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Unter den Apfelbäumen

Prequel zu Drachenkind
von

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Die 4. Begegnung - Teil 3

„Das hätte nicht passieren dürfen. Das hättest du nicht tun sollen.“, flüsterte Mary unablässig und weinte noch immer.

„Ich?!“, fragte Jonathan mit lauter Stimme. Das erste Anzeichen von Wut war daraus zu hören. „Du hast doch genauso-“

Er brach ab, als Mary sich die Ohren zu hielt. Oh, nein!, dachte er. Sie würde ihm jetzt zuhören! Noch einmal würde er nicht alle Schuld auf sich nehmen!

Jonathan packte sie grob am Arm und riss ihn herunter. Sie zuckte erschrocken zusammen. „Au, du tust mir weh!“ Inzwischen rannen Tränen wie Sturzbäche ihre Wange hinunter. Erschrocken über sich selbst, ließ er sie los. Im nächsten Moment sprang Mary auf und lief davon. Sie hatte die Arme ausgestreckt, um sich nicht weh zu tun.

„Mary! Mary bleib stehen! Bleib sofort stehen!“, rief er ihr nach und setzte an ihr hinterher zu laufen, hielt dann jedoch inne. Zornig sah er ihr nach. Nein! Er würde ihr nicht nachlaufen! Er würde nicht nach ihr rufen! Wie konnte sie es wagen ihn so zum Narren zu halten! Erst ließ sie sich von ihm küssen, erwiderte den Kuss sogar und dann sollte er schon wieder Schuld an ihren Tränen sein! Nein! Dieses Mal nicht! Sie hatte ihn mit ihren Reizen gelockt und er war darauf reingefallen!

Wütend stand Jonathan zwischen den Apfelbäumen und blickte in die Richtung, in die sie gerannt war. Inzwischen konnte er Mary nicht einmal mehr sehen. Das Gefühl, welches sich zuvor noch so herrlich und unbeschreiblich angefühlt hatte, war nun verschwunden. Stattdessen herrschten Leere und Zorn in ihm. Jonathan sah seine Mappe auf dem Boden liegen und griff nach den Skizzen, die er zuvor von Mary gemacht hatte. Er fasste sie an der Seite und wollte sie zerreisen. Doch sobald er das Geräusch vernahm, hielt er inne und betrachtete den Riss. Er versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn er Marys Gesicht ganz zerstören würde, aber er konnte es nicht.

Nun, wütend über sich selbst und seine Schwäche, stopfte er die Papiere wieder in die Mappe und ging zum Haus zurück.

Seine Wut versuchte er in Weinbrand zu ertränken.
 

Es war Abend und nach zwei Gläser hatte er bereits genug. Seine Laune wurde davon auch nicht besser und die Schmach konnte das Getränk auch nicht lindern. Den ganzen Tag war er in seinem Zimmer geblieben und hatte mit niemanden gesprochen. Er konnte seinen Eltern nicht in die Augen sehen, aus Angst sie würden darin die Wahrheit erkennen. Vielleicht wussten sie ja auch schon.

Immer wieder hatte er die Szene vor Augen und er konnte einfach nicht fassen, dass Mary ihn – Ihn! – zurückgewiesen hatte.

Ein Klopfen an der Tür riss ihn kurzzeitig aus den Gedanken. Hatte er nicht klar gemacht, dass er niemanden sehen wollte? Seine Laune sank noch tiefer.

„Was?“, knurrte er und die Tür öffnete sich. Aus den Augenwinkeln sah er jemanden eintreten, doch er beobachtete die Bernsteinfarbe seines Weinbrandes, die das Feuer im Kamin erzeugte.

„Ihre Eltern schicken ihnen etwas zu Essen“, sagte eine Stimme und Jonathan fuhr mit dem Kopf herum. Ausgerechnet Marys Mutter brachte ihm das Essen! An diesem Tag hatte er wohl überhaupt kein Glück. Schnell sah er wieder weg. Nicht mal ihr konnte er in die Augen sehen.

„Stell es ab und geh.“

Clara stellte das Essen auf den kleinen, runden Tischchen ab, welches in der Mitte seines Zimmers stand und dessen Fläche hauptsächlich von Farben und Pinsel eingenommen wurde. Warum eigentlich ihre Mutter?, fragte er sich. Sie war doch eigentlich gar nicht dafür zuständig, sondern arbeitete hauptsächlich in der Küche.

Jonathan erwartete, dass sie gleich gehen würde, doch sie blieb im Zimmer stehen.

„Was ist noch?“, fragte er genervt. „Ich habe doch gesagt, du kannst gehen.“

„Entschuldigung Sir, wissen Sie vielleicht wo Mary ist?“, fragte sie unsicher.

Erneut hob er ruckartig den Kopf, doch jetzt mehr aus Verwirrung.

„Was soll das heißen? Ich habe sie zuletzt heute Nachmittag gesehen“, antwortete er.

„Ja, ja… Es ist nur, sie ist seit heute Nachmittag nicht mehr gesehen worden und ich, ich dachte Sie wüssten vielleicht wo sie hingegangen ist. Sie wollte in den Garten gehen und…“

„Sie ist nicht zurückgekommen?!“, fragte er erschrocken, als die Bedeutung ihrer Worte einsank.

Clara schüttelte den Kopf. „Nein.“

Jonathan sah sie noch einmal weinend davon laufen. Er hatte sie gehen lassen, weil er wütend gewesen war. Dabei war sie doch blind! Sie wusste nicht wo sie hinrannte!

Augenblicklich sprang er auf und rannte an Marys Mutter vorbei.

„Sir!“, hörte er ihre Stimme rufen. „Was ist mit Mary?!“

„Ich suche sie!“ Jonathan lief aus dem Haus und zu den Ställen. Dort öffnete er die erste Box und holte das Pferd heraus. So schnell er konnte sattelte er es. Er würde es auch ohne Sattel reiten können, aber er wusste ja nicht, wie es Mary ging. In seinem Kopf spielten sich unzählige Szenarien ab und in vielen davon war Mary verletzt oder noch schlimmer.

Und es war seine Schuld!

Jonathan ritt zu den Apfelbäumen und nahm von dort den Weg, den Mary auch genommen hatte. Es war gut möglich, dass sie bis in den angrenzenden Wald gerannt war. Gleichzeitig saß die Hoffnungslosigkeit dieses Unterfangens in seinem Nacken. Es war dunkel und vor wenigen Tagen war erst Neumond gewesen. Er hatte also fast nur die Sterne, die ihm Licht spendeten.

„Mary! Mary, hörst du mich? Antworte mir!“, schrie er in die Nacht hinein.

Immer und immer wieder rief er nach ihr. Er blieb stehen und lauschte nach einer Antwort, doch lange Zeit hörte er nichts. Die Angst, dass ihr etwas geschehen sein könnte, wuchs weiter. Genauso wie die Schuld, der er sich selbst unterwarf. Sollte ihr etwas geschehen sein, würde er sich das nie verzeihen können.

„Mary!“ Inzwischen war er schon heißer vom vielen Rufen. Plötzlich blieb er stehen. Hatte er nicht gerade etwas gehört?

„Mary!“, rief er noch einmal.

„Jonie!“, hörte er es schwach antworten. Er konnte es kaum hören, aber es war Marys Stimme, eindeutig. Er war nahe!

„Mary!“, rief er noch einmal, um die Richtung auszumachen, in der sie sich befand.

„Jonie!“

Von Norden kam ihre Stimme.

Er ritt dorthin und blieb wieder stehen, um abermals nach ihr zu rufen. Er glaubte ihre Antwort schon etwas deutlicher zu hören. Er rief noch einmal und ritt wieder ein Stückchen näher zu ihr.

So machte er weiter, bis er Mary schließlich fand.
 

Sie saß zusammengekauert vor einem Baum. Die Beine hatte sie angezogen und die Arme drum herum geschlungen. Jonathan sah, dass sie heftig zitterte.

„Mary!“, stieß er erleichtert aus, setzte ab und rannte zu ihr. „Gott sei Dank! Ich dachte schon ich finde dich überhaupt nicht mehr!“ Er zog sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. Er küsste sie flüchtig auf die Stirn. „Es tut mir leid“, begann Jonathan dann hastig zu flüstern. „Ich war so wütend gewesen, dass ich nicht daran gedacht, habe, dass du ja nichts siehst.“

„Jonie, ich bin so froh, dass du da bist!“, stieß sie schluchzend aus „Ich glaubte schon, ich müsste die ganze Nacht hier verbringen.“

„Scht, ist schon gut. Ich bin jetzt hier und bringe dich nach Hause.“

Sie nickte kurz, klammerte sich jedoch immer noch an ihn. „Kannst du aufstehen?“ Mary zittert noch, versuchte dennoch aufzustehen und kam ins straucheln. Jonathan faste sie an der Hüfte, um sie zu stützen.

„Bist du verletzt?“, fragte er und Angst lag in seiner Stimme.

„Nein, es ist alle in Ordnung. Ich, ich… hatte nur Angst“ Dann lachte sie auf einmal.

„Was ist jetzt so lustig?“, fragte er irritiert.

„Tut mir leid, ich dachte nur, dass es noch gefehlt hätte, wenn es zu regnen begonnen hätte. Das hätte irgendwie zu meinen Glück gepasst.“

„Und das würdest du zum Lachen finden?“

„Was sollte ich sonst tun? Geweint habe ich doch schon genug.“

„Mary, es tut mir wirklich leid. Ich habe nicht nachgedacht und…“

„Nicht. Tu das nicht. Lass uns gehen.“

„Aber…“

Mary schüttelte stumm den Kopf und er wusste, dass er nicht weiter sprechen brauchte, nicht darüber.

„Ich werde dir jetzt auf den Sattel helfen. Du musst dich gut festhalten.“

„Ich kann laufen, ich sagte doch, ich bin nicht verletzt“, wehrte sie ab.

„Das ist mir egal.“ Jonathan führte sie zum Pferd und fasste sie an der Taille. „Du musst mir helfen. Bei drei werde ich dich hochheben. Eins, zwei, drei.“

Bei drei hob er Mary hoch und Mary half ihm. Sie war leichter, als er erwartet hatte und ihre Taille schien perfekt in seine Hände zu passen.

„Halte dich fest.“

„Jonie, ich mag es nicht. Ich kann den Boden nicht spüren. Ich glaube mir wird schlecht“, klagte sie.

„Es ist gar nicht so weit“, versuchte er sie zu beruhigen. Dann nahm er die Zügel in die Hand und begann sie aus dem Wald herauszuführen.

„Erzähl mir etwas, damit ich nicht an das Schaukeln denken muss.“ Einen Moment überlegte er, doch es gab nur eines, über das er reden wollte. Doch dafür brauchten sie Ruhe.

„Gestern Abend habe ich das Buch zu Ende gelesen von dem ich dir erzählt habe.“ Das es erst am Abend zuvor gewesen sein soll, erschien Jonathan wie eine Ewigkeit. Inzwischen schien sich seine Welt vollkommen verändert zu haben, nur um danach in sich zusammenzufallen.

„Erzähl mir davon“, bat Mary und ihre Stimme klang schon wieder zittrig. Es war das erste Mal, dass sie auf einem Pferd saß und das merkte er. Ihr ganzer Körper war angespannt und ihre Hände umschlossen den Sattelknauf so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Und so erzählte Jonathan ihr beinah den gesamten Inhalt des Buches. Einige Passagen konnte er sogar auswendig zitieren. Immer wieder stellte Mary fragen dazu und er versuchte sie, so gut wie er konnte, zu beantworten.

Schließlich erreichten sie den Apfelgarten und Jonathan blieb stehen. Wenn sie erst am Haus waren, würden sie keine Gelegenheit mehr haben miteinander zu reden. Und er musste mit ihr darüber sprechen!

„Wir sind da“, sagte er und hob sie vom Pferd herab.

„Danke.“ Doch er ließ sie nicht los, sondern hielt weiter ihre Hand.

„Mary, werden wir darüber reden?“

Auch, wenn es dunkel war, glaubte er zu sehen, wie sie blasser wurde.

„Jonathan, ich…“

„Du hast es zugelassen!“, stieß er heftiger aus, als er beabsichtig hatte. Erschrocken, wich Mary ein wenig zurück. „Mary.“, sagte Jonathan beinah verzweifelt. Er wollte sie halten, er wollte über ihre Haut streicheln und er wollte sie küssen. „Du hast den Kuss erwidert!“

Scharf sog sie die Luft ein. „Jonie, nicht…“

„Nein, Mary, du kannst nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen.“

„Aber was bringt es denn?!“, wurde sie nun laut. „Es macht doch keinen Unterschied!“ Sie schluchzte erneut und wischte sich eine Träne aus den Augen.

„Warum hast du zugelassen, dass ich dich küsse?“, fragte er noch einmal. Er musste es wissen! Selbst wenn er ihr damit wehtat.

„Weil ich es wollte!“, stieß sie heftig aus. Mary schlug die Hände vor das Gesicht und ließ ihren Tränen freien Lauf. „Du weißt gar nicht, wie sehr ich es wollte, wie oft ich an dich gedacht habe, während all der Jahre und immer wenn ich gehört habe, dass du… dass du wieder eine andere Frau an deiner Seite hast, wollte ich…“

„Was? Was wolltest du?“, fragte er sie atemlos, als sie nicht weitersprach.

Mary schüttelte den Kopf. „Bring mich zurück, bitte“, erwiderte sie stattdessen.

Jonathan legte eine Hand um ihre Taille und die andere vergrub er in ihren Haaren. Mary ließ es geschehen und sie ließ es auch zu, dass er sie sanft auf das Haar küsste, dann auf die Stirn, dann auf die Nasenspitze und schließlich streiften seine Lippen ihren Mund.

„Nicht…“, flehte sie ihn beinah an, doch sein Mund schwebte weiterhin über ihren.

„Sag, dass du es nicht willst.“, flüsterte er. „Sag es mir.“

„Ich… Ich…“, begann sie stotternd, doch schüttelte wieder nur den Kopf. Seine Lippen senkten sich nieder.

Erneut erfasste ihn dieses unbeschreibliche Gefühl. Er würde nie wieder ohne ihren Kuss leben können, dachte er. Doch so wunderschön dieser Kuss für ihn war, so himmlisch er sich anfühlte und schmeckte, so konnte er die Tränen, die Mary noch immer weinte, nicht auf Dauer ignorieren. Warum? Empfand sie denn nicht das gleiche wie er? Sie hatte es doch erneut zugelassen. Oder gefiel es ihr nicht?

Jonathan ließ schließlich von ihr ab und lehnte seine Stirn gegen ihre. „Sag es mir, Mary. Warum weinst du?“

„Wie hat es sich angefühlt?“, stellte sie stattdessen eine Gegenfrage. „War es wieder nichts Besonderes? War es wieder nicht anders, als bei all den anderen?“ Verwirrt sah er sie an. Er wusste nicht worauf sie hinaus wollte, doch er wollte dieses Mal ehrlich sein.

„Das war es nicht. Das war es auch beim ersten Mal nicht.“

„Aber du hast gesagt, du-“

„Ich weiß, ich habe gelogen. Ich dachte, ich habe es mir nur eingebildet, aber jetzt… Ich habe noch nie so empfunden, wenn ich eine Frau geküsst habe. Bei ihnen hatte ich nie das Gefühl, nicht mehr ohne es, ohne sie leben zu können“, gestand er.

„Oh, Jonie, weißt du eigentlich, was du da sagst?“

Jonathan atmete tief ein bevor er antwortete: „Ja, ich denke, ich weiß es. Sag mir, dass es bei dir auch so ist.“

Statt zu antworten, nickte sie nur schwach und schluchzte erneut. Jonathan zog sie verwirrt in seine Arme. „Sage mir, warum du weinst, Mary, bitte.“

„Weil es nicht sein kann“, wisperte sie. „Wir haben keine Zukunft, niemals.“

„Das stimmt nicht!“, wiedersprach Jonathan heftig. „Das kannst du nicht wissen.“

Mary löste sich aus seiner Umarmung. Sie berührte ihn sanft am Arm, mit der anderen Hand nahm sie die seine.

„Doch, ich weiß es. Wir stammen aus zwei verschiedenen Welten, aus zwei verschiedenen Schichten. Du wirst eines Tages ein Lord sein, während ich immer nur eine Küchenmagd bleibe, eine blinde Küchenmagd noch dazu. Du verkehrst in den edelsten Kreisen, hast gute Manieren und bist gebildet, während meine Gesellschaft aus toten Hühner, Kartoffeln und Mädchen besteht, die sich für den neusten Klatsch mehr interessieren, als für Literatur. Du wirst eines Tages eine Frau heiraten, die in dieses Leben passt. Du wirst mit ihr einen Erben haben, während ich den Rest meines Lebens auf meine Mutter angewiesen sein werde.“

„Nein, das werde ich nicht! Ich werde keine Frau heiraten, solange sie nicht…“ Jonathan hielt erstaunt inne, als ihm klar wurde, wie er den Satz beendet wollte. Aber warum sollte er es nicht aussprechen? Es war das, was er wollte, was er vielleicht schon immer gewollt hatte.

„Doch, das wirst du“, kam Mary ihm zuvor. „Du wirst eine Frau heiraten, die deiner Angemessen ist, weil es das ist, was von dir erwartet wird, weil es das ist, was deine Eltern wünschen.“

„Es ist mir egal, was sie wollen. Ich will dich!“

Mary stieß einen Schrei aus, der zwischen Überraschung und Entsetzen lag. Ihre Finger gruben sich in seine Hand und er spürte den leichten Schmerz.

„Du weißt nicht, was du da sagst“, stieß sie atemlos aus. „Deine Eltern würden das niemals zulassen. Sie würden niemals zulassen, dass du und ich...“

„Woher willst du das wissen? Du kennst sie nicht!“, warf er ihr vor. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Eltern ihm diesen Wunsch abschlagen würden. Sie hatten ihm noch nie etwas verwehrt und wenn er es ihnen erklärte, wenn er ihnen sagte, wie er sich mit Mary fühlte, dann mussten sie doch Verständnis haben!

Obwohl er versuchte sich das einzureden, hörte er noch sehr genau die Worte seines Vaters, die dieser ihm erst vor gut zwei Montan gesagt hatte und erste Zweifel schlichen sich ein.

„Sie haben es mir gesagt“, unterbrach Mary seine Gedanken und erschrocken sah er sie an.

„Was?“

„Bevor du zurückgekommen bist, hat mich deine Mutter aufgesucht und sich eindringlich mit mir unterhalten. Sie wollte wissen, ob ich tiefere Gefühle für dich hege. Damals sagte ich, dass wir nur befreundet seien. Ich weiß nicht, ob sie mir glaubte. Sie warnte mich davor mich zu sehr auf dich einzulassen, es gäbe unter den anderen Mädchen bereits Gerüchte und sie sagte mir auch, dass sie eine Liaison zwischen uns nicht zulassen würde. Es wäre nichts persönliches, aber sie wollen, dass du eine möglichst gute Partie machst und das bin ich nun einmal nicht. Deine Mutter sagte, sollten sie merken, dass meine Gefühle für dich oder gar deine tiefer gehen, würden sie mich aus ihrem Dienst entlassen. Sie würden mir eine Abfindung zahlen, die ich jedoch nie annehmen würde.

„Sie würden mich schlich niemals akzeptieren.“

Stumm starrte Jonathan sie einen Moment an. Er konnte nicht glauben, dass er das gerade wirklich gehört hatte. Während sein Vater ihm ins Gewissen geredet hatte, hatte seine Mutter mit Mary gesprochen.

„Es ist mir egal, was sie denken!“, erwiderte er schließlich. „Und wenn sie dagegen sind, irgendwann werden sie es akzeptieren müssen!“

„Jonathan, es ist dir nicht egal, was sie denken“, sagte Mary und schien sich langsam zu beruhigen. „Ihre Meinung ist dir wichtig und du willst ihren Segen. Du liebst und respektierst sie. Außerdem, selbst wenn es deine Eltern akzeptieren, werden es die anderen niemals. Ich würde nie von der Gesellschaft als deine Partnerin anerkannt. Sie würden immer reden und dich vielleicht meiden. Ich weiß, dass du es nicht ertragen könntest.“

Ihre Worte waren wahr. Die Vorstellung nicht mehr dazuzugehören oder gemieden zu werden, war für Jonathan zu diesem Zeitpunkt undenkbar. Es gehörte zu seinen Leben, wie die Luft zum atmen. Dennoch trieb ihn die Verzweiflung zu einem anderen, gleichfalls undenkbaren Vorschlag.

„Aber, ich will dich! Dann lass uns zusammen davon laufen. Jetzt gleich!“

Jetzt lachte Mary sogar. „Und wovon sollen wir leben? Glaubst du deine Eltern würden dich dann immer noch unterstützen?“ Mary schüttelte den Kopf.

„Irgendetwas wird mir schon einfallen. Außerdem habe ich genug gespart.“

„Auch das wird irgendwann aufgebraucht sein und ich kann nicht alles machen.“

„Mary-“

Ihre Hand fuhr seinen Arm hoch und berührte ihn an der Wange. „Jonathan, höre mir zu. Du kannst nicht auf dieses Leben verzichten, auch wenn du es im Moment wirklich so meinst. Du bist an deine Privilegien gewöhnt, an deine Standards, du könntest niemals ein armer Mann sein. Auch ich könnte dir all das nicht ersetzen und dich glücklich machen. Es würde am Anfang vielleicht reichen, aber nicht auf Dauer. So bist du nun einmal und das ist vollkommen in Ordnung. Es ist einer der Gründe, warum ich dich liebe. Aber du kannst nicht in meiner Welt leben, genauso wenig, wie ich jemals in deiner Leben werde.

„Deswegen wollte ich nicht darüber reden. Es führt zu nichts und bringt uns beiden nur Schmerz und Leid.“

„Was soll das heißen? Heißt, dass du willst nicht… willst nicht bei mir sein?“, fragte er schluckend.

„Ich will bei dir sein, mehr als du dir vielleicht vorstellen kannst. Aber es geht nicht. Wir müssen uns an gewisse Regeln halten, um deinetwillen und um meinetwillen.“

Jonathan lachte bitter. „Jetzt klingst du wie mein Vater.

„Jonie, sei ehrlich. Denke gründlich darüber nach, was ich dir gerade gesagt habe, denke daran, was für Konsequenzen unser Handeln hätte. Könntest du sie für den Rest deines Lebens tragen?“

Er schwieg einen Moment und kannte doch die Antwort bereits. Er küsste Mary erneut und legte all seine Verzweiflung und Sehnsucht in diesen Kuss. „Ich wünschte, ich könnte sagen, es wäre mir egal.“, sprach er, nachdem er sich von ihr gelöst hatte. „Aber es ist mir nicht egal. Es ist mir nicht egal, was andere über mich denken – oder über dich – und es ist mir auch nicht egal, welches Leben ich führe.“ Es war alles nur unbedachtes Gerede gewesen. Jonathan kam sich so unglaublich dumm vor.

Mary lächelte nun und ließ sich gegen seine Brust sinken. „Ich weiß und es ist einer der Gründe, warum ich dich so sehr mag. Du bist stolz und du stehst dazu. Das würde nicht jeder.“

„Es tut mir leid.“, wisperte er gegen ihr Haar. „Ich wünschte, ich wäre stärker. Ich wünschte, ich…“

„Das muss es nicht. Ich weiß nun, was du fühlst und das macht mich glücklich. Es genügt mir.“

„Aber mir genügt es nicht!“, stieß er aus. „Ich will dich küssen, ich will dich in meinen Armen halten, ich will alles von dir, verstehst du denn nicht? Ich will das Bett mit dir teilen.“

Marys Gesicht nahm eine tiefrote Farbe an und Jonathan konnte nicht anders und küsste sie erneut. Allein die Vorstellung, dass sie so in seinem Bette liegen könnte, ließ ihn fast verrückt vor Verlangen werden.

„Werde meine Geliebte“, sagte er schließlich schwer atmend. „Niemand würde etwas dagegen sagen. Es ist normal für Männer in meinem Alter und so könnten wir trotzdem zusammen sein.“

Plötzlich schien es als würde Marys Gesicht versteinern. Mit der flachen Hand schob sie ihn von sich und strafte die Schultern. „Ich weiß, dass du nicht darüber nachgedacht hast, aber du hast vergessen, dass auch ich meinen Stolz habe. Ich würde niemals die Geliebte von irgendjemand werden. Auch, wenn meine Vorstellung naiv ist, so will ich, dass ich die einzige bin für den Mann, dem ich mich hingebe.“

„Aber das würdest du sein!“

„Nein, nicht für immer. Irgendwann wirst du eine andere heiraten müssen und was wird dann geschehen? Nein, ich werde nicht deine Geliebte. Ich weiß, dass ich es nicht ertragen könnte mit dem Gedanken zu leben, dass irgendwann eine anderen kommen wird oder dass ich dich mit ihr teilen müsste. Und auch wenn es mir egal ist, was die anderen Mädchen denken, so ist es mir nicht egal, was meine eigenen Eltern denken.“

„Es gibt keine Hoffnung für uns?“, fragte er fast tonlos.

„Es ist besser so. Ich könnte dich nicht glücklich machen, nicht für immer“, flüsterte sie. Erneut rollte eine Träne ihre Wange hinab, doch dieses Mal machte sie sich nicht die Mühe sie fortzuwischen. Für Jonathan war dies der Beweis, dass es ihr ebenso schwer fiel, wie ihm. Es gab keine Zukunft, mit der sie beide hätten leben können, in der sie beide glücklich gewesen wären.

„Wir sollten zurückgehen“, sagte er steif. Seine Gefühle waren so durcheinander, dass er nicht einmal klar denken konnte. „Deine Mutter ist sicher schon ganz krank vor Sorge.“

Er nahm sie bei der Hand und in die andere die Zügel des Pferdes, das die ganze Zeit grasend neben ihnen gestanden hatte. Doch als er vorausging, merkte er, dass sie noch immer stand.

Unaufhaltsam strömten Tränen ihre Wange hinab und immer wieder schüttelte sie den Kopf. „Ich… Jonie, wir… es tut mir leid.“

Ruckartig schloss er sie in die Arme und küsste sie so heftig, dass es sogar ihn schmerzte. Nie würde er sie diesen Kuss vergessen lassen. Nie sollte sie den Kuss eines anderen genießen können.

Den Kuss eines anderen…

Abrupt ließ er sie los und starrte sie an, dann küsste er sie noch einmal.

„Keinen Andern, hörst du, Mary! Du darfst nie einen anderen außer mir haben!“, redete er scharf auf sie ein. Die Vorstellung, dass ein anderer sie besitzen würde, sie genauso küsste und berührte oder sie gar liebte, ließ heiße Wut in ihm aufsteigen. Er wüsste nicht, was er tun würde, wenn er diesem Menschen irgendwann gegenüber stehen würde.

Sie war verwirrt, dass konnte er sehen, dennoch nickte sie. „Ich verspreche es.“ Es beruhigte ihn ein wenig, doch das enge Gefühl um seine Brust konnte das Verspreche nicht vertreiben.

Jonathan kreuzte seine Finger mit ihren. „Bereit?“

„Nein, aber da könnten wir noch ewig hier stehen.“

„Was wirst du deiner Mutter sagen?“

„Ich habe mich verlaufen und hatte Angst die Nacht im Wald zu verbringen.“

Einen Moment schwiegen sie, dann richtete er noch einmal das Wort an sie. „Was soll jetzt aus uns werden? Werden wir uns noch sehen?“

„Könnten wir es ertragen uns zu sehen und so zu tun als ob nichts geschehen wäre?“, stellte Mary die Gegenfrage.

„Ich weiß, dass ich es noch weniger ertragen könnte, dich gar nicht mehr zu sehen“, sagte Jonathan leise.

„So geht es mir auch.“ Er festigte seinen Griff in ihrer Hand noch ein wenig mehr.

Den Rest des Weges gingen sie schweigend nebeneinander.



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