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Das Totenhemd

Ein Grimm Abenteuer
von

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Hambach

Gegen Abend erreichten wir Hambach, Cétric blickte aus dem Fenster und folgte den Menschen auf der Straße mit seinen Blicken. Er schien wie ein kleines Kind, welches zum ersten Mal in seinem Leben Schnee zu sehen bekam und irgendwie beschlich mich das Gefühl, dass etwas an seinen Erzählungen nicht stimmte.
 

„Siebzehn Jahre. Siebzehn Jahre ist er nun im Dienst der Familie und man hatte ihm Deutsch beigebracht. Warum? Sie wusste, dass sie nicht zurück konnte. War das Alles geplant von ihr? Nein, sie konnte kaum davon ausgehen, dass ich sie holen kommen würde. Warum kann er dann deutsch? Wer würde schon einen Stummen einstellen?“, murmelte Jacob über seine Suppe gebeugt, als wir allein im Schankraum einer Herberge saßen.
 

Philippe hatte sich ebenso wie Cétric schon früh zurückgezogen, wobei der Diener in unserem Zimmer mit schlief. Nun er war eben noch recht jung und hatte womöglich schon lange keine längere Reise mehr unternommen. Vermutlich war dies auch seine erste wirklich größere Reise. Den ganzen Abend über saß mein Bruder nun schon über der Suppe, bröselte das Brot hinein und stellte eine Frage nach der Anderen, welche allerdings stets unbeantwortet blieben. Ich vermochte ihm keine wirklich hilfreiche Antwort geben zu können, sondern versank in meinen eigenen Überlegungen.

Es war recht spät, als wir uns auf unser Zimmer begaben. Auf Zehenspitzen schlichen wir uns durch den Raum, möglichst bedacht den Burschen nicht zu wecken. Lautlos entkleideten wir uns und schlüpften in unser Bett. Mitten in der Nacht wurde ich durch leises Murmeln und Schluchzen geweckt. Zuerst meinte ich, mir müsste wohl noch träumte oder von der Straße her rühren musste. Doch dann wurde mir bewusst, dass jemand in unserem Zimmer redete und leise weinte. Ich beugte mich zu Jacob hinüber, welcher tief und fest schlief. Also schob ich mich aus dem Bett, schlich durch das Zimmer und folgte den Lauten, welche mich direkt zu dem Bett von Cétric führten. Eine Sinnestäuschung? Hatte der Anwalt nicht gesagt, dass der Diener schon immer stumm war? Und nun flüsterte und raunte dieser in seinem Bett, als würde er von einem schwerem Albtraum geplagt. Im Mondlicht vermochte ich die Tränen auf seinen Wangen zuerkennen und plötzlich bohrten sich Worte in mein Bewusstsein. Es war mehr wie ein Windhauch, dennoch war es deutlich.
 

„Evelyne bleib. Bitte, verzeih mir.“
 

Mir stockte der Atem, denn obwohl die Stimme so lieblich klang, süßlich in meinen Ohren widerhallte, wog der starke französische Akzent schwer. Hatte uns Defout betrogen? Oder war auch er betrogen worden? Aber wer war Cétric wirklich? Mir schossen die Worte von Jacob durch den Sinn. Siebzehn Jahre hatte er als Diener bei der Familie gedient und hatte Lesen, Schreiben, sowie Deutsch und Englisch gelernt. Dinge, welche nicht einfach so einem gewöhnlichen Diener beigebracht werden, besonders da die Handschrift weich und elegant war. Der Lehrer war nicht darauf bedacht gewesen, dem Burschen nur die Schriftführung zu zeigen, sondern achtete auch auf Schönheit und Brillanz. Wenn wir Cétric Feder, Tinte und Papier reichen würden, dann würde nicht ein Tropfen vergeudet werden. Das Papier nicht unbeholfen aufgekratzt und durchbohrt worden. Vor mir tauchte das Bild des Erben Bonapartes auf. Die Nacht, in welcher uns Goethe die ganze Wahrheit über den Verbleib des Kindes offenbart und wir dem badischen Königshaus den Rücken gekehrt hatten. Ich schüttelte den Gedanken von mir, wischte über meine Augen und blinzelte in das Mondlicht. Nein, genug der Intrigen und Spiele des Dichterfürsten. Er war es letztlich nicht gewesen, welcher uns dem Rittmeister von Recke empfahl, sondern es war ein Schriftstück der verstorbenen Comtesse, ihr letzter Wille. Ich schlich mich zurück in mein Bett und schloss die Augen, für einen kurzen Moment dachte ich über alles nach, lauschte den leisen gehauchten Bitten des Burschen und schlief dann wieder ein.

Am nächsten Morgen wollte ich meinem Bruder davon berichten, was ich gehört hatte, doch er war bereits aufgestanden und frühstückte in der Schankstube. Cétric war ebenfalls schon auf den Beinen, er hatte sich vor den Spiegel über die Waschschüssel gebeugt und wusch die Tränen der Nacht aus seinem Gesicht. Leise setzte ich mich auf, beobachtete den Diener und versuchte mich der Stimme zu entsinnen. Dann richtete er sich auf, die Augen waren geschlossen, das Haar feucht und nach hinten gestrichen, so dass ich nun in das feingeschnittene jugendliche Gesicht sehen konnte. Schließlich öffnete er die Augen und ich sah nun wie groß und traurig sie waren. Es schien, als hätte dieser junge Mensch schon zu viel Elend gesehen, um noch über irgendeine Grausamkeit zu erschrecken.
 

„Guten Morgen, Cétric. Wie hast du geschlafen?“, fragte ich fröhlich.
 

Mit einem sanften Lächeln wandte sich der Bursche um, nickte und schien heiter. Dennoch hielt er die Fassade aufrecht und schwieg, so dass ich beinahe überzeugt war, dass ich nur geträumt haben musste. Ich beobachtete, wie er seine Brille auf die Nase schob, sich durch das Haar fuhr und die langen Strähnen in sein Gesicht zog, ehe der Diener die Kappe auf den Kopf setzte und sich das Hemd in die Hose stopfte. Zum Schluss hing er sich die Tafel um den Hals und deutete eine Verbeugung an, ehe er dann auch hinunter in die Stube ging. Erfrischt und gewaschen verließ ich nur wenige Augenblicke später das Zimmer, setzte mich an den Tisch wo bereits der Kutscher, Jacob und Cétric Platz genommen hatten und hörte noch wie mein Bruder über die weitere Route zu diskutieren schien. Plötzlich schlug der Kutscher mit einer Hand auf die Tischplatte, worauf die Karte lag und seine tiefe Stimme unterbrach plötzlich die Ausführungen meines Bruders. Erst Augenblicke später wurde mir bewusst, dass es Philippe war, welcher sprach.
 

„Monsieur Grimm, diese Strecke ist umständlich und dauert zu lange. Wir sollten auf den vorgegeben Wegen bleiben, so umgehen wir die größeren Städte und somit auch den Gendarmen. Ich habe kein Interesse daran mich vor einem Ihrer Königen und Herzögen zu rechtfertigen. Diese Aasgeier warten nur auf eine Gelegenheit uns einen Streich zu spielen und la Madame ist der beste Köder. Non, ich riskiere nichts.“, grummelte er und schnaubte.
 

„Philippe, sein Sie bitte vernünftig, wir können Frankfurt nicht so einfach umfahren, das würde die Aufmerksamkeit noch mehr auf uns lenken. Bedenken Sie doch, wir haben schließlich kein gewöhnliches Gepäck bei uns und die Durchfahrt erspart uns vier Stunden durch den Wald und womöglich einen Bruch der Achse oder Räder zu riskieren. Außerdem verstecken sich noch immer viele Deserteure dort und einen Überfall können wir noch weniger riskieren.“
 

Der Kutsche knurrte ungehalten auf, öffnete den Mund und wollte wohl erneut wiedersprechen. Es war Cétric, welcher seine Hand auf die Schulter des kräftigen Mannes legte und so dessen Blick auf sich zog. Die harte Miene machte eine Veränderung durch, der Ausdruck wurde zärtlich, ja liebevoll und sanft.
 

„Bien, fahren wir nach Frankfurt. Sie allein tragen alle Verantwortung Monsieur Grimm.“, knirschte Philippe und erhob sich.
 

Geschlagen verließ der Franzose das Gasthaus, ließ die Tür hinter sich laut ins Schloss fallen und stapfte am Fenster vorbei zu dem Stall, wo Kutsche und Pferde standen. Irritiert blickte ich meinen Bruder an, legte den Kopf leicht auf die Seite und beobachtete, wie er die Karte wieder zusammen faltete.
 

„Warum um Himmels Willen, willst du unbedingt nach Frankfurt? Philippe hat Recht, es ist ein Umweg und vermutlich werden wir dort länger aufgehalten.“, warf ich ein und lehnte mich etwas zurück.
 

„Ich möchte nur sicher gehen.“, murmelte er und beugte sich leicht zu mir hinüber.
 

„Du hast ebensolche Bedenken wie ich bei dieser ganzen Angelegenheit. Und was damals in Karlsruhe geschehen ist, dürfte dir wohl kaum entfallen sein. Ich möchte einfach nicht wieder in irgendeine Intrige oder Staatsangelegenheit hineingezogen werden.“, raunte er und blickte sich nach dem Diener um.
 

„Karlsruhe? Jacob, Cétric ist bei weitem älter und kann unmöglich… .“, mein Bruder gebot mir zu schweigen.
 

„Das habe ich nicht behauptet und auch nicht gemeint. Aber überlege doch einmal selbst. Eine angesehene und sehr vermögende Familie stellt einen stummen Knaben als Bursche ein. Er kann sich nicht verständigen und so wird beschlossen, dass er unterrichtet wird und nicht nur in seiner eigenen Muttersprache, sondern auch in zwei anderen Sprachen, welche er verstehen und niederschreiben kann. Die Handschrift ist geschwungen und elegant. Dem Jungen wurde nicht einfach nur Buchstaben schreiben gelehrt. Cétric überlegt was er schreibt, wie er es schreibt und korrigiert seine eigene Handschrift. Glaubst du nicht, dass es für einen einfachen Bediensteten zu viel Gelehrsamkeit ist? Zu viel Wissen? Genauso gut könnte Cétric auch ein Sohn aus gutem Hause sein, es würde keinen Unterschied machen. Ich bin mir sicher, dass er eine überaus gebildete und gute Erziehung genossen hat.“, murmelte Jacob und tippte mir kurz gegen die Stirn.
 

„Du glaubst also, dass Cétric nicht der ist, der er vorgibt zu sein. Folge ich dir richtig?“
 

Jacob nickte und schob mir dann sein Frühstück zu. Ein halbes Ei auf Brot und dazu einen halben Humpen Milch. Misstrauisch betrachtete ich meinen Bruder, welcher noch immer Cétric aus einem Augenwinkel heraus betrachtete.
 

„Gewiss, denn der Comte de Chasy-Mirandeau war ein strenger und hartherziger Mann. Ein Aristokrat, adlig von Geburt an und über das gemeine Volk sah er stets hinweg. Bedienstete waren für ihn nicht bedeutsam und er schenkte ihnen keinerlei Beachtung. Er war ein Gegner der Citoyen und selbst in der Bourgeoisie galt für ihn einzig beachtenswert, wer ein Gelehrter oder hoher Beamter war, diesen schenkte er seine Aufmerksamkeit auch wenn sie keinen Adelstitel trugen. Der Comte war ein Royalist und ein Franzose mit Nationalstolz, nie wäre ihm in den Sinn gekommen sich mit England oder Preußen zu verbünden. Ich gehe sogar so weit zu behaupten dass er ein Sympathisant Napoleons war und er wäre gegen uns in den Krieg gezogen, wenn es nicht Marianne in seinem Leben gegeben hätte. Warum also sollte ein Mann wie er, einem Diener wie Cétric eine solche Erziehung gönnen?“
 

Jacob sah mich an, legte einen Finger an seine Lippen und hob eine Augenbraue, wie er es für gewöhnlich immer zu tun pflegte, wenn er intensiv über etwas nachdachte oder eine Theorie hatte und nun meine Meinung dazu hören wollte. Ich allerdings aß von dem Brot, trank von der Milch und vergrub mich für einen Moment in meine eigenen Gedanken. Immer wieder kam mir diese Stimme in den Sinn. Als ich wohl nicht sofort reagiert, umschloss Jacob mein Handgelenk und ich blickte auf.
 

„Woher weißt du so viel über den Comte? Kanntest du ihn näher?“, fragte ich ihn unvermittelt und legte kurz meinen Kopf auf die Seite.
 

Mein Bruder ließ mich los, blickte sich kurz um und schüttelte dann vehement den Kopf, so als wollte er einen schlechten Gedanken abschütteln. Röte schoss kurz über seine Wangen: „Was? Nein, ich sagte dir doch, dass die Comtesse eine Bekannte war.“
 

„Das schon, aber du hast mir nie von ihr erzählt. Jacob, war sie der Grund für deine zweite Reise nach Paris?“, jetzt wollte ich es doch näher wissen.
 

Damals war ich davon ausgegangen, dass einzig und allein die Studien Jacob stets aus meinen Armen gerissen hatte und die Ruhelosigkeit sich seiner bemächtigte, wenn er Deutschland verließ. Ich wartete darauf, dass ich eine Nachricht aus Afrika, Indien oder China erhalten würde, in welcher mir Jacob von den Schönheiten der fernen Länder berichtete. Ich hatte es nie nachvollziehen können, warum er in die Ferne fuhr, wo es doch in unserem Lande so manch schöne Idylle lockte und zum träumen anregte. Er war schon immer mehr der Realist und Denker gewesen, welcher sich mit trockenen Theorien von Wissenschaft und Religion beschäftigte. Ihn aus der Ruhe zu bringen, vermochte ich nie, umso erstaunte war ich, dass meine Worte solch eine Reaktion verursachten. Jacobs Augen wurden glasig, seine Lippen zitterten leicht und Röte schoss ihm in Stirn und Wangen.
 

„Unsinn.“, zischte er und wandte sich ab.
 

Scheinbar suchte er nun nach einem Themawechsel, aber ich war neugierig geworden. Da stand doch mehr dahinter, als es den Anschein haben mochte. Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus, ich neigte mich nach vorn und blickte ihm keck in die Augen.
 

„Hast du sie geliebt, Jacob?“, neckte ich ihn.
 

„Nein, das habe ich nicht. Sie war nur eine Bekanntschaft und sie war verheiratet.“, er wagte es nicht seine Stimme zu erheben.
 

„Das mag ein Argument sein, aber gewiss kein besonders großer Hinderungsgrund. Du hast gesagt, sie war jünger als du. Und auch Cétric hast du sehr intensiv über sie ausgefragt. Und du warst zwanzig, ein junger und leidenschaftlicher Mann. Warum also nicht?“, erklärte ich ihm darauf hin mit gleichgültigen Ton und entsann mich an die viele Male, in welchen ich in heißblütiger Liebe zu einer Frau entbrannt war.
 

Laut Jacobs Erzählungen war sie gerade frisch verheiratet gewesen und vermutlich auch ein hübsches Mädchen gewesen, als er sie kennengelernt hatte. Und man mochte von meinem Bruder behaupten was man wollte, ich konnte mir kaum vorstellen, dass nicht auch er schwach bei einer Schönheit wurde. Warum dann also nicht auch die Comtesse?
 

„Nein, Wilhelm, nein. Ich hatte keine Liebschaft mit ihr unterhalten.“
 

Mir stockte der Atem und für einen Augenblick schienen meine Gedanken nur so zu rasen. Auch wenn es stets Jacob war, welcher offensichtliche Tatsachen in einen Zusammenhang brachte, so war ich es nun, der mit einem leicht triumphierenden Grinsen vor ihm saß und mahnend einen Finger hob.
 

„Das habe ich auch gar nicht behauptet. Ei, großer Bruder. Da hast du dich wohl selbst verraten.“
 

Jacobs Gesicht glühte und ich glaubte schon, er würde aufspringen und mir lautstark erklären, was für ein Narr ich doch sei und auf welche Gedanken ich doch käme. Doch stattdessen knirschte mit den Zähnen und presste ein „Genug jetzt.“ hervor. Ungewohnt störrisch wandte er sich ab und betrachtete Cétric, der offensichtliches Vergnügen daran hatte, dem Wirt einige Wortspiele aufzudrängen.
 

Mir kam ein Einfall und so lehnte ich mich mit einem sanften Lächeln zurück schloss die Augen und legte meine Hände auf den Bauch, ehe ich Jacobs Aufmerksamkeit zurück gewann und meinte, dass ich vielleicht Cétric befragen sollte, ob mein Bruder ein gern gesehener Gast im Hause de Chasy-Mirandeau gewesen war. Und vor allem ob der Comte immer zugegen gewesen sei. Ich trank einen erneuten Schluck von der Milch. Doch ich bereute kurz darauf meine Entscheidung und meine Worte, denn die darauffolgende Antwort, hätte ich nie erwartet. Jacob stierte mich aus wütenden Augen an, seine Hände öffneten und schlossen sich.
 

„Du lässt meinen Jungen in Frieden.“, knurrte er und es schien, als wollte er mich am Kragen packen und mich auf die Wange schlagen.
 

Es dauerte einige Zeit, ehe ich meine Fassung zurück bekam und es schien mir als würde in meinem Hals das Brot mit dem Ei stecken bleiben. Ich hustete etwas, wischte über meinen Mund und rieb mir die Tränen aus den Augen, ehe mir Worte über die Lippen kamen: „Deinen Jungen?“
 

Über seine unbedachten Worte wohl selbst erschrocken, fiel Jacob leicht in sich zusammen, erbleichte und errötete zugleich, ehe er aufstand und mich von oben herab an sah. Noch im selben Atemzug wandte er sich mit einem „ Ach, lass mich zufrieden.“ ab und wollte gehen, doch ich hielt ihn zurück, erinnerte ihn an die Worte von Cétric. Hatte dieser nicht erzählt, dass die Ehe sei kinderlos geblieben war? Wie also kam mein Bruder nun auf einen solch absurden Gedanken? Ich konnte mir auch nur schwerlich vorstellen, dass Jacob einfach ein Kind mit einer verheirateten Frau gezeugt und sie dann einfach ihrem wütenden Ehegatten überlassen haben soll. Und entgegen meinem Bruder hatte ich das Gesicht des Burschen gesehen, es gab keinerlei Ähnlichkeiten zu ihm. Weder eine Geste, noch Mimik oder ein Blick, selbst im Schlaf nicht. Aber ich wusste auch nicht, wie die Comtesse aussah, es war also gut möglich, dass er ihr ähnlich sah. Mein Bruder blieb stehen, blickte erst auf meine Hand und dann wandte er den Kopf zu mir um und sah mich an. Ich kannte diesen Blick. Diesen ernsten wissenden Blick, welcher mich immer wieder eines Besseren belehrte.
 

„Überlege doch einmal selbst Wilhelm. Die Bildung, der Umgang von Philippe und dieser resignierte Blick, als er sich gegen Frankfurt wehrte. Ein gestandener Mann hört auf einen Knaben? Glaubst du wirklich, dass man einem Kind der Comtesse erlauben würde Preußen einfach so zu bereisen? Ein Diener ist unauffällig und es gibt keine Frage, besonders da er stumm ist. Du warst in Karlsruhe dabei, du hast diese ganze Intrige doch mitmachen müssen. Glaubst du, dass das Haus Baden die Einzigen sind?“
 

Bei seinen Worten schreckte ich zusammen, zog meine Hand, welche bis dahin sein Handgelenk umschlossen hatte zurück und ließ mich dann wieder auf meinen Stuhl sinken. Sicherlich war die Erziehung des Dieners ungewöhnlich, besonders weil der Comte zu seinen Lebzeiten kein so angenehmer Mensch gewesen sein soll. Aber war es wirklich so sehr auszuschließen? Warum sollte die Comtesse nicht eine Möglichkeit gesehen haben, dass Cétric als Sohn des Comtes erzogen und dann das Erbe angetreten haben mochte? Aus Jacobs Worten hatte ich entnommen, dass sie einen sehr großen Einfluss auf ihn gehabt haben mochte. Gut möglich also, dass sie ihm diesen Vorschlag unterbreitet und sich dann der Aufgabe angenommen hatte. Ebenso glaubte ich nicht, dass der Diener so jung war, auch wenn er sehr zierlich und schmächtig wirkte. Er musste an die zwanzig sein und wenn der Bursche wirklich der Sohn meines Bruders wäre, dann müsste er jetzt sechzehn Jahre zählen. Cétric schrieb auf die Frage nach seinen Dienstjahren die Zahl siebzehn auf die Tafel. Allerdings wollte ich Jacob nicht auf diesen kleinen Fehler hinweisen, denn er müsste es doch selbst bemerkt haben. Es war wohl die bessere Entscheidung. Ich ließ es mir nicht nehmen, ihn darauf hinzuweisen, dass in Karlsruhe die Intrige um Napoleons Erben, den zukünftigen Herrscher des französischen Reiches, gesponnen wurde und nicht um den Sohn einer verbannten Frau, auch wenn sie einen noch so großen Einfluss gehabt haben mochte.
 

„Jacob, ich bitte dich. Cétric ist lediglich ein gut erzogener Diener und es wird eine andere Erklärung dafür geben. Auch wenn es erfreulich gewesen wäre, du als Vater. Ach Jacob, mein armer Bruder, du siehst um dich herum nur Intrigen und Betrug.“, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.
 

Ich wollte nicht, dass er sich falsche Hoffnungen machte, nur damit er nachher enttäuscht wäre. Doch Jacob war nicht von der Idee abzubringen, dass konnte ich in seinem Gesicht ablesen und ich kannte ihn auch nur zu gut. Er warf den Kopf kurz in den Nacken und meinte dann mit der so gewohnt gefassten und nüchternen Art: „Ich warte bis Frankfurt, dann bin ich mir sicher.“
 

Eben in diesem Moment trat Cétric an unseren Tisch, ließ sich neben Jacob auf den Stuhl sinken und lächelte uns fröhlich an. Getrieben von den Worten meines Bruders, suchte ich in seiner Mimik nach Ähnlichkeiten während ich den Rest des Frühstücks verspeiste. Jacob sank neben den Burschen nieder, sein Atem schien zu stocken, seine Lippen zitterten leicht und ich konnte sehen, wie er sich gegen das aufkeimende Bedürfnis sträubte, den vermeintlichen Sohn in die Arme zu schließen. Sein ganzer Leib war an gespannt und die Knöchel an den Händen färbten sich weiß. Oh ich vertraute auf die Vernunft von Jacob, hoffte dass er über seine Worte noch einmal nachsann oder vielleicht selbst seinen Fehler bemerkte. Plötzlich schwang die Tür auf und frische Luft strömte hinein.
 

„Wir fahren weiter.“, dröhnte die Bassstimme durch die Stube und ließ mich kurz zusammenfahren.
 

Philippe hatte ich vollkommen vergessen, auch dass er die Pferde angespannt hatte und nun darauf drängte weiter zu fahren. So schlang ich den Rest des Frühstücks hinunter, wischte mir die Lippen sauber und bedankte mich bei dem Wirt, welcher doch recht verwirrt drein blickte. Jacob war indes scheinbar dankbar aufgesprungen, warf einige Münzen auf den Tisch und durchmaß die Schankstube eiligen und weiten Schrittes. Ich nun meinerseits und auch Cétric versuchten mit meinem Bruder mitzuhalten, allerdings war er bereits in die Kutsche gestiegen und hatte sich auf seinem Platz niedergelassen. Da der Diener nun nicht mehr so leicht an Jacob vorbei konnte, drängte sich dieser nun an meinem Bruder vorbei, wobei sich beide Gesichter recht nah kamen. Ich bemerkte wie der Bursche jeglichen Blickkontakt mied, ja seinen Kopf regelrecht abwandte und ich meinte gar, dass er den Atem anhielt. Er ließ sich dann neben meinem Bruder sinken, schloss die Augen und atmete hörbar aus. Bereits am dritten Tag unserer Reise ahnte ich schon, dass mein Bruder und ich wieder einmal einem abenteuerlichen Geheimnis auf der Spur waren, was uns erneut so manch schlaflose Nacht bescheren würde. Allerdings hoffte ich, dass unser Leben dieses Mal nicht in jedwede Gefahr geraten würde.



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