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Das Gegenteil von Winter

Fugaku/Mikoto
von

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Das Gegenteil von Winter

Kälte war das Einzige, was er wahrnahm – neben dem steifen Stampfen seiner Schritte, bei dem seine Zähne aufeinanderschlugen. Ob von dem Ruck oder weil er fror, war ihm die Überlegung irgendwie nicht wert.

Scheißkalt.

Der Judo-Club der Yukio-Mishima-Privatschule nahm sich ziemlich ernst, und man konnte beschönigend behaupten, dass der Großteil der Mitglieder nicht aus Liebe zum Sport in diesen Club eingetreten war, sondern auf den Druck ihrer Eltern hin. Fugaku zählte sich zu der vorbildlichen Minderheit, die freiwillig ihren Namen auf das Formular gesetzt hatte.

Weil er gewusst hatte, dass sein Vater ihn noch lieber im Kendo-Club sah, und der Drill dort war angeblich noch härter.

Das sonntägliche Training war noch unbeliebter als das restliche Programm, und besonders im Winter. Man musste kein Waschlappen sein, um davor zurückzuschrecken, in einem dünnen Judo-Gi und rutschigen Strohsandalen einen Rundlauf zu absolvieren. Die Mannschaft wurde in kleine Gruppen von fünf Schülern aufgespalten, um die Gelegenheit zum Reden zu reduzieren und den Ehrgeiz zu fördern.

Falls das nötig war, wenn die zuletzt eintreffende Gruppe eine Strafaufgabe bekam.

Fugaku bekam normalerweise die Route um das Wäldchen, doch diesmal fand er sich mit einer anderen konfrontiert – der Runde bei den Stauteichen, aus irgendeinem Grund die Beliebteste. Und einer fremden Gruppe.

Fugaku mochte niemanden aus dem Judo-Club besonders, allerdings war das auch nicht das Primärziel einer so teuren Schule. So wie es auch nicht das Primärziel dieses Rundlaufs war, Kondition aufzubauen, sondern einfach nicht bestraft zu werden.

Seine Schritte erklangen jetzt allein. Verwirrt bremste er auf dem Schneematsch des Weges und drehte sich keuchend nach seinen Kameraden um. Ihre Anzüge waren von einem tristen Weiß in der verschneiten Landschaft, vereinzelte Schlammspritzer an den Hosenbeinen waren die einzige Farbe, und noch dazu besonders hässlich.

„Was soll das?“

Einer der anderen Jungen, siebzehn, so wie Fugaku, drehte sich zu ihm um und zischte: „Ruhe, Streber!“

Fugaku hielt es für besser, eine Rangelei im nassen Schnee auszulassen, das führte nur zu schmutzigen Flecken, für die sie unter Garantie bestraft wurden. Es hatte nichts damit zu tun, dass er das Wort Streber überhörte.

Die anderen Jungen umrundeten den Zaun, wobei einer jeweils in die Fußstapfen des Nächsten trat. Fugaku zögerte, bevor er ihnen nachsetzte; allein konnte er sowieso nicht zum Dojo zurückkehren, und nüchtern betrachtet musste es etwas geben, das so interessant war, um für es in diesen widerwärtigen Sandalen durch pappigen Schnee zu waten.

Er war nicht neugierig, mit siebzehn war man erwachsen genug für Vernunft.

Die eingezäunten Teiche waren zumeist Privateigentum, Schulen in der Gegend ließen ihre Schüler hier Bodenproben nehmen, Wasseranalysen erstellen, Feuchtflora hegen und manchmal Frösche fangen. Die Mishima tat das freilich nicht, Söhne alter Familien wühlten nicht in schlammigem Wasser und ließen sich nicht von Mücken beißen. Die Fischteiche lagen auf dem Grund und Boden der Schule und nur da. Fugaku wusste das, seine Eltern hatten ein paar ihrer ausgewachsenen Kois der Schule gespendet, weil sie es sich leisten konnten.

Die anderen Jungen duckten sich, als unvermittelt eine kleine Gruppe in mehreren Metern Entfernung über den Maschendrahtzaun kletterte. Fugaku war stehen geblieben, unvermittelt entblößte sich vor seinen Augen ein nahezu weißer Oberschenkel. Einer der anderen zog ihn herunter, sodass er, für einen Moment völlig verdattert, mit den Knien im Schnee landete.

Eine Gruppe Mädchen stieg über den Zaun, leise kichernd rafften sie ihre Röcke und bewarfen sich gelegentlich mit Händen voll Schnee, wenn eine von ihnen mit dem dunkelgrauen Wollstoff in den Maschen hängen blieb und ihre Haut nicht sofort wieder bedecken konnte.

Die Jungen grinsten und stießen sich an. Fugaku schluckte trocken.

Er hätte diesem Moment etwas abgewinnen können, aber es war alles so weiß. Es war eine trostlose Farbe für menschliche Körper, das schwarze Haar, die grauen Uniformen, die weißen Oberschenkel und Socken. Wie ein Foto. Auch die hellen Stimmen und das Kichern konnten das nicht aufweichen.

Die Mädchen huschten über den Schnee bis zum Rand des Teiches und beugten sich nahezu gleichzeitig über die Eisdecke. Eine von ihnen ließ sich von ihren Freundinnen festhalten, während sie einen Fuß ans Ufer stemmte und mit dem anderen Schnee vom Eis wischte. Unter den Jungen kam erneut Unruhe auf.

„Die sind von der Öffentlichen… Die sind alle so!“, raunte einer von ihnen mit einem weltmännischen Unterton zu und sicherte sich sofort das Interesse seiner Begleiter.

Das Mädchen blickte über die Schulter und lächelte ihnen zu. Sie war auffällig hübsch, und ihre Zähne schimmerten weiß. Fugaku fand es gleichermaßen ernüchternd wie die nasse Taubheit in seinen Beinen, die längst alle Wärme vom Dauerlauf aus ihm herausgesaugt hatte. Dennoch verharrte er hier und sonnte sich in der unangenehmen Erkenntnis, dass das Mädchen in dieser Uniform einer öffentlichen Schule durchaus wusste, dass man sie bespannte.

„Das ist Yumi, die ist leicht zu haben“, flüsterte einer (derselbe wie vorhin?), als das Mädchen namens Yumi sich von ihren Freundinnen losmachte und schlitternd auf das Eis stieg. Die anderen Mädchen kicherten und quietschten, offenbar auch bestens im Bilde über ihre Zuschauer.

Yumis Schuhe wühlten den Schnee auf, vage konnte man die Körper träger Fische unter dem Eis entdecken. Sie drehte sich schwungvoll, sodass ihr langer Rock, am Saum dunkel und nass, sich hob und ihre weißen Strümpfe erneut enthüllte. Sie war der Typ Mädchen, der Fugakus Eltern anwiderte, der alle Eltern anwiderte, die er überhaupt kannte. Der Ekel war offenbar eine Sache des Alters, denn keiner der Judoka schien Yumis Beine widerlich zu finden.

„Yumi-san!“

Eine Hand streckte sich aus, bekam den Ärmel von Yumi allerdings nicht zu fassen und verlor das Gleichgewicht. Um nicht auf das riskante Eis zu treten, warf das Mädchen sich nach hinten und setzte sich in den Schnee. Ihre Freundinnen lachten.

Ihre Strümpfe waren scharlachrot.

Fugakus Atem stockte, als er das sah. Sein Blick heftete sich auf das Mädchen, auf das lebendige Rot, das nun auch ihre Wangen flutete. Fugaku hatte beinahe Angst, sie anzuschauen, Angst, dass den anderen Jungen jeden Moment auffallen würde, dass Yumi blass war gegen sie, dass dieses Mädchen so viel spektakulärer war als all ihre Freundinnen. Er begriff nicht, wie sie sich nicht davon fesseln ließen.

Das Mädchen in Rot, das wusste er, war bestürzend schön.

Eine zornige, männliche Stimme riss Fugaku aus seiner Erstarrung. Ein älterer Mann in einem zerschlissenen Mantel drohte den Mädchen mit der Faust, offenbar handelte es sich um einen Gärtner, der die Teiche pflegte. Kichernd stoben die Schülerinnen auseinander und kletterten wieder über den Zaun, die Judoka sprangen auf, klopften den Schnee ab und rannten auf die Straße zurück.

Fugaku war innerlich steif vor Aufregung und Scham, er drehte sich kein einziges Mal um.
 

Fugaku war müde, und seine Muskeln schmerzten, als er sich nach einer kalten Dusche mit den anderen Judoka umzog. Er schlüpfte in seine trockene Kleidung und wartete, dass ihm warm wurde, obwohl die kalte Nässe des Schnees immer noch zwischen seinen Zehen zu haften schien.

Ihrem Meister war die Verspätung nicht aufgefallen. Sie waren nicht als letzte Gruppe eingetroffen, was für eine gewisse Zufriedenheit unter den Schülern sorgte. Sie schwatzten immer noch verstohlen über die Mädchen, geradezu verschwörerisch.

„Agemaki war diesmal gar nicht dabei“, bemerkte einer – sie fühlten sich offenbar sicher genug, um darüber zu sprechen, oder sie hatten Fugaku vergessen. Dieser rubbelte energisch über sein Haar und erwog, einfach wegzuhören. Seine Finger und Zehen waren vor Kälte gerötet, doch an das lebhafte Rot von Strümpfen hallte in seinem Kopf wieder und ließ alles Andere blass wirken.

„Sie war sowieso nichts Besonderes. Mal ehrlich, ihr Gesicht…“ Ein Junge blies die Backen auf und schmatzte ordinär mit den Lippen, eine Doppeldeutigkeit, die die anderen zum Lachen brachte.

Würden sie über das Mädchen in Rot auch so reden? Fugaku faltete sein Handtuch zusammen, dann stopfte er es doch in seine Tasche und zog den Reißverschluss mit einem schnarrenden Geräusch zu. Wenn jeder vernünftige Mensch Mädchen von einer öffentlichen Schule widerlich fand, warum hielt der Gedanke an sie sich so trotzig in elitären Köpfen fest? Das hatte seine Faszination, auf eine weniger anstrengende Weise als Rechtswesen und Physik.

Das Gemurmel wurde wieder lebhafter, und Fugaku öffnete den Mund, um etwas zu fragen – bis ihm einfiel, dass er sich an nichts erinnern konnte außer an die roten Strümpfe des Mädchens. Nicht ihr Gesicht, ihre Beine, selbst ihre Stimme hatte er nur so flüchtig gehört, dass er sie sich nicht gemerkt hatte. Er würde sich lächerlich machen, zumal keiner der Jungen wohl darauf geachtet hatte. Und das war die Faszination nicht wert.

Wie konnte sie in seiner Erinnerung diesen Eindruck hinterlassen, wenn all ihre Einzelheiten ausgelöscht waren, nur vage und verschwommen? Fugaku schüttelte den Kopf und verabschiedete sich mit einem kaum gesehenen Nicken, bevor er sich aus der Umkleide in die winterliche Kälte schob. Ihm war immer noch nicht sonderlich warm.

Vielleicht hatte er die Ukiyo berührt, die fließende Welt, und hatte insgeheim so etwas wie eine poetische Offenbarung erlebt? Hatten sich die trockenen Fakten in seinem Kopf endlich verselbstständigt, weil er aus der Oberschicht stammte und es nur eine Frage der Zeit gewesen war, bis der Pfad zur Kunst sich ihm öffnete?

Er schob die Finger unter die Achseln, um sie etwas warm zu halten, während er die Straße hinabstapfte. Und er fühlte nichts dabei, der Schnee unter seinen Schuhen war nass und pappig, inspirierte ihn zu gar nichts außer zu mehr Tempo, bis er fast rannte.
 

Der nächste Sonntag war dieselbe Route.

Bis zu diesem Tag hatte Fugaku sich sorgsam vorbereitet und seine Gedanken eingeordnet und gepflegt. Ihm würde kein methodischer Fehler unterlaufen, schon gar nicht bei einer so subjektiven Sache wie Poesie – sein Vater betonte immer wieder die Schönheit der Sprache, und dass es nötig sei, alles in Worte zu kleiden, Worte jeder Sprache und möglichst die des Fortschritts, Englisch. Fugaku bezweifelte diese Inbrunst zwar, da seine Eltern kühle Traditionalisten mit hohem Nationalstolz waren, doch er konnte Englisch. Er war ein guter Schüler, seine Aussprache war verhältnismäßig gelungen, obwohl sein Lehrer ihm im Stillen augenzwinkernd anvertraut hatte, sie sei immer noch furchtbar.

Unnötig zu sagen, dass Fugaku nicht gelacht hatte.

Es gab keine englische Umschreibung für das Mädchen mit den roten Strümpfen. Red stockings war einfach auszusprechen und drückte so gar nichts von dem aus, was er gefühlt hatte. Und das war alles, woran er sich erinnerte, wenn das Mädchen jetzt weiße Strümpfe trug, so wie ihre Freundinnen, würde er sie sicherlich nicht wiedererkennen. Es schickte sich nicht.

„Letztes Mal hast du ja nicht gepetzt.“

Izu maß ihn mit einem nachdenklichen Blick. Er hatte schmale Augen und überragte Fugaku um einen halben Kopf, er hatte eine runde, abstehende Ohrenform, bürstenhaftes schwarzes Haar, ein springendes Kinn und gut geformte Wangenknochen. Fugaku konnte jede Einzelheit seines Gesichts mit mechanischer Genauigkeit bestimmen, und dabei standen Izu und er sich nicht sonderlich nahe. Der Junge ließ ihn in Ruhe, und er stammte aus einer ehrbaren Familie, das qualifizierte ihn.

„Wieso sollte ich?“

Es hatte noch mehr Schnee gegeben, und ihre Sandalen machten platschende Geräusche auf dem Asphalt. Noch mehr erstickendes Weiß, und die Sehne seines rechten Fußes schmerzte, wo er sich unzureichend aufgewärmt hatte. Sie tat ihm seit siebenundzwanzig Minuten weh.

Izu zuckte mit den Schultern und zog geräuschvoll die Nase hoch. Fugaku musste ihn aus den Augenwinkeln beobachten, der andere Schüler befand sich um etwa hundertzehn Grad hinter ihm.

An diesem Morgen schien sein Verstand alles minutiös festlegen zu wollen, wie zum Beweis, dass er ein vernünftiger Mensch war, dass alles in seinem Leben völlig seiner korrekten Einschätzung unterlag. Es war ein sehr sicheres Gefühl, und gleichzeitig sorgte es allmählich dafür, dass Fugaku sich vorkam wie ein unbeachteter Kochtopf mit Reis, in dem der Inhalt gnadenlos zerkocht wurde und zu einem schwammigen Brei zerfiel. Es war zu viel, alles an ihm wollte aufhören.

„Werden sie wieder hier sein?“

Izu grinste; seine Schneidezähne standen leicht schief. „Blut geleckt, was?“

Fugaku sah darüber hinweg, ihn über diese ausgesprochen unpassende Metapher aufzuklären. Blut war schließlich rot, und Poesie war einer Ordnung unterworfen, die man einhalten musste. Und außerdem war das keine hinreichende Antwort, wie Fugaku fand.

Erstaunlicherweise grinsten die Jungen untereinander, als teilten sie einen gemeinsamen Scherz. Fugaku lief langsamer, sodass er auf ihre Höhe zurückfiel. Er vergaß darüber das Mitrechnen der Zeit, wie lange seine Sehne schon wehtat.

„Kennt ihr sie?“

„Die von der Öffentlichen?“ Einer der Jungen lachte. „Das sind alles… Ihr wisst schon!“

Offenbar wollte er das Wort nicht sagen. Fugaku schaute sich nach ihm um; es war wichtig, eine Ausgangssituation zu klären, indem man Informationen offen legte. Das hatte sein Vater ihm eingedrillt, und da Fugaku ebenso Jurist werden würde wie er, war das beizubehalten.

„Gunstgewerblerinnen?“

Aus irgendeinem Grund erntete die präzisierende Frage brüllendes Gelächter, wie auch einen kräftigen Schlag zwischen die Schulterblätter, der Fugaku beinahe stolpern ließ. Es war kein boshaftes Gelächter, eher… verlegen. Spitzbübisch. Und auf eine gewisse Art aufgeregt, die Fugaku nicht verstand, die aber irgendetwas in ihm instinktiv erkannte und sich öffnete, neugierig, fasziniert.

Wie Amaterasu, als sie das Gelächter der anderen Götter vernahm und sich aus ihrer Höhle wagte, um den Tanz der Ama no Uzume anzusehen. Und der Sage nach erblickte sie dabei ihr eigenes Spiegelbild.

Es klang verrückt, doch Fugaku hatte tatsächlich das Gefühl, sich selbst zu sehen, eine Seite von sich, der er nie den Vorrang gab. Die Frage war, ob er sie auch angreifen sollte, so wie die Göttin. Andererseits war die Übertragbarkeit nicht der Sinn von Mythologie.

„Schlampen“, korrigierte ihn einer der Jungen, Hiraoka, gutmütig. „Die von der Öffentlichen halten nichts auf sich.“

Diese Auskunft war Fugaku mittlerweile vertraut, auch wenn eine leise Stimme protestierte. Sie war doch anders gewesen, oder? Sie hatte ihre Freundin vom Eis holen wollen. Allerdings war sie mit den anderen Mädchen gekommen, und zu welchem Zweck? Sie hätte es ja nicht tun müssen.

Fugaku hatte einen Geschmack wie Asche im Mund. Er schluckte und sah wieder geradeaus, dann zurück zu Hiraoka. Er würde es nicht erfahren, wenn er nicht endgültig aus der Höhle herauskam.

„Und Yumis Freundin?“

Nein, das war nicht präzise genug, gerade jetzt brauchte er seine wissenschaftliche Ordnung. Das vertrug sich einfach nicht mit Poesie, wenn man gleichzeitig versuchte, sich für andere klar auszudrücken. „Das Mädchen, das sie vom Eis holen wollte.“ Fugaku erwähnte nichts von ihren Strümpfen, irgendein Irrglaube von ihm hoffte einfach, dass niemand außer ihm sie gesehen hatte.

Die Jungen tauschten müßige Blicke, dann wandte ihre Aufmerksamkeit sich schlagartig ab, als sie sich den Teichen näherten.

Niemand war dort.

Die Enttäuschung war fast greifbar, Fugaku spürte ein kurzes Ziehen in seiner Brust, aber auch eine Erleichterung. Vielleicht war er feige, froh zu sein, dass sie nicht da war.

Izu kratzte sich das borstige Haar im Nacken, sodass es knisterte. Der Schnee um die Teiche war unberührt, und obwohl eine kleine Gekränktheit in der Luft hing, versetzt worden zu sein (falls das bei einem scheinbar zufälligen Treffen möglich war), hielt keiner von ihnen ab. Männer waren nicht dazu bestimmt, hier zu stehen und zu warten, zumindest sie nicht – nicht die jungen Männer von einer Privatschule. Sie waren die Zukunft der Gesellschaft, sie warteten nicht.

Fugaku war nicht der Einzige, dem das beigebracht worden war, genau deshalb spürte er ihr kurzes Zögern, bevor sie wieder schneller liefen, sobald sie an dem Zaun vorbei waren. Der Riemen seiner Sandale scheuerte, und seine Sehne schmerzte wieder.

„Mikoto, die Spießerin.“ Izu stieß ein abfälliges Grunzen aus.

„Wenn du die rumkriegst, Streber, wenn du die rumkriegst…!“

Mikoto, die ‚Fürstin‘. Der Titel der japanischen Götter.

Es schien sehr sinnbildlich. Fugaku beschloss, sie rumzukriegen.
 

Diesmal beeilte er sich, sich nach dem Training umzuziehen. Während er mit vor Kälte steifen Fingern sein Hemd zuknöpfte, spürte er die Blicke der anderen, neugierig, abwägend. Er wusste selbst nicht, ob ihn seine Entschlossenheit nicht verlassen würde, deshalb ließ er sich keine Zeit, obwohl seine Zehen noch immer ohne Gefühl waren.

Zum ersten Mal kam es Fugaku falsch vor, als er in die schwarze Uniformjacke seiner Schule schlüpfte. Ein dunkelroter Saum umgab Ärmel und Kragen, es gab kein Wappen, doch jeder in der Stadt kannte die Uniform der Mishima. Genau deswegen fühlte Fugaku sich unwohl damit, sie zu tragen, wenn er eine öffentliche Schule aufsuchte.

„Sie kennt dich doch noch nicht“, erklärte ihm jemand.

„Sie kennt mich durch die Uniform auch nicht besser“, entgegnete Fugaku im Brustton der Vernunft und erntete wieder Gelächter, das zweifellos auf seine Kosten war. Ein Gefühl, auf das er jetzt schon verzichten konnte. Er knöpfte die Jacke zu, zumal es die einzige Jacke war, die er dabeihatte. Aus irgendeinem Grund sollte auch die Herkunft der Uniform ein Garant dafür sein, dass man nicht fror.

Fugaku war überrascht, dass sich niemand ihm anschloss, als er als Erster die Umkleide verließ. So groß das Interesse am Leben anderer sonst zu sein schien, diesmal gab es so etwas wie Zurückhaltung? Er fand es schwer zu glauben.

Izu fing seinen Blick auf, als er über sein stacheliges Haar rubbelte. „Du bist ein Gentle-man. Die lügen nicht.“ Seine angestrengte Aussprache erinnerte Fugaku an die Poesie des Englischen; er durfte nicht vergessen, das anzuwenden.

„Sag uns nur später, ob sie mitgegangen ist“, fügte Hiraoka mit einem vieldeutigen Zwinkern hinzu. Fugaku lächelte und hoffte, dass es keinerlei Nervosität beinhaltete.

Die anderen Jungen hatten ihm erstaunlich genau sagen können, wie lange wer von Yumis Freundinnen sonntags in der Schule war, aber niemand von ihnen kannte Mikoto näher. Fugaku verspürte ein an Übelkeit erinnerndes Gefühl, als er sich von der Umkleide in die falsche Richtung wandte, bewusst den Willen seiner Eltern ignorierte. Egal was er tat, er brach damit ein Verbot, und das keineswegs für einen höheren Zweck, sondern für…

Nun, wie Spaß fühlte es sich auch nicht an. Oder wie Selbstfindung. Tatsächlich war das Gefühl, das ihn umtrieb, gar kein besonders Angenehmes. Er wusste nicht, wer Mikoto war, er kannte nicht einmal ihren Familiennamen. Und vielleicht war sie ein widerliches Geschöpf. Er konnte überhaupt nichts wissen, und trotzdem lebte die Farbe ihrer Strümpfe noch so lebendig in seinem Kopf.

Fugaku blieb mitten auf dem Gehweg stehen. Ein paar hundert Meter die Straße hinab sah er den grauen Betonblock der städtischen Schule, ein trister Klotz, den man nach dem Krieg schnell hochgezogen hatte und der aussah wie ein hässlicher, großer Kiesel in einem Bachbett. Fugaku war noch nie drinnen gewesen, womöglich auch nie auf dem Schulhof. Und noch war er zu weit entfernt, um jemanden zu hören.

Ohne das Gebäude aus den Augen zu lassen, bog er in eine der kleineren Seitengassen ab, die in einem kleinen, brach liegenden Hinterhof endete. Unkraut und vermodernde Holzbretter bedeckten die Erde, wiederum erstickt unter einer dicken Schneelast. Fugaku blickte auf seine verräterischen Fußstapfen zurück, die Nässe durchweichte schon seine Hosenbeine und fraß sich langsam durch seine Schuhe.

Er nahm seine Tasche von der Schulter und knöpfte seine Jacke auf, zog sie aus, ohne die Miene zu verziehen. Kälte klammerte sich sofort an sein dünnes weißes Hemd und saugte die dort mühevoll angestaute Wärme einfach weg, aber Fugaku hielt trotzdem nicht inne, als er seine Jacke zusammenfaltete und in die Tasche steckte, die er hinter einem verschneiten Holzstoß verbarg.

Es würde reichen müssen.

Sein Herz hämmerte heftig, als er auf die Straße zurückkehrte, ohne auf seine zuvor getretene Fußspur zu achten. Ohne seine Jacke fühlte er sich erstaunlich bloß, und er fror erbärmlich. Als fehlte ihm jetzt ein Schutzschild, was zweifellos auch der Fall war, seine Fingerspitzen waren bereits taub.

Aber er trat Mikoto nicht als Privatschüler entgegen und auch nicht als Judoka. Was darunter übrig blieb, wusste er selbst nicht so genau. Sicherlich nicht der Fuji, nach dem er benannt worden war. und mit dem Poeten war er sich auch noch nicht allzu sicher.

Ein frierender Siebzehnjähriger reichte für den Anfang vielleicht völlig.
 

Bis er den Schulhof erreicht hatte, war Fugaku sich sicher, dass es eine miserable Idee gewesen war. So kalt, wie ihm im Moment war, brachte er kein Wort heraus, also presste er die Kiefer zusammen, um ein Klappern seiner Zähne zu unterdrücken. So viel zu seiner glorreichen Idee von Gleichheit, die ohnehin den Traditionen widersprach und allem, was er als Kind gelernt hatte.

Wenn er danach ging, was sein Vater ihm anvertraut hatte, würde er warten müssen, bis seine Eltern ihm ein Mädchen vorstellten; doch Fugaku begann zu zweifeln, ob das wirklich erst der Anfang war. Keiner seiner Mitschüler hatte so viel Geduld aufgebracht, und niemand störte sich daran.

Der Schulhof war erst halb gekehrt, pappige Schneeberge türmten sich um die kahlen Ginkobäume, als versuchte man, die Holzgerippe darin zu verstecken. Die meisten Fenster waren leer, der Sonntagsunterricht hatte beendet oder war für eine Mittagspause unterbrochen worden. Fugaku kam das erste Mal in den Sinn, dass er Mikoto verpasst haben könnte.

Er trat durch das behelfsmäßige Tor in der Mauer auf den Hof. Das Pflaster war rissig und in den Fugen mit Eis gefüllt, ein Sinnbild der Durchschnittlichkeit. Dennoch betrachtete er die eingefrorenen winzigen Büschel Unkraut neugierig. Er interessierte sich für Pflanzen, was zwar kein eindrucksvolles, aber akzeptables Hobby war. Sich mit ein paar konservierten Blättern zu beschäftigen erschien weniger enttäuschend als-

Ein trockenes Schaben riss ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn zusammenzucken. Ein Mädchen mit einer schweren Schneeschaufel starrte ihn an – sie schien gewartet zu haben, dass er aufschaute, denn sie senkte die Schaufel wieder. Sie kam Fugaku nicht bekannt vor, er konnte nicht einmal sagen, ob sie letzten Sonntag am Teich gewesen war. In jedem Fall war sie nicht Mikoto, da war er sich sicher.

Seine Zähne waren noch immer zusammengebissen; Fugaku hatte das Gefühl, seine Muskeln nicht entkrampfen zu können, wenn er es versuchte, und falls es doch klappte, kein verständliches Wort hervorbringen zu können. Ganz zu schweigen davon, dass er unmöglich Mikotos Vornamen benutzen konnte, wenn sie sich nicht einmal kannten. Die anderen Jungen benutzten diese Namen beiläufig, aber es war unangemessen.

Fugaku tat das Einzige, was er in dieser Situation an sich tun konnte: er verschränkte die Arme fester vor der Brust und wartete, wobei er das Mädchen mit einem direkten Blick maß.

Sie grinste ihn an, schüchtern und herausfordernd zugleich. Fugaku verzog keine Miene – wie sollte er auch, wenn seine Lippen an seinen Zähnen festgefroren waren.

Verdammt noch mal. … Scheiße!

Das Mädchen zögerte, dann legte sie ihre Schaufel in den Schnee und huschte hinter die nächstgelegene Hausecke, vermutlich um sich Unterstützung zu holen. Von einer Lehrerin oder ihren Freundinnen, Fugaku hörte sie leise rufen. Nach Yumi.

Nein, doch nicht die!

Er rieb sich mit den Händen über sein Gesicht, um die Steifheit der Muskeln dort wenigstens etwas zu lockern, allerdings hatte er immer noch das Gefühl, dass jeder Versuch eines Lächeln jetzt aussehen würde wie die Grimasse eines Totenschädels. Na also – Poesie, wie man sah, kam ganz von alleine, wenn man sie nicht brauchen konnte. Sein Herz hämmerte heftiger, doch falls es dabei Wärme erzeugte, kam sie nicht schnell genug im Rest seines Körpers an. Wunderbar.

Fugaku hatte die Hände noch vor den Mund geschlagen, als das Mädchen von vorhin zurückkehrte, im Schlepptau einer Begleiterin. Fugaku erkannte Yumi; nicht an ihrem Gesicht, sondern an ihren forschen Schritten und den einladend wiegenden Hüften. Sie strahlte großes Selbstbewusstsein aus, selbst in ihrem Lächeln. Ihre Strümpfe waren weiß, als sie ihren Rock kurz anhob, um über einen unfertigen Schneehaufen zu steigen. Was sie nicht hätte tun müssen, wie Fugaku durchaus klar war. Sowohl das Drübersteigen als auch das Anheben.

Ausnahmsweise hätte er etwas um die Anwesenheit seiner Klassenkameraden gegeben. Die hätten ihn zumindest aus diesem Dilemma befreit, ob absichtlich oder nicht. Er könnte sich einfach abwenden und gehen, so unhöflich das auch wäre. Alles war besser als dieses Missverständnis auszusitzen, und gleichzeitig wehrte sich etwas in Fugaku entschieden dagegen, so grob zu sein.

Yumi öffnete den Mund, aber sie kam nicht dazu, etwas zu sagen – Fugaku bezweifelte, dass sie sich ihrerseits überhaupt an ihn erinnerte, was ihm eindeutig lieber war. Bevor sie ihm darüber Klarheit geben konnte, wurde sie ein zweites Mal gerufen. Diesmal erheblich energischer.

„Was glaubst du, wo du hingehst? Wegen dir wurden wir alle bestraft, und es ist das Mindeste, dass du mithilfst.“

Das Rot blitzte flüchtig auf unter Mikotos Rock, ihre Schritte waren weit ausgreifend, sie lief schon fast. Fugaku vergaß die Taubheit seines Gesichts für einen langen Moment.

Mikoto war tatsächlich hübsch, aber das nahm er nicht als Einziges wahr. Alles an ihr schien Farbe zu besitzen, und was für Farbe! Ihr langes, glattes Haar war fast blauschwarz wie ein Krähengefieder, ihre Augen funkelten in einem lebendigen Dunkelbraun. Selbst ihre von der Kälte geröteten Wangen und ihre Nasenspitze erschienen ihm phänomenal, das Rosa ihrer Fingernägel atemberaubend.

Mikoto richtete ihren strengen Blick auf ihn, dann färbten ihre Wangen sich wie mit einem Ruck dunkler und sie sah zu Boden, bevor sie sich zu besinnen schien und ihm wieder begegnete.

„Du musst jetzt gehen.“

Sie klang weniger ruppig als noch zuvor, es schien ihr schwerzufallen, ihn anzuschauen. Ihre Mundwinkel zuckten, und Fugaku wurde wieder bewusst, dass er sie anstarrte. Er unterdrückte erneut ein Zittern; wenn er jetzt etwas sagte, würde es wie Stottern klingen.

Yumi schien nicht allzu erfreut darüber, dass man sie gerufen hatte, um sie nun zu ignorieren. Sie schürzte die Lippen und musterte ihren vermeintlichen Verehrer forschend, während Fugaku Mühe hatte, genau das zu tun, wogegen Mikoto kämpfte, den Blick abzuwenden.

Es war, als fühlte er seinen eigenen Körper gar nicht richtig. Sein Kopf drehte sich, während Gedanken nach unten trudelten wie Lindensamen und sich einfach absetzten. Er kannte Mikoto nicht, und es fühlte sich irgendwie falsch an, wie wenn man Haare gegen den Strich bürstete. Würde er sie kennen, wären seine Gedanken jetzt mit ihr gefüllt.

Wenn er seinen Mund öffnen könnte und seine Stimme funktionieren würde, könnte er sie bitten, mit ihm spazieren zu gehen. Leider war das nicht möglich, ohne dabei wie ein völlig Geistloser – moderat beschrieben – zu klingen.

„Ich kenn‘ dich. Du bist Uchiha, richtig?“ Yumi zwinkerte ihm zu. „Du bist’n Spätentwickler, was?“

Er erdreistete sich nicht, Yumis Motive beurteilen zu wollen, aber gerade nervte sie.

Mikotos Miene verhärtete sich leicht. Sie spannte dabei die Lippen und ließ die Andeutung eines Grübchens erkennen – ihr Pony rutschte hinter ihren Ohren hervor, selbst das fand Fugaku atemberaubend an ihr. Genauso, wie niemand je ein vor Kälte gerötetes und somit nicht gerade ansprechendes Gesicht gehabt hatte, das so schön aussah.

Aber es hatte überhaupt nichts gebracht, die Jacke wegzulassen, wenn Mikoto bereits an seinem Namen ablas, was sie eigentlich nicht hatte wissen sollen. Fugaku atmete leise durch die Nase ein und nickte ihr zu; seine Lippen kräuselten sich leicht, als hätten sie das schon die ganze Zeit tun wollen, wären jedoch durch starre Muskeln daran gehindert worden.

Er wandte sich mit einem unverbindlich höflichen, weiteren Nicken ab. Die Hitzewelle von Mikotos kurzem, scheuem Lächeln schmolz beinahe den Schnee unter seinen Füßen.
 

Fugaku wartete nicht bis zum nächsten Sonntag – diesmal stand Mikotos Gesicht deutlich vor seinen Augen, ebenso wie all die Farben, die mit ihr geschaffen zu sein schienen. Und mit ihren Strümpfen. Er hatte Grund zu den Vermutungen, dass sie vernünftig und bodenständig war, nicht übermäßig albern und eine gewisse Begeisterungsfähigkeit besaß.

Aber er hatte noch keinen Beweis für diese Einschätzung, und deshalb würde er mit ihr reden. Auf eine ehrenhafte Weise, die ihren Ruf nicht beschädigte.

Für diese Beschlüsse hatte Fugaku kaum eine halbe Stunde gebraucht, und der restliche Sonntag verstrich quälend langsam. Er hatte sich bereits einiges zurechtgelegt, und das Einzige, was ihm fehlte, war die Gelegenheit.

Und die Erfahrung, da niemand zu wissen schien, wie man richtig um ein Mädchen warb. Beziehungsweise gab es niemanden hier, dem Fugaku zutraute, es zu wissen, und deshalb fragte er auch nicht. Seine Eltern würden sofort misstrauisch werden, und er traute sonst niemandem genug.

Nein, wenn er ehrlich war, wollte er die Erfahrung nicht teilen. So wie er sich gesträubt hatte, irgendjemanden auf Mikoto aufmerksam zu machen, weil er das Gefühl hatte, dass ihm damit etwas verloren ging, weil alle, wirklich alle, es ganz falsch behandeln würden. Wie einen besonders alten Bonsai oder eine empfindliche Orchidee.

„Nein.“

Mikoto betrachtete sich offenbar nicht als Orchidee.

Noch bevor er etwas gesagt hatte – sie hatte ihn nur gesehen, dass er auf sie wartete, gegenüber von ihrer Schule. Es schneite etwas, und die Schneeflocken kamen mit einem feuchten ‚Patt‘ auf Fugakus Schirm auf.

Mikoto hatte keinen Schirm, sie zog ihren groben Schal enger und klemmte ihre Schultasche unter den Arm. Ihre Kleidung war zerschlissen, doch minutiös sauber, obwohl die Flocken feuchte Punkte darauf malten und sich in ihrem Haar festhängten. Ihr Atem quoll in kleinen Wölkchen hervor, und sie zog die Nase hoch.

„Ich weiß, was du fragen willst.“

Fugaku war so erleichtert, dass er lächelte. „Wie du heißt?“

Für einen Moment wirkte sie irritiert. „Wieso musst du das wissen?“

„Ich kann dich nicht Mikoto nennen.“

Er verriet ihr nicht, dass er den Namen für sich gesagt hatte, in seinem Zimmer, um zu erleben, wie er sich auf seiner Zunge anfühlte. Aber nur ihren Namen und sonst nichts, obwohl er versucht gewesen war.

„Nein, kannst du nicht.“

Mikoto grub ihre kurzen Fingernägel in den abgewetzten Griff ihrer Schultasche. Trotz der Bestimmtheit ihres Tonfalls wirkte sie nervös. „Also, was willst du?“

Mit dir reden. Was ich tue.

„Kann ich dich nach Hause bringen?“ Fugaku übersah eine Gruppe von Mädchen, die neugierig an ihnen vorbeizog. „Wir sind nicht allein.“

Mikoto schnaubte und zog gleich darauf wieder die Nase hoch. „Ich weiß, wie das läuft.“

Fugaku genoss es, mit ihr zu reden – selbst jetzt, trotz ihres Widerwillens, trotz des Themas, das gar nichts über sie verriet. Jedenfalls nicht über das, was laut seiner Mutter wichtig war, gemeinsame Interessen.

„Ich kann eine von deinen Freundinnen bitten.“ Er ließ sich nicht so einfach entmutigen; auf dem Schulhof entdeckte er das Mädchen, das er gestern angetroffen hatte, sie war in ein Gespräch mit einem älteren Jungen vertieft.

„Sag mir, wie sie heißt, und ich frage sie.“

„Das kannst du jetzt nicht!“ Mikoto wischte sich eine Schneeflocke aus dem Haar und lugte zu den beiden herüber. „Das stört!“

„So läuft das“, erwiderte Fugaku unbewusst lapidar, Mikoto funkelte ihn dafür strafend an. Sie schien etwas gehetzt, trotz allem, und er beschloss, das weiterzuverfolgen. „Ich gehe sie fragen. Er kann mitkommen.“

„Das kannst du nicht machen!“ Mikoto griff nicht nach seinem Arm, stattdessen trat sie ihm in den Weg. Kurz knetete sie ihre Unterlippe, dann verlagerte sie ihr Gewicht. „Wir gehen die Hauptstraße.“

Das war schnell gegangen. Fugaku unterdrückte ein Schmunzeln. Es gelang ihm leicht, denn alles unterhalb seiner Augen war wie eingefroren von der Anspannung.

„Hier.“

Er gab ihr den Schirm und trat hinaus auf den Bürgersteig. Da er nicht wissen konnte, wie weit Mikoto von ihrer Schule entfernt lebte, würde ihm vielleicht nur wenig Zeit bleiben, nicht genug, um ihr all das zu sagen, was er sich zurechtgelegt hatte.

„Vorher hast du gefroren, jetzt willst du nass werden?“ Mikoto erlaubte sich zum ersten Mal ein längeres Lächeln. Sie hatte tatsächlich Grübchen, und der Haaransatz über ihren Ohren war besetzt von weichem, schwarzem Flaum.

Sie folgte ihm auf die Straße und legte sich den Schirm an die Schulter wie eine Muskete, aber ihre Nägel bohrten sich nicht länger in den Griff der Schultasche. „Wieso willst du dich unbedingt erniedrigen?“

Sie war direkt. Und vielleicht war sie auch scharfsinnig, wenngleich Fugaku auch froh gewesen wäre, wenn sie lediglich intensiv über sein Verhalten nachgedacht hätte. Nasse Flocken küssten seine Haut, er schob die Hände in die Hosentaschen und zog sie gleich darauf wieder heraus.

Er konnte ihr auch nicht sagen, dass er das tat, um ihr zu beweisen, dass er nicht besser war als sie. Mikoto würde sich angegriffen fühlen, und das nicht mal zu Unrecht. Es dauerte mehrere Sekunden, bis Fugaku sich dazu durchrang, ihr zu antworten.

„Ich versuche, anders zu sein.“

Mikoto zog die Nase hoch. „Wenn es dich glücklich macht.“ Es waren schroffe Worte, doch sie fügte ihnen ihren milden Tonfall bei, als könnte sie nicht so grob sein, wie sie es für ratsam hielt. Oder als wollte sie es nicht.

„Willst du ein Taschentuch?“

„Ich hab‘ eins.“ Mikoto zögerte einen Moment und fügte hinzu: „Ich würd’s aber gern sehen.“

Fugaku hinterfragte nicht, was sie mit dem Anblick eines Taschentuchs wollte – seine Mutter hätte Mikotos leises Schnaufen als plebejisch und ordinär empfunden. Und es war auch kein angenehmes Geräusch, das wollte er nicht erst behaupten.

Er zog ein weißes, streng quadratisch zusammengefaltetes Tuch aus seiner Brusttasche und reichte es ihr. Da sie keine Hand mehr frei hatte, gab Mikoto ihm den Schirm zurück und faltete es auseinander, befühlte die feine Oberfläche nachdenklich, als versuchte sie darin zu lesen.

„Jetzt hältst du doch den Schirm über uns beide“, bemerkte sie, ohne aufzuschauen.

„Ich habe aufgehört, mich zu erniedrigen.“

Mikoto wandte ihm den Kopf zu und lächelte – Fugaku begriff nicht, warum sie dabei so strahlte, als hätte er etwas Besonderes getan. Vielleicht war sie froh, dass er es einsah, wie wenig Sinn es machte, nass zu werden. Und das, obwohl das Teilen eines Schirms ein Zeichen für Liebende war.

„Und wenn ich jetzt so richtig in dein Familienmonogramm rotze?“

Diesmal konnte er das Grinsen nicht aufhalten. Ordinär übrigens, genauso wie Mikoto sich absichtlich ausdrückte. „Dann soll es so sein.“

„So ist es.“ Mikoto hob das Taschentuch und putzte sich damit ausgiebig die Nase. Die Nasenspitze lief dadurch umso röter an, und auch das war kein besonders angenehmes Geräusch. Dennoch machte es das schwieriger, das Grinsen wieder loszuwerden.

„Du hast mir deinen Namen nicht verraten.“

„Du mir deinen auch nicht.“ Mikoto knüllte das Taschentuch zusammen und steckte es in ihre Rocktasche, dabei warf sie Fugaku einen erstaunlich forschenden Blick zu. „Du bist nicht wirklich gut in so was, oder?“

Er blieb stehen, sodass sie es auch tun musste, wenn sie nicht in das Schneetreiben treten wollte. Seine Lippen waren kalt, als er sie zusammenpresste, nur einen Moment, damit er die Rauheit der Haut spürte. „Mein Name ist Fugaku Uchiha. Ich habe dich abgeholt, weil ich an dich denken muss und nicht, um zu üben, wie ich dich verführen kann.“

Ein paar Passanten drehten sich neugierig und argwöhnisch zu ihnen um, und Fugaku ging abrupt weiter, ohne sie zu beachten. Er fühlte sich gekränkt, gleichzeitig überraschte und erschreckte es ihn, wie tief diese kleinliche Emotion plötzlich in ihn eindrang. Er hatte sich nie als verletzlich betrachtet, und ihm wurde klar, dass Mikoto solche Verwirrungen in ihm wachrufen konnte, wie sie die Farben zum Leuchten brachte. Er war nicht mehr allein Herr über seine Gefühle, einfach weil es so war. Und weil er ihre roten Strümpfe gesehen hatte.

Mikoto holte wieder zu ihm auf, ihre Schultasche vor die Brust gedrückt. Sie sagte nicht sofort etwas, noch war ihre Stimme eilig, als sie es tat. Schnee spritzte unter ihren Schuhen auf, und sie schaute sich um, wie um sich zu orientieren, ob sie bereits in ihrer Nachbarschaft war.

„Mein Name ist Mikoto Wada. Danke für dein Taschentuch.“ Sie stockte kurz. „Es ist hier gleich um die Ecke.“

Offenbar forderte sie ihn dazu auf, sie von hier aus allein weitergehen zu lassen, damit sie nicht mit einem fremden Jungen gesehen wurde. Es war verständlich, auf eine bizarre Weise, und gleichzeitig weckte es in Fugaku den verzweifelten Wunsch, das aufzuholen, was er nicht geschafft hatte in der wenigen Zeit.

„Ich habe dir ein Gedicht mitgebracht.“

„Du bist ja altmodisch.“ Mikoto legte den Kopf schief und lächelte ihn an, kleine Funken tanzten in ihren braunen Augen. Sie freute sich. „Aber ich kann jetzt nicht-“

„Ich kann es abkürzen.“ Fugaku schloss einen Moment die Augen und atmete die kalte Winterluft ein. Er konnte den Winter nicht leiden, er stach in seiner Lunge. Seine Lippen fühlten sich eingefroren und klobig an, und sein Kopf war zu sehr in Aufruhr, um das gelernte Gedicht flüssig zu formen. Fugaku versuchte es trotzdem.

And I should purchase me an horse,

Must not my wife still sadly walk?

No, no! though stony our course,

We’ll trudge along and sweetly talk.

Er hielt inne, wälzte die Zeilen in seinem Geist und erkannte, dass sie ohne den Beginn des Gedichts gar keinen Sinn ergaben. Hastig fügte er hinzu: „Es ist ein Gedicht über… Ein Ehepaar, das zusammen reist und… die Frau bietet an, ihren Schmuck zu verkaufen, damit das Pferd- damit er…“

Mikoto schüttelte steif den Kopf. Ihre Miene war sonderbar leer, als litte sie unter derselben plötzlichen Lähmung. „Ich kann sowieso kein Englisch.“ Ihre Stimme klang hölzern, und zum ersten Mal fand Fugaku den feuchten Schimmer in ihren Augen überhaupt nicht anmutig oder schön.

„Ich muss gehen.“

Er hielt sie nicht auf, als sie sich abwandte und in einem der Häuser verschwand. Seltsamerweise hatte er gar nicht das Gefühl, auf eine Orchidee getrampelt zu sein, und es gab auch keine Metapher dafür, was es stattdessen war und woran es ihn erinnerte.

Die Welt verwandelte sich wieder in Schwarz-Weiß.
 

Der Winter hielt dieses Jahr lange an, wie ein ungebetener Gast, der unhöflich lange blieb. Tatsächlich war er wie ein Eindringling.

Der folgende Sonntag, und auch der danach, war ohne Mikoto – zwar tauchten ein paar Mädchen wieder an den Teichen auf, aber Mikoto schien ihre Rolle als Matrone einfach aufgegeben zu haben. Fugaku stellte fest, dass es durchaus möglich war, dass sie sich nie wiedersahen; er wusste immer noch rein gar nichts über sie, und viele Menschen zogen derzeit um, in die größeren Küstenstädte, wo es mehr Arbeit gab. Mikoto war noch jung.

Er hatte sie nicht vergessen, und bis zu einem gewissen Grad schien sie es auch nicht getan zu haben, sonst würde sie ihre Freundinnen nicht im Stich lassen. Das, oder sie war schlichtweg zur Vernunft gekommen, dass sie niemanden bevormunden konnte, auch nicht zu seinem eigenen Besseren.

Ein Mädchen namens Agemaki war wieder da. Sie verhielt sich stumm, auch wenn sie die anderen begleitete, und für die Jungen schien sie nicht zu existieren.

Manchmal, wenn es lang genug taute, kamen braune Erde und schlaffes Gras unter der Schneedecke zum Vorschein. Fugaku verbrachte einen ganzen freien Nachmittag damit, Krokusse zu suchen und versuchte, sich für ihre Farbe zu begeistern, als er welche fand. Sie waren noch geschlossen, und er ging so weit, den Blütenkelch zu öffnen, um sie anzuschauen. Trotzdem blieben sie blass.

Verliebtsein war an sich eine trostlose Sache.

Würde es schlimmer werden, wenn er noch mal versuchte, mit Mikoto zu reden? Es war seine Befürchtung. Wenn man an einem Schnitt herumkratzte, wurde es schlimmer und blutete wieder.

Und dann würde ihr nächstes Gespräch womöglich in einem Heiratsantrag enden, was die logische Konsequenz des Nichtaufgebens war. Weil seine Eltern ihm nie gestatten würden, sich mit einem Mädchen zu treffen, das eine öffentliche Schule besuchte und die Nase hochzog, bis sie ein Familientaschentuch benutzt hatte. Das nicht zurückgekommen war. Ordinär und widerlich also, dagegen hatte nicht mal Poesie in der Sprache der Ästhetik geholfen.

Wie lange wartete man ab, bis so etwas aufgehört hatte zu bluten, damit man daran herumkratzen konnte? Als Kind wartete man gar nicht ab, aber Fugaku war schon fast erwachsen. Siebzehn, in dem Alter kratzte man an nichts mehr herum.

Im Sommer wurde er achtzehn, und dann war er erwachsen, also würde er sich anders fühlen als jetzt, nicht mehr machtlos, verwirrt und irgendwie ausgewaschen. Er würde das Gegenteil fühlen, doch der Sommer war momentan noch weit weg.

Und Fugaku hatte keine rechte Lust, erwachsen zu werden. Am nächsten Sonntag ging er nicht zum Judo-Club, sondern bog auf seinem Weg dorthin einfach ab und ging in den Wald, wo seine eigentliche Trainingsrunde wäre. Er hatte allerdings keine Sorge, dass ihn jemand entdecken würde, die Route führte lediglich außen herum, und die Schüler hatten genug damit zu tun, nicht über verirrte Baumwurzeln zu stolpern oder auf Schneematsch auszurutschen. Sie würden ihn auch zwischen den kahlen Stämmen nicht bemerken.

Er suchte sich einen großen, starken Baum aus, weit in der Mitte. Es war ein Japanischer Ahorn, für seine eher kleine Züchtung ein recht hohes Exemplar mit Aconitifolium-Kultivar, im Herbst färbten die Blätter sich glutrot, da die anderen Bäume weit genug entfernt gepflanzt waren, machten sie dem Wuchs nicht aus und der feuchte, leicht lehmige Boden bekam ihm gut.

Fugaku betrachtete den Stamm wehmütig. Er fand keine Zuflucht in diesen Fakten, auch wenn er sich bemühte. Seine Finger schlossen sich um das Armeemesser in seiner Hosentasche, das sein Vater ihm als Kriegstrophäe mitgebracht hatte. Es bedeutete ihm zweifellos viel, und es jemandem zu schenken, bedeutete ebenfalls viel. Fugaku hatte es sonst nie bei sich, und jetzt klappte er das Messer nicht aus.

Er brachte es nicht fertig, diesen Baum einzuritzen. Nicht zu glauben. Menschen taten erheblich schlimmere Dinge, er auch, und sein Gewissen meldete sich, wenn es um die Rinde eines Baumes ging? Es erinnerte ihn an eine Kurzgeschichte, die er gelesen hatte, von einem Europäer und auf Englisch, und wenn man eine Pflanze verletzte, schrie sie mit einem schrecklichen, außerweltlichen Ton, den ein Mensch nicht hören konnte.

Nein, eigentlich hatte er keine Ahnung, wie er das tun sollte. Weil er nicht mehr mit Mikoto geredet hatte. Und er musste es noch tun, bevor er achtzehn wurde.

Mit achtzehn durfte man heiraten.

„Fugaku-san.“

Fugaku ließ das Taschenmesser zurück in seine Hosentasche fallen, als fühlte er sich ertappt von dem vorwurfsvollen Tonfall.

Mikoto musterte ihn mit ihrem Ausdruck von Strenge, den sie sich auflegte wie ein Parfüm, der jedoch ebenso flüchtig sein konnte.

„Ich hab‘ dein Gedicht gelesen.“ Sie neigte leicht den Kopf, was sie oft zu tun schien. „Hörst du mit dem Judo auf?“

Ihre zusammengewürfelten Worte ließen ihn stutzen, mehr noch aber die Tatsache, dass sie überhaupt hier war. Sie trug diesmal keinen Schal und eine unscheinbare braune Strickjacke, die sie fest um ihren Körper gezogen hatte. Für eine Japanerin war sie relativ stämmig, im Gegensatz dazu waren ihre Hände zierlich und schmal. Fugaku hatte sie noch nie berührt.

Wieder schienen seine Gedanken herumzuwirbeln; er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm des Ahorns und räusperte sich. „Nein.“ Zumindest hatte er sich das gar nicht überlegt.

„Warum bist du dann nicht bei den anderen?“

„Wie gefiel dir das Gedicht?“

„Seltsam.“ Mikoto lächelte kurz, ihre Grübchen blitzten wieder auf. „Es passt gar nicht. Aber ich denke, ich hab’s verstanden.“ Sie kramte in ihrer Rocktasche und zog ein Taschentuch hervor. Es war zusammengefaltet und merklich zerknitterter als vorher.

„Danke.“

Fugaku hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie gar nicht das Taschentuch meinte. Er nahm es von ihr an, ihre Fingerspitzen berührten sich flüchtig. Es wäre schnell wieder vorbei gewesen, doch Mikoto hielt seine Hand fest. Im Vergleich zu seiner Hornhaut war ihre rau, seine eher glatt und zischte leise. Fugakus Atem stockte, und ein Teil von ihm fragte sich, ob es möglich war, dass das Rasen seines Herzens ihn mit neuen Farben bombardierte.

„Warum gerade ich?“ Mikoto strich langsam mit der Kuppe ihres Daumens über seinen Handrücken, über die leichten Hügel der Adern, die mit einem Mal faszinierend bläulich unter der geröteten Haut schimmerten.

„Weil du rote Strümpfe trägst.“

Mikoto schnaubte und zog leise die Nase hoch. „Das kannst du nur ehrlich meinen.“

Wie sie darauf kam, hinterfragte Fugaku nicht erst, genauso wenig wie den Grund, warum sie ihm hierher gefolgt war oder warum sie wusste, dass er nicht zum Dojo gegangen war.

Er beugte sich vor und küsste sie.

Mikoto ließ sich küssen, erst noch mit unverbindlicher Höflichkeit, dann umklammerte sie seine Hand fester und teilte ihren warmen Atem mit ihm. Sie roch nach nichts Besonderem, ein wenig nach dem Qualm von Ölfeuer und säuerlich nach Seife. Ihre braunen Augen blieben offen und hielten seinen Blick unverwandt.

Fugaku löste sich behutsam wieder, benommen von dem Gefühl, das er auch jetzt nicht beschreiben konnte. Mikoto lehnte sich an ihn, sodass der Ahornbaum sie beide trug.

„Sagst du mir jetzt, dass du mich liebst?“ Sie klang bitter, trotz ihrer Geste, mit der ihr Kopf an seiner Halsbeuge lag. Fugaku bildete sich ein, dass er ihr pochendes Herz durch ihre Schlagader spüren konnte, denn ihre Hand hielt er immer noch fest.

„Du würdest mir ja nicht glauben.“ Seine Stimme war abwesend, noch wie verzaubert.

Mikoto zog erneut die Nase hoch und nahm das Taschentuch, um sie sich zu putzen. Fugaku ahnte allmählich, dass sie es nicht nur wegen der Kälte tat.

„Weißt du, dass das Gegenteil von Liebe nicht Hass ist, sondern Gleichgültigkeit?“, fragte sie. Ihre zarte, kräftige Hand lockerte ihren Griff etwas, sodass sie ihre Finger ungeschickt durch seine flechten konnte.

Fugaku hörte das zum ersten Mal, doch es leuchtete ihm intuitiv ein. Er lehnte seine Wange gegen ihr Haar, ein bisschen drahtig und dabei glatt. „Das heißt, das Gegenteil vom Winter ist nicht der Sommer, sondern der Frühling?“

„So ist es.“ Mikoto lachte leise.

„Im Sommer habe ich Geburtstag.“

„Ich auch.“

„Dann kann ich dich heiraten.“

Abrupt richtete Mikoto sich wieder auf und durchbohrte ihn mit einem eisigen Blick. Ihre Lippen hatte sie zu einem farblosen Strich gepresst. „Lass das!“

Diesmal ließ Fugaku sich nicht von der Heftigkeit ihrer Ablehnung einschüchtern. Er hielt ihre Hand unverändert, auch als sie daran zog.

Vernunft. Vernunft war das Einzige, worauf man sich verlassen konnte, weil sie Gründe lieferte, Argumente gegen berechtigte Zweifel.

Er wollte Mikoto wirklich heiraten, aber wirklich begriffen hatte er das erst, als er gehört hatte, wie sie seinen Vornamen sagte.

„Ich frage dich im Sommer noch mal. Bis dahin bist du auch erwachsen.“

„Ich bin schon längst erwachsen!“, fauchte sie harsch, in ihrer freien Hand knüllte sie das Taschentuch zusammen. Ihr Gesicht war feuerrot, ihre Augen funkelten und aus ihrem Mund quollen warme Atemwolken aus Dampf.

Sie war zweifellos bestürzend schön, wie sie war.

„Ich bin erwachsen, weil mein Vater nicht aus dem Krieg wiedergekommen ist und weil Männer wie du denken, sie dürfen all das tun, wofür man Frauen verachtet! Ich muss an meine Mutter denken und nicht an-“

„Ich würde deine Mutter mitnehmen.“

Für einen Moment war Mikoto zu verdutzt, um Fugakus Einwand zu verstehen. Er wusste, dass seine Miene nichts preisgab, sie hingegen wirkte verwirrt. „Du würdest meine Mutter mitnehmen, um mit mir durchzubrennen?“

Fugaku hatte noch gar nicht daran gedacht, seinen Geburtsort zu verlassen, doch er hatte auch nicht daran gedacht, es nicht zu tun. Mikotos Zweifel waren logisch fundiert.

Aber sie hatte nicht gesagt, dass sie ihn nicht wollte. Nur, dass sie nicht konnte, weil sie Verpflichtungen hatte. Es erfüllte ihn mit wiederum völlig unvernünftiger Hoffnung, immer wieder gebremst von der Tatsache Wenn sie es sich nicht anders überlegt.

Schließlich nickte er.

Mikoto fuhr sich entgeistert durch ihr Haar. Sie schien nach ihrer rechtmäßigen Empörung zu suchen, um sie mühsam wieder in Gang zu bringen. „Auch nach Hokkaido?“

Fugaku schüttelte resolut den Kopf und wagte es, ihre Hand etwas sanfter zu halten. „Ich mag den Winter nicht.“

Mikotos Grübchen tauchten wieder auf, obwohl sie nicht lächelte – zumindest noch nicht ganz. „Ich auch nicht. Ich will nicht, dass meine Kinder mal im Winter geboren werden.“ Jetzt lächelte sie, wenn auch eigentümlich zaghaft und zerbrechlich. „Und ich hätte gern Mädchen. Die müssen in keinen Krieg.“

Fugakus Herz zog sich zu einem Klumpen zusammen und riss sich dann wieder auf wie ein Fallschirm beim Absprung, bis es sich viel zu groß für seine Brust anfühlte. „Das kann ich dir nicht garantieren.“

Mikoto nickte bedächtig. „Ich weiß. Du bist ein rationaler Mann.“

„Kann ich dich im Sommer noch mal fragen?“

Fugaku fühlte, wie seine Hände trotz der Kälte schweißfeucht wurden und der Fallschirm in seine Kehle rutschte, um dort alles zu verstopfen, sodass er die Worte weder zurücknehmen noch etwas nachsetzen konnte. Das Dröhnen seines Pulses war so laut, dass er fürchtete, Mikoto könnte es hören. Sie spürte sicherlich seinen Schweiß, auch wenn die Kakophonie an Gefühlen sein Gesicht überforderte und zu einer Erstarrung zwang.

Mikoto schaute ihn nachdenklich an, seine Hand in der einen und das Taschentuch in der anderen Hand. Ihre Brust hob und senkte sich hektisch, doch sie war erstaunlich kontrolliert. Eine kleine Ader klopfte an ihrer Schläfe. Ihre Farben schienen in Fugaku einzudringen.

„Nein.“

Sie hob seine Hand leicht und drückte sie gegen ihre Brust, auf die Wolle ihrer Strickjacke, sodass er kaum ihre Haut fühlte, wohl aber ihren Herzschlag.

„Frag‘ mich im Frühling.“
 

„Um Himmels Willen, tu doch was!“

Mikoto war völlig aufgelöst, ihr sorgsam hochgestecktes Haar befreite sich bereits wieder aus den Klammern. Ihre Augen glänzten vor hektischer Nervosität, und sie war blass vor Unruhe und daraus resultierender Übelkeit.

Fugaku zog seinen Ärmel glatt und kam ihr entgegen. Sie schmiegte ihre Wange kurz gegen seine beschwichtigend warme Handfläche, dann brach ihre Aufruhr wieder hervor.

„Wir müssen gleich los! Deine Eltern, meine Eltern, und wir haben keine Zeit mehr! Sag ihm, er muss sich benehmen, sonst…“

Furcht schimmerte durch ihre sich überschlagende Stimme, als sie schluckte und eindringlich hinzufügte: „Sie werden denken, es ist etwas nicht in Ordnung! Sie werden ihn nie mögen!“

Fugaku sagte ihr nicht, dass das nicht unbedingt nötig war, weil er wusste, wie es sie aufwühlte. Mikoto brauchte den Segen ihrer Mutter, und jetzt, wo sie sich wiedertrafen, erkannte er erst, wie sehr. Und sie wollte auch die Akzeptanz ihrer Schwiegereltern, wenn nicht für sich, dann wenigstens-

„Itachi, du sollst das Hemd in der Hose lassen!“

Mikoto löste sich von ihm und huschte zurück ins Zimmer, um sich vor ihren kleinen Sohn zu knien und rasch das weiße Hemd wieder zurückzustopfen, das der Dreijährige soeben herausgezogen hatte. Er bedachte sie mit einem wütenden Blick, und sie seufzte verzweifelt.

„Der Kindergarten wird dir gefallen, mein Schatz, und nun mach bitte wieder den Mund auf! Fugaku, sprich mit ihm!“ In ihrer Erregung nahm sie den Jungen bei den Schultern und schüttelte ihn kurz, bevor sie sein weiches, flaumiges Haar glattstrich. „Wenn sie denken, er ist nicht richtig im Kopf…“

Fugaku konnte Mikotos Angst nicht verübeln, auch wenn er bezweifelte, dass er jemals völlig verstehen würde, wie tief ihre Angst gegen das Unterdurchschnittliche ging, die sie aus ihrer Kindheit mitgebracht hatte. Genauso wie er ihr dafür nicht böse sein konnte, dass sie diese Angst auf ihren gemeinsamen Sohn übertrug, der ohnehin mit seiner eigenen Furcht vor einer neuen Umgebung kämpfte.

Es gab keine Losung, mit der er das ändern konnte. Fugaku richtete seine Krawatte, bevor er sich vor Itachi in die Knie begab. Dunkle runde Murmelaugen hefteten sich misstrauisch an seine, die noch kindlich geschwungenen Lippen dellten sich ein, wo Itachi sie durch eine Zahnlücke einsaugte. Er sprach tatsächlich kein Wort, und er würde es auch nicht tun, wenn Fugaku ihn darum bat. Ein willensstarker Junge, der die Tendenz zeigte, stoisch alles auszusitzen, wenn man ihn überforderte.

Das, und außerdem war er der wunderbarste kleine Junge der ganzen Welt. Selbst das Pflaster an seinem Knie war spektakulär, seine eng am Kopf anliegenden, rosafarbenen Ohrmuscheln ganz und gar unglaublich.

„Willst du deine Großeltern nicht kennenlernen, Itachi?“

Itachi sah weg.

„Die anderen Kinder auch nicht?“

„Fugaku, wir müssen uns beeilen.“ Mikoto seufzte wieder, eine steile Falte zwischen den Brauen. „Das Hemd. Du hast es ja schon wieder rausgezogen, Itachi-chan.“

„Ich mach‘ schon.“ Fugaku streckte die Hände aus, um das Hemd, das Itachi aus dem Hosenbund gefingert hatte, wieder dort festzustecken. Itachi erinnerte ihn an Fotos von sich selbst als Kind, ähnlich bleich und verstört, mit dem Unterschied, dass seine Großeltern vielleicht von ihm erwarten würden, dass er so aussah. Wenn er ehrlich war, war das Fugaku nicht sonderlich recht.

Mikoto wollte keine getrennte Familie. Sie wollte sicherlich auch ihrem Sohn nicht schaden. Fugaku erkannte mit einer gewissen plötzlichen Erleichterung, dass keiner von beiden diese Situation so bewältigen konnte, wie es eigentlich besser war. Es wäre vermessen zu behaupten, dass er es konnte, aber er hatte weder Mikotos Urangst noch Itachis Verunsicherung.

„Fugaku!“ Seine Frau trat neben ihn und verschränkte drängend die Arme. Er nickte und wandte sich wieder an Itachi, der seine Augen immer noch zu Boden richtete.

„Heb‘ die Arme, mein Junge.“

Itachi runzelte die Stirn, gehorchte jedoch und hob seine pummeligen Ärmchen auf Schulterhöhe.

„Noch höher.“

Jetzt über den Kopf.

„Was machst du denn da? So rutscht bloß das Hemd wieder“, ließ sich Mikoto ungeduldig vernehmen.

„Es fehlt noch etwas“, murmelte Fugaku undeutlich und steckte das Hemd fest. Itachi beobachtete ihn unsicher, seine Unterlippe verschwand wieder zwischen seinen Zähnen, als Fugaku über seine Seiten tastete, über die noch unvollständigen Knochen und das wild flatternde Herz unter dem weißen Stoff. Mit der gebügelten schwarzen Hose sah Itachi älter aus als drei. Er war im Sommer geboren, so plötzlich wie ein Hitzegewitter war er gekommen. Es war kein Mädchen geworden, aber wenn das überhaupt irgendetwas bedeutete, dann nur, dass Mikoto sich mehr über jeden Tag freute, den sie ihn hatte.

Nein, von ihrer Angst konnte man sie nicht einfach heilen. Fugaku blickte zu ihr auf und lächelte ihr zu.

„Hier.“

Seine Fingerspitzen kletterten über Itachis Rippen und das sonst so beleidigend weiße Hemd – für einen Sekundenbruchteil war das runde Gesicht noch leer, dann errötete es mit einem Mal und ein Schwall hellen, schallenden Kinderlachens spülte durch die Wohnung, riss ein leises weibliches Glucksen mit sich und erzeugte Gepolter und ungetrübtes Kreischen, bevor es in einer trotzig geknallten Haustür endete, draußen einfach weiterplätscherte, die Straße hinunter und an einem blühenden Ahorn vorbei, denn es war noch Frühling.
 

Ende



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: Harulein
2012-12-09T09:29:00+00:00 09.12.2012 10:29
Wunderschöne Geschichte! Bleibt auf jeden Fall in meiner Favo!
Von: abgemeldet
2012-10-16T15:54:04+00:00 16.10.2012 17:54
Hallo!

Ich bin der Ansicht, dass dieser One-Shot mehr als nur einen Kommentar verdient hat, denn ich finde dein Werk großartig. Es ist nicht das Pairing, welches mich in erster Hinsicht in den Bann gezogen hat, sondern dein wunderbarer Schreibstil, der mich schlichtweg gefesselt hat.
Vom Inhalt her hast du Fugakus schwarzweiße – oder graue, wie man es sehen will – Welt schön geschildert und wie Mikoto sie verändert hat. Eine schöne tiefgründige Geschichte, die einen kalten, verregneten Herbsttag erträglicher macht.

Liebe Grüsse
Schneehasi
Von:  SarahSunshine
2012-07-08T14:52:35+00:00 08.07.2012 16:52
Liebe Palmira,
wir möchten uns hiermit für die Teilnahme am Wettbewerb bedanken. (:

Wie haben deine Geschichte geprüft und sind zu folgendem Schluss gekommen:
Die Idee ist sehr interessant und man merkt, dass du über das, was du da geschrieben hast bescheid weißt. Man könnte sagen, du hast den Geist der Zeit eingefangen.
Die Umsetzung hat uns sehr gut gefallen. Du hast einen tiefgehenden, wunderschönen Schreibstil, der zudem noch sehr ausführlich ist und einem die Gefühlswelt von Fugaku sehr gut übermittelt hat. Die Welt in der er lebt, dieser elitäre Gedanke überall um ihn herum und all diese Kleinigkeiten, wirken sehr gut durchdacht und machen die Geschichte zu etwas Besonderem, weil es nicht irgendeine 0815 Liebesgeschichte ist. Besonders hervorheben möchten wir noch die wundervollen Umgebungsbeschreibungen, die einen mitten in das Geschehen hinein katapultieren. Man hat das Gefühl, die Kälte selbst zu spüren.
Gut gefallen hat uns im Übrigen auch die Bedeutung, die du hier dem Winter und der Farbe rot zuschreibst. Der Winter, der die Eintönigkeit in Fugakus Leben darstellt und dann Mikoto, die seine Welt in Farbe taucht.
Du hast die Freiheiten, die man mit Fugaku und Mikoto bei der charakterlichen Gestaltung hat, genutzt und sie ebenfalls gut umgesetzt. Wir finden Fugaku jedenfalls sehr getroffen, aber vor allem seine Entscheidungen sind sehr gut nachvollziehbar. Eine hibbelige Mikoto, besonders zum Ende hin, war etwas Neues für uns.

Was die Rechtschreibung und Grammatik angeht haben wir absolut gar nichts zu meckern. Du hattest einen kleinen Rechtschreibfehler, der uns aufgefallen ist, aber sonst ist alles top! Es gab keine störenden Fehler oder Formulierungen.

Das Layout gefällt uns ebenfalls sehr gut, die Kurzbeschreibung ist knapp aber definitiv ausdrucksstark. Die Charakterbeschreibungen gefallen uns ebenfalls sehr gut, du hast alle Aspekte deiner Geschichte eingebracht, die sich zeitgleich auch in den gewählten Bildern widerspiegeln. Der Titel gefällt uns ebenfalls, besonders weil man in der Geschichte dann auch erfahren hat, warum du ihn gewählt hast.

Deine Geschichte hat uns also überzeugt und wir gratulieren dir noch einmal zum ersten Platz bei unserem Wettbewerb.

Eine kleine Frage haben wir beide am Ende allerdings noch. Wir verstehen den letzten Absatz nicht ganz und würden uns deshalb freuen, wenn du uns diesen noch einmal erklären könntest. Also ab dem Moment in dem Fugaku Itachi antippt und dann die folgenden Reaktionen, die werden uns nicht ganz schlüssig.

Mit freundlichen Grüßen
SarahSunshine & xSnowPrincess (:


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