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Schicksalsbilder

von

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Auftakt


 

Julien
 

"Nachdem wir in den letzten zwei Wochen uns mit der richtigen Kameraeinstellung und ISO-Empfindlichkeit beschäftigt haben, möchte ich Sie bitten, nun das Gelernte umzusetzen", erklärte Herr Sausebrück, Professor für zeitgenössische Fotographie, "in den nächsten beiden Wochen, in denen wir uns um Perspektive und Deutungsmöglichkeiten von Linien im und durch das Bild zuwenden werden, ist es Ihre Aufgabe, eine oder mehrere Ideen zum Thema "bei Nacht" auszuarbeiten, die Sie dann bis zum Ende des Semesters fotographisch umsetzen sollen. Wenn Sie Fragen oder Probleme haben, wenden sie sich jederzeit tagsüber an mich, Sie kennen ja mein Büro, zur Not habe ich den Raum hier noch einmal auf die Folie geschrieben. Sollten Sie eine Person auf dem Bild ablichten wollen, lassen Sie diese bitte die Einverständniserklärung unterzeichnen, die Sie auf der Website finden. Ja, ich finde diese Regelung auch albern, aber rechtlich sind wir dazu verpflichtet, sie einzuhalten. Wenn Sie der Person ein Entgeld versprechen möchten, wenden Sie sich ebenfalls an mich, dann können wir sehen, ob wir das irgendwie über die Uni finanziert bekommen. Eines muss ich Ihnen allerdings gleich sagen: Professionelle Modells werden nicht über die Uni finanziert und versaute Bilder möchte ich hier auch nicht sehen."

Als Herr Sausebrück nun zum wiederholten Male damit begann zu erklären, woran sich die Notengebung in diesem Projekt orientieren würde, schaltete Julien ab und gab sich Fantasien über Nachtbilder hin. Dabei zog er, wie immer, wenn er mit Gedanken irgendwo ganz wo anders war, unbewusst an seinen kurzen, haselnussbraunen Haaren. Nacht und Linien. Hm, das eine wäre sicherlich einfach und ja auch eine Vorraussetzung des Kurses: es musste eine Nachtaufnahme sein. Doch wenn Herr Sausebrück Linien in seinem Bild haben wollte, wusste Julien noch nicht so recht etwas damit anzufangen. Vielleicht Fäden, die sich von Baum zu Baum spannten und von einer Straßenlaterne beleuchtet wurden? Er hatte sofort ein Bild vor Augen, wie es aussehen würde: Ein zunehmender Mond rechts im Hintergrund, hinter der Krone des einen Baumes halb verborgen, auf der Linken Seite eine Doppelhaushälfte, ebenfalls hinter Bäumen verborgen. Zwischen diesen und noch zwei oder vielleicht drei weiteren Bäumen in der Mitte spannten sich die Fäden kreuz und quer durch das Bild, wie ein Spinnennetz. Die Straßenlaterne würde in ihrer Mitte sein, das Gespinst mit Licht erfüllen und ihm so eine außerweltlische Erscheinung verleihen.

Oder ein Teich in der Nacht, auf dem sich Segelboote dahinzogen, deren Masten aus der Froschperspektive betrachtet das Firmament stützten. In seinen Gedanken wurden die Bahnen, die die Schiffe gezogen hatten, ebenfalls stark hervorgehoben, weitere Linien, die den Stützen Halt boten. Doch das war sehr schwierig umzusetzen und ältere Kommilitonen hatten ihm berichtet, dass Herr Sausebrück Computernachbearbeitung zwar duldete, sie aber für unter der Würde eines wirklich begabten Fotografen hielt.

Dann doch lieber, wenn er das Teichmuster behalten wollte, ein Frosch im schilf, dessen lange Zunge nach einer Fliege schnappte. In der Mitte der Zunge der Mond, halb von Wolken verhangen, so als würde er ein Trauertuch für die Fliege vor seine tränenden Augen halten.

Die Studenten klopften anerkennend auf die Tische und rissen Julien aus seinen Gedanken. Ein wenig desorientiert und noch immer mit Bildern im Kopf sammelte er seine Unterlagen ein und schulterte seine Tasche. Stefan, der neben ihm gesessen hatte, lehnte sich zu ihm herüber.

"Hey, hat unser Genie schon einen Plan, was er vor die Linse locken will?"

"Ich bin kein Genie", wehrte Julien abwesend ab, vor seinem geistigen Auge sah er zwei Liebende auf der Kante eines Hochhauses sitzen, sich im Arm haltend und den Kopf zueinander geneigt, als würden sie sich Geheimnisse zuflüstern. Aus Vogelperspektive konnte man von der Hochhauskante hinunter sehen auf ein Baugerüst. Das Gebäude, auf das sich das Paar zurück gezogen hatte, war im Aufbau, wie ihre junge Liebe.

Hm.

Liebe war so ein abgedroschenes Thema.

"Huhu, Erde an Julien!", rief Stefan und winkte mit seiner freien Hand vor Juliens braungrauen Augen. Julien verscheuchte die Hand wie eine Fliege, als er über einen Zaun nachdachte, hinter dem eine Fledermaus einer Eichel im Sturzflug nachjagte. Aus der Froschperspektive sah man in einen Park, der Himmel über und hinter der Fledermaus frei, doch ansonsten von Rosenbüschen umgeben.

"Sieh mal, dort läuft Orlando Bloom!"

"Was? Wo?" Eifrig sah Julien sich im Hof um, den er mittlerweile erreicht hatte.

"Oh, Mann", lachte Stefan sich halb schlapp, "denkst du ernsthaft, ein so angesagter Schauspieler taucht in unserer Uni auf? Während sie "den Hobbit Teil 2" drehen?" Gekränkt von dem Gelächter seines Freundes errötete Julien. Natürlich dachte er nicht ernsthaft, dass der Schauspieler auftauchen könnte, doch allein der Name brachte seinen Körper zum Kribbeln.

Ja, komisch, was? Er war ein Junge und hatte was für Orlando Bloom übrig. Doch er konnte sich nicht daran erinnern, jemals so ein Kribbeln für ein Mädchen empfunden zu haben. Nach Jahren des Kampfes dagegen hatte er sich eingestanden, dass er wohl "vom anderen Ufer" war.

"Nicht wirklich", gab Julien nuschelnd zu.

"Na, wenigstens hab ich nun deine Aufmerksamkeit, auch wenn ich kein so gewinnendes Lächeln habe", prahlte Stefan und grinste ihn mit seinem breiten Mund an. Stefans Lächeln war nicht zu verachten, doch der gehörte leider nicht auf dieselbe Seite des Flusses wie Julien.

Hm.

Ein Fluss in der Nacht gab sicher ein gutes Bild ab. Vielleicht fand er einen, der neben Bahnschienen verlief, oder diese sogar in einem spitzen Winkel kreuzte. Wenn dann in der Mitte ein junger Mann stand, die Arme Ausgebreitet, orthogonal zu der Kreuzung der beiden Geraden, Gesicht dem Himmel zugewandt. Das ergäbe zumindest eine schöne Metapher. Wenn man dann noch "kurz vor Morgengrauen" zu "bei Nacht" zählte, wäre es das Ideale Sinnbild für einen Übergang ins nächste Leben.

Stefan schnippte mit den Fingern vor Juliens Augen.

"Hey, das heißt nicht, dass du gleich wieder in deine seltsamen Fantasien abdriften musst", beschwerte er sich, "Was ist nun, hast du eine Idee für ein Bild?" Stefan lief rückwärts vor Julien über die Seitenstraße, die das Unigelände von den Wohnheimen trennte. Da sie Mitbewohner waren, den gleichen Studiengang belegten und meistens zufälligerweise auch noch dieselben Fächer wählten, gingen sie ihn oft gemeinsam. Zufällig deshalb, weil Stefan alles kurz auf knapp übers Knie brechen musste und Julien sich schon Wochen vor Vorlesungsbeginn sicher war, was er belegen würde. Stefan achtete zudem nicht auf die Ratschläge seines Freundes. Manchmal vermutete Julien, dass Stefan heimlich Juliens Stundenplan klaute, um eine Idee zu haben, was er machen könnte.

"Eine ist gut", beschwichtigte Julien endlich Stefans Neugier, "ich kann mich zwischen mehreren nicht so wirklich entscheiden. Und wie ich mich kenne, werde ich im Laufe der nächsten beiden Wochen noch mindestens dreimal das Setting wechseln, bis ich mich entschieden habe."

Julien seufzte. So ging ihm das jedes Mal. Sie bekamen eine künstlerische Aufgabe und sofort stürmten Ideen in seine Gedanken, verhinderten, dass er die Umgebung um sich herum wahr nahm und änderten sich von Minuten zu Minute. Und er musste sich ja erst zufrieden geben, wenn er sich sicher war, dass das Motiv dem entsprach, was der Dozent sehen wollte. Wodurch er zugegebener Maßen nicht selten eine 1 bekam. Mit oder ohne Kommastellen.

"Du hasts gut", meinte Stefan und sah endlich nach vorne, als sie die kleinen Vorgärtchen passierten, die vor jedem Wohnheimgebäude angelegt worden waren, "Beim Thema "bei Nacht" hatte ich mir zuerst vorgestellt, wir könnten so richtig geile Etablissements besuchen, du weißt schon. Und uns dann von der Uni das Geld geben lassen, um uns ein süßes Mädel auszuleihen und sie allerlei Dinge tun zu lassen. Das wäre herrlich gewesen."

"Dann hätte ich dieses Projekt wohl kaum gewählt, oder?", kanzelte Julien seinen Freund lächelnd ab, "hast du dir eigentlich die Beschreibung zu dem Kurs nicht durchgelesen, bevor du dich angemeldet hast?" Verblüfft blieb Stefan mit dem Schlüssel zur Eingangstür stehen.

"Es gibt Beschreibungen zu den Kursen? Wo kann man DIE denn finden?"

Julien war nach einem dieser berühmten Facepalms zumute. Sie studierten schon seit vier Semestern und Stefan hatte noch immer nicht bemerkt, dass es auf der Uniseite oder im Vorlesungsverzeichnis Beschreibungen zu den Kursen gab? Wie war er überhaupt so weit gekommen?

Schweigend setzten sie ihren Weg durch das schmale Treppenhaus zu ihrer Zwei-Raum-Wohnung fort. Als sie die Tür öffneten, schlug ihnen als erstes das zweifelhafte Aroma eines wochenlang nicht abgewaschenen Geschirrberges entgegen. Den Müll hatten sie aber rausgebracht.

Ehrlich.

Wahrscheinlich.

Hoffte Julien.

"Wir sollten abwaschen", seufzte Stefan, warf seine Tasche in die Ecke und band sich die Schürze um. "Ehrlich, du bist mir eine tolle Schwuchtel, machst nicht mal den Haushalt."

Julien streckte seinem Mitbewohner die Zunge heraus, schnappte sich ein Geschirrtuch und wartete auf die erste Tasse.
 

Leo
 

"Encore!", brüllte Ballettlehrer Müller erzürnt, "encore, encore, encore!"

Leo schnitt eine schmerzverzerrte Grimasse. Tanzen machte ihm im Allgemeinen Spaß, doch Ballett... bisher hatte er es nur aus Pflichtgefühl gelernt. Sein Traum war es, eine Tanzschule zu eröffnen, in der alle Arten von Tänzen gelehrt werden sollten. Also eigentlich nichts besonderes. Dafür musste er sie, dachte er sich, allerdings ersteinmal alle selber gemeistert haben. Und das bedeutete, dass er mit einem Haufen seltsamer Blondinen, die ihn alle für schwul hielten, an einer Stange tanzen musste.

"Non, non, non!", zischte der Ballettlehrer und kam zu ihm gerauscht. Sein möchtegern-französischer Akzent trieb Leo auf die Palme, doch verkniff er sich jeden Kommentar.

"Das muss höher!" Entschlossen griff er nach Leos Bein und zog es in die Position, die es haben sollte. Es schmerzte, doch ausnahmsweise versuchte Leo das nur durch den Schweiß auf seiner Stirn sehen zu lassen.

"Seht ihr Täubschen, so muss das gehen", grummelte Herr Müller, ließ Leos Bein los und klatschte zweimal in die Hände. "Da ihr das immer noch nischt zu schaffen scheint, schlage isch vor, wir beginnen noch einmal bei den Aufwärmübungen!"

Einige Seufzer und viel Gestöhne war die Antwort auf seine Ankündigung. Leo kam das willkommen. Die Aufwärmübungen absolvierte er täglich nach dem Aufstehen, diese und andere. Das hatte zur Folge, dass sein Körper gestählt war und sich durchaus sehen ließ. Seltsamerweise verließen ihn seine Freundinnen trotzdem regelmäßig nach wenigen Wochen. Während er sich anmutig in einen Herrenspagat sinken ließ und dabei seine Arme ebenso wie seine Beine zur Seite spreizte, kamen die meisten nicht halb so weit herunter wie er.

Nun, sie machten dies hier ja auch zum Spaß. Er konnte es nicht leiden, wenn jemand Dinge nicht ernst genug nahm, um sich ihnen vollauf zu widmen. So wie der "Akzent" von Herrn Müller. Mal ehrlich, selbst ein Franzose würde erkennen, dass das kein Deutsch war, sondern irgendeine seltsame Mischung. Und das "non", das er ab und zu hervor stieß, klang eher wie eine verstümmelte Version von "Gong". Beim ersten Mal hatte Leo sich ernsthaft gefragt, ob Herr Müller die fehlende Musikuntermalung ersetzen wollte, bis ihm aufgegangen war, dass er "nein" sagte.

Während er einer jungen Frau dabei half, ihren Rücken zu dehnen, konnte er nicht umhin, ihren und den Körper der übrigen Mädchen zu bewundern. Sie waren ästhetisch, die meisten zumindest. Selbst die dicklicheren Mädchen konnten in diesem Fortgeschrittenen-Kurs eine gewisse Anmut zeigen und trugen ihren Speck wie ein ergänzendes Kleid. Manchen hätte er allerdings geraten, eher Tango, Walzer oder Stepptanz zu lernen. Vor allem die Schmale in der hinteren Reihe bewegte sich wie eine feurige Tangotänzerin und nicht wie eine zierliche Balletttänzerin. Womit er sie nicht beleidigen wollte, aber so war es nunmal.

Herr Müller ließ sie die Position zwischen Aufwärmübungen bis zum Ende der Stunde wiederholen. Mit dem Ergebnis, dass Leo sie noch mehr zu hassen begann als noch zu Anfang und zu allem Überfluss schmerzten seine Muskeln auch noch. Etwas, das ihm seit langem nicht mehr beim Tanzen geschehen war. Und wofür er sich ein klein wenig schämte.
 

Die Herrenumkleide hatte er ganz für sich alleine, daher nahm er eine ausgedehnte Dusche und zog sich einen luftigen Jogginanzug über. Er hatte ursprünglich geplant, nach der Tanzstunde zur Uni hinüber zu joggen, wo er einer Mädchengruppe klassische Tänze beibringen sollte. Unisport nannten sie es und es war - anscheinend - nicht im Lehrplan aufgeführt. Das entnahm er der Tatsache, dass die Mädchen sich zwar Mühe gaben, aber keinerlei Talent oder Vorwissen was Körperhaltung anging, besaßen. Bei einigen vermutete er sogar, dass sie nur kamen, um ihm auf den Hintern zu starren. Ein Gedanke, der ihm nicht sonderlich missfiel. Nun jedoch wollte er seiner armen Beinmuskulatur nicht noch mehr zumuten, nächste Woche war auch noch Zeit zum Joggen. Daher nahm er einen heruntergekommenen Bus, der ihn zum Gelände führte.

Motivwahl


 

Julien
 

In den zwei Wochen, in denen sie Linien im Bild besprochen hatten, hatte sich bei Julien eine Idee immer weiter ausgeformt. Herr Sausebrück hatte erklärt, dass das schwierigste, aber auch angesehenste Thema bei Linien "Leichtigkeit" im Bild war. Sozusagen die Königsdiziplin bei Linienfotographien.

Und genau diese Idee hatte Julien fasziniert.

Mit Linien, die starr wirkten und das Bild in einzelne Elemente teilten, einen spielerischen Frohsinn auszudrücken und diesen auch noch bei Nacht, war eine Herausforderung, der sich Julien um jeden Preis stellen musste. Er besprach die Idee mit Herrn Sausebrück, der begeistert war, dass einer seiner Studenten sich daran versuchen wollte. Um das spielerische Element mehr in den Vordergrund zu stellen, hatte Herr Sausebrück ihm empfohlen, eine Person abzulichten. Er hatte Kinder vorgeschlagen, die Ball spielten, doch das war Julien zu eindeutig.
 

Julien saß in der Küche, vor sich einen Block mit einem angespitzen Bleistift und vielen Bleistiftspänen. Auf dem Block hatte er mehrere Kästchen eingerahmt, die verschiedene Fotoformate darstellten. Immer wieder hatte er Linien hinein gezeichnet, auch wenn seine Zeichenkünste seinen Fotokünsten in keinster Weise das Wasser reichen konnten, konnte er doch manchmal besser denken, wenn er krakelte. In mitten jeden der Rahmen waren ein bis vier ovale Formen gezeichnet, die beim besten Willen maximal vage menschliche Gestalt hatten. Neben den Rahmen hatte er Zahlen, die ISO-Werten, Winkeln und Dauern der Belichtungszeit entsprachen, geschrieben. Kurzum, es befand sich auf der Seite ein Chaos, durch das nur er durchblickte.

Zum Glück beschränkte sich das Chaos auf die Bleistiftstriche auf seinem Block. Die Küche war, seit Stefan eine neue Freundin hatte, von dieser blitzsauber gehalten worden. Warum sie sich in dieses Klischeebild fügte, verstand Julien nicht, aber ihr schien es zu gefallen.

Sabine hieß sie. Glaubte Julien, vielleicht hieß sie auch Sabina oder Sabrina oder so. Stefan hatte sie irgendwo auf dem Unigelände aufgegabelt, als sie gerade seltsame Schritte vollführte und beinahe gefallen war. Natürlich hatte der Held sie aufgefangen, so lautete zumindest seine Geschichte.

Gerade dieser Held taumelte aus seinem Zimmer zu Julien. Um 12 Uhr Mittags stand er gerade auf und taumelte noch. Er behauptete, er würde mit Sabine nach Orten suchen, wo er sein Bild machen könnte, doch dass er ganz andere Dinge mit Sabine machte galt für Julien als unumstößliche Gewissheit.

"Hey", grüßte Stefan, "is noch Kaffee da?"

Ohne auf eine Antwort zu warten, suchte er die Kaffeemaschine nach Anzeichen ab, dass Julien welchen gemacht hatte.

"Hättest du welchen gemacht, wäre unter Umständen welcher da", grummelte Julien.

"Hast du immer noch nicht gelernt, wie das geht?", neckte Stefan und pflückte theatralisch den Wasserbehälter aus der Maschine, "dann lass dir mal vom Meister zeigen, wie das geht." Heroisch ließ er den Wasserhahn den Behälter bis zum Rand füllen. Die weiteren Schritte zeigte er unter großem Gehabe seinem Mitbewohner, der nicht umhin konnte, seine Kamera auszupacken.

"Hey!", fluchte Stefan, als das Blitzlicht ihn in Dreiviertelstellung zu Julien gedreht, mit einer Hand auf dem Deckel der Maschine und der anderen dramatisch erhoben, festhielt, "du kannst mich doch nicht halbnackt knipsen!"

"Kann ich wohl", grinste Julien und schoss zum Beweis gleich noch zwei Bilder. Es war einfach ein zu gutes Bild gewesen, der Held der Kaffemaschinen, eingerahmt von den Küchengeräten und -schränken. Außerdem sah Stefan mit seinem zerstrubbelten köterblonden Haaren und Kissenfalten im Gesicht zum Anbeißen aus. Was Julien ihm natürlich nicht sagte.

"Wenns denn unbedingt sein muss, dann zeig mich wenigstens von meiner besten Seite!", forderte Stefan ihn lachend auf und drehte Julien seinen Hintern entgegen und platzierte drei Kaffetabletts auf seiner Wirbelsäule. Während er versuchte, das Gleichgewicht zu halten, musste Julien sich das Lachen verkneifen, um keine verwackelten Bilder zu erhalten. Er machte eins in Sepia, weil das irgendwie angemessen erschien, ebenso eins mit Großaufnahme auf den Bund der Unterhose und die Tabletts und natürlich eins in Vollansicht, sogut das in der kleinen Küche ging. Dann fielen Stefan die Tabletts runter.

"Oh, Scheiße", fluchte er, "meinst du, Sabrine macht es etwas aus, wenn sie auf dem Boden gelegenen Kaffee bekommt?" Julien lachte. "Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß."

"Also ich finde das nicht witzig", kam eine schrille Stimme aus Stefans Zimmertür, "Ihr seid doch keine kleinen Kinder, die mit dem Essen spielen! Diese Tabletts werden sofort entsorgt und die Fotos gefälligst gelöscht! Muss man euch denn jegliche Manieren beibringen?" Julien verdrehte die Augen. Sabrine war wirklich ein Musterbeispiel von Frauenzimmer, die er nicht ausstehen konnte. Zum Glück musste er sich ja nicht um sie kümmern.

"Ja, Schatz", raunte Stefan mit einer Stimme, die er für erotisch hielt, "du kannst mir gerne lauter Manieren beibringen." Und er schlich wie ein Löwe auf seine Zimmertür zu. Mit den Tabletts in der Hand. Julien drehte sich um und lichtete die Beute und den Kaffeetablettlöwen ab, Sabrine machte den perfekten Gesichtsausdruck, angeekelt und ein wenig schockiert. Das kam gleich noch einmal im Portrait auf seine SD-Karte.

Sie wich Stefan aus und nahm ihm mit zwei Fingern die Beutel aus der Hand. Mit ihnen marschierte sie zum Mülleimer und warf sie angeekelt hinein. Dann funkelte sie Julien erbost an.

"Lösche diese Bilder sofort", verlangte sie. Gehorsam tat Julien so, als würde er bedauernd Bilder von seinem Film löschen. Was nicht der Fall war. Sie würden in einen Ordner mit "nicht zeigbar aber nett" wandern, zumindest einige von ihnen.

Während Stefan und Sabrine Frühstück, bzw. Mittagessen zubereiteten und Sabrine Stefan erklärte, was alles in einer Küche zu unterlassen sei, verdrückte Julien sich in sein Zimmer. Dort sortierte er zunächst die gerade gemachten Bilder aus, dabei war er stets sehr ordentlich. Immerhin vergaß man schnell, wann man welches Bild unter welchen Umständen gemacht hatte.

Zwei Bilder waren verwackelt trotz seiner Achtsamkeit und vier waren zwar halbwegs in Ordnung doch kaum professionell. Stefans Hintern mit den Kaffeetabletts bekam das Attribut "süß" zugeteilt und wurde in einen versteckten Ordner verschoben. Als Stefan klopfte, schaute Julien sich gerade einige Fotos bei Fotocommunity an, um auf Ideen zu kommen.

"Willst du mit uns essen, oder willst du hier im Dunkeln weiter Teufelsanbetung betreiben?"

"Als ob dein Zimmer heller wäre", konterte Julien. Beide Studenten hatten die Angewohnheit, bis spät in den Abend hinein die Gardinen geschlossen zu halten. "Natürlich will ich mit euch essen. Hat Sabrine wieder etwas gezaubert?"

"Natürlich", stöhnte Stefan, "sie bestand auf Nudeln mit Pesto." Julien argwöhnte, dass Stefan in seinem früheren Leben Gefängnisinsasse gewesen war, sodass er sich an trockenes Brot und Leitungswasser gewöhnt hatte und seine Zunge alles andere zu intensiv schmeckte.

"Dann ist das Mittagessen ja gerettet", meinte Julien und ging, sich den Bauch reibend, an Stefan vorbei in die Küche. Vorbildlich hatte Sabrine Untersetzer unter ihre Teller gestellt, ordentlich das Besteck aufgereiht und die Nudeln in eine Schüssel gefüllt.

"Du bist eine Fee", lobte Julien und zog sich einen Stuhl zurecht, "solltest du dich je von Stefan trennen werde ich dich als Haushaltssklavin einstellen."

"Ha-Ha", machte Sabrine, "ich mag zwar ein wenig mehr ins Rollenbild passen als du verstehst, doch das heißt nicht, dass ich etwas von der Kette am Herd halte."

"Außerdem sind wir zwei für die Ewigkeit gemacht", steuerte Stefan bei und belud seinen Teller mit der Hälfte der Nudeln, nahm sich allerdings kein Pesto. Sabrine löffelte ihm etwas auf seine Nudeln, er versuchte den Teller rechtzeitig wegzuziehen, sodass die Hälfte der Soße auf dem Untersetzer landete.

"Jetzt schau dir die Sauerei an", keifte sie und stand auf, um einen Lappen zu holen. Julien schüttelte den Kopf. So schön es auch war, eine saubere Küche zu haben, ob es dieses ständige gemeckere wert war, bezweifelte er.

"Du studierst nicht, oder?", hakte Julien zwischen zwei Bissen Nudeln mit Pesto nach. Das Thema zu wechseln, wenn Sabrine anfing über Sauberkeit zu reden, erschien ihm eine gute Idee.

"Nein", bestätigte sie ihm, "was mir nicht das schlechteste zu sein scheint." Sie deutete damit den Zustand ihrer Küche vor ihrem Einzug an. Na toll. Da wollte man sie ablenken und sie dachte doch wieder nur an Ordnung und Unordnung.

"Wie konnte Stefan dich dann auf dem Unigelände auffangen?", fragte Julien, "im wahrsten Sinne des Wortes auch noch, wenn man ihm Glauben schenken darf." Das hatte er bisher nicht nachvollziehen und noch weniger glauben können. Sie warf ihm einen warmen Blick zu, den er heiß erwiderte.

"Ich kam von einer Tanzstunde", erzählte sie, "eigentlich dachte ich ja, dass der Lehrer der perfekte Mann sei, doch dann kam mein Kavalier und hat mich eines besseren belehrt." Sie schnurrte regelrecht und Stefan versuchte es ihr nachzuahmen, es klang allerdings eher wie ein Schnarchen.

"Man kann Tanzstunden belegen?", wunderte Julien sich, bevor die beiden in ein privates Universum abtauchen konnten, "auch, wenn man von außerhalb kommt?" Eigentlich war das nicht verwunderlich, aber Sportkurse waren Erzählungen nach immer überfüllt.

"Es ist nicht direkt so ein Unikram", schränkte Sabrine ein, "schien eher eine privat organisierte Veranstaltung zu sein als eins von euren Seminaren. Ich fand tanzen schon immer faszinierend und habe mich daher dazu angemeldet. Dass der Tanzlehrer so ein Leckerbissen war, gab dem Ganzen die Süße, dabei zu bleiben." Hm, Tanzlehrer und Leckerbissen klang gut. Es führte Julien fast in Versuchung, selbst einmal diesen Tanzkurs zu besuchen.

"Hey, Schatz!", fluchte Stefan, "mach mich nicht nach unseren ersten Wochen schon eifersüchtig, sonst kann dieser Tanzlehrer mal sehen, ob er mit mir Schritt halten kann!" Sabrine lachte.

"Komm doch mal mit", schlug sie vor, "an männlichen Tanzpartnern mangelt es uns immer. Mach ihm allerdings bitte nicht die Hölle heiß, nach seinem Balletttraining ist er so schon froh, dass wir nicht allzu hohe Anforderungen an ihn stellen."

Ballett...

Tanzlehrer... etwas klingelte in Juliens Kopf. Abrupt stand er auf und stürmte in sein Zimmer, Sabrine und Stefan sahen ihm verwundert hinterher.

Julien wühlte in seinem Block mit den Skizzen für die Aufteilung der Bilder. Hier, diese Ausrichtung von Linien passte zu seinem neuen Bild im Kopf. Er radierte die spielenden Kinder, bzw. kleinen ovale aus und malte krumme Linien hinzu. In seinem Kopf formten sich die Linien zu einem Tänzer mit kräfitgem Oberkörper, der eine dieser typischen Ballettstellungen einnahm. Es sah großartig aus, das Bild in seinem Kopf, auch wenn es noch nicht vollständig war, irgendwas fehlte. Bisher drückte es Leichtigkeit, ein Spiel mit den Linien aus, aber seine persönliche Note war noch nicht dem Bild aufgedrückt worden...

Er schaltete den Bildschirm wieder ein und suchte nach Bildern von Balletttänzern. Da. So ein seltsames Kleid trugen die Mädchen manchmal. Wenn er das dem Tänzer anziehen konnte... Ja, das war es.

Das Spiel mit den Linien, das Spiel mit den Konventionen und die Leichtigkeit, mit diesen umzugehen. Das war es, was er schon immer hatte ausdrücken wollen. Und dazu noch die Nacht... in der man sich so vieles erlaubte, was man am Tage nicht gewagt hätte, perfekt. Das war das perfekte Bild, das er aufnehmen wollte.

Seine Finger flogen über die Tasten, als er einen Ausdruck vorbereitete, in dem er einen Tänzer darum bat, für sein Foto Modell zu stehen. Nach Vereinbarung gegen Bezahlung.
 

Leo
 

Unbeholfen manövrierte Leo die Tüten und Schachteln in seine Wohnung im dritten Stock. Ohne es sehen zu können fischte er in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel und steckte ihn beim dritten Versuch richtig ins Schloss. Heute war er guter Laune, er hatte einen weiteren Job bekommen, in einer bereits existierenden Tanzschule sollte er als Lehrer für Gruppentänze eintreten. Wenn alles gut liefe, würden sie ihn übernehmen und er dürfte dann weitere Kurse anbieten und nach Anfrage auch Einzelunterricht geben. So konnte er schon Erfahrungen für seine spätere Tanzschule sammeln.

Summend stellte er die Tüten und Kästchen neben die Tür ab und lehnte sich halb in den nächsten Raum, um zu sehen, wo Tinker und Peter blieben, seine beiden Katzen. Er sah sie nicht, daher schloss er die Tür wieder und zog sich Schuhe und Jacke aus.

"Meine Süßen, wo seid ihr denn?", rief er in die leere drei-Raum-Wohnung hinein. Von irgendwo aus dem Wohnzimmer antwortete ein müdes Maunzen. Das war wahrscheinlich Tinker. Sie machte sich eher die Mühe zu antworten, wohingegen Peter oftmals weiter schlief, bis er etwas zu Essen hervorholte.

"Es gibt etwas zu feiern, meine Kleinen", sagte er, während er die Tüten einzelnd zu der Küche trug. "Aber für verschlafene Könige wird wohl nichts übrigbleiben!" An seiner Stimme erkannten sie wohl, dass etwas Besonderes anstand, denn zunächst ließ sich Peter blicken, ein großer, braunschwarz getiegerter Kater. Er setzte sich mitten in die quadratische Küche und gähnte fordernd. Tinker kam etwas später herein geschlichen, schnupperte an dem leeren Fressnapf und strich dann um Leos Beine. Langsam kramte Leo aus einer der Tüten eine Dose Whiskas Katzenfutter hervor. Irgendwie bemerkten die beiden Schmarotzer immer, wann er etwas für sie hervor holte, denn nun stellten sie sich eifrig vor ihn hin, schnurrten und hatten ihn plötzlich furchtbar lieb. Er öffnete die Dose und sie rochen den Inhalt, maunzten voller Vorfreude und versuchten, an den Inhalt zu kommen. Leo lachte, hielt die Dose in unerreichbare Höhe und kraulte Tinker und Peter, bis sie sich an ihn schmiegten und nur noch begehrliche Blicke zu der Dose warfen. Dann nahm er sich einen Löffel und füllte ihnen großzügige Portionen in ihre Näpfe.

"Aber schön teilen", warnte er sie, "Peter, wenn ich noch einmal mitbekomme, dass du Tinker das Essen klaust, geb ich dir demnächst weniger und sperr dich aus der Küche aus, bis Tinker aufgefressen hat." Dann machte er selbst sich ein kleines Festmahl, nahm es mit ins Wohnzimmer und schaltete den "Herrn der Ringe" an. Nachdem er den leeren Teller sauber geschleckt hatte, gesellte sich Peter zu Leo und kuschelte sich schnurrend in dessen Schoß. Tinker kam bei der Szene, in der Pippin und Merry von Elrond entdeckt wurden und zur Gemeinschaft des Rings hinzugenommen wurden. Sie schob Peter ein Stück zur Seite, trat Leos Knie weich und rollte sich dann ebenfalls zu einem Bündel Katzenhaare zusammen. Beim Abspann nickte Leo über seinen beiden Mitbewohnern ebenfalls in einen leichten Schlummer ein.

Modellsuche


 

Julien
 

Nach der Vorlesung über zeitgenössische Fotographie stürmte Julien zum schwarzen Brett in der Mensa, um nachzusehen, ob sich schon jemand einen der Schnipsel mit der Telefonnummer abgerissen hatte. Er hatte seinen Aufruf an beinahe jedes schwarze Brett in der Uni gehängt und zudem noch über die Maillisten laufen lassen, doch bisher hatte sich niemand gefunden, der sich in ein Tütü, denn so hieß dieses Kleid, stecken lassen wollte. Frustriert sah er, dass es auch dieses Mal immer noch alle Zettelchen vorhanden waren.

"Warum meldet sich denn niemand?", beschwerte er sich bei Stefan, der schlurfend nach ihm die Mensa erreichte. Im Schlepptau hatte er Sabrine dabei, die am selben Tag noch den Tanzkurs hatte. Gemeinsam reihten sie sich in die Schlange vor der Essensausgabe ein.

"Würdest du dich in ein Tütü stecken lassen", fragte Stefan, "fotografieren lassen und dann dieses Bild sogar noch möglicherweise im ganzen Studiengang Fotographie bekannt werden lassen?" Natürlich war das aus Stefans Mund so etwas wie die Verdammnis zum Unmännlich sein. Dabei hatte das doch alles nichts mit Männlichkeit zu tun.

"Naja", räumte Julien ein, "wahrscheinlich nicht." Er seufzte. War sein Vorhaben denn zum Scheitern verurteilt? Er sah das Bild doch immer noch so deutlich vor seinem geistigen Auge. Konnte das der Fall sein, wenn es nicht zustande kommen sollte?

"Siehst du", stimmte Stefan zu. Er ließ sich von der Mensafrau eine doppelte Portion Fleisch aufladen.
 

Leo
 

Irgendwie musste er sich endlich dazu durchringen, Ballett lieben zu lernen. Herr Müller lobte ihn für seine Technik, verfluchte ihn jedoch in diesem scheußlichen Pseudofranzösisch für seine Steifheit und Ausdruckslosigkeit. Immerhin versuchte eine der Blondinen mit ihm anzubandeln. Vielleicht half ihm die Beziehung zu einer stärkeren Bindung zum Tanz selber.

Auf dem Weg zur Uni dachte er über Herrn Müller und die Blondine nach. Da er heute nicht so sehr geschwitzt hatte, hatte er nur kurz geduscht und war schon etwas eher am Campus als erwartet. Unschlüssig, was er tun sollte, ging er zu dem Raum, in dem er die Tanzstunde halten würde. Ein junger Mann und eine der Frauen aus seinem Kurs warteten bereits vor der Tür und unterhielten sich angeregt. Als sie bemerkten, dass er sich ihnen nährte, wandten sie sich ihm zu.

"Leo", sprach ihn die Frau an, "ist es in Ordnung, wenn mein Freund Stefan heute reinschnuppert?" Sie sah ihm dabei tiefer in die Augen als es eine vergebene Frau normalerweise tun würde.

"Männer sind bei mir immer willkommen", scherzte Leo zweideutig. Er hatte den Frauen angeboten, ihn Leo zu nennen, weil er sich noch nicht daran gewöhnen konnte, "Herr Scherbenwert" genannt zu werden. Außerdem brauchte man beim Tanzen eine gewisse Lockerheit, die er befürchtete, dass sie verloren ging, wenn man zu formell wurde. Die Bemerkung brachte ihm von dem Freund einen merkwürdigen Blick ein. Bevor er allerdings erklären konnte, dass er auf Frauen stehe, ergriff der junge Mann das Wort.

"Haben Sie schon die Suche nach einem Modell gesehen?", fragte er. Leo legte den Kopf schief. Er war Tänzer, kein angehendes Modell.

"Nein", antwortete er, "warum sollte mich das interessieren?"

"Weil ein Freund verzweifelt auf der Suche nach jemandem ist, der sich in ein Tütü stecken lässt", erklärte Stefan mit einem kaum unterdrückten Lachen. Nun, Tütüs waren für Leo kein allzu großes Problem, bei Tänzen trug man allerlei seltsame Kleidung. Er musste nur an die typische Hula-Kleidung denken und ein Tütü ging fast als normal durch.

"Ich kann es mir ja mal durch den Kopf gehen lassen", ließ er seine Meinung im Unklaren. Die Miene des jungen Mannes hellte sich auf.

"Super", strahlte er, "ich habe mir erlaubt, seine Kontaktdaten mal mitzubringen." Er kramte aus seiner hinteren Hosentasche ein leidlich mitgenommenes Stück Papier. Mehr ein Fetzen als ein wirkliches Papier. Leo nahm es skeptisch entgegen und warf einen Blick darauf. Eine Telefonnummer und eine E-Mailadresse sowie "Tanzmodell" standen darauf. Nun, immerhin würde er sich merken können, wofür es da war.

"Dann melde ich mich bei deinem Freund", sagte Leo und steckte das Papier in seine Tasche mit den Sportsachen, die er beim Ballett getragen hatte.
 

Die Tanzstunde verlief nicht ungewöhnlich, der Freund der Frau hatte wenig Talent zum Tanzen, andererseits hatten das die wenigsten. Er allerdings hatte, wie dem männlichen Geschlecht meistens nachgesagt wurde, auch wenig Interesse daran.
 

Julien
 

Müde saß Julien im Bus zum Uniwohnheim. Den verbleibenden Tag über war er durch die außerhalb gelegenen Stadtteile gefahren, auf der Suche nach dem perfekten Hintergrund für sein Bild. Dabei hatte er einige heruntergekommene Gebäude gefunden, die an sich schon ein schönes Motiv abgegeben hatten. Zu seiner Freude und dem Leid seiner schmerzenden Füße war er auf ein stillgelegtes Industriegebiet gestoßen, auf dem noch einige Kräne herumstanden, Lagerhäuser, die halb eingefallen waren und Balken überall verstreut. Sie gaben die Linien beinahe genau so wider, wie er sie sich vorgestellt hatte. Natürlich hatte er den Ort bereits aus verschiedenen Winkeln fotographiert, um ein Gefühl für ihn zu bekommen. Er wusste bereits ein, zwei Stellen, an denen er gerne sein Modell aufstellen würde, wenn denn jemals eins käme.

Nachdem er ausgestiegen war, überkam ihn der Impuls, noch einmal nachzusehen ob schon wer seine Kontaktdaten mitgenommen hatte. Also schlurfte er in die Mensa, seine müden und wunden Füße versuchend zu ignorieren. Das schwarze Brett sah nahezu unverändert aus, als er seinen Aushang gefunden hatte, stockte ihm jedoch kurz der Atem. Ein Schnippsel fehlte. Der ganz rechts war von irgendjemandem nicht gerade feinfühlig abgerissen worden. Begeistert machte Julien ein Beweisfoto und eilte, auf nicht mehr schmerzenden Füßen, zu Stefan.

Er schlug die Wohnungstür elanvoll auf und hielt seine Kamera wie den heiligen Gral in die Höhe.

"Stefan", rief er in die Wohnung, "Stefan!" Aus dem Zimmer des gesuchten blickte ein müdes Gesicht zu ihm.

"Was schreist du denn so?", verlangte Stefan zu wissen und rieb sich die Augen. Julien hielt ihm die Kamera unter die Nase, mit dem ausgewählten Beweisbild.

"Sieh!", jubelte er, "jemand hat Interesse an dem Aushang gezeigt!" Stefan rieb sich einmal mehr die Augen und schielte auf den Flüssigkristallbildschirm.

"Oh", meinte er, "das war ich." Enttäuschung machte sich in Julien breit. Langsam ließ er die Kamera sinken.

"Oh", wiederholte er tonlos. Stefan klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

"Aber Kopf hoch, Alter", meinte er, "ich hab es diesem Tanzlehrer gegeben, du weißt schon, dem, von dem Sabrine erzählt hat. Hat übrigens wirklich nen geilen Arsch für nen Kerl." Julien glaubte, sich verhört zu haben.

"Seit wann interessierst du dich für die Ärsche von Kerlen?", wollte er wissen. Stefan grinste ihn an und Julien wusste, dass er ihn gerade auf den Arm genommen hatte.

"Aber ehrlich, der hat Interesse an deinem Tütü gezeigt", meinte er selbstbewusst. "Wirst sehen, der meldet sich bei dir." Julien wollte ihm gerne glauben.

"Na, wenn weiter nichts ist, leg ich mich wieder hin", gähnte Stefan, "Hab morgen früh eine Veranstaltung." Julien kicherte. Stefan musste eine Grundlagenveranstaltung wiederholen, die er verpatzt hatte, weil er lieber mit der Übungsleiterin geflirtet hatte als sich auf den Stoff zu konzentrieren. Das Grinsen brachte ihm einen bösen Blick ein, doch heute konnte ihm nichts mehr die Stimmung verderben. Er hatte den perfekten Platz und jemand hatte seine Adresse genommen und der war sogar ein richtiger Tänzer, der Ballettunterricht nahm.

Terminvereinbarung


 

Leo
 

Heute war ein mieser Tag. Es goß in Strömen wie um seinen Gemütszustand auszudrücken, jemand hatte ihm sein Handy geklaut und das schlimmste war, dass die Tanzschule kurz vorm Konkurs stand und ihn deshalb doch nicht einstellen konnte. Wo war das bloß her gekommen? In letzter Zeit war doch alles bisher so gut gelaufen!

Als er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss schmetterte und nicht wie sonst fragte, wo seine Katzen waren, verkrochen diese sich in der hintersten Ecke des Sofas. Sie hatten ja keine Schuld. Aber wenn er in so einer Stimmung war, schnauzte er alles an, was sich ihm nährte. Im Bad zog er sich die plitschnasse Kleidung vom Leib und versuchte, sich unter der Dusche ein wenig zu entspannen. Nur mit einem Handtuch auf dem Kopf beschloss er, ein wenig Ordnung in seiner Wohnung zu schaffen. Meistens half es, die Gedanken zu sortieren, wenn man die Wohnung sortierte. Also machte er sich wie ein Wahnsinniger ans putzen.

Zuerst saugte er, dann wischte er, dann putzte er die Küche. Kurz, bevor er das Bücherregal ausräumte und neu einsortierte, fiel ihm ein, dass er noch Wäsche waschen konnte. Also stampfte er zu dem Wäschekübel und schmiss alles heraus und vor die Waschmaschine, was darinnen war. Dabei flatterte ein zerknitterter, ungleichmäßiger Schnipsel auf den Boden. Furios wollte er ihn erst zerreißen, doch dann war er neugierig und faltete ihn auseinander.

Eine Mailadresse, Telefonnummer und "Tanzmodell" standen darauf. Irgendwas sollte das ihm sagen, er setzte sich zwischen die schmutzige Wäsche und überlegte.

Ach so. Der junge Mann und dieses seltsame Tütü-Foto. Er legte es auf den niedrigen Schrank neben das Telefon. Dann stopfte er die Wäsche in die Maschine, öffnete eine Dose für Tinker und Peter und sah ihnen beim Fressen zu. Natürlich versuchte Peter, Tinker etwas zu klauen, weshalb er ihn auf den Arm nahm und trotz lauter Proteste anfing durchzukraulen. Als Tinker fertig gefressen hatte und Peter aufhörte zu maunzen, ließ er ihn wieder gehen.

Nachdem er die Wäsche in den Trockner gesteckt hatte, nahm er sich den Zettel noch einmal vor. Vielleicht kühlte sich sein Gemüt weiter ab, wenn er mit jemandem sprach. Er wählte also die Nummer, die auf dem Fetzen stand und wartete.

"Ja?", meldete sich die Stimme einer alten Dame.

"Ähm", meinte Leo und fragte sich, ob er wirklich richtig verbunden war, "ich rufe wegen des Fotos an, für das Sie einen Tänzer gesucht haben. Bin ich da bei Ihnen richtig?"

"Was?", fragte die Frau erstaunt, "Welches Foto? Nein, ich befürchte, da haben Sie sich verwählt, junger Mann."

"Dann entschuldigen Sie bitte die Störung", meinte Leo und legte auf. Na toll. Nichtmal das wollte heute klappen. Er ließ Telefon und Zettel sinken und starrte ins nichts. Dann fixierte er den Fetzen, als sei er Schuld an all dem Unglück, das ihm in letzter Zeit widerfahren war.

"Mach wenigstens etwas wieder gut, wenn du Schuld bist", grummelte er ihn an und wählte erneut die Nummer, wobei er diesmal acht gab, dass er die Zahlen richtig eingab. Er hatte wohl beim ersten Mal eine neun für eine acht gehalten, weil die Knicke unvorteilhaft und von Schweiß nachgezogen worden waren. Diesmal klingelte es mehrmals, bis jemand dran ging.

"Hallo, Sie sind mit Julien Starbrand verbunden." Eine Männerstimme, schon besser. Aber hieß der junge Mann nicht anders? Oh, richtig, er hatte den Zettel ja für einen Freund weiter gegeben.

"Guten Abend, hier ist Leo Scherbenwert", stellte Leo sich vor, "ich rufe an wegen des Fotos für das Sie einen Tänzer suchen. Da bin ich bei Ihnen doch richtig, oder?" Auf der anderen Seite unterdrückte jemand einen Freudenschrei.

"Ja!", bestätigte man ihm begeistert, "ja, da sind Sie hier richtig. Ähm, Sie kennen das Motiv, das ich fotographieren möchte?" Kam direkt zum Punkt und verstellte sich nicht. Das war schonmal kein schlechter Anfang. Zumindest würde Leo mit diesem Ju-wie-nochmal reden können.

"Sie wollen", rekapitulierte er, "jemanden, der sich nicht schämt, in ein Tütü zu schlüpfen."

"Stimmt", antwortete das Telefon, "ich plane, einige Ballettposen in einem Industriegebiet bei Nacht zu fotographieren. Für ein Uniprojekt, falls Ihnen das weiterhilft. Wenn Ihnen das zu viel Aufwand ist, können wir auch eine Entschädigung oder Belohnung verhandeln, je nachdem, wie Sie das sehen möchten." Wurde ja immer besser. So konnte er immerhin wieder zu ein wenig Geld kommen. Wahrscheinlich jedoch nicht viel.

"Da würde ich nicht nein sagen", meinte Leo, "wäre es außerdem möglich, die Bilder mir zukommen zu lassen?" Wenn schon mal ein Fotographiestudent von ihm Bilder machte, dann wollte er wenigstens das Ergebnis sehen. Und rumzeigen können, falls es sich sehen lassen konnte.

"Oh, ja, klar", kam von der anderen Seite. Anscheinend hatte man nicht erwartet, dass jemand Bilder von sich im Tütü haben wollen würde. "Wären 20 € in Ordnung? Pro Sitzung, denke ich. Beziehungsweise Stehung, oder wie Sie das nennen."

"Wie lange müsste ich denn Modell stehen?", wollte Leo wissen und lehnte sich in sein Lieblingssofa. Peter kam auf seinen Schoß gesprungen und fing an zu schnurren.

"Das kommt darauf an, wie zufrieden ich mit dem Ergebnis bin", gestand der junge Mann, "ich schätze, es sollte zwischen einer halben und zwei Stunden liegen." Zehn Euro pro Stunde also im schlimmsten Fall. Nun, das war zwar kein Spitzenhonorar aber besser als nichts.

"In Ordnung", stimmte Leo zu. Er begann, Peter zu kraulen. Wie immer, wenn sie Peter schnurren hörte, dauerte es nicht lange, bis Tinker sich ebenfalls auf seinen Schoß schwang und gekrault werden wollte. Mit dem Telefon in einer und Peter quasi in der anderen Hand war das etwas schwierig.

"Gut", sagte das Telefon, immer noch aufgeregt, "ähm, wissen Sie, wo das alte Industriegebiet ist? Übermorgen ist laut Wettervorhersage klar, würde Ihnen das passen, dann gegen 10 Uhr abends dort mich zu treffen?" Oweh. Wie sollte er sich denn nun Notizen machen? Er versuchte sanft, Tinker und Peter von seinem Schoß zu werfen. Natürlich mit mäßigem Erfolg und lautem Gemaunze.

"Sie haben Katzen?", kam überflüssiger Weise die Frage von der anderen Seite.

"Ja, zwei", antwortete Leo. Er suchte einen Zettel und einen Stift, während Tinker und Peter sich gegenseitig putzten, um sich zu trösten.

"Als ich kleiner war, hatten wir auch eine", erzählte der junge Mann, "sie wurde ganz fett und faul. Und unbelehrbar." Da war ein leichtes Lachen in der Stimme, aber auch irgendwie eine Traurigkeit. Wahrscheinlich war die Katze gestorben. Dennoch faszinierte es Leo, dass ein Mann so an einem Tier hängen konnte. Sicher, er mochte Tinker und Peter gerne, doch wenn sie starben, würde er wahrscheinlich nicht länger als zwei Wochen um sie trauern. Und sich dann neue zulegen. Oder so.

"Okay, ich habe nun etwas zu schreiben", teilte er seinem Gesprächpartner mit, "Können Sie noch einmal wiederholen, wo ich sein soll? Übermorgen, richtig?"

"Ja", kam die Stimme, "gegen dreiundzwanzig Uhr, am alten Industriegebiet." Leo schrieb es auf einen Zettel und versuchte ihn mit einer Hand an den Kalender neben dem Fernseher zu klemmen.

"Gut", meinte er, "sonst noch etwas?" Betretenes Schweigen von der anderen Seite. Dann:

"Können Sie ein Tütü mitbringen?" Leo musste ein lautes Lachen unterdrücken. Irgendwie amüsierte ihn dieser junge Mann, der ein Foto von einem anderen Mann in Tütü machen wollte, sich aber nicht traute, eins zu besorgen.

"Klar", antwortete Leo und hoffte, dass in seiner Stimme keine Spur mehr von seiner Erheiterung zu hören war, "das sollte kein Problem sein."

"Gut, vielen Dank", meinte der Student, "dann bis übermorgen."

"Bis übermorgen", verabschiedete Leo sich und legte auf. Dann wandte er sich Tinker und Peter zu. "Hört sofort auf, beleidigt zu sein!"
 

Julien

Noch immer stand er wie erstarrt mit dem Telefon in der Hand in seinem Zimmer. War das gerade wirklich passiert? Jemand hatte sich wirklich für sein Bild bereit erklärt? Dann rannte er aus seinem Zimmer und riss die Tür zu Stefans auf.

"Er hat angerufen!", schrie Julien und weckte damit Sabrine, die sich bereits ins Bett gekuschelt hatte. Seine Augen waren jedoch nur auf Stefan gerichtet, der von seinem Schreibtisch aufblickte.

"Kann nich sein", meinte Stefan irritiert, "haben wir nicht erst letztens festgestellt, dass der Weihnachtsmann nicht exisitert?" Julien lachte laut auf.

"Nicht der Weihnachtsmann, du Doofi", erklärte er, "Herr Scherbenwert, der Tanzlehrer! Wir haben abgemacht, dass wir ein paar erste Bilder übermorgen machen! Boah, Mann, ich bin so aufgeregt!" Er vollführte einen kleinen Freudentanz, der neben Stefans Stuhl endete. Stürmisch umarmte er seinen Mitbewohner und zottelte dessen Haare.

"Das hab ich einzig dir zu verdanken." Ein empörtes Schnauben kam aus dem Hintergrund und riss Julien aus seinem Siegestaumel.

"Ich hab ja wohl mindestens auch etwas dazu beigetragen", beschwerte sich Sabrine gereizt, "also wenn du mich schon um diese Uhrzeit wecken musst, dann danke mir gefälligst angemessen!" Julien grinzte breit, entließ Stefan aus seinen Armen und stürzte sich auf Sabrine. Sie versuchte quiekend auszuweichen, doch es war zu spät, Julien landete auf ihr.

"Danke, danke, danke!", sang er, während er Arme und Beine um sie schlang und versuchte, ihr lachend Küsse auf Wange und Stirn zu setzen. Frauen küssen stellte er sich zwar im Allgemeinen eklig vor, doch heute war das mal eine Ausnahme. Heute war nichts mehr eklig.

"Hey, hey", mischte sich Stefan ein, "das ist immer noch meine Freundin." Und er sprang zu ihnen ins Bett, sodass es in eine wilde Rauferei ausartete. Julien bekam nicht selten das ein oder andere Bein ins Gesicht oder Ellenbogen in den Magen, doch selbst das kühlte seine Stimmung nicht ab. Als Stefan quer über seinem Bauch lag, über diesem wiederum Sabrine, mussten alle drei keuchend lachen. Nun, bei Sabrine klang es eher wie der Versuch nicht zu ersticken, aber was kümmerte das Julien?


 


 

Fotosession


 

Julien
 

Den ganzen Tag hatte die Sonne geschienen, was er für ein gutes Ohmen hielt. Immerhin war heute das vereinbarte Treffen und er konnte es gar nicht abwarten, bis er Bus an der Haltestelle "altes Industriegebiet" hielt. Natürlich hatte er mit Herrn Sausebrück gesprochen, der hatte ihm dann auch gleich Kontaktdaten zum Eigentümer des Gebietes gegeben. So hatten sie die Erlaubnis, auf das Gelände zu gehen und waren sogar versichert. Gutgelaunt sprang er also aus dem Bus, die Tasche mit seiner Fotoausrüstung wieder auf seiner Schulter adjustierend.

Der Zaun zum Industriegebiet prangte vor dem fast schwarzen Himmel auf als wäre er eine Grenze in eine andere, verwunschene Welt. Das war das erste Bild, das seinen Weg heute Abend auf Juliens SD-Karte fand. Mit einer Hand am Zaun und der anderen um seine Fototasche geschlungen tänzelte er zum Eingang, einem halb verrosteten Tor. In seinem Kopf entspannen sich Serien von Bildern, die alle einen Zaun zum Thema hatten, der mit jedem Bild weiter überwunden wurde.

Neben dem einen losen Torrahmen lehnte ein Mann, dessen ganzer Körper hinausschrie: Sieh her, ich bin ein Tänzer! Sabrine hatte recht gehabt, er war wirklich ein Leckerbissen, wie er da so versunken auf etwas an seiner Hand starrte, in engen Tanzhosen und einer breiten Sporttasche über der Schulter. Die irgendwie mähnenartige Frisur verlieh ihm einen reizend raubtierhaften Auftritt.

"Herr Scherbenwert, nehme ich an?", sprach Julien den Mann an. Allerdings nicht, bevor er einige Fotos von dieser lässigen Pose am Tor gemacht hatte. Irgendwie reihte sich der halb offene Türflügel, der verrostete Zaun dahinter und der Löwe in Menschengestalt wunderbar in seine gedankliche Folge von Zaunüberwindungsbildern ein. Außerdem war der Mann nicht nur attraktiv, sondern auch noch außerordentlich fotogen. Eben ein richtiger Leckerbissen.

"Ja", antwortete er, "aber nennen Sie mich doch bitte Leo, irgendwie bin ich in meinen Nachnamen noch immer nicht richtig hineingewachsen." Hui, er sah nicht nur wie ein Löwe aus, er hieß auch noch so. Sehr passend.

"Dann nennen Sie mich auch Julien", meinte dieser, "ist bei uns Studenten ohnehin Gang und Gebe." Sie reichten sich die Hände. Leo hatte einen angenehmen Händedruck, stark vom Training und zeigend, dass sein Körper es gewohnt war, zu handeln, doch sanft genug um zu zeigen, dass er Einfühlungsvermögen besaß. Und nicht einer dieser Bodybuilderkerle war, die nur auf Stärke setzten.

"Darf ich Sie bitten, diese Einverständniserklärung zu unterschreiben?", erkundigte Julien sich und reichte Leo das entsprechende Papier, "da steht nur drauf, dass ich die Bilder von Ihnen zu meinen Studienzwecken, also zur Erhaltung der Note in meinem Projekt, nutzen darf. Sie verkaufen mir damit nicht Ihre Seele und auch keine Waschmaschinen ab." Leos Gesicht zeigte ein sanftes Grinsen. Ihm hatte der Scherz anscheinend gefallen. Seine graublauen Augen überflogen den Text, nahmen den Kugelschreiber von Julien entgegen und setzten schwungvoll eine Unterschrift auf das Blatt.

"Danke.", sagte Julien, "nun kann das Abenteuer beginnen. Ich zeige Ihnen die Stelle, an der ich Sie gerne fotographieren würde." Er führte Leo vorbei an heruntergekommenen Lagerhallen und einer Aufsichtshütte. Den Weg um die teilweise blockierten Durchgänge und durch die ansonsten verwinkelten Gassen hatte er sich am Tag zuvor noch einmal gesondert angeschaut, damit sie nicht ewig herumirren mussten.
 

Leo
 

Der kleine Student führte ihn an verrosteten Häusern vorbei, deren Kanten bestimmt scharf waren. Wie er sich hier zurechtfinden konnte, war Leo ein Rätsel, doch zeugte von einer guten Vorbereitung. Insgesamt war Julien - Leo nahm sich fest vor, sich den Namen diesmal zu merken - ein sympathischer Zeitgenosse. Er bewegte sich etwas unbeholfen, doch mit Elan und Lebensfreude. Sicher gäbe Julien einen talentierten Walzertänzer ab. Wie er die Tasche mit seiner Kamera umklammert hielt zeigte, wie wichtig ihm das Gerät war und wie viel Aufmerksamkeit er seinem Studienthema widmete. Julien war also durchaus mit Herz bei der Sache, die er tat.

Auf einem freien Platz vor einigen Kränen hieß er sie anhalten. Leo schaute sich um und stellte fest, dass diese Umgebung durchaus etwas Ästhetisches hatte. Auf dem Boden lag ein herabgestürzter Balken, der als eine Art Stufe dienen konnte. Hier konnte man wirklich einige gelungene Posen üben. Julien schien ein gutes Auge zu haben.

"Soll ich mir dann das Tütü anziehen?", erkundigte Leo sich und sah sich nach einem halbwegs abgeschotteten Fleckchen um. Der Student schien nämlich die Angewohnheit zu haben, hin und wieder einfach die Kamera in eine Richtung zu halten und abzudrücken. Nicht, dass es ihm etwas ausmachen würde, von ihm beim Umziehen angesehen zu werden, irgendwie war diese Vorstellung angenehm, aber das musste er ja nicht allzu offen zeigen.

"Ja, bitte", bestätigte Julien, der einige Dinge aus seiner Tasche zerrte. Leo stellte seine Tasche an der Seite eines dieser Lagerhäuser ab und kramte den rosanen Anzug daraus hervor. Bei Nacht würde man die Farbe wahrscheinlich schlecht sehen, aber er hatte sich gedacht, wenn jemand schon so eine verrückte Idee hatte, dann musste da auch ordentlich mitgespielt werden. Schnell entledigte er sich seiner Kleidung und schlüpfte in den engen Anzug. Dann holte er das eigentlich wesentliche hervor, den Tüllrock. Er hatte das Tragen mit einigen Knicken überstanden, die Leo mit etwas entgegenfalten herausbekommen konnte. Nachdem er ihn sich übergestreift hatte, schnürte er um seine Füße die Ballettschuhe mit verstärkter Spitze. Aus Gewohnheit tänzelte er zu Julien herüber. Dieser hatte ein wahres Wunderwerk von dreibeinigem Gestell aufgebaut, dazu einen Schirm, eine Lampe und eine Decke auf den Boden und über den herabgestürzten Balken.
 

Julien
 

Nachdem er die Decke zum Schutz vor Schmutz und Splittern über den Balken ausgelegt und sich vergewissert hatte, dass sie später auf dem Foto nicht mehr zu sehen sein würde, wollte er die Ausrichtung seines Stativs noch einmal überprüfen. Da fiel ihm auf, dass Leo neben dem Dreifuß stand und sich diesen und den Belichtungsschirm besah. Selbst im Tütü strahlte er noch eine gewisse Männlichkeit aus. Julien konnte nicht umhin, die Beine und kräftige Bauchmuskulatur zu bewundern, die Leo sich durchs Tanzen antrainiert hatte. Ungewollt entfuhr ihm ein bewundernder Pfiff. Leo blickte auf als hätte er zwar eine Reaktion erwartet, diese jedoch aus Gelächter oder Amüsement bestand.

"Das sieht gut aus", lobte Julien. Er konnte seinen Blick nicht lange von dem herrlichen Körper reißen, den Leo besaß. Trotzdem versuchte er, ihm so viel wie möglich in die Augen zu sehen.

"Seltsame Reaktion", meinte Leo, "die meisten müssen sich zusammenreißen, sich nicht auf dem Boden zu kringeln." Konnte Julien auch verstehen, immerhin war es ein albernes Kleid. Doch Leo trug es wie eine zweite Haut und mit so viel Selbstvertrauen als wüsste er, dass er tragen konnte was er wollte und dennoch gut darin aussah.

Ups.

Julien riss seinen Blick nach oben. Und war überrascht. War das ein anerkennender Ausdruck in den Augen Leos? Das hatte er sich bestimmt nur eingebildet.

"Nun, ich bin nicht die meisten", antwortete er schlicht, "Können Sie irgendwie so eine Pose machen?" Er versuchte, eine der Tanzstellungen, die er im Internet gefunden hatte, nachzuahmen. Beinahe stolperte er. Wenn Leo ihn nun aufgefangen hätte, wäre er ihm genauso verfallen wie Sabrine es bei Stefan passiert war. Der Tänzer allerdings ließ ihm die Eigenständigkeit, sich selbst wieder zu fangen und nahm die Pose ein, die Julien gemeint hatte.

Schade.

"Genau, die meine ich", freute er sich und deutete dann schräg zu dem Balken, "wenn Sie sich bitte hierher stellen?" Leo tänzelte diesen typischen Ballettschritt zu der Stelle, die Julien ihm gewiesen hatte und stellte sich wieder dort auf. Er war ein Naturtalent im Posieren für die Kamera. Genau der richtige Winkel, um ein gutes Bild abzugeben. Julien machte zunächst einige mit kurzer Belichtigungszeit und hoher ISO-Empfindlichkeit. Dann schraubte er die Belichtungszeit hoch und ISO-Empfindlichkeit etwas herunter.

"Wie lange können Sie so stehen bleiben?", fragte er vorsichtshalber nach.

"Ewig", meinte Leo. Er sah auf jeden Fall so aus als meinte er es ernst. Julien klemmte also die Kamera auf das Stativ und ließ die Kamera ohne Bedenken das Bild machen. Nach zwei weiteren Fotos dachte er, dass es nun genug war und bat Leo, eine andere Pose einzunehmen. Auf dem Balken, eine andere Tanzstellung. Julien versuchte wieder sie zu zeigen, scheiterte allerdings daran. Zum Glück fasste Leo auch diesmal sein Zappeln richtig auf und stellte sich entsprechend hin.
 

Leo
 

Es war amüsant, Julien dabei zuzusehen wie er versuchte, Ballettposen vorzumachen. Wackelig auf einem Bein stehend konnte er nur gerade so eben die Balance für wenige Sekunden halten. Dennoch blieb er zuversichtlich und selbstbewusst. Schon beeindruckend. Irgendwie gab ihm das die Motivation, die Posen ernster zu nehmen als bei Herrn Müller.

Während er so auf dem Balken stand und in die Umgebung starrte, bemüht ungezwungen und frei zu wirken, klickte die Kamera. Nach fünf Bildern schlug er selber eine Stellung vor, die ihm passend erschien, weil sie seiner Meinung nach eine Verbindung zwischen den einzelnen Kanten der Umgebung herstellte. Julien schien das zu gefallen, also knipste er ihn noch weitere Male.

Nach diesen Bildern baute er das Stativ ab und Leo dachte schon, dass sie nun fertig seien. Doch Julien erklärte ihm, dass er noch eine andere Stelle gefunden habe, die sich eignen sollte. Sie trugen also ihre Taschen erneut durch das Gewirr aus halb eingefallenen Wegen. Leo lief Julien hinterher, der dankbarerweise eine Taschenlampe dabei hatte. Das Licht ließ seine Silhuette hervorstechen, und Leo versenkte sich in das Bild des zu beiden Seiten erstrahlenden Lichtes. Es wirkte angenehm, wie ein Engel, der ihm den Weg durch eine dunkle Welt führte. Nun, die Welt war dunkel und Julien führte ihm den Weg, aber war er ein Engel? In diesem Moment hätte Leo dies nicht verneinen können.
 

Julien
 

Gegen halb eins gingen sie nebeneinander wieder den Weg zurück. Zu gerne hätte er einfach zur Seite gegriffen und Leos Hand genommen, aber er wagte es nicht. Immerhin hatten sie sich bis jetzt gut verstanden, das wollte er sich nicht verscherzen. Auch nicht, wenn sie sich wahrscheinlich nie wieder sehen würden. Leise und ohne es sich anzumerken seufzte Julien.

"Haben Sie eigentlich einmal Ballettunterricht genommen?", erkundigte sich Leo plötzlich. Julien schüttelte den Kopf. Ob er den Seufzer mitbekommen hatte? Hoffentlich nicht.

"Nein, ich habe mich im Internet erkundigt", gab er zu, "und war erstaunt, was es nicht alles gab!" Tatsächlich hatte er einige Stunden versucht, die Positionen nachzuahmen um sie beschreiben zu können. Die seltsamen Namen, die sie hatten, hatte er sich einfach nicht merken können, wie so häufig. Bilder gingen leichter in seinen Kopf.

"Dafür waren die Stellungen gut", lobte Leo, "Sie scheinen Talent zu haben." Julien errötete, was man dank der Dunkelheit zum Glück nicht sah. Reiß dich zusammen!, dachte er. Das war doch nur freundlich gemeint gewesen und du denkst gleich weiter.

"Bloß ein graphischs Gedächtnis", nuschelte er und rieb sich verlegen den Hinterkopf. Aus den Augenwinkeln meinte er zu sehen, dass Leo ihm ein warmes Lächeln schenkte. Nur freundlich gemeint, ermahnte er sich. Das hat nichts zu bedeuten.

Oh.

Er hatte Leo noch gar nicht das vereinbarte Geld gegeben. Verlegen kramte er in seiner Tasche. Dabei meinte er neugierige Blicke auf sich zu spüren. Naja, war bestimmt auch seltsam, an dieser Stelle nach etwas zu suchen. Zwei Biegungen vor dem Tor fand er endlich die Scheine.

"Hier, ich hab Ihnen doch zwanzig Euro versprochen", meinte Julien und reichte das Geld an Leo weiter. Der nahm es entgegen und wirkte nachdenklich.

"Danke", kam es etwas verspätet, "wollen Sie meine Addresse, damit Sie mir Abzüge schicken können?" Leos Addresse zu bekommen wäre einmalig. Nun, er würde sie wahrscheinlich bloß an seine Wand hängen und davon träumen, vorbei zu gehen, aber das wäre doch auch lohnenswert.

"Gerne", antwortete er daher, "ich denke, ich werde sie in ein, zwei Tagen aussortiert und gedruckt haben. Das heißt, sie müssten spätestens in drei Tagen bei Ihnen sein." Und dann wäre der Kontakt gänzlich vorbei. Erneut gestattete sich Julien einen Seufzer. Naja, immerhin hatte er die Bilder und mit ihnen eine schöne Erinnerung. Mit der Dunkelheit und der Zweisamkeit durch die sie entstanden waren, hatten sie etwas Romantisches an sich. Achja, und nebenbei bedeuteten sie eine gute Note im Projekt. Was allerdings heute Nacht irgendwie in weite Ferne gerückt schien. Schon seltsam, wo er sich doch so auf das Bild gefreut hatte und wie schnell es an persönlichem Wert für ihn verloren hatte.

Am Tor standen sie eine Weile unschlüssig herum. Julien trat von einem Fuß auf den anderen und wollte sich irgendwie noch nicht verabschieden. Er hatte die Hoffnung, dass es Leo ebenso ging, ansonsten wäre er schon gegangen, oder?

"Naja", sagte Leo mit einem Blick auf seine Uhr, "ich muss in die Richtung, mein Bus sollte gleich kommen." Julien folgte dem weisenden Finger, obwohl er schon enttäuscht festgestellt hatte, dass es die andere Richtung war als die er nehmen musste.

"Oh", antwortete er. Er hoffte, dass man ihm seine Enttäuschung nicht anhören würde. "Dann müssen wir uns hier wohl schon verabschieden. Ich muss den anderen Bus nehmen, der zur Uni fährt. Ich wohn da im Wohnheim, also sozusagen schon auf dem Campus."

"Vielleicht sehen wir uns dann mal?", fragte Leo wie aus heiterem Himmel. "Immerhin gebe ich Tanzkurse an der Uni. Ach, das hat dir bestimmt schon dein Kommilitone erzählt, nicht?"

"Joa", schränkte Julien ein, "seine Freundin wars. Sie ist bei dir im Kurs." Leo schien sich nur schemenhaft an sie zu erinnern, wie er so in die Ferne blickte. Vielleicht lag es aber auch nur am Licht und Julien bildete sich etwas ein.

"Ach, stimmt ja", rekapitulierte er, "sie sind zusammen gekommen und dein Freund hat mir den Zettel gegeben."

"Hmhm", bestätigte Julien, "hat er mir erzählt. Ich wollte erst nicht glauben, dass du wirklich anrufst. Hat mich riesig gefreut. Ich hab sogar einen Freudentanz aufgeführt."

Ups.

Das klang hoffentlich nur in seinen Ohren halb verliebt. Leo schien es allerdings eher zu amüsieren als bei ihm seltsam anzuecken.

"Den hätt ich gern gesehen", lachte er. Dann streifte sein Blick Juliens Uhr. "Ohnein, ich muss mich nun aber wirklich sputen, wenn ich heute noch nach Hause kommen will."

Bevor Julien Gelegenheit dazu hatte, zu antworten, wurde er von Leo überrumpelt. Plötzlich hielt dieser ihn nämlich in den Armen und drückte ihn einmal kurz an sich. Das verschlug ihm derart die Sprache, dass er nur tölpelhaft hinter dem Tänzer herwinken konnte, als er einen kleinen Sprint einlegte, um seinen Bus noch zu erreichen.

Heimweg


 

Julien
 

Irgendwie war er in den Bus gekommen. Hier saß er nun, nahm kaum die ohnehin fast unsichtbare Strecke wahr und verweilte im Geiste bei dem Gespräch mit Leo. Und der Umarmung. Hatte das was zu bedeuten? Umarmte er seine Freunde? War es mehr?

Er rief sich sämtliche Gespräche noch einmal ins Gedächtnis und suchte nach Anzeichen. Anzeichen dafür, dass Leo vielleicht an Julien interessiert sein könnte. Es waren einige da, das konnte er nicht leugnen. Wie er ihn manchmal angesehen hatte. Interessiert, neugierig und anerkennend. Oder bildete er sich das gerade nur ein?

Bestimmt!

Es konnte doch garantiert nicht sein, dass dieser gutaussehende, begabte, herzliche, wundervolle Tänzer ausgerechnet Julien interessant finden sollte. Bloß, weil er es sich wünschte, würde es noch lange nicht wahr werden. Bestimmt wartete auf ihn zu Hause eine hübsche Brünette, die das Bett warm gehalten hatte und ihn mit offenen Armen empfing.

Julien schüttelte sich. Wahrscheinlich war es so. Auch, wenn er es nicht wahr haben wollte, sollte er sich doch der Realität stellen und keine Hoffnungen machen. Er versuchte geschlagene fünf Sekunden, an etwas anderes zu denken. Die Bilder mussten nun sortiert werden, die verwackelten darauf geprüft, ob man sie noch retten konnte und die übrigen auf Parallelität des Randes zum Boden. Schlimmstenfalls musste er das ein oder andere am Computer nachbearbeiten, um Leo in die Mitte zu rücken.

Seine Arme waren so warm um seine Schultern gewesen. Und Leos muskulöser Körper hatte sich einen Moment an ihn geschmiegt, als sei er dafür geschaffen worden. Ob ihm aufgefallen war, dass Julien es gefallen hatte? Oh Gott, hoffentlich hatte er ihn dadurch nicht vor den Kopf gestoßen! Dann würde er ihn bestimmt nicht wieder sehen wollen. Aber er hatte doch gesagt, dass sie sich vielleicht mal sehen könnten? Und er war außerdem nicht gleich zur Bushaltestelle gegangen, sondern hatte riskiert, zu spät zu kommen, um noch mit Julien zu reden. Das musste doch irgendwas heißen. Zudem hatte er ihn für seine gute Imitation der Ballettstellungen gelobt. Das machte er doch nicht leichthin, oder? Immerhin war er Tanzlehrer. Da wusste er bestimmt, wann es angebracht war, Lob zu verteilen und wann Kritik. Ohnein, hatte er ihn am Ende nur gelobt, um ihn dazu zu bringen, sich mehr mit dem Thema auseinander zu setzen, sodass seine Haltung nicht mehr so grauenhaft sein sollte? Aber das hieße ja andererseits auch, dass Leo vielleicht wollte, dass Julien in seinen Tanzkurs kommen sollte. Oder etwa nicht?

Genau, der Tanzkurs. Ob er mal vorbeischauen sollte? Männer waren in Tanzkursen doch immer Mangelware und daher gern gesehen? Vielleicht freute sich Leo ja, dass er mit dem Lob erreicht hatte, dass Julien kam? Und wenn nicht konnte er immer noch behaupten, Stefan habe ihn darum gebeten, damit Sabrine nicht mit einem x-beliebigen Kerl tanzte und am Ende noch dem verfiel. Andererseits wollte Leo Julien vielleicht auch nie wieder sehen? Was, wenn er nur so freundlich gewesen war, damit er möglichst bald weg kommen konnte und nie wieder etwas mit diesem seltsamen Fotographiestudenten zu tun haben wollte? Der so komische Bilder mit Tütüs machte. Ohnein, was, wenn der Blick, als Julien gesagt hatte, das Tütü sehe gut aus, bedeutet hatte, dass Leo diesen Kommentar abscheulich fand? Was, wenn er nur gekommen war, weil er Mitleid gehabt hatte? Oder weil er auf Sabrine stand und daher zeigen wollte, dass er so gutherzig war, sogar einem entfernten Freund um ihretwillen zu helfen? War doch möglich, oder? Immerhin hatte Sabrine von seinem Körper und seinen guten Manieren geschwärmt? Was, wenn das mehr zu bedeuten gehabt hatte als bloße Anerkennung?

Andererseits war sie mit Stefan zusammengekommmen, nachdem sie den Tanzkurs besucht hatte. Was hieß, dass Leo sie entweder abgelehnt hatte oder Sabrine gemerkt hatte, dass sie keine Chance hatte. Vielleicht bestand doch Hoffnung? Schließlich hatte Leo Julien seine Addresse gegeben. Wenn auch nur, um die Bilder...

Entsetzt fuhr Julien auf und kramte wie ein wilder in seiner Tasche. Hatte Leo ihm wirklich seine Addresse gegeben? Wenn ja, wo war sie? Hatte er sie womöglich verloren und somit jede Kontaktchance zu ihm? Nachdem er die halbe Tasche auf dem leeren Sitz neben sich ausgebreitet hatte, fiel ihm ein, dass Leo gar keinen Stift dabei gehabt hatte. Und er hatte ihm keinen gegeben. Was bedeutete, dass er nun addresslos war. Er fühlte sich so elend, als würde die Welt untergehen.

Doch dann durchdrang ein kleiner, zögerlicher Sonnenstrahl die grauen Wolken seiner Zweifel. Leo hatte ihn auf seinem Handy angerufen. Und er erinnerte sich, dass die Nummer nicht unterdrückt gewesen war. Was bedeutete, sie stand noch in seinem Anrufverzeichnis.

Freudig und hastig packte er die verstreuten Dinge wieder ein. Trotz seines Gefühlstaumels achtete er allerdings darauf, dass seine Fotoausrüstung nicht beschädigt war. Sie war ihm beinahe genauso wichtig wie Leo.

Moment.

Was dachte er da? Seit wann rangierte Leo auf derselben Wichtigkeitsstufe wie seine Fotoausrüstung? Er hatte ihn doch nur so kurz gekannt und würde ihn wahrscheinlich nicht wieder sprechen, nachdem er ihm die Bilder geschickt hatte.

Julien saß mit seiner Kamera in der Hand auf dem harten Busstuhl und starrte die vorbeiziehenden Straßenlaternen draußen an. Seine Hand strich unbewusst über die Fototasche und wanderte dann zu seinen Haaren, um daran zu ziehen. Mal nüchtern nachgedacht. Seine Fotoausrüstung war für ihn das wichtigste auf der Welt. Gut, kurz danach kamen Freunde, Eltern und Verwandte, aber die mal kurz beiseite geschoben. Leo kannte er seit wann? Vorgestern? Und sie hatten nun gerade zwei Gespräche hinter sich. Bei denen es auch sich noch hauptsächlich um Unikrams gehandelt hatte und sie einander gesiezt hatten. Sicher, Leo sah umwerfend aus. Und war ungemein charmant. Und hatte einen super Charakter. Und in jeder seiner Bewegungen sang Musik. Aber das kam doch noch lange nicht an die langjährigen Liebe zum Fotographieren heran, oder?

Oder?

Diesen Gefühlstaumel hatte er noch nie in solcher Intensität mitgemacht. Einmal, in der Oberstufe, war er in einen Jungen aus dem Jahrgang unter ihm verliebt gewesen. Damals hatte er sich ähnlich gefühlt. Allerdings hatte er gewusst, dass der Junge ihn nicht kannte und sich auch nicht für ihn interessieren würde, zumindest nicht auf dieselbe Art wie Julien für ihn. Immerhin hatte er an jeder Hand eine Freundin gehabt. Genau, wenn er Leo mit einer Freundin sehen würde, würden sich die Gefühle wieder legen.

Ganz bestimmt.

Julien bemerkte, dass er zwei Stationen zu weit gefahren war und stand panisch auf. Der Busfahrer sah überrascht zu ihm nach hinten und öffnete die Tür, als sie an der nächsten Haltestelle waren. Na super. Das hast du nun davon, wenn du über Männer nachdenkst, schalt sich Julien. Als er die Straße überquert hatte, musste er feststellen, dass der nächste Bus in einer Stunde kam. Bis dahin wäre er den Weg längst zurück gelaufen und läge im weichen Bett. Und könnte träumen von gelockten Tänzern. Den letzten Gedanken verscheuchte er schnell wieder und versuchte, sich auf den dunklen, nur vom Kegel seiner Taschenlampe hin und weider erhellten Fußgängerweg zu konzentrieren.
 

Leo
 

Keuchend erreichte er die Haltestelle. Keine Sekunde zu früh, wie ihm die Busfahrerin grimmig mitteilte. Leo ignorierte ihre schlechte Laune, hielt ihr seine Jahreskarte vor die Nase und suchte sich einen angenehmen Platz. Irgendwie bereute er nicht, beinahe den Bus verpasst zu haben. Vielleicht hätte er ihn absichtlich vorbeifahren lassen sollen und noch ein bisschen mit Julien reden. Dann wäre es viel entspannter gewesen. Seltsamerweise kam es ihm nicht in den Sinn, dass er auch eher hätte gehen können, um in Ruhe den Bus zu erwischen.

Während er auf den vorbeirauschenden Zaun blickte, rief er sich die intensiven Augen des Studenten noch einmal in den Kopf. Er hatte ihn so angesehen, als könnte er seinen Blick nicht von ihm wenden und würde sich doch dazu zwingen. Beinahe hatte es so ausgesehen, als würde er ihm mehr Aufmerksamkeit schenken, weil er ihn einfach gerne betrachtete als weil er ein schönes Foto schießen wollte. Vielleicht war es das, was ihn dazu bewogen hatte, ihn am Ende zu umarmen. Selten hatte er sonst jemanden derart früh in ihrer Kennenlernphase in die Arme geschlossen. Und noch seltener hatte es sich so gut angefühlt. Julien bestand nicht nur aus Knochen und Muskeln, wie Leo, deshalb war es eine angenehme Mischung aus angespannten Muskeln und weicher Haut gewesen. Besser noch als bei einer Frau.

Hm, hatte Julien angespannt gewirkt, als Leo ihn umarmt hatte? War wohl für den Studenten etwas zu plötzlich gekommen. Kein Wunder, sie kannten sich kaum. Ob er sich entschuldigen sollte? Vielleicht sah Julien ihn, trotz dass er anscheinend gerne mit ihm gesprochen hatte, bloß als ein Modell für seine Bilder. Leo stellte sich Fotographen, die Modells knipsten, immer so vor, als würden sie mit jedem der Mädels, die ihnen vor die Kamera kamen, flirten. Warum also bei Mädels halt machen?

Was waren denn das für Gedanken? Julien hatte doch nicht mit ihm geflirtet. Warum fühlte es sich außerdem nicht verkehrt an, diese Idee? Leo grub in seinen Gedanken nach einer Antwort und betrachtete seine Erinnerungen an Julien von allen Seiten. Er war professionell vorgegangen, was definitiv ein Pluspunkt war. Naja, gehörte schließlich zu seinem Studium. Er war witzig gewesen und hatte Leo nicht ausgelacht, als er das Tütü getragen hatte. Wie häufig kam diese Kombination schon vor? Er hatte sogar gesagt, dass es gut aussehe. Trotz allem, was Leo von sich halten mochte, musste er sich doch eingestehen, dass es ihn immer wieder verletzte, wenn jemand über eine Tanztracht lachte, die er trug. So, als würde der andere nicht verstehen, dass Tanz etwas ernstes, ästhetisches und freies war.

Vielleicht, dachte er, war es andererseits auch bloße Selbstbeherrschung gewesen. Immerhin hatte er sich für dieses seltsame Fotothema entschieden, da konnte er doch dann nicht sein Modell vor den Kopf stoßen. Ja, wahrscheinlich war die Aussage bloß dazu da gewesen, Leo sich wohlfühlen zu lassen, sodass die Posen nicht zu gekünstelt wirkten. Soweit das bei Ballett überhaupt möglich sein sollte. A propos, Julien hatte behauptet, er habe sich die Stellungen nur im Internet angesehen. Wie er bereits gesagt hatte, war es eine erstaunliche Leistung, sie nach Bildern halbwegs ordentlich nachzuahmen. Sicher, das ein oder andere war Julien natürlich falsch in Erinnerung oder er wusste nicht, wie er es umsetzen konnte. Ob er es auch mal versuchen sollte, sich Bilder anzusehen, um Ballett angenehmer zu finden?

Bei seiner Haltestelle stieg er aus und winkte der mürrischen Busfahrerin zum Dank für den Transport. Als er in der Tasche nach seinem Wohnungsschlüssel suchte, stieß seine Hand gegen die zwanzig Euro, die Julien ihm gegeben hatte. Irgendwie kam es ihm nicht richtig vor, dass er Geld verlangt hatte. Was sollte er denn nun mit diesem Gefühl und dem Geld machen? Die Suche nach einer Antwort verschob er und stieg das Treppenhaus hinauf.

Er wurde mit Maunzen begrüßt. Ohje. War das Katzenklo voll? Ansonsten kümmerte es Tinker und Peter nämlich nicht, dass er nach Hause kam. Oder wann. Also schloss er schleunigst auf, sah nach und bereinigte dann den Grund des Gezeters. Nachdem das erledigt war, kramte er aus seiner Tasche den Tüllrock, um ihn aufzuhängen um weiteren Falten vorzubeugen.

Was konnte er tun, das sich einerseits für eine Entschuldigung für die Umarmung eignete und andererseits sein schlechtes Gewissen wegen der Geldannahme aufbessern konnte? Peter rieb sein Gesicht an Leos Bein und er kraulte abwesend dessen Rücken. Der Kater bog sich unter seinen Fingern, was deutlich machte, dass er grad nicht gekrault werden wollte, sondern wohl eher Futter forderte. Also ging Leo in die Küche, um nachzusehen, ob die Näpfe leer waren. Was der Fall war. Er griff ins Regal, um die Packung Katzenfutter hervor zu holen.

Essen. Könnte es das sein? Sollte er den Studenten in ein Cafee einladen? Oder würde ihn das noch mehr vor den Kopf stoßen? Leo dachte darüber nach, während Peter seinen Kopf unter das fallende Trockenfutter steckte und die ersten Krümel aufknabberte.

"Pass doch auf!", schmipfte Leo, schob den Katzenkopf beiseite und füllte den Napf zuende. Peter schien das nicht zu stören. Daraufhin seufzte Leo und meinte, sich an diverse Seufzer zu erinnern, die er erst kürzlich am Rande des Bewusstseins wahrgenommen hatte. War das Julien gewesen? Er konnte sich nicht genau entsinnen und schob es schließlich damit beiseite, dass ein junger Mann wohl kaum so häufig seufzen würde. Als er wieder zu seiner Frage, ob er Julien einladen sollte, zurück kam, fiel sein Blick auf die Uhr. Zwei Uhr neununddreißig. Zeit, schlafen zu gehen, wahrscheinlich würde er sich morgen darüber ein klareres Bild machen können.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel kommt mir länger vor, als es tatsächlich ist. Wahrscheinlich, weil ich zwischendurch riesige Pausen gemacht habe (bin momentan mitten im Umzugsstress). Nun, die erste Begegnung der beiden. :3 Ich befürchte, es ist anders ausgefallen, als du dir vorgestellt hast, was Kirschbaum?^^° Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Kirschbaum
2013-07-19T22:30:47+00:00 20.07.2013 00:30
Im Ganzen ist die komplette Story anders als in meiner Vorstellung, aber genau das finde ich sehr toll :) neue horizonte... ich denke dir für das tolle Kapitel - Julien ist echt süß :D
Antwort von:  vallendrael
25.07.2013 19:44
Hehe.^^° Damit muss man rechnen, wenn man die Geschichte nicht selber schreibt. :3 (Und selbst dann wird sie anders als gedacht.^^°) Gut, dass sie dir trotzdem gefällt. :3 Und gut, dass du dich mit Julien wieder anfreunden konntest.^^ Im nächsten Kapitel wird er (hoffentlich) noch viel süßer.^^
Von:  Kirschbaum
2013-07-05T18:38:43+00:00 05.07.2013 20:38
<3
wunderbar!
Es lässt sich gut und flüssig lesen, und der Humor ist klasse, ebenso wie du Julien dargestellt hast. Das lässt ihn wieder richtig sympathisch werden (weil ich ihn doch nicht mehr so mochte :D) - kein Wunder, dass du dich verliebt hast ;)
Ich bin höchstgradig gespannt auf das Zusammentreffen, das Shooting und die Entwicklung der Beziehung. Zwischen alle Charakteren :D
Und ich mag Stefan :3


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