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Federschwingen

von

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Ira lehnte am Geländer und überblickte den Himmel. Die Wolken lagen tief - am Boden des riesigen Turms. Hier oben brauchte es bloß den Turm, oben auf der obersten Stufe des Himmels. Keine gewöhnlichen Engel konnten so hoch steigen. So hoch in die Nähe von Gott. So hoch in die Nähe der Dämonen. Wie man es betrachtete.

Die Konferenz war vorbei, das Erinnerungenlöschen war erst später dran. Aber sie hatten beschlossen, dass sie sich nach der Konferenz treffen würden – also würde sich Acedia wohl hoffentlich daran halten. Er musste mit ihr einfach darüber reden. Sonst würde er wirklich noch wahnsinnig werden. Er wollte wissen, was das zu bedeuten hatte. Ob er alleine litt …

Er schüttelte den Kopf. Aber eigentlich sollte er sich auf Wichtigeres konzentrieren. Die Konferenzen hatten kaum mehr Sinn und Zweck. Es war zwar gut, dass sie jeden Tag erschienen – aber sie kamen zu nichts. Mittlerweile dienten die Treffen nur noch dazu, sich zu versichern, dass noch alle am Leben waren.

Die Erinnerungen der Engel würden erst später gelöscht werden – aber sie wollten nicht überrascht werden, wenn plötzlich doch einer fehlte. Immerhin zählte der Schwur auf alles, was die Todsünden unternahmen. Keiner würde sich eine Ausrede erlauben können. Dafür hatte Sin gesorgt …

Sin … Wenn er ihm bloß helfen könnte. Sin würde bestimmt wissen, was es mit der Blockade auf sich hatte. Wenn er sich früher gerührt hätte, hätte er vielleicht noch mit ihm reden können … Aber das hatte er wohl zu lange aufgeschoben. Doch wer würde erwarten, dass sich innerhalb so kurzer Zeit alles veränderte? Wer konnte nur dahinter stecken?

„Oh“, erklang eine Stimme hinter ihm – Invidia.

Er drehte sich nicht zu ihr um.

„Dich habe hier oben nicht erwartet“, erklärte sie.

„Ich dich ebenso wenig“, meinte er. Damit hätte er dann Acedias Wunsch nicht entsprochen. Invidia sollte wieder gehen.

„Denkst du nach?“, wollte Invidia wissen.

Ira wandte sich ihr zu, besah sich der silbernen Haare, die ihr Gesicht einrahmten, nahm das freundliche Lächeln auf ihrem Gesicht wahr. „Ich warte auf jemanden“, korrigierte er ihre Annahme.

Sie nickte. „Dann sollte ich wohl nicht zu lange stören …“, sinnierte sie, „Aber andererseits bin ich zum Nachdenken hergekommen.“ Sie schloss den Abstand zu ihm und lehnte sich gegen das Geländer.

„Alleine denkt es sich besser nach“, befand Ira.

Sie grinste ihn an. „Willst du so dringend, dass ich gehe?“ Dann schüttelte sie den Kopf. „Tut mir leid, aber … wenn du schon hier bist …“

Er runzelte die Stirn. „Was?“

„Wir haben schon lange kein ordentliches Gespräch mehr geführt“, tadelte sie ihn, „Als Kollegen sollten wir das ändern.“

Er verdrehte die Augen genervt. „Wir sehen uns jeden Tag.“

„Aber nicht alleine“, fügte sie an, „Du weißt ja, wie schrecklich neidisch ich werde, wenn ich merke, dass du dich hier mit wem alleine triffst, mit mir aber keine Extrazeit verbringst.“

Er schnaubte kurz empört. „Also bitte.“

„Mit wem triffst du dich?“, fragte sie.

„Wenn du so weitermachst, werde ich wütend“, warnte er sie amüsiert vor. Es ging sie nichts an. Sonst würde sie noch darauf bestehen, zuzuhören, weil sie es für eine Partei-Besprechung halten würde.

Sie lächelte. Und das Lächeln wurde dann breiter, bis sie lachend den Kopf schüttelte. „Oh je.“

Er hob eine Augenbraue. „Was?“

Sie ließ sich weiter gegen das Geländer sinken. „Wir sind echt einsam. Wenn wir uns mit solchen Witzen die Zeit vertreiben …“

Er zuckte mit den Schultern. „Man gewöhnt sich an alles.“

„An dieses Dasein“, stimmte sie ihm zu, „Der Anfang war doch das Schlimmste.“

Er nickte. „Aber ich erinnere mich kaum noch.“

„Geht mir genauso …“ Sie seufzte. „Manchmal frage ich mich, ob der andere nicht der bessere Weg gewesen wäre …“

… Der andere Weg … Keine Todsünde zu werden. Das hatte er sich am Anfang manchmal gefragt. Aber nach dem Schwur hatte es sowieso kein Entkommen mehr gegeben. Und jemand musste den Platz besetzen … Doch mit der Zeit, mit der die Gleichgültigkeit kam, kam auch das Vergessen der Wünsche der Vergangenheit.

„Dieser Posten macht mit der Zeit aus jedem dieselbe Person“, fuhr Invidia leise fort, „Siebenmal dieselbe, mit kleinen Unterschieden … aber im Herzen …“

„Ja“, stimmte er leise zu, „Im Herzen ist uns doch wirklich alles egal …“

„Und genau deshalb frage ich mich …“, begann Invidia, stockte dann aber kurz, wohl um nach den rechten Worten zu suchen, „… wie Acedia und du weiterkämpfen können. Warum seid ihr gegen uns?“ Sie schaute auf. „Es ist spannend, also will ich nichts dagegen sagen, aber … langsam muss es euch doch egal werden, oder?“

„Vielleicht liegt es daran, dass wir alle jünger sind“, mutmaßte Ira, „Weniger lange Todsünden … oder dass wir beide Luxuria gekannt haben, bevor wir erhoben worden sind. Dass … da doch noch etwas von der Person zurückgeblieben ist, die wir einmal waren.“

„Deren Namen ihr nicht einmal mehr kennt.“ Sie lächelte. „Ich würde deinen Namen wirklich gerne erfahren. Dann könnte ich dir meinen Respekt zollen, Ira.“

„Ich auch“, gab er murmelnd zu, „Dann … würde ich mich auch wieder an ihren erinnern …“, fügte er leise hinzu.

Das entlockte Invidia ein weiteres Lachen. „Damals, als ihr erhoben worden seid – ich habe es bemerkenswert gefunden, dass ihr euch wirklich alle drei gekannt habt. Dass wirklich alle drei Todsünden fast zur selben Zeit gestorben sind …“

„Fast“, meinte Ira nachdrücklich, „Es waren etliche Jahre dazwischen. Ihr habt euch nur so viel Zeit gelassen.“

„Siehst du?“ Sie zwinkerte. „Warum dann eine Engelsversammlung nach bloß einem halben Jahr einberufen?“

„Weil Luxuria und Gula zu jung zum Sterben waren“, beantwortete er die Frage, „Ganz einfach.“

„Niemand sagt, dass sie tot sind.“ Sie schüttelte den Kopf. „Die Blamage, wenn wir neue Todsünden wählen wollten, es aber nicht funktioniert, weil die alten noch leben. Der Ärger, der auf uns zukäme, wenn wir herausfänden, dass zu junge Todsünden sterben …“

„Du verschließt die Augen vor den Problemen - in der Hoffnung, dass sie nicht existieren, bloß weil du sie nicht siehst“, klagte er sie an, „Denke darüber nach.“

„Du irrst dich …“, entgegnete sie ruhig, „Aber … mittlerweile ist es mir wohl einfach nur noch egal.“

Er sah sie stirnrunzelnd an. „Was?“

Sie suchte seinen Blick. „Die Probleme …“ Sie schweifte ab, schien durch ihn hindurch zu blicken. „Als Engel glaubt man, seine Welt sei perfekt. Man hat kaum Probleme, nur Lappalien lassen einen manchmal fallen und wieder aufstehen, nichts Großes … und doch hat einem alles einst irgendwie etwas bedeutet … Und wenn man dann zum Assistent wird, verpflichtet man sich, das Bedeutendste einfach aufzugeben, egal, was es war, egal, wie schwer es ist. Es muss weg. Mit dem Versprechen, dass man es als Todsünde wieder bekommt …“

Dieselben Gedanken hatte er auch gehabt. Bereits als Assistent war es ihm klar geworden … Aber es hatte damals schon kein Zurück mehr gegeben. … Doch tief drinnen … war es auch heute noch vergraben. Diese liebevolle Zuneigung …

„… doch mit der Zeit versteht man, dass einem als Todsünde gar nichts mehr etwas bedeuten konnte. Man kann nicht wirklich lieben, weil man Angst davor hat, dass, was auch immer man liebt, irgendwann zu Fehlern führen kann. Und damit zu einem Urteil … Die Angst, verlassen zu werden, für das, was man ist, was man tut … Die Angst, irgendwann alleine zu sein, weil man keine Zeit hat.“

„Lieber stößt man alle von sich, um nicht verletzt zu werden“, beendete er ihren Gedankengang leise, „… und endet damit, dass einem alles und jeder egal wird …“

„Gula habe ich immer beneidet“, erklärte sie, „So beneidet, dass ich fast wieder das Gefühl hatte, ein Gefühl zu haben … Dass er noch immer zu den Spielen flog …“

„Vermutlich hat er es getan, um die Gefühle, die er früher gehabt hatte, wieder zu erleben. Er war die jüngste Todsünde. Er war noch nicht so gleichgültig. Damit wollte er sich bestimmt davor schützen …“, vermutete er ruhig, „Gula hat das Spiel geliebt … Irgendetwas davon muss noch übrig gewesen sein und er wollte es nicht verlieren.“ … Wenn er sich vor so langer Zeit mehr angestrengt hätte – wäre es ihm auch gelungen? Wäre ihm alles weniger gleichgültig? Wollte er das überhaupt? Mitzufühlen, wenn jemand ein Verbrechen begangen hatte; jemanden zu bemitleiden, der bestraft wurde …

Die Blockade rührte sich.

Er hielt sich den Kopf. Was steckte nur dahinter? Risse … Er fühlte, dass dort Risse waren … Wurde sie schwächer?

Invidia stieß sich vom Geländer ab. „Gelernt habe ich nichts Neues“, beklagte sie sich. Aber sie lächelte ihn an. „Ich denke, ich werde jetzt wieder gehen. Wir sehen uns.“

„Warte“, hielt er sie ab. … Sollte er mit ihr darüber reden? Sie waren doch gegeneinander – aber sie hatte ihm auch gerade gesagt, dass es ihr einfach egal war, wer in dem „Spiel“ gewann. Für sie hatten weder Luxuria noch Gula eine Bedeutung gehabt … Nicht verwunderlich, wenn man mit einbezog, dass sie schon mindestens vier Kollegen hatte sterben sehen.

„Was?“ Sie lächelte weiter.

„Ich habe … seltsame Kopfschmerzen“, erklärte er. Engel fühlten eigentlich keine Schmerzen – außer vielleicht einmal Kummer oder anderes Herzeleid. Aber keine … körperlichen Schmerzen, wenn sie nicht zu lange ohne Licht waren. Oder verletzt wurden.

Sie kniff die Augen zusammen. „Was?“

„Da ist eine Blockade“, erklärte er ruhig, „Sie bricht. Hast du sie …?“

Sie schüttelte den Kopf, ihre langen Haare wippten dabei mit. „Nein … Das ist seltsam …“

„Gula hat sie ebenfalls gespürt“, meinte er, „Denkst du, das könnte etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben?“

Plötzlich grinste sie ihn an. „Wir werden es wissen, wenn du es uns sagst.“

Er rollte genervt mit den Augen. „Keine Panik, ich verschwinde dann nicht einfach so.“

„Versprich nichts, was du nicht halten kannst.“ Sie zwinkerte ihm zu, „Ich muss jetzt aber wirklich los. Ich brauche noch Freizeit, bevor die Arbeit weitergeht.“

„Bis später“, verabschiedete er sich monoton, „und du solltest weniger nachdenken.“ Das hatte jetzt nicht so geholfen, wie er es gehofft hätte. … Vielleicht würde Acedia es auch haben. Auch … wenn es seltsam zu wissen war, dass nicht alle Todsünden diese Blockade inne hatten … Warum?

Invidia grinste, winkte kurz und stürzte sich den Balkon hinunter. Er schaute ihr nach, wie sie auf der Wolkendecke landete und zur nächsten Treppe ging. … Was sie wohl machte?

… Aber eigentlich spielte das keine Rolle …
 


 

„Immernoch nichts“, wiederholte Acedia und rollte genervt mit den Augen, „Wofür habe ich dich überhaupt?“

„Zum Papiersortieren und Ordnerstapeln“, antwortete er flach, „Das weißt du doch.“

Sie schnaubte kurz. „Okay. Dann mach weiter damit. Und finde endlich mehr heraus! Ich will, dass der Täter überführt wird.“ Sie erhob sich so schnell, dass der Stuhl vom Schwung umfiel. Sie starrte ihn an, als wäre er der Übeltäter gewesen. Dann schritt sie anmutig an ihm vorbei, die lange Schleppe zog sie hinter sich her. „Ich habe einen Termin. Schau zu, dass du neue Informationen erhältst.“

Er nickte. „Natürlich, schon dabei.“

Sie schlug die Tür hinter sich zu.

Heute hatte sie wohl ganz üble Laune. Vermutlich hatten sie sie bei der Konferenz wieder fertig gemacht.

Nathan schüttelte den Kopf. Aber was konnte er dafür? Und was sollte er mehr tun, als Engel zu verhören? Natürlich hatte er ihr die Sache mit Kyrie verschwiegen – aber sie war auch nicht wichtig genug, um erwähnt zu werden. Als könnte Kyrie irgendetwas damit zu tun haben … Wie war er nur auf den Gedanken gekommen?

Hatte er irgendwie einen Todsünden-Instinkt, der ihn dazu trieb, überall Verbrecher zu sehen? Aber wie sollte er auch anders, wenn Acedia so fest davon überzeugt schien, dass er in der Lage sein würde, diesen Irren – oder diese Gruppe Irrer – zu fassen? Am liebsten wäre es ihm immernoch, wenn Xenon der Gesuchte wäre. Dann hätte er genug Gründe, um ihn zu fassen …

Er wandte sich dem Stuhl zu und hob ihn wieder auf.

Es war schon seltsam, dass Gula Kyrie das Blenden beigebracht hatte – aber … wenn er wirklich so viel Mitgefühl für sie aufgebracht hatte … wieso konnte er dann nicht einfach über Xenons Rang hinwegsehen? Wäre das denn nicht Gerechtigkeit?

Aber vielleicht machte er das auch öfters. So eine geheime Gula-Sache. Dass er jedem, dem er nicht die wahre Gerechtigkeit anbieten konnte, einfach eine Ersatz-Schwertkunst-Magie beibrachte … Es war bloß schade, dass es Kyrie nicht geholfen hatte. Es sie sogar noch mehr verängstigt hatte!

Was sollte er mit ihr bloß machen? Außer sie ständig zu beschützen natürlich … Er hatte sich jetzt einfach damit abgefunden. Und Acedia musste akzeptieren, dass er den Mittwoch mit seinen Freunden verbringen wollte. So war das einfach. Und was Kyrie betraf – für sie zählte nur noch das Mittwochstreffen. Mehr hatte sie im Himmel scheinbar nicht mehr zu tun. … Und das machte den Zeitaufwand eigentlich wett … Auch wenn sie mit dem Einwand, dass der Schwertkampfunterricht dadurch umsonst geworden war, recht hatte. Wenn er da war, brauchte sie nie wieder ihre Waffe zur Hand zu nehmen.

Er hingegen sollte jetzt irgendetwas zur Hand nehmen. Acedia schaffte es einfach immer wieder, seine Ordnung in totales Chaos zu verwandeln! Welchen Stapel hatte sie dieses Mal schon wieder vertauscht?
 


 

Das Gespräch mit Invidia beschäftigte ihn nach wie vor. Sie hatte seine Frage beantwortet. Nur leider nicht auf diese Weise, wie Ira das gerne gehabt hätte – aber es war ein Anhaltspunkt. Er sollte die Blockade also wohl doch vorbringen. Es war die einzige Blockade, die er bisher gehabt hatte – ein heftiges Ziehen durchfuhr seinen Kopf, er stützte ihn - … aber Superbia hatte bestimmt schon einmal eine gehabt, falls er auch keiner derjenigen war, die sie hatten … Er würde sicher wissen, was zu tun war. Ihm vielleicht sogar raten, zu Sin vorzutreten. … Oder ihn beruhigen, ihm zu erklären, dass er einfach an Gott glauben und das Öffnen der Blockade abwarten musste … Letzteres würde er ja bevorzugen, wenn diese seltsamen Schmerzwellen nicht immer …

Er keuchte erschrocken auf, als das Schwert ihn durchbohrte.

Ira starrte die Schwertspitze an, die in seiner Vorderseite herausragte, sogar durch den Balkon zu sehen war … und blutrot im goldenen Licht schimmerte.

Erinnerungen funkelten um ihn herum auf. Ein junger Mann, der zur Todsünde gewählt wurde. Ira, wie er Acedia nachschaute, wie alles in ihm sie vermisste, nichts weiter wollte, als sie zu umarmen – wie sie ihn abwies. Und er sie im nächsten Bild zurückwies … Erinnerungen an drei alte Engel, die sich schworen, ewig Freunde zu bleiben.

„Es tut mir leid“, durchbrach Acedias Stimme die Schatten der Vergangenheit. Sie war so nah. „So unendlich leid …“, flüsterte sie weiter.

Er schaffte es nicht, sich zu bewegen. Das Schwert steckte weiter in ihm … aber wieso befanden sie sich nicht in der Vergangenheit? Ein Engelsschwert …

Ein Engelsschwert durchbohrte ihn. Ließ ihn bluten … Acedias Schwert …

Acedia hatte ihn erstochen.

Plötzlich konnte er sich aus dem Schock befreien. Das Schwert blieb an Ort und Stelle. ... Wieso kamen keine Erinnerungen? Er sah sie an. Schaute in ihr schönes Gesicht, betrachtete ihr feuerrotes Haar, bemerkte die Kleidung, die sie bei der Konferenz auch schon getragen hatte … Bei der Konferenz – sie waren doch auf derselben Seite gestanden … Wieso …?

„Ein Engelsschwert mit einer Dämonenklaue versetzt“, erklärte Acedia leise, „Sie schwächen des anderen Wirkung, teilen sich aber den Platz …“

„Du kannst mich töten“, schloss Ira daraus. Ein Engelsschwert konnte im Himmel keinen Engel töten. Eine Dämonenklaue könnte es – doch die sollte nicht in den Himmel gelangen können.

„Ich töte dich“, verbesserte sie ihn leise. Schmerz sprach aus ihrem Blick. „Wie Luxuria und Gula vor dir …“

Ein Schauer überlief seinen Rücken. Er würde sterben. Er konnte sich bewegen, aber nicht entkommen. Er konnte mit ihr reden, war aber gefangen … Er streckte schnell die Hand aus. Er musste! Aber sein Schwert erschien nicht. Warum erschien es nicht?! … Er brauchte Hilfe! Er konzentrierte sich, wollte einen Ruf aussenden, seinetwegen einen Magneten – aber es ging nicht. Seine Magie blieb bei ihm. … Nein … Moment.

Was geschah mit ihm?

Er starrte seine Flügel an. Die hinteren Federn fingen an, abzufallen. Und noch im Flug verschwanden sie im Nichts. Seine Augen weiteten sich. „Nein …“, hauchte er.

„Doch, Ira …“, entgegnete sie.

„Ich kann das nicht glauben!“, rief er ihr entgegen. Warum konnte er sich nicht ganz umdrehen? Er wollte sie … er wollte … Was wollte er? Warum … warum konnte er das so gut hinnehmen? Acedia tötete ihn gerade! Wo war seine Wut? Seine Enttäuschung?

Aber nichts war dort … Gar nichts. Nur Unglaube. Das konnte doch unmöglich gerade geschehen! Bei der Konferenz waren sie Seite an Seite gesessen, hatten für dasselbe Ziel gestimmt, hatten … dasselbe Ziel.

„Du tötest mich, dass die Engelsversammlung einberufen wird“, wurde ihm plötzlich klar. Als sie nickte, fror er fest. „Du hast Gula und Luxuria umgebracht … und jetzt bringst du mich um.“

Sie bejahte erneut. „Schwer zu fassen, oder?“

„Unglaublich“, hauchte er, „Warum, Acedia? Wie kannst du das nur …“

Sie schüttelte den Kopf. „Die Geschichte würde länger dauern als der Rest deines Lebens …“, murmelte sie.

Er wusste einfach nicht, wie er darauf reagieren sollte. Acedia tötete ihn. Acedia, der Engel, den er geliebt hatte. Seine beste Freundin. Die Person, mit der er aufgewachsen war. Die ihn immer begleitet hatte. Mit der er letztendlich zur Todsünde gemacht wurde. Wieso tötete ihn Acedia? Das war doch … unmöglich. Unglaublich. Unlogisch. Er konnte das nicht akzeptieren … Vor allem, weil kein Schmerz ihn durchzuckte. Der Himmel hielt den Schmerz ab … Er stand dort, erstochen, sein Licht, seine Magie, seine Seele, sein Dasein, seine Erinnerungen wurden ihm langsam herausgezogen – und er fühlte es nicht einmal! Wie sollte er es da glauben? Und dann noch so plötzlich und … von ihr …

„Luxuria und Gula haben mich auch so angesehen …“, erzählte sie leise, „So überrascht … nicht einmal enttäuscht … beinahe, als ob sie es erwartet hätten …“ Sie schüttelte den Kopf. „Luxuria hat es für einen Racheakt gehalten – für dich … für früher … Gula hingegen hat sofort darauf geschlossen, dass ich auch Luxuria umgebracht haben musste …“

Luxuria war tot. Gula war tot. … All die Zeit hatte er für genau den Fakt gekämpft – und doch ging es ihn durch Mark und Bein, das zu hören. Er hatte daran glauben wollen, dass es nicht so war. Dass sie vielleicht doch noch auftauchten. Aber … er bezweifelte es jetzt wirklich.

„Hast du ihre Erinnerungen angesehen?“, knurrte er. Ein Knurren. Konnte er jetzt doch Wut aufbringen? Er musste … Er war doch Ira. Wenn nicht er wütend auf sie war – wer dann?

„Ich habe sie behalten“, beantwortete Acedia die Frage kaum hörbar, „Aber … wenn die Engelsversammlung …“

„Lösch sie!“, rief er ihr entgegen. Das war keine Wut. Es war Sorge. Warum sorgte er sich um seine Mörderin? Was war los mit ihm?! „Lösch sie sofort! Du drehst völlig durch, wenn …“

Ein freudloses Lachen ließ ihn innehalten. „Völlig durchdrehen?“, wiederholte sie ungläubig, „Ich töte dich gerade, Ira!“ Ihre Stimme wurde lauter. „Ich habe meine Verbündeten getötet, töte meine Freunde … Ich töte dich“ Ihr Mund war geöffnet. „Wie könnte ich noch mehr durchdrehen?“

„Deine Ziele, Acedia – wieso …?“ Er sank auf die Knie. Die Kraft hatte ihn verlassen. Wenn er es zumindest spüren könnte, wie er schwächer wurde! So könnte er wissen, wie viel Zeit ihm noch blieb! Aber auf diese Weise … Wo war der Schmerz? Die Warnung …? Seine Flügel verloren mehr und mehr Federn.

„Ich muss die Erde zerstören, Ira“, eröffnete sie ihm.

Plötzlich fühlte er sich, als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Fühlte, dass er sich übergeben musste. „Was redest du da?!“ Er wollte sie schütteln, bis sie zur Vernunft kam. Aber seine Arme sackten bereits herab. Das Schwert stützte ihn.

„Die Menschen schwächen Gott …“ Sie redete wieder leise, „Wenn sie alle sterben … kommt sein Licht zu ihm zurück. Er kann die Engel schützen. Kann gegen die Dämonen siegen …“

„Hältst du dich für Gottes Leibwache?“, fuhr er ihr sie an – soweit das noch möglich war.

„Er wird sterben, Ira“, meinte sie, „Bemerkst du nicht, wie viele Dämonen plötzlich auf der Erde weilen? Wie schwach Sin ist? Wie viele Halbengel geboren werden?“

Seine Blockade meldete sich wieder. Dieser Schmerz durchzuckte ihn wie ein Blitz. Wie ironisch, dass er das Offensichtliche nicht wahrnahm, ein Hirngespinst ihm aber Schmerzwellen durch den Körper jagte …

„Das ist falsch“, entgegnete er mit zusammengebissenen Zähnen. Er wollte seinen Kopf halten. Er fühlte sich plötzlich so schwer an. Als würde er damit jeden Moment auf den Boden aufschlagen.

„Das sagt ihr“, murmelte Acedia, „Aber … wir werden sehen. Die Engelsversammlung wird mein Schlüssel zum Sieg sein.“

Er suchte ihren Blick. „Tu das nicht, Acedia … Gott wird …“

Sie schüttelte den Kopf. „Er hat mich bisher nicht aufgehalten.“

Ein weiterer Schauer durchfuhr seinen Rücken. Sie hielt sich wirklich für Gottes Auserwählte. Was nur war mit ihr geschehen? Wie hatte das so weit kommen können? Warum hatte er nichts von ihrer Veränderung bemerkt?

„Seit … wann …“, stieß er angestrengt hervor.

„Über 400 Jahre“, antwortete sie. Dann nickte sie ihm zu. „Schau, du löst dich auf …“

Er folgte ihrem Blick. Seine Flügel waren beinahe komplett aufgelöst. Mittlerweile starteten auch seine Hände damit. Seine Arme verschwanden. Seine Beine … Und er konnte nur zusehen.

Die Schwertspitze leuchtete noch immer im selben Rot wie ihr Haar.

„Verzeihe mir, bitte …“, murmelte sie, „Aber … es ist für einen höheren Zweck. Das Wohl aller …“

„Der Zweck …“, entgegnete er, wobei er sich nicht sicher war, ob sein Mund überhaupt noch existierte, „… heiligt nicht die Mittel.“

Das Schwert wurde zurückgezogen.

Er kippte nach vorne, gegen das Geländer.

Sein Kopf kam am Boden auf. Er schaute zu Acedia. Sie starrte ihn an. Wischte sich kurz übers Gesicht. „Verzeihe mir …“, wiederholte sie. Und dann löste sie sich in Licht auf.

Er … er musste etwas tun … Er musste jemanden warnen … Das konnte doch nicht ihr Ernst sein … Sie konnte doch nicht … die Erde … nicht … sie … Acedia … die immer so voller Liebe war … Seine geliebte Acedia ...

Ira war tot.


Nachwort zu diesem Kapitel:
... Wow, wir sind schon bei Kapitel 85!! Letzte Woche war ich etwas nachlässig, ich weiß, aber ... Leute! 85 - es fehlen noch 5 Kapitel!!

Ich hoffe, es ist noch halbwegs erträglich und nachvollziehbar :')
Danke fürs Lesen <3

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen

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