ich verzog das Gesicht und kämpfte den Impuls zurück, eine Hand auf die Einschussstelle nahe dem Herzen zu legen, aus der Blut sickerte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Virus einschritt, um die verwundeten Stellen zu regenerieren, aber die Schmerzen würden noch ein wenig länger anhalten. Ungünstigerweise.

„Du verblutest!“, stieß sie hervor, die Stimme ein Zerrbild aus grellgelber Panik. Es war nur verständlich. Crystal mochte von der Unsterblichkeit der Rider wissen, aber für gewöhnlich rief ein solcher Gedanke die Voraussetzung von Unverwundbarkeit hervor. Kurz darauf legten sich ihre Arme von hinten um meinen Körper, ihre Hände streiften die Schusswunden und nahmen einen Teil der Schmerzen fort. Jedenfalls kam mir es mir so vor, dabei war es nur ihre Gabe, die meinen Geist beeinflusste, mich beruhigte und ich musste leise lächelnd die Augen schließen – ich hatte gewusst, dass diese Fähigkeit zweischneidig war.

Das Geräusch einer entsicherten Pistole bohrte sich durch das Raunen der Passanten und schlagartig wurde ich zurück in die Gegenwart katapultiert. Reflexartig zupfte ich die Jacke zur Seite, damit sie das Liliensymbol auf meiner Brust sehen konnten, riss jedoch entgeistert die Augen auf, als ich erkannte, wer da auf mich zielte.

„Keine Bewegung, Köter“, befahl Lieutenant Crowe mit der Ahnung eines schadenfrohen Schmunzelns im Gesicht. Er war eben erst dazu gestoßen, sein Wagen parkte quer über der Straße, als hätte er eine Vollbremsung hingelegt. Crystal schob ihren Kopf zur Seite, um über meine Schulter blicken zu können und ich zog sie automatisch ganz hinter mich.

„Lieutenant“, grüßte ich ihn unbewegt. Die Polizisten hinter ihm hatten ihre Waffen bereits sinken lassen, als sie das Emblem auf meiner Uniform gesehen hatten, jetzt jedoch hoben sie sie versuchsweise und konfus wieder. Crowes Finger zuckte zum Abzug.

„Wie viel Blei muss ich dir eigentlich noch ins Blut jagen, bevor du endlich das Zeitliche segnest?“ Crystal holte schockiert Luft und ihr Griff wurde ein wenig fester, angsterfüllter.

„Er hat schon mal auf dich geschossen?!“, hauchte sie. Ich konnte es nur hören, weil sich ihre Lippen unweit von meinem Ohr befanden.

„Nicht nur einmal“, erwiderte ich rau, obwohl ich ihr diese Tatsache lieber erspart hätte. „Ich kann nichts dafür, dass Ihr scheinbar unfähig seid, dazuzulernen, Lieutenant“, wandte ich mich laut wieder an Crowe. Die Ader auf seiner Stirn fing an, zu pochen, dann ruckte sein Kinn Richtung Crystal.

„So leid es mir tut, eigentlich bin ich ja auch nicht wegen dir, sondern wegen ihr hier.“ Sein grimmiges Lächeln kehrte zurück. „Du kennst die Regeln.“ Ich schluckte und zog die Augenbrauen zusammen. Eigentlich stand Crystal eine Strafe bevor – hätte sie nur unbefugt das Internatsgelände verlassen, hätten die Beamten ohne Zweifel ein Auge zugedrückt, aber sie hatte auch ihre Gabe in der Öffentlichkeit angewendet. Meine Augen blieben für Millisekunden an der Frau hängen, die rechts von uns im Türrahmen kauerte und das Szenario, das sich hier gerade aufgebaut hatte, mit starrem Entsetzen beobachtete. Immer wieder huschte ihr Blick zwischen Crystal, mir und den Polizisten hin und her.

„Tue ich“, entgegnete ich schließlich verbissen. „Und wenn ich mich recht entsinne, ist es mir als Aushilfslehrer erlaubt, für den Rider zu sprechen.“ Damit zog ich die Jacke noch ein wenig zur Seite, damit sie auch auf die anderen Symbole aufmerksam wurden. Die Männer hinter Crowe ließen ihre Waffen unschlüssig wieder sinken. Er selbst veränderte seine Haltung nicht, schnalzte aber verärgert mit der Zunge und schon wusste ich, wie ich meine Worte wählen musste, um die Chance auf ein Durchkommen zu erhalten.

„Sagt mir ganz ehrlich, ob dieses Mädchen für euch wie ein Monster aussieht?“, rief ich und richtete mich dabei ebenso an die Polizisten, als auch die Passanten, die sich hinter ihnen geschart hatten, auch wenn nicht mehr viele übrig geblieben waren. „Beweist die Tatsache, dass sie über ihr Verhalten nicht nachgedacht und nur aufgrund ihrer Gefühle gehandelt hat, nicht dass sie genauso menschlich ist, wie ihr? Macht ihr nicht auch Fehler, wenn ihr verletzt seid, wenn ihr Angst habt oder wütend werdet? Und wenn ihr nicht in der Lage seid, für so etwas Verständnis aufzubringen, dann solltet ihr vielleicht lieber darüber nachdenken, wer hier mehr Monster ist.“

Aufgeregtes Tuscheln setzte sich in Gang, einige sahen betreten zu Boden und die Polizisten machten sich daran, ihre Waffen zurückzustecken. Ich atmete auf und spürte, wie die Anspannung aus meinen Muskeln prasselte. Crowes Kiefer knackte unschön, aber er ließ, wenngleich stockend wie eine alte Maschine, die Hand sinken.

„Lassen wir sie gehen“, meinte einer der Polizisten.

„Zuerst will ich noch die Meinung der Frau hören, die Opfer der Gabe des Riders wurde“, hielt er hartnäckig dagegen und wandte sich an die Frau im Türrahmen.

„Er hat Recht“, warf sie überraschenderweise ein und ihr kummervoller Blick heftete sich an Crystal fest. „Sie hat mir nichts Böses gewollt, sie war nur verletzt und sie ist immer noch… meine Tochter.“ Bei diesen Worten fuhr Crystal heftig zusammen und die leisen, hohen Töne in ihrem unterdrückt bebenden Atem, zeigten, dass sie mit aller Kraft die Tränen fernhielt.

„Es tut mir so unendlich leid, Crystal“, schluchzte sie noch, drückte sich am Türrahmen hoch und verschwand zurück ins Haus. Als die Tür ins Schloss rastete, presste Crystal ihr Gesicht gegen meinen Rücken und mir fiel aus irgendeinem Grund der Blumenstrauß auf, der auf dem Treppenabsatz lag. Obschon die Blüten und Blätter in vollem Maß verwelkt waren, erkannte ich, dass er sich aus bläulichen Lilien und weißen Rosen zusammensetze und etwas in mir verrutschte jäh bei dieser Feststellung. Crowes abschätziges Seufzen forderte meine Aufmerksamkeit zurück.

„Dieses eine Mal lasse ich dich noch davonkommen“, knirschte er, quetschte die Waffe zurück in seinen Gürtel und wies mit dem Kopf zur Straße. „Aber wenn ihr jetzt nicht Beine macht, überlege ich es mir vielleicht doch nochmal.“

„Komm, Crystal“, flüsterte ich, befreite mich sacht aus ihrer Umarmung und legte ihr den Arm um, damit ich sie mit auf den Bürgersteig ziehen konnte.

„Eins noch“, fügte Crowe hinzu, als wir an ihm vorbeikamen. Seine winzigen Stieraugen versanken beinahe in den tiefen Höhlen und ich erkannte die Maserungen von Nächten darin, die er in literweise Alkohol ertränkt hatte. „Wenn dir wirklich was an dem Mädchen da liegt, dann nimm lieber Abstand von ihr. Du hast sicher nicht vergessen, dass du das Chaos wie magnetisch anziehst, Jace…“ Ich konnte nicht verhindern, dass mir bei Erwähnung des Namens ein würgendes Gefühl in die Kehle schoss und schnaubte ihm daher nur ein kaltes Lachen entgegen, bevor ich mich mit Crystal abwandte und sie etwas zu schnell mit zum Auto zog.
 

Two Steps From Hell - Forgotten September
 

Ich schwang die Beifahrertür auf und wartete unruhig, bis Crystal eingestiegen war, dann schlug ich sie zu und war binnen der nächsten Sekunde auf der Fahrerseite. Ich hatte kaum die Tür geschlossen, als der Wagen bereits fauchend ansprang und während ich den Gurt überzerrte, lenkte ich uns schon rückwärts raus. Erst, als wir die Hauptstraße erreichten und ich das Tempo drosseln musste, um im Strom des belebten Verkehrs mitzuschwimmen, gelang es mir wieder, durchzuatmen. Und Crystal offenbar auch.

„J… Jace?“, fragte sie, den Blick stur geradeaus gerichtet. Einige verbliebende Tränen sammelten sich an ihrem Kinn und wurden von ihrem eigenen Gewicht fortgerissen. Ich seufzte und löste eine Hand vom Lenkrad, um mir über die Augen zu reiben, denen seit zwei Tagen kaum eine Pause vergönnt gewesen war.

„Jason Snow“, sagte ich schließlich. „Mein richtiger Name.“ Ihre Augen schwangen zu mir, dann wieder nach vorne und ich hätte sonst was dafür gegeben, in diesem Augenblick ihre Gedanken lesen zu können.

„Aber ich darf dich weiterhin Jet nennen, oder?“, stutzte sie letzten Endes und ich musste ungewollt lächeln.

„Wenn ich dich weiterhin Crystal nennen darf… wobei es bei dir keinen Unterschied macht, nicht wahr?“ Diesmal musste sie auch grinsen, wenn dabei auch noch ein paar neue Tränen nachflossen.

„Für das Treffen mit deiner Mutter hab ich mir wohl einen eher ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht, was?“ Ich hätte meinen Kopf gegen die Windschutzscheibe schlagen können, dafür, dass ich ausgerechnet jetzt anfing, bescheuerte Kommentare abzugeben, aber ich wusste nicht, wie ich die Nachwehen der Überspannung sonst ableiten sollte. Doch Crystal lachte nur, als würde es ihr damit nicht anders gehen.

„Ich glaube, ihren Segen bekommst du trotzdem“, meinte sie und griff nach meiner Hand, ohne die Augen von der Frontscheibe zu lösen. „Ich wusste gar nicht, dass du fahren kannst.“

„Ich tue es auch nicht oft“, meinte ich schlicht und bog in die Straße ein, in der sich das Internat befand. Die Turmspitzen ragten am Horizont auf wie die majestätischen Malereien eines greisen Künstlers, in den Fenstern pulsierte das Licht der tief hängenden Sonne und wann immer eine Wolke sie erreichte, schien es, als würden Schatten hinter dem Glas tanzen.

Der Motor verklang ebbend und hinterließ eine Stille wie die Umarmung von Seide und unstetem Kerzenlicht. Ich drehte mich zu Crystal, ohne den Gurt zu lösen und ihre Fingernägel gruben sich leicht in meine Handfläche.

„Du willst mich nicht ansehen“, stellte ich fest und sie verzog das Gesicht. Ihre Augen waren vom vielen Weinen bereits verquollen und wund, hatten keine neuen Tränen mehr zu geben.

Sie blickte in meine Richtung, fixierte sich jedoch auf die Schusswunden. Den Stoff meiner Uniform hatten sie durchdrungen, was ein Beweis dafür war, dass im Magazin keine gewöhnlichen Bleikugeln gesteckt hatten. Nicht verwunderlich, da sie gewusst hatten, dass sie auf einen Crystal Rider treffen würden. Die Kugeln waren zwar ebenso wenig tödlich, aber das Trommelfeuer diente auch nur dazu, den Rider mithilfe von Schmerz in Schach zu halten.

„Ich glaube…“, begann sie zögerlich und sank vornüber, um ihre Stirn auf meine Hand zu legen. „…ich kann mich jetzt doch in deine Lage versetzen, Jet.“ Ohne Umschweife klickte ich den Gurt auf und wandte mich ihr ganz zu. Sie zitterte am ganzen Körper. „Ich habe solche Angst, die Kontrolle zu verlieren! Ich könnte dich nur ausversehen anschauen und dir die gleichen Schmerzen zufügen wie Onyx… Dieser Gedanke tut so weh! Ich werde damit nicht fertig, es raubt mir den Verstand!“

„Crystal“, murmelte ich und strich sanft über ihr Haar. „Da ist etwas, das du über deine Gabe wissen musst. Bitte schau mich an.“

„Nein!“, fiel sie ein und zog die Schultern hoch. „Zwing mich bitte nicht, Jet!“

„Das werde ich nicht tun.“ Jeder ihrer harten, krampfhaften Atemzüge hallte in mir nach, schlug Nägel aus Leid hinein und ich erkannte, dass das, was ihr am meisten Qualen bereitete, das war, wovor ich sie am wenigstens beschützen konnte. Sie selbst. „Aber du kannst mir vertrauen. Du wirst mir nicht schaden.“

„Was macht dich so sicher?“ Ihr Kopf hob sich einige Zentimeter und ich nutzte die Gelegenheit, um meine Hände auf ihre Wangen zu legen.

„Deine Gabe kann nicht nur das Schlechte sehen. Ich glaube, wenn…“ Ich brach ab, als mir etwas hinter der Scheibe auf Crystals Seite auffiel. „ Oh nein…“

„Was ist los?“, brachte sie irritiert hervor und folgte meinem Blick.
 

Two Steps From Hell - False King
 

Sofort ließ ich von ihr ab, öffnete eilig die Tür und schoss auf die andere Seite des Fahrzeugs. Jetzt konnte ich auch den Geruch vernehmen; kratzig und schwer. Hinter mir kam Crystal ebenfalls aus dem Auto und holte entsetzt Luft.

„Ist das…“

„Feuer“, bestätigte ich entrüstet und setzte mich in Bewegung. Die rußfarbene Rauchsäule stach ein Loch in den Himmel, war aber bereits ausgedünnt wie von schwelenden Überresten. Der Brand war schon gelöscht worden. Aber das bereitete mir auch gar keine Sorgen, es war die Lage, an der ich ihn wenig später lokalisierte, als der Springbrunnen in Sichtweite kam, um den sich mehrere Gruppen von Schülern versammelt hatten. Crystal wollte bereits auf das Gebäude zuspringen, aber ich hielt sie am Arm fest.

„Ich muss da rein!“, rief sie, aber ihre Stimme brach, als etwas vom Rauch hineingeriet. Hustend fasste sie sich an die Kehle und ich zog sie zu mir zurück.

„Der Qualm wirkt sich nicht gut auf dich aus“, flüsterte ich bitter und sie schüttelte heftig den Kopf, ehe sie sich ebenso ungehemmt in meine Arme warf. „Es tut mir leid.“

„Jet, Crystal!“, rief jemand, dann erkannte ich Jade, die sich aus einer Traube von Lehrern löste und auf uns zugelaufen kam.

„Was ist passiert?“, fragte ich ernst und legte meine Hand auf Crystals Kopf, den sie tief in meiner Halsbeuge vergraben hatte.

„Ich weiß es nicht“, entgegnete Jade im Flüsterton. „Die Scheibe war eingeschlagen, als hätte jemand einen steingroßen Gegenstand hineingeworfen. Offenbar hat der das Feuer verursacht.“ Ihre Stimme klang merkwürdig, während sie sprach, aber als ihr Blick auf Crystal fiel, fing ich an, zu verstehen. Doch bevor einer von uns beiden noch etwas sagen konnte, riss sie ruckartig den Kopf hoch, machte sich von mir los und preschte auf den Eingang zu.

„Crystal!“ Obwohl ich ihr unmittelbar nachsetzte, war sie schon im Gebäude verschwunden und ich stieß gegen den Türrahmen, eine Hand auf das Loch in Herzhöhe pressend, wo der Stoff in verkohlten, von getrocknetem Blut steifen, Fetzen hing. Verdammt! Jetzt wurde mir klar, warum ich sie nicht hatte einholen können.

Mit einem zurückgekämpften Stöhnen, brachte ich mich wieder in die Vertikale und hetzte ihr so gut es ging hinterher. Noch aus der Entfernung konnte ich sie röcheln hören und fiel fast ins Zimmer, wo der Rauch noch immer so dicht hing, dass man kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. Crystal hatte sich auf dem Boden zusammengekrümmt, eine Hand um den Hals geschlungen und in der anderen ein Stück Kohle, das noch glomm. Ihre Haut war davon bereits verbrannt worden, aber sie drückte es nur fester.

Da der Qualm meine Stimmbänder unbrauchbar machte, stützte ich nur auf sie, zögerte nicht, meine Arme unter ihren Körper zu schieben und sie hinauszutragen. Jade hatte schon aufgeholt und winkte mich zu einem Seitengang heran, der vermutlich eine Abkürzung nach draußen darstellte. Und als ich folgte, konnte ich ein einziges Wort aufschnappen, das sich aus Crystals heiserer Stimme pellte, während sich beide Hände um das verbrannte Holz krallten.

„Dad…“
 

Gold Delirium Music - Held Captive
 

„Hier“, sagte Jade und hielt Crystal ein Wasserglas hin. Ihre Finger vibrierten so stark, dass die Flüssigkeit überschwappte, bevor sie das Glas an den Mund führen konnte, um es in einem Zug herunterzustürzen.

„Was ist mit Moon?“, krächzte sie dann, das leere Gefäß mit einem Klirren auf den Tisch stellend.

„Ihr geht es gut“, versicherte Jade und warf einen Blick auf das Display ihres Handys. „Ich muss leider dringend etwas erledigen, kannst du dich um sie kümmern, Jet?“

„Selbstverständlich.“ Als sie an Crystal vorbeikam, drückte sie noch einmal ihre Schulter.

„Es tut mir Leid, Crystal…“, seufzte sie mit einem Blick auf ihre Hände. „Wenn du darüber reden möchtest, kannst du mich jederzeit ansprechen.“ Damit wandte sie sich ab und verließ eiligen Schrittes das Büro. Das Geräusch der zufallenden Tür legte hallende Wellen in den Raum, die das Schweigen lauter werden ließen und ich wagte es nicht, mich zu rühren.

„Er hat sie mir an meinem neunten Geburtstag geschenkt“, murmelte Crystal plötzlich. Ihre Augen hatten sich auf das Fenster gerichtet, wanderten in die Ferne des Himmels und in eine Ferne, die außer ihr niemand kannte. „Er hatte sich einen Scherz daraus gemacht und mir einen riesengroßen Karton, randvoll mit Holzwolle, geschenkt. Darin vergraben waren ein unförmiger Holzklotz, ein Schnitzmesser und Schleifpapier.“ Ein Lächeln lichtete ihre Stimme. „Er hat gemeint, dass er sich nicht für eine Form hatte entscheiden können, also sollte ich mir selbst eine aussuchen. Ich wollte eine Eule, weil er mich mit seinen großen, runden Brillengläsern immer an eine erinnert hat, aber ich war total untalentiert. Er kam dazu und half mir. Und seitdem…“ Ihr Kopf fiel zurück auf die Brust und ihre Finger zeichneten die Stelle nach, an der sich vormalig das Gesicht der Eule befunden haben musste. Eine Weile betrachtete ich sie, aber dann tat ich etwas, wovon ich nie gedacht hatte, dass ich es jemals tun würde.

Ich trat auf ihren Stuhl zu, ging langsam davor in die Knie und griff in meine Jackentasche. Verwundert sah sie mir zu, bis ich ihr den gesplitterten Edelstein hinhielt.

„Ein Schneeflockenobsidian“, erklärte ich leise, den Blick ebenfalls darauf gerichtet.

„Aber ich dachte…“, hauchte sie und ich nickte.

„Mein Stein ist der Gagat, das stimmt auch. Diesen bekam ich jedoch von Jade, am Tag, als sie mich hier aufnahm. Sie hat gesagt, ich hätte danach gerufen. Ich kann mich leider nicht daran erinnern…“

„Wieso nicht?“ Wie als Rückwirkung auf mein Seufzen, ließ sie ihre Hand zu meinem Nacken wandern und strich tröstlich durch meine Haare.

„Ein Trauma“, verriet ich. „Jade konnte mir nicht sagen, was der Grund dafür war, aber es hat dazu geführt, dass ich einen Filmriss davontrug. Einen blinden Fleck in meinem Gedächtnis, der alles, was mit dem Schock in Verbindung steht, unsichtbar macht. Aber…“ Ich legte den Daumen auf den Obsidian und fühlte die Bruchstellen nach. „…manchmal habe ich das Gefühl, dass mich jemand ansieht, wenn ich den Stein betrachte. Ich glaube, dass diese Person ihn mir gegeben hat und dass sie… jetzt nicht mehr da ist.“

„Jet“, sagte Crystal nur und beugte sich so tief herunter, dass ihre Stirn meine berührte. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf ihren Duft, in dem sich eine Spur von Rauch verfangen hatte.

Ich hatte in diesem Moment das Gefühl, tausend Dinge sagen zu können und beließ es doch bei nichts. Eine verbrannte Holzfigur und ein zerbrochenes Vulkanglas. Die Relikte unserer Vergangenheit. Sie waren genau wie wir.
 

Leliana's Song - Dragon Age Origins Leliana's Song (OST)
 

Ein unangekündigtes Raunen von draußen, ließ uns beide aufhorchen. Ich stand vom Boden auf und trat ans Fenster, konnte außer einigen Schülern, die auf dem Gelände umherliefen und sich allmählich zurück ins Hauptgebäude begaben, jedoch nichts erkennen.

„Irgendwas sorgt da für Aufruhr“, wandte ich mich wieder an Crystal und sie nickte nur, als hätte sie meine Gedanken erraten, dann verließen wir das Büro. Etwas war eigenartig, wie eine Veränderung in der Atmosphäre, gedrehter Wind, die Anbahnung eines Gewitters. Vielleicht waren meine Nerven auch so überreizt, dass ich es mir einbildete, aber Crystal schien es nicht großartig anders zu gehen. Sie ließ den Blick sogar zum Horizont schweifen, um nach dem imaginären Unwetter Ausschau zu halten, welches man nichtsdestotrotz in der Luft schmecken konnte.

Einträchtig steuerten wir auf den großen Platz mit dem Springbrunnen zu, aber als wir nahe genug waren, dass uns die umstehenden Schüler nicht mehr die Sicht versperrten, versagten meine Beine abrupt den Dienst. Crystal kam einige Schritte vor mir ebenfalls zum Stehen und wirbelte fragend herum, aber ich hatte keine Konzentration mehr für sie übrig. Für gar nichts mehr. Mit Ausnahme von dem Menschen, der lässig an einem der Kirschbäume lehnte und sich mit Jade, sowie einer Ansammlung neugieriger Schüler unterhielt.

Als hätte sie es gespürt, hob sich ihr Blick jäh und traf meinen. Selbst über die Entfernung, konnte ich das Aufklappen ihres Mundes erkennen und wie er ein Wort artikulierte. Und ich tat es ihr exakt gleich.

„Mako…“, stieß ich fassungslos hervor und mit einem Mal kannte die Welt nur noch Kontraste und verschwamm wie unter einem Schwarzweißfilter.
 

The Pretty Reckless - Under the Water
 

Ebenso fristlos wie alles überbelichtet worden war, kehrten die papierschnittscharfen Konturen zurück und ich wurde wie von einer unsichtbaren Kraft nach vorn in den Lauf geworfen. Dasselbe geschah mit ihr und schon hatten wir die Schüler durchpflügt und kollidierten in einer, von lautem, völlig perplexem Lachen begleitenden, Umarmung.

„Ich glaub’s nicht!“, rief sie aus und ihre Stimme wurde so laut, dass ich das Gefühl hatte, mein Gehör würde zerspringen. „Du durchgeknallter Dreckskerl, ich dachte, du wärst tot!“

„Streng genommen war ich das auch“, erwiderte ich grinsend und wir lösten uns allmählich wieder voneinander. Mako zog in ihrer so typischen, so lang nicht mehr gesehenen, Art die Oberlippe hoch und entblößte dieses ehrfurchtslose Lächeln, bei dem man immer auch glauben konnte, sie würde provozierend die Zähne fletschen.

„Du hast dich überhaupt nicht verändert“, sprach ich meine Gedanken aus und musterte ihre wilde Kurzhaarfrisur mit dem stirnausfüllenden, schrägen Pony, den auffallend markanten Lidstrich, die abgewetzte Lederjacke, die Springerstiefel… Nur eines war anders.

„Bis auf die hier, was?“, versetzte sie auf den Schritt und wedelte mit zwei Fingern vor ihren Augen herum. „Wenn ich diese abgefahrene Kampfjapanerin da hinten richtig verstanden habe, musst du mich ab sofort ‚Selenite‘ nennen.“ Ich stutzte. Selenit war eine Varietät von Gips und transparent weiß, aber Makos Augen hatten lediglich den silbrigen Schimmer angenommen, ansonsten waren sie unverändert schwarz. Aber da flitzte ihre Aufmerksamkeit kurzweilig zu einem Punkt hinter mir und ich blinzelte überrascht, als sich ihre Iris dabei blitzartig verfärbte. Sie war kristallbunt.

„Hey, wer ist denn die Kleine?“, fragte Mako und stiefelte unbeirrt an mir vorbei auf Crystal zu. Ich drehte mich ebenfalls um und legte ihr dabei gewohnheitsmäßig den Arm um die Taille. Offenbar waren jegliche Ängste an ihre Gabe weggerückt, denn sie starrte Mako ungeniert ins Gesicht.

„Ich bin Crystal“, stellte sie sich vor und Mako holte wie üblich so weit aus, dass das darauf folgende Händeschütteln eher an einen kameradschaftlichen Einschlag erinnerte.

„Mako… ach, nee, warte… Selenite.“ Sie verdrehte die Augen zwinkerte Crystal dann vertraulich zu. „Aber nenn mich ruhig weiterhin Mako, sonst verlier ich hier noch irgendwann den Überblick.“

„Wie bist du zum Rider geworden?“, fragte ich und sie warf den Kopf in den Nacken, als müsste sie nachdenken.

„Keinen Plan. Ich hab einen Job gefunden und bin eine Weile durch die Runden gekommen, bis ich eines Tages diese abartigen Schmerzen bekam und sich meine Augen verändert haben. Da bekamen diese Nulpen Schiss und haben mich rausgeschmissen und jetzt bin ich hier.“ Ein angriffslustiges Lächeln zog ihre Mundwinkel nach oben. „Um hier mal ein bisschen Schwung in die Bude zu bringen, wie’s scheint. Und jetzt, wo du mich ausgequetscht hast, bist du an der Reihe, Jace… oder wie wirst du hier genannt?“

„Jet.“ Kaum hatte ich es gesagt, musste ich mich räuspern. Ich hatte erwartet, mich besser mit meinem wirklichen Namen identifizieren zu können, aber der Edelstein hatte sich so fest in meinem Gedächtnis verankert, dass sich der alte Spitzname fremd und meilenweit entfernt anfühlte. Mako zog eine ihrer zackig geschwungenen Brauen hoch, ließ aber keinen Kommentar dazu fallen.

„Entschuldigt“, schaltete sich da auf einmal Jade ein, die hinter Mako erschienen war. „Ich will euch eigentlich nicht stören, aber ich muss dich bitten, kurz mit in mein Büro zu kommen, damit wir dich registrieren können.“ Mako seufzte aus vollem Herzen, zeigte sich aber einverstanden.

„Dann bringen wir den Papierkram mal hinter uns. Mann, ich hoffe, Ihr habt starke Nerven oder einen guten Therapeuten“, fügte sie an Jade gerichtet hinzu. „Mein Lebenslauf ist nicht gerade kugelsicher.“ Sie lächelte ihr nur verschmitzt zu.

„Ich glaube nicht, dass mich noch irgendwas schocken kann.“

„Ich würde mich nicht drauf verlassen“, erwiderte Mako mit einem schiefen Grinsen, während sie Jade hinterherstapfte. Sie tänzelte nur noch einmal kurz herum, um uns spöttisch zuzuwinken und war wenig später außer Sichtweite.

„Ich bin überfordert“, murmelte Crystal mit großen Augen, aber ihre Lippen zuckten und ich entschied mich spontan dazu, ihr einen Kuss zu geben, damit ihr Mund das Lächeln zuließ.

Aber trotzdem konnte ich nicht leugnen, dass mit Makos unvermutetem Auftauchen ein schwaches Bedenken in mir zu flimmern begonnen hatte. Eine matte Ahnung, die ich nur darum nicht ignorierte, weil mein Instinkt mich noch nie getäuscht hatte. Und der sagte mir, dass es sich um dieses Panikgefühl handelte, welches auftritt, wenn die Schatten aus dem Früher länger werden. Wenn die eigene Vergangenheit aus dem Schlaf auftauchte, um ihren Menschen mit gnadenloser Zerstörungswut einzuholen…



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