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Meeresruf

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Das letzte Kapitel... Die letzten Passagen gingen mir erstaunlich leicht von der Hand.
Nun neigt sich alles dem Ende zu und ich möchte euch nicht weiter aufhalten.
Viel Spaß beim Lesen. Komplett anzeigen

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Unsere Sehnsucht

Der nächste Morgen graute und wir waren schon sehr früh auf den Beinen. Seit den Geschehnissen der letzten Tage verstanden wir uns besser denn je, doch rüttelte eine leise Sehnsucht in mir, die ich zu ignorieren versuchte.

„Shuichi!“, rief er und weckte mich aus meinem Gedankenwirrwarr. Ich war mitten auf dem Weg stehengeblieben, wir wollten noch vor Sonnenaufgang zur Terrasse gehen und ihn uns ansehen. Letzte Nacht hatten wir sehr viel geredet, über Belangloses, über Ernstes, über Alles. Ich beeilte mich, ihm zu folgen, denn er schritt weiter voran.

So wie die Zeit immer weiter nach vorne schritt, ohne sich nach hinten umzusehen.

Bei der Terrasse angekommen, schauten wir auf das Meer. Die sanften Wellen schlugen gegen die Wellen, ein Plätschern erfüllte die Luft, der salzige Meergeruch hing überall, doch er war nicht unangenehm.

Schließlich rissen wir unseren Blick förmlich von den Wellen ab, vom Meer weg, und drehten uns nach Osten, der Richtung, in der die Sonne jeden Tag aufging.

Es war schon ulkig. Menschen, die sich seit jenem schicksalshaftem Tag, an dem sie zum ersten Mal eine fremde, sanfte, und doch traurige Stimme hatten singen hören, und dessen Zukunft sich nur um sie und das Meer, in dem sie irgendwann für immer leben mussten, schauten sich den Sonnenaufgang an.

Der Himmel leuchtete in den klaren Farben des Morgens. In einem sanftem Rot, ein leuchtendes Gelb, blasses Blau und Lila. Und die Sonne, um die unser Sonnensystem kreiste, kam hoch. Ganz langsam, kaum merklich, schlich sie sich am Himmel hinauf und begrüßte den Morgen.

Ich hatte noch nie gehört, dass das jemals Schüler der Akademie gemacht hatten, doch irgendwie verlangte es uns danach, genau dies zu tun. Es war mir ein Rätsel, wieso und warum, aber ich dachte, dass ich meinen Gefühlen vertrauen konnte. Ich wusste, dass ich mich damit immer weiter ihr und ihrer Welt tief im Meer trennte. Es machte mir Angst, doch im selben Grad, in dem ich Angst hatte, wollte ich meine Freundschaft mit ihm vertiefen, ehe wir, davon war ich überzeugt, in diese blaue Welt versanken.

„Was wir wohl morgen machen werden?“, fragte er plötzlich.

„Was meinst du damit?“, fragte ich zurück, verwirrt, denn ich konnte seine Frage nicht einordnen und beantworten erst recht nicht.

„Na, ich meine damit, was wir morgen machen werden.“

„Das, was wir heute und eigentlich das vorige Trimester gemacht haben, oder?“, antwortete ich, immer noch verwirrt. Warum fragte er das?

Nun schwieg er, betrachtete nachdenklich die lebenspendende Kugel, die den Himmel Tag für Tag erleuchtete.

„Lien?“ Zögerlich bewegte sich meine Stimme in ebenso ängstlichen Schallwellen durch die Luft.

„Hmm?“ Sein Gesicht wirkte so, als wäre er hochkonzentriert.

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja, ja.“ Er nickte nachdenklich. „Ja.“

„Wirklich?“

Erneut ein leichtes Nicken, immer noch war er in seinen Gedanken verloren. Ich seufzte leise und beobachtete dann weiter die Sonne, die sich immer weiter am Himmel nach oben bewegte. Das gleißende Sonnenlicht hinterließ Pünktchen in meinem Sichtfeld. Es war ein warmer Tag, dessen Morgen ich genoss.

Es war schon merkwürdig.
 

„So, damit ist der Unterricht beendet.“

Mal wieder hatten wir einen Film über die Muscheln geguckt, mit Filmen konnte man am besten vermeiden, dass ungewollte Informationen erfragt oder weitergegeben wurden. Blätter, über und über mit Notizen zum eben gesehenem, wurden ordentlich in Mappen eingeheftet. Geraschel und letztes, hastiges Gekritzel erfüllte den Raum. Ich sah auf meine fast reinweißen Papiere hinab und machte mir Sorgen, ob ich nicht zu auffällig war. Schließlich hatten andere beinahe ein ganzes Notizbuch gefüllt, wenn nicht sogar wirklich ein Ganzes.

Am Ende packte ich mit einem Hauch von Sorge meine Blätter ein und verließ den Raum als einer der ersten.

„Hei!“, rief Lien mir zu. Er wartete schon im Flur, der von Tageslicht durchflutet wurde. Doch das Licht, das durch die getönten Scheiben hinein drang, war nichts im Vergleich zur blendenden Helligkeit draußen.

„Ganz schon hell, was?“, merkte er an, ich nickte und versuchte, in Richtung Sonne zu blicken, doch sie schien einfach zu grell für mich. Schnell wandte ich meinen Blick von ihr ab.

„Wir schweben ziemlich in der Mitte, huh?“, sagte Lien auf einmal mit einem traurig anmutendem Lächeln. Ich verstand erst nicht wirklich was er meinte, doch als ich es verstand, setzten wir den Weg zum Wohnheim in melancholischem Schweigen fort.

War ich inzwischen so weit von ihr gerückt? Mit Wehmut erinnerte ich mich an sie, doch ich spürte nichts von ihr in mir. Nur meine Gefühle pochten alleine vor sich hin.
 

Ich konnte ihn nicht mehr sehen...

Mit schwerem Herzen wandte ich meinen Blick zur Erdoberfläche ab, zog das fühlende Tasten meines Geistes zurück und zog mich tief, tief zurück.

Er entfernte sich immer mehr, und jetzt, in diesen einsamen Augenblicken schwebte er auf der Wasseroberfläche, sodass er keinen Schatten auf den dunklen Meeresboden, an den ich gefesselt war, warf.

Alleine wiegte ich mich mit meinen starken Gefühlen an einen Ort, an dem ich diese Schmerzen nicht ertragen musste.
 

Die Tage verstrichen.

Rasten vorbei.

Beachteten die Bedenkzeit, die ich benötigte, einfach nicht.

Ich verbrachte immer mehr Zeit mit Lien, wir sprachen manchmal viel, manchmal schwiegen wir einfach in stillem Einverständnis in der Nähe des Anderen. Mir erschien Lien anfangs wie ein Fremdkörper, das war ganz früher noch gewesen, doch mit jedem Tag wurde er mehr und mehr Teil meines Lebens, wie ich es jetzt führte.

Trotz der friedlichen Stunden war da etwas immer allgegenwärtig. Ein Zerren, ein Ziehen, ich konnte es nicht recht beschreiben. Es war einfach da, und ich wusste nicht wieso es existierte. Warum es meine innere Ruhe aus der Balance brachte.

Es war auch nicht wie jenes melodische Rauschen, dieser wundervolle Klang, der mich zum Meer geführt hatte. Immer wieder besuchte er mich und zog mich in die Richtung des weiten Meeres, zu ihr.

Doch diesmal war da kein Rufen.

Nein, kein einziges.

Dieses Gefühl, das ich gerade, in diesem Augenblick verspürte...

Es kam von mir selbst.

Doch es war zerrissen. Ich wusste nicht, was ich wirklich wollte, wonach ich mich wirklich sehnte. Würde ich diese Wärme, die ich gefunden hatte, verlassen können? Ich war ein regelrechter Ozean der Unwissenheit, der Unentschlossenheit.

Ocean...

Dieses Gefühl tat weh. Es schnitt mir die Luft zum Atmen ab, ließ mich nachts weinen, eine Träne nach der anderen floss aus meinen Augen, doch kein einziger Laut war zu hören. Ich wollte Lien nicht beunruhigen und mit meinen Plagen belasten, doch gleichzeitig fragte ich mich, ob sie mich schon aufgegeben hatte.

Was sollte ich tun?

Die Tage setzten sich immerwährend fort, ohne dass ich meine Antwort gefunden hatte.

Ich wurde immer unkonzentrierter und passte immer weniger auf, ständig schweiften meine Gedanken ab, doch wenn man mich nachher fragen würde, worüber ich nachgedacht hatte, wusste ich es nicht mehr. Ich verlor langsam, aber sicher die Kontrolle über mein Handeln.

Was war bloß los?

Die Akademie versetzte mich in einen anderen Kurs, einen Kurs, dessen Name und Sinn geheim war.

Ich wurde in dieses Geheimnis eingeweiht, konnte es aber nicht glauben. Ich konnte nicht glauben, was die Professoren mir erzählten. Wollte es nicht glauben. Sie redeten mit hochroten Gesichtern, lächelnden Augen und wissbegierigen Blicken. Sie sahen mich wie ein Versuchsobjekt an, was ich wohl auch war.

Sie sagten mir, dass ich kurz vor einer Fusion stand.
 

Wieder einmal vergingen Tage und Wochen, vielleicht sogar Monate?

In diesem Sonderkurs war ich ganz alleine. Der Kontakt mit anderen Schülern wurde mir strikt untersagt, Lien hatte ich seitdem nicht mehr gesehen. Ich konnte mich nicht von ihm verabschieden, ich wurde einfach verschleppt. Von da an stand ich jeden Tag unter strenger Kontrolle, sie kapselten mich in ein Gerät ein, welches sich unter dem Meeresspiegel befand. Im Meer.

Sie beobachteten jeden meiner Gedankengänge mit Neugier und einem habgierigem Wissensdurst, der keinen Halt vor Privatssphäre machte. Er machte Halt vor nichts.

Sie spionierten jeden meiner intimsten und geheimsten Gedanken aus, doch wozu ihnen das nütze, wusste ich nicht. Ich konnte sowieso nichts machen.

Ich war hilflos.

Hilf mir...
 

Ich vernahm einen Laut. Mit schwachen Wellenschlängen erreichte er mein Ohr, strich über meine Haut, berührte mein Herz mit einem schmerzendem Stich.

Einsamkeit. Ertapptheit. Leere. Wünsche.

Es kam von ihm. Ich hörte ihn, spürte ihn, fühlte mit ihm, aber immer noch, immer noch konnte ich ihn nicht sehen.

Ich konnte nur für ihn, der nicht in meinem Blickfeld war, den ich nicht sehen konnte, lächeln.

Ich bin bei dir...
 

Sie antwortete mir. Immer wieder sandte sie mir ihr gedankliches Lächeln mit ihren aufmunternden Worte, doch weil ich das nicht wollte, kappte ich die Verbindung wieder.

Wir wurden beobachtet.

Ich wollte nicht, dass diese Professoren meine Glücksmomente mitbekamen.

Meine Liebe zu ihr.

Aber immer noch hielt mich etwas zurück.

War es der Groll, der Hass gegen sie?

Nein, das war es nicht.

Ich erinnerte mich.

Ich erinnerte mich an die warmen Sonnenstrahlen, an das Gras unter meinen nackten Füßen. An den strahlenden Himmel. Ich erinnerte mich an den Regen, den Schnee. Ich erinnerte mich an wogendes Meer, tiefe Seen und reißende Flüsse. Erinnerte mich an so Vieles.

Ich wog ab.

Kalkulierte.

War es mir wert?

Freundschaft gegen Liebe.

Ich fragte mich, was mir wichtiger war.

Nein, das war eine dumme Frage. Ich konnte mich nie entscheiden.

Entschuldige...
 

Nein, das musst du nicht.

Seit langem konnte ich wieder etwas von ihm in meinem Herz erklingen hören. Ich wusste um seine Lage, er hatte sie mir stumm übermittelt. Dies war die Schäche der gedankenlesenden Professoren. Sie konnten nur Wort umsetzen, nicht aber die Bilder, die so zahlreich in unseren Köpfen vorhanden waren. Immer da waren.

Ich konnte wieder nur lächeln und warten, denn die Entscheidung, die würde er letzendlich selbst treffen müssen.
 

Wieso drängte sie mich zu nichts? Sie lächelte und machte mir Mut. Sie sagte nicht, dass ich mich entscheiden solle. Nicht wie meine Eltern, die Professoren, die ganze Welt.

Ich selbst.

Ich wollte endlich eine Antwort finden, doch ich konnte es einfach nicht.

Wieso?

Ich wollte nichts verlieren. Nichts von alledem verlieren. Ich wünschte mir, nichts weggeben zu müssen und doch etwas zu erhalten.

Es war egoistisch.

Ich konnte nur trocken über mich lachen, ich war so ein Idiot.

Ein vollkommener Idiot.
 

Ich wusste wirklich nicht mehr, wie lange ich nun hier lag. Oder schwamm ich?

Meine Empfindungen stumpften ab, hier herrschte nur die komische Schwerelosigkeit.

Ob sie mich hier heraus holen würden, wenn ich sie darum bat? Bestimmt nicht.

Wie alt ich wohl nun war? War ein Jahr vergangen? Ich wusste es nicht.

Hier waren nur ihre Gegenwart, die Professoren, die Schwerelosigkeit und meine Erinnerungen und Gedanken.

Ich sollte langsam wählen.

Konnte ich es nun?

Vielleicht.

War mein Wille stark genug, die Entscheidung ohne Bedauern zu verfolgen und zu verwirklichen?

Vielleicht.

Konnte ich abwägen?

Vielleicht.

Wie stehen meine Chancen für das eine wie das andere?

Keine Ahnung.

Es war eine vage Zukunft, für die ich mich schließlich entscheiden konnte.
 

Im Nachhinein fragte ich mich, was ich eigentlich gemacht hatte. Ich erinnerte mich nur noch an Alarmsirenen, die angingen und eine lange Schwimmetappe, aber niemand konnte mich aufhalten.

Wieso?

Keine Ahnung. Die Professoren wichen vor mir, war etwas passiert? Ich hatte keine Veränderung bemerkt. Ich durchquerte sicher mit erstaunlich klaren Erinnerungen an den Hinweg in mein Gefägnis den Weg zurück, um dann wieder das Sonnenlicht auf meiner nackten Haut spüren zu können. Es war Dämmerung und niemand war draußen. Wieso bloß?

Ich ging weiter den Erinnerungen nach, immerzu mit einem Verlangen.

Ich schritt durch die Flure nach oben, ganz nach oben. Folgte einem Geruch, der mir sehr vertraut war.

An meinem Ziel angekommen, wartete er auf mich. Ich wusste nicht mehr so recht, ob er wirklich auf mich wartete, aber er war da. Mit ruhigen Blicken hatte er mich angesehen und mich dann angegrinst.

„Du gehst also? Wurde aber auch Zeit, dass du endlich zu ihr gehst!“

Wir umarmten uns und erst da merkte ich ein wenig meine äußere Erscheinung. Ich hatte nichts an und meine Haut... Sie wurde langsam hart und fing an wie Perlmutt im Licht der Abendsonne zu schimmern.

„Hui, so sieht das also aus“, hattest du lachend gemeint, als ich wie ein Weltfremder meine Haut betrachtete. „Na dann.“

Ich hatte mich wieder von ihm abgewendet, war zu einem der Fenster gegangen.

„Du gehst wirklich.“ Er kam nochmal zu mir. „Pass auf dich auf.“ Er klopfte mir auf die Schulter, als er sich ohne mich anzusehen umwandte und ich nur noch ein Türklicken hörte. Dann leises Schluchzen, aber meine Gefühle waren in diesem Moment von einer eigenartigen Stumpfsinnigkeit überzogen.

Nein, das war gelogen, aber ich hatte nicht gedacht, dass ich solch einen Willen besitzen könnte.

Ich sprang aus dem Fenster in das Freie hinaus, landete sicher auf allen vieren. Setzte meinen Weg zu ihr weiter fort.

Ich kam an den Strand, der Ort, wo ich ihr das erste Mal begegnete. Ich erinnerte mich mit einem Lächeln an sie zurück, als die Wellen um meine Beine schwappten, als würden sie mich willkommen heißen.

Endlich bist du da!, schienen sie zu rufen. Wie kleine verspielte Kinder umspülten sie bald meinen ganzen Körper. Ich genoss die letzten abendlichen Strahlen der Dämmerungssonne, die mich nun an die Dunkelheit übergab. Aber ich konnte noch nicht gehen.

Ich widmete noch einen Satz und ein Wort an die Sonne, die mich mein ganzes Leben lang begleitet hatte: „Selbst in der tiefsten Dunkelheit wird dein Strahlen mich noch erreichen. Danke.“

Danach rissen mich die Wellen mit sanfter Bestimmtheit in die Tiefe, in der sie auf mich wartete.
 

Endlich sind wir vereint.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich entschuldige mich für die langen, unmöglichen Wartezeiten und danke für das Lesen von "Meeresruf".
Danke. Komplett anzeigen

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