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Ich bin immer bei dir.

Ich bin dir so nahe, wie niemand sonst.

Ich leide mit dir.

Ich kenne deinen Schmerz.

Und doch trennt uns eine unüberwindliche Grenze.

Ich kann nichts für dich tun.

Ich kann dir nicht helfen.

Ich kann nur mitempfinden, wie es dich innerlich auffrisst.

Dein schwelender Hass.

Wie die Glut immer weiter entfacht wird.

Bis eine schreckliche Feuersbrunst alles in dir vernichtet.

Ich will es irgendwie von dir fernhalten, dich vor allem Bösen abschirmen und schützen.

Es tut so unendlich weh.

Es zerreißt mich, dass ich nichts für dich tun kann.

Ich will es jeden wissen lassen.

Ich will ihn nach außen tragen.

Diesen Schmerz, den ich empfinde.

Deinen Schmerz.

Doch ich bleibe stumm.

Ich bleibe blind.

Ich bleibe taub.

Ich bleibe ohne Sinne.

Nur in mir, da ist dein Schmerz.

Es ist mein eigener geworden.

Und dennoch macht es das für dich nicht leichter.

Du weißt nicht um meine Existenz.

Du fühlst nicht, dass ich immer bei dir bin.

Du ahnst es noch nicht einmal.

Du denkst, du wärst allein.

Du denkst, dass niemand weiß, wie es in dir aussieht.

Ich würde dir so gern so vieles mitteilen.

Ich würde alles dafür geben, dass du weißt, ich bin da.

Doch was besitze ich schon?

Was könnte ich geben, außer der Bindung zu dir?

Ich habe nichts, rein gar nichts.

Ich bin nur.

Das ist alles.

Ich bin.

Bei dir.

Immer.

 
 

~***~

 

Die Pein durchfährt mich in Wellen.

Hilflos lasse ich es über mich ergehen, warte, dass es aufhört.

Aber es hört nicht auf.

In stummer Agonie zerreißt es mich in tausende und abertausende Teile. Ich glaube, mich zu verlieren.

Ein stiller Kampf, voll der tiefsten Schrecken, den ich nicht gewinnen kann.

Ich habe dem nichts entgegenzusetzen. Ich stehe am Rande des Abgrunds und doch kann ich nicht hineinstürzen.

Es kann nicht enden.

Niemals.

Alles ist Schmerz.

Und Verzweiflung.

Und Wahnsinn.

Ich will mich aufgeben.

Ich will das nicht mehr.

Nicht an seiner Seite.

Nicht für ihn.

Er tut mir so leid!

Doch ich bin dazu verdammt, bei ihm zu sein.

Nur bei ihm.

 
 

~***~

 

Oh bitte, lass es endlich aufhören!

Das Flehen verliert sich in der endlosen Stille des Nichts.

Und mit ihm verliere ich mich.

In der Sphäre außerhalb von Raum und Zeit.

 
 

~***~

 

Schmerz erfüllte mich. Nein! – er erfüllte nicht-alles von mir.

Er war anders.

Irgendwie schwerer. Aber nicht so tief. Viel flacher.

Es war ein merkwürdiges Gefühl.

Grotesk. Falsch.

Und dann drangen mit einem Mal tausende von Empfindungen auf mich ein. Sie alle waren auf dieselbe und doch ganz unterschiedliche Art anders als sonst. Ich konnte sie nicht recht einordnen.

Der Schmerz war da, aber dann war da gleichzeitig noch ein anderes, das sich viel mehr wie Zufriedenheit anfühlte. Und Ruhe war noch irgendwo anders. Und Freude. Aber auch Trauer. Sehnsucht.

Ich versuchte, die Ursachen der Empfindungen zu erkennen. Dann nahm ich Bewegungen wahr. Nicht-eigene Bewegungen.

Unruhe ergriff mich.

Fremd. Alles so fremd.

Was war passiert? Nur ein Gefühl klang noch in mir nach. Ich wusste nicht, woher es kam.

Etwas strich mich. Was aber eigentlich unmöglich war. In einer Sphäre ohne Raum gab es keine äußeren Bewegungen.

Etwas in mir stockte schmerzhaft und löste dann Panik aus. Es verursachte mehr Bewegung. Zwischen den anderen Empfindungen von Sehnsucht und Freude tauchte nun ein Bedürfnis nach Flucht auf. Und dieses Bedürfnis wiederum setzte ein Ding in Bewegung, das eigentlich gar nicht existieren durfte. Und dieses Ding nahm mich mit.

Noch mehr Eindrücke drangen auf mich ein. Wieder waren alle mir bekannten Empfindungen dabei. Nur dass es eben keine richtigen Empfindungen waren. Ich hatte nur keine Begriffe dafür.

Nicht-Alles von mir blieb an einer Schmerz auslösenden Sache hängen und brachte das andere Nicht-Alles von mir dazu, sich schnell zu bewegen.

Dann war überall flacher Schmerz.

Einer der Eingänge der vielen Eindrücke hörte auf, fing dann aber wieder an. Es reichte nicht zur Erholung. Das Nicht-Alles, das sich schnell bewegt hatte, bewegte sich wieder entgegengesetzt.

Verzweifelt bemühte ich mich, all diese Vorgänge zu verstehen. Diese vielen verschiedenen wechselnden Gefühle und dieses eine ganz ganz tiefe, immer gleich bleibende Gefühl.

Und allmählich begann ich zu begreifen, was ich nicht wirklich begreifen konnte:

Ich hatte einen Körper.
 

 

~***~

 

Die Dunkelblonde verließ die kleine Waldhütte und schritt leichtfüßig über die Wiese der Lichtung ehe sie unter den großen dunklen Tannen verschwand. Ihr Ziel war ein klarer Gebirgsbach, der sich einige Zeit von ihrer Behausung entfernt durch ein mit Moosen bewachsenes Steinbett schlängelte. Der mit Harz abgedichtete Holzeimer in ihrer Hand schwang leicht hin und her.

Immer wieder blieb sie stehen, um auf das Keckern eines Eichhörnchens oder das Klopfen eines Spechtes zu lauschen.

Sie hatte sich inzwischen an die vielen vielen Sinneseindrücke, die jeden Tag auf sie eindrangen, gewöhnt.

Vor allem das Gefühl von sanftem Wind auf ihrer Haut liebte sie über alles. Es erfüllte sie mit innerem Frieden und Glück und ließ sie für einige Zeit dieses traurige Gefühl vergessen, das in ihr nagte, seit sie sich in diesem Körper wiedergefunden hatte.

Sie konnte nicht sagen, woher es kam oder was es bedeutete. Es wurde stärker, wenn sie abends vor dem Feuer saß, in Gesellschaft der guten alten Chika, die sie vor fünf Monaten aufgenommen hatte. Diese hatte sich anfangs gewundert, wie es möglich war, dass eine junge Frau mutterseelenallein im Wald umher streifte, offensichtlich noch nicht einmal in der Lage, ihre Umgebung richtig wahrzunehmen. Es war fast unheimlich gewesen, wie sie immer wieder gegen Bäume gelaufen und über Wurzeln und Steine gestolpert war, weil sie sie einfach nicht sah.

Chika hatte sie anfangs für schwachsinnig gehalten und sich aus Mitleid ihrer angenommen, doch bald musste sie feststellen, dass die Jüngere keineswegs zurückgeblieben war. Im Gegenteil. Sie lernte sehr schnell und nachdem sie erst einmal die Grundlagen begriffen hatte – angefangen damit, dass sie das, was sie sinnlich wahrnahm, verstand –, war sie nicht mehr aufzuhalten gewesen. Mit vor Eifer leuchtenden Augen hatte sie staunend die Welt betrachtet und war aus dem Fragen nicht mehr herausgekommen.
 

~***~

„Was ist das?“

„Ein Fliegenpilz.“

„Auch ein Pilz?“

„Ja, aber ein giftiger.“

„Was heißt 'giftig'?“

„Das bedeutet, dass er gefährlich für dich ist.“

„Warum?“

„Du kannst krank werden, wenn du ihn isst. Und vielleicht auch sterben.“

„Was ist 'krank'?“

„Wenn du krank bist, dann fühlst du dich schlecht. Du hast Schmerzen.“

Das hatte sie verstanden. Schmerzen kannte sie.

„Was ist sterben?“

„Sterben bedeutet, dass du aufhörst zu leben. Dann verlässt deine Seele deinen Körper und kehrt dorthin zurück, wo sie herkommt.“

Eine steile Falte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen. Dann kam sie zu einem Ergebnis.

„Dann bin ich rückwärts-gestorben.“
 

 

~***~

Immer wieder gab sie derart seltsame Bemerkungen von sich. Chika wusste nicht, was sie damit meinte, doch auf ihre anfänglichen Nachfragen hatte sie keine verständlichen Antworten geben können und so hatte Chika es so hingenommen. Der Himmel allein wusste, was dieses Mädchen durchgemacht hatte.

Noch eine Weile sah die alte Frau ihrem Zögling nach, als diese schon zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann machte sie sich wieder daran, die Waldfrüchte zu einem Mittagsmahl zuzubereiten.
 

~***~

Am Bach angekommen ließ sich die junge Frau zu Boden gleiten und streifte die schmalen Schuhe aus Wildleder von ihren Füßen, welche sie anschließend ins flache klare Wasser tauchte. Genießerisch schloss sie die Augen. Immer wieder war sie wie gefesselt von der Vielzahl der Empfindungen. Das Spiel der kleinen Wellen an ihren Knöcheln, das Gefühl der Leichtigkeit, mit der ihre Füße zu schweben schienen...

Erst als es begann wehzutun, zog sie sie heraus. Ja, es tat weh – aber es schmerzte nicht. Das war etwas anderes.

Sie hatte vieles gelernt, seitdem sie hier war. So viele Bezeichnungen für so viele Dinge. Und noch immer wollte sie mehr wissen, war neugierig auf alles Neue und fasziniert von den ungezählten Facetten des Lebens.

Sie füllte den Eimer und machte sich dann auf den Rückweg, jedoch nicht, ohne einen kleinen Umweg durch ein nahegelegenes Beerengestrüpp zu unternehmen.

Während sie ein paar der größten Himbeeren pflückte und aß, meldete sich ihr Magen zu Wort. Es war Zeit, zurückzukehren.

So schön es war, durch einen Körper in Kontakt mit der Welt zu kommen – es hatte auch einige lästige Nachteile. An erster Stelle standen dabei Bedürfnisse wie Nahrungsaufnahme oder Schlaf.

Ein paar Beeren als Wegzehrung mitnehmend, machte sie sich auf zur Hütte.
 

~***~

Der Winter kam mit aller Macht.

Für das Mädchen, dem die alte Frau den Namen Haruka gegeben hatte, war es der erste.

Manchmal, wenn sie nichts zu tun hatte, saß sie stundenlang vor dem kleinen Fenster, das auf die Wiese ging, und sah dem Tanz der Schneeflocken zu.

Eine große weiße Decke hatte sich über die Welt gelegt und sie in einen langen Schlaf gewiegt.

Hin und wieder überkam Haruka die Sehnsucht nach dem kleinen Bach, der – wie sie erschrocken hatte feststellen müssen – verschwunden war. Chika hatte ihr gesagt, er würde im nächsten Frühjahr wiederkehren, doch das tröstete sie wenig.

Ebenso vermisste sie die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrer Haut und den lauen Wind, der mit ihrem Haar spielte.

Doch am meisten vermisste sie wohl die Farben. Das Licht war so fahl und ließ alles grau wirken, wie ihre Augen. „Kinder des Winters“ hatte Chika sie einmal genannt.

Seufzend schloss sie diese und legte ihre Stirn gegen die eisige Scheibe. Chikas Stimme ertönte wiederholt.

„Setz´ dich mit ans Feuer, Kind. Du wirst dir eine Erkältung holen, wenn du dich nicht warm hältst.“

Haruka zitterte tatsächlich seit einiger Zeit, doch sie versuchte noch immer, es zu ignorieren.

Sie wollte sich nicht mit ans Feuer setzen. Wenn sie in die Flammen starrte, die ihren Blick wie magisch anzogen, dann würde sich wieder dieses entsetzliche Gefühl in ihr verstärken. Dieses Gefühl, als würde irgendetwas nicht stimmen. Als wäre etwas nicht so, wie es sein sollte. Als würde etwas fehlen.

Und genau das wollte sie nicht empfinden. Nicht nur, weil es schmerzte – ja, schmerzte –, sondern auch, weil es sich wie Verrat gegenüber Chika anfühlte. Sie mochte die alte Frau. Sie war gern hier bei ihr und hatte alles, was sie brauchte. Ihr fehlte nichts. Also durfte sie nicht so fühlen.

Zwei Hände legten sich sanft um ihre Schultern.

„Lieber Himmel, du bist ja schon ganz durchgefroren. Komm, setz´ dich dort hin.“ Damit führte die Alte sie zu einem Lehnstuhl, der zur Bequemlichkeit mit Decken und Kissen ausgepolstert war, und warf ihr zwei am Feuer aufgewärmte Decken um die Schultern.

Das Mädchen verzog ihre blau angelaufenen Lippen zu einem dankbaren Lächeln. Chika schenkte ihr einen gütigen Blick und tätschelte ihre Wange. Dann nahm sie einen Tonbecher und schöpfte mit der Kelle aus dem Kessel über dem Feuer etwas heißen Eintopf. Haruka versuchte, das Zittern ihrer Hände zu verbergen, als sie das Gefäß entgegennahm und ihre Finger daran wärmte.

Als Chika sich in den Stuhl neben ihr sinken ließ, ihr Strickzeug wieder aufnahm und zu erzählen begann – von Zeiten, die lange vergangen waren –, hatte Haruka alle Mühe, den Blick von den Flammen abzuwenden. Eine Zeit lang widerstand sie dem Drang, sich von ihrem Anblick gefangen nehmen zu lassen, doch ihre Kraft und Konzentration ließ mit jedem Wort der Alten mehr nach und schließlich gab sie auf und die zuckenden Finger zogen sie tief in ihren unheimlichen Bann.
 

~***~

Die junge Frau erwachte von den ersten Strahlen der Morgensonne.

Blinzelnd verscheuchte sie die wirren Traumbilder von tanzenden Flammen und feurigen Wirbeln, die sie seit einiger Zeit immer wieder heimsuchten.

Ein Blick zur Seite sagte ihr, dass Chika bereits aufgestanden war.

Rasch schlug sie die Decke zurück, stieg in ihre Wildlederschuhe und trat ans Fenster.

Vor zwei Tagen erst war der letzte Schnee geschmolzen, doch schon streckten die ersten Frühblüher ihre Köpfe der Sonne entgegen, die an einem hellblauen, wolkenlosen Himmel stand. Der Nachtfrost hatte die gesamte Wiese mit Raureif überzogen, der nun herrlich im Licht glitzerte.

Und dort konnte sie auch eine Spur Fußabdrücke erkennen, die in den Wald führte.

Ein strahlendes Lächeln breitete sich über die jungen Züge aus.

Endlich!

Endlich war der Winter vorbei! Endlich würde das Leben wiederkehren!

Beschwingt kleidete sich Haruka in aller Eile an und machte sich dann daran, das Feuer zu schüren. Anschließend schüttelte sie die Betten auf und deckte den kleinen Holztisch an der einen Seite der Hütte. Sie wollte Chika eine Freude machen.

Ein kleines Lied summend, das die alte Frau ihr im letzten Jahr beigebracht hatte, wählte sie wohlüberlegt einen Teil der nur noch mageren Vorräte aus, die sie zum Frühstück essen würden.

Ein letztes Mal betrachtete sie ihr Werk, dann machte sie sich auf den Weg, um Wasser zu holen. Der kleine Bach führte erst wenig Wasser, aber nach Chikas Vorhersage würde sich das bald ändern. 

Den Schal enger um die Schultern ziehend, stapfte sie das ihr bereits sehr vertraute Stück durch den Wald.

Am Bach angelangt hockte sie sich ans Ufer und befüllte den Eimer.

Als sie sich wieder aufrichtete, drang das Knacken eines Zweiges an ihr Ohr, gefolgt von einem dumpfen Ton. 

Sie hielt mitten in der Bewegung inne und lauschte.

Alles war still. Selbst die Vögel gaben keinen Ton von sich. 

Angestrengt blickte Haruka in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren. Sie konnte nichts entdecken.

Bedächtig stellte sie den Eimer ab und tappte leise auf die Stelle zu.

Ihre mit Mühe ruhig gehaltenen Atemzüge zauberten weiße Wölkchen in die Luft.

Sie kam an einem Dickicht aus Beerensträuchern an, das sie in einem Bogen umrunden musste.

Auf halber Strecke jedoch blieb Haruka plötzlich stocksteif stehen und starrte entsetzt auf das Bild, das sich ihr bot.
 

~***~

Zuerst stand das Mädchen wie angewurzelt dort und schien nicht fassen zu können, was es vor sich sah. Dann entsprang ein Schrei ihren Lippen, der mir durch Mark und Bein ging.

Sie stürzte zu der Alten, die hinter dem Gestrüpp zusammengebrochen war. Ich hatte beobachtet, wie sie kurz zuvor röchelnd und nach Atem ringend an einem Baum gelehnt hatte. Ihre Zeit war gekommen.

Die Dunkelblonde rüttelte wie von Sinnen an der Schulter des Mütterchens und rief immer wieder mit verzweifelter, tränenerstickter Stimme ihren Namen.

Natürlich rührte sich nichts.

Das Gesicht der alten Frau ruhte entspannt auf ihrem weißen Kissen, das die Sonne noch nicht geschmolzen hatte.

Zunehmend wurde es von den Tränen der jungen Frau benetzt, die nun ihre Stirn an die Wange der Alten gelegt hatte und erbärmlich schluchzte. Sie zitterte am ganzen Leib, ob vor Schmerz oder Kälte, vermochte ich nicht zu sagen.

Noch immer flehte sie zwischen ihren Schluchzern die Grauhaarige an, endlich wieder aufzuwachen.

Merkte sie nicht, dass die Frau tot war?

Unbeweglich blieb ich dort, wo ich war, gut verdeckt von einem Gestrüpp, und beobachtete weiterhin die Szene.

Ich wusste nicht, warum ich nicht weiterging. Es gab eigentlich keinen Grund für mich, mir noch länger die Verzweiflung des Mädchens anzusehen. Doch ich schaffte es einfach nicht, den Blick von ihr abzuwenden.
 

~***~

Ich wusste nicht, wie lange ich neben Chika auf dem eiskalten Boden gekniet und geweint hatte. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

Erst als ich keine Tränen mehr hatte, bemerkte ich, dass mein ganzer Körper unaufhörlich schmerzte. Meine Hände und Füße waren vollends taub. Die mittlerweile erkalteten Tränenspuren brannten in meinem Gesicht. Ich zitterte vollkommen unkontrolliert.

Mit einem letzten tiefen Schluchzer strich ich Chika noch einmal über das faltige Gesicht, dann erhob ich mich schwerfällig.

Meine Schritte waren unsicher und ich taumelte mehr, als dass ich ging. Immer wieder stolperte ich, wankte gegen Bäume oder bekam Äste ins Gesicht.

Wie betäubt ging ich ohne Ziel immer geradeaus.

Ich achtete nicht auf meinen Weg, meine Gedanken kreisten weiterhin nur um Chika.

So viele Fragen bestürmten mich. Fragen, die ich niemandem stellen konnte. Fragen, auf die ich nie eine Antwort bekommen würde.

Wie konnte es sein, dass sie tot war? Sie hatte mir gesagt, im Frühjahr würde das Leben beginnen, nicht, dass es enden würde. Wieso war sie überhaupt allein in den Wald gegangen? Warum hatte sie mich nicht geweckt? Weshalb hatte sie mich allein zurückgelassen? Was sollte ich jetzt machen?

Wieder stolperte ich über einen Stein und stürzte zu Boden. Doch diesmal hatte ich nicht mehr den Willen, aufzustehen.

Ich wollte nicht mehr leben. Ich wollte Chikas Seele dorthin folgen, wo jede Seele nach dem Tod hinkam, wo auch immer das war. Ich spürte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ich starb. Ich musste nur hier liegen bleiben und warten.

Das Letzte, was ich sah bevor ich meine Augen schloss, war das Rinnsal des kleinen Baches, der mit jeder Sekunde anzuschwellen schien.
 

~***~

Leise prasselndes Feuer erhellte den düsteren Unterschlupf des Mannes.

Stumm saß er in einer Ecke seiner Behausung und beobachtete aus seinen pechschwarzen Augen das Mädchen, das sich noch immer nicht rührte.

Er hatte sie in sämtliche Decken gehüllt, die er finden konnte und so nahe wie möglich ans Feuer gelegt.

Ihr Körper war bereits so kalt gewesen, dass er fast sicher gewesen war, sie würde es nicht überstehen, doch inzwischen war ihre Temperatur wieder etwas angestiegen und sie atmete ruhig.

Er war ihr gefolgt, als sie die Alte verlassen hatte und den Bach entlang gewankt war. In ihrem Gesicht hatte er sehen können, dass ihr Geist sich in weit entfernten Sphären befand.

Als sie schließlich hingefallen und nicht wieder aufgestanden war, hatte er sie, ohne weiter darüber nachzudenken, hochgehoben und in seinen Unterschlupf gebracht.

Das Feuer war schnell entfacht gewesen und nachdem er sie fast zwei Stunden lang mit seinem eigenen Körper gewärmt hatte, hatte er sie, als er sicher war, dass sie nicht mehr sterben würde, dort hingelegt, wo sie jetzt noch immer still lag.

Er hatte es nicht gewagt, sie allein zu lassen.

Gedankenversunken betrachtete er das zuckende Spiel von Licht und Schatten auf ihren ebenmäßigen Zügen. Immer wieder gab es Momente, in denen der Lichteinfall sie wie entrückt und aus einer anderen Welt wirken ließ.

Obwohl es so vollkommen gegen seine eigentliche Art war, musste er sich eingestehen, dass dieses Mädchen ihn faszinierte.

Unbewusst erhob er sich von seinem Platz und ging zu ihr. Die Hitze des Feuers hätte auf seiner Haut gebrannt, wäre es nicht sein ureigenstes Element.

Er kniete sich neben sie und strich ihr nach kurzem Zögern eine Haarsträhne aus dem Gesicht, auf dem sich noch immer die Tränenspuren abzeichneten.

Ein unerklärliches Gefühl, wie er es schon seit Jahren nicht mehr gespürt hatte, überkam ihn bei dieser einfachen Berührung.

Schnell stand er auf und wich zurück. Schwäche war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte.

Seine dunklen Seelenspiegel noch einige Augenblicke auf die junge Frau vor ihm gerichtet, wandte er sich ruckartig ab, packte seinen Mantel und verließ fast fluchtartig die kleine Steinhütte.
 

~***~

Feuerwirbel hielten mich in ihrer Mitte fest. Ich hatte keine Möglichkeit, mich aus ihrem Griff zu befreien. 

Schon leckten die Flammenzungen über meine nackte Haut, nahmen bald meinen ganzen Körper in Besitz.

Ich wand mich in ihrer schrecklichen Umarmung, suchte vergeblich nach einem Ausweg.

Süßer Schmerz breitete sich in mir aus. Ich schloss die Augen und schrie.

Halb wollte ich fliehen, halb sehnte ich mich nach ihren Berührungen.

Streichelnd liebkosten sie meine Glieder, wanderten sanft über meinen Körper, küssten fast zärtlich meine Lippen...
 

~***~

Schlagartig riss Haruka die Augen auf. Ihr Herz pochte wild und ihre Atmung war schnell und flach. Über ihr erstreckte sich nichts als eine kalte Steindecke. Dann nahm sie die Hitze wahr und wandte sich unwillkürlich dem Feuer neben ihr zu.

Sofort wurde das Gefühl, das ihr Traum hervorgerufen hatte, stärker.

Mit geweiteten Augen schlug sie hastig die Decken zurück und kroch rücklings von der einzigen Lichtquelle in dem kleinen Raum weg, bis eine steinige Wand ihr Einhalt gebot.

Augenblicklich griff die Kälte nach ihr und ließ sie zittern, doch die Panik vor dem, was die Flammen in ihr auslösten, war stärker und so blieb sie, wo sie war, nicht in der Lage, den Blick vom lodernden Tanz der Hitze zu lösen.

Ihre Gedanken überschlugen sich förmlich als sie versuchte sich zu erinnern, was geschehen war.

Doch weiter als bis zu dem Tod Chikas kam sie nicht, denn im nächsten Moment verschleierten Tränen ihren Blick und ließen das Feuer zu einem undeutlichen rötlich-gelben Schimmer verschwimmen.

Sie war tatsächlich von ihr gegangen, hatte sie allein zurückgelassen.
 

~***~

Als ich die Hütte wieder betrat und mich kurz umsah, traf mein Blick den des Mädchens, das zitternd in einer Ecke kauerte. Es wirkte, als habe sie mich schon erwartet.

Ich erstarrte in der Bewegung.

Die Zeit stand für die Dauer dieses Augenkontaktes still.

Auch sie rührte sich nicht mehr, während wir uns über das leise knisternde Feuer hinweg unverwandt ansahen.

Ich hatte das Gefühl, in die Weiten ihrer hellgrauen Seelenspiegel hineingezogen zu werden.

Ihr Blick dagegen versank in unergründlichen Tiefen.

Äußerlich blieb sie vollkommen ruhig. Nur ein heftiger Schauer verriet, wie aufgewühlt sie war.

Ich selbst war wie gelähmt, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Irgendwo in mir entstand in diesem Moment ein unerklärliches Gefühl.

Eine kalte Böe riss mir die noch immer halboffene Tür aus der Hand, die mit lautem Knall gegen die Wand schlug, und ließ das Feuer wild flackern.

Die Zeit setzte wieder ein.

Ich schloss innerlich fluchend die Tür und ging dann zu einem alten, aus Holz gearbeiteten Kleiderständer, an den ich mit wesentlich mehr Sorgfalt als gewöhnlich meinen Mantel hängte, in der Hoffnung, genug Zeit zu finden, um meine aus der Fassung geratenen Lebensgeister wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Als ich mich wieder umdrehte, saß die Dunkelblonde immer noch schweigend in ihrer Ecke und starrte in die Flammen.

Sie hatte wieder angefangen zu zittern.

Die Arme um ihren Oberkörper geschlungen kauerte sie sich noch etwas mehr zusammen.

Langsam ging ich auf sie zu, hockte mich vor sie und berührte leicht ihre Schulter.

In ihrem Ausdruck lagen Aufregung und Verwirrung, aber auch großer Schmerz.

Es versetzte mir einen Stich ins Herz.

Vorsichtig half ich ihr hoch und führte sie zurück zum wärmenden Feuer, wo ich ihr die Decken um die Schultern legte. Sie war noch immer durchgefroren und konnte nicht aufhören zu zittern.

Ich widerstand dem Drang, sie in den Arm zu nehmen und machte mich stattdessen daran, etwas zu kochen.

Ihr Stimme war so leise, dass ich sie fast nicht hörte.

„Wie heißt du?“

Ich hielt kurz Inne, fasste mich dann aber wieder und sagte in möglichst unbeteiligtem Tonfall: „Sasuke.“

Sie schwieg.

Ich hängte den Kessel mit der Suppe über das Feuer und setzte mich dann ebenfalls davor. Zu spät stellte ich fest, dass ich ihr viel zu nahe war.

Eine Weile sagten wir nichts. Dann kamen die Worte über meine Lippen, ehe ich sie zurückhalten konnte. „Wie ist dein Name?“

Erstaunt beobachtete ich, dass sie sich bei dieser Frage versteifte, als bereite sie ihr Unbehagen.

Eine kurze Pause entstand, in der sie sich zu sammeln schien, dann antwortete sie:

„Ich habe eigentlich keinen Namen. Ich habe nie einen gebraucht. Erst Chika hat mir einen gegeben – Haruka.“

Das letzte Wort war nur noch geflüstert, denn nun erstickten Tränen ihre Stimme und tiefe Schluchzer stiegen in ihr auf. Ohne zu wissen, was ich tat, legte ich meinen Arm um ihre Schulter und zog sie zu mir. Sie ließ es anfangs nur geschehen, dann vergrub sie ihr Gesicht an meiner Brust und weinte herzzerreißend.

Ich war mehr als überrascht von mir selbst, als ich feststellen musste, dass sie mir leid tat. Ich wollte nicht, dass sie litt. Ich hätte gern all ihren Kummer auf meine Schultern geladen. Es tat mir in der Seele weh, sie so zu sehen und nichts für sie tun zu können, außer sie zu halten.

Dabei war sie eigentlich eine Fremde. Auch wenn ich diese merkwürdige innere Sicherheit hatte, sie besser zu kennen, als jeden anderen Menschen.

Vielleicht sogar besser als mich selbst.

Mit einem leichten Kopfschütteln verdrängte ich diese Gedanken. Im Moment waren sie vollkommen nebensächlich. Stattdessen sah ich auf die junge Frau herab, die ich sanft, als wäre sie der größte Schatz auf dieser Welt, im Arm hielt.

Meine Hände streichelten von selbst immer wieder über die kühle glatte Haut ihrer Arme. Mein Hemd war bereits völlig durchnässt von ihren Tränen, aber es störte mich nicht.

Ich schloss die Augen, hielt sie weiterhin eng an mich gedrückt, als könne sie sonst verloren gehen.

Nach einer schieren Ewigkeit wurde ihr Schluchzen leiser und verschwand schließlich ganz. Sie hatte ihren Kopf inzwischen auf meinen Schoß gebettet und die verweinten Augen geschlossen.

Ich zog eine der Decken etwas höher, um ihre Schultern zu bedecken.

Als sie noch einen letzten tiefen Seufzer ausstieß, strich ich ihr über die langen glatten Haare, die sich wie ein goldbrauner Wasserfall über ihren Rücken ergossen.

„Ruhe dich ein bisschen aus, Haruka.“
 

~***~

„Ich werde gehen.“

Ein dicker Kloß steckte ihm im Hals, als er diese Worte sagte. Er konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, konnte den schmerzvollen Ausdruck in ihren Augen, die ihn so sehr an das friedliche Licht eines Wintermorgens erinnerten, nicht ertragen.

Aber er hatte keine andere Wahl. Mehr als acht Monate hatte er mit sich gerungen, hatte immer wieder den Schmerz empfunden, den es mit sich bringen würde, wenn er sie verließe. Doch auf der anderen Seite war dieser Hass, der ihn seit so langer Zeit zerfraß. Und er wusste, er musste ihm nachgeben und es endlich hinter sich bringen. Er musste endlich Rache nehmen.

„Ich weiß.“

Erstaunt wandte er sich nun doch ihr zu.

Sie stand einige Schritte entfernt und schaute ihm liebevoll in die Augen. Trotz der Tränen, die ihr still über die Wangen liefen, lag ein verstehendes Lächeln auf ihren Lippen.

Dieser Anblick war schlimmer als alles, was er sich ausgemalt hatte.

Ihr Blick sagte ihm, dass sie von Anfang an gewusst hatte, dass er sie verlassen würde.

Was tat er dieser Frau nur an!

Verzweifelt machte er einen Schritt auf sie zu, doch sie wich ein Stück zurück und schüttelte leicht den Kopf.

„Es ist gut so. Geh nur. Ich werde immer bei dir sein.“

Er blieb stehen und blickte sie nur an. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er konnte ihr noch nicht einmal das Versprechen geben, zu ihr zurückzukehren.

Mit belegter Stimmer flüsterte er ein Lebewohl, ehe er sich umdrehte und zur Tür trat.

Noch einmal blieb er zögernd im Rahmen stehen, die Hände verbittert zu Fäusten geballt.

Aber dann ging er, ohne sich noch einmal umzublicken.
 

~***~

Die Zeit zog dahin.

Tage wurden zu Wochen, Wochen zu Monaten, Monate zu Jahren.

Er kam nicht wieder.

Ich merkte nicht, wie die Stunden verflogen.

Wie in Trance hielt ich meinen Körper am Leben, gab ihm das Allernötigste.

Und wartete ergeben.

Ich hatte gelernt, mit dem Schmerz zu leben, auch wenn er mich immer wieder übermannte.

In den Nächten wurde die Pein besonders verzehrend.

Ich schlief nie mehr als zwei Stunden.

Den Rest der Zeit lag ich wach oder wälzte mich ruhelos in dem seit langem erkalteten Bett, heimgesucht von Bildern der Einsamkeit und Verzweiflung.

Selbst an den heißesten Tagen des Jahres fror ich; im Winter war ich dem Tod näher als dem Leben.

Ich hatte den Sinn für Düfte, Farben und Klänge verloren.

Alles war eintönig dumpf und grau.

Wie meine Augen, deren Glanz mich mit ihm verlassen hatte.

Und immer noch wartete ich.

Das Einzige, was mich daran hinderte, aus dem Leben zu scheiden, war die Gewissheit, die ich tief in mir spürte.

Er lebte.

Und allein dieses Gefühl gab mir die Kraft, die mich jeden Morgen wieder aus dem Bett trieb, mich dazu zwang, Früchte zu sammeln, für den Winter vorzusorgen und Fallen aufzustellen.

Und trotzdem machte ich mir Sorgen.

Ich wusste, dass es ihm nicht gut ging.

Nachdem er so lange Zeit mit sich gerungen hatte, immer hin und her gerissen zwischen dem Durst nach Rache und dem Wunsch, mich nicht zu verlassen und vor allem nicht zu verletzen, war ich mir sicher, dass die jahrelange Trennung ihn ebenso zugrunde richtete wie mich.

Und dennoch war ich froh, dass er gegangen war, um seine Dämonen endgültig zu vernichten.

Auch wenn es bedeutete, dass ich ihn vielleicht nie wieder sehen würde, es hätte mir doch noch mehr Schmerzen bereitet, mitansehen zu müssen, wie er langsam und qualvoll an seinem Hass zerbrochen wäre.

Auch wenn ich wusste, dass es vergeblich war, so hoffte ich doch, dass er mich bald vergessen würde.
 

~***~

Noch nie in meinem Leben hatte ich eine solche Ungeduld und Unruhe verspürt.

Zu dem brennenden Wunsch nach Rache gesellte sich nun noch das dringende Bedürfnis, endlich zu ihr zurückkehren zu können.

Mehrmals war ich bereits kurz davor gewesen, die Verfolgung aufzugeben, um sie nur endlich wieder in meine Arme schließen zu können.

Doch immer wieder hatten die Träume mich abgehalten, mich gezwungen, weiterzumachen, mich weiter und immer weiter vorwärtsgetrieben.

Wenn ich nachts schweißnass erwachte, wurde mir ihre Abwesenheit besonders schmerzlich bewusst.

Die innere Ruhe, die sie ausstrahlte.

Die Fürsorge, mit der sie sich um mich kümmerte, wenn die Dämonen zu stark wurden.

Das stumme Verständnis, das sie mir entgegenbrachte.

All das und noch so viel mehr hatte sie mir geschenkt.

Und dafür hatte ich sie allein gelassen.

Ich wusste, dass es der größte Fehler meines Lebens gewesen war, hatte es gewusst, noch ehe ich ihr meine Entscheidung verkündet hatte.

Und dennoch hatte ich keine andere Wahl gehabt.

Ich hasste mein Leben für das, was es mir aufzwang.

Ich hasste mich selbst für das, was ich nicht einfach ruhen lassen konnte.

Aber ich konnte nicht anders.

Ich hoffte nur, es würde bald ein Ende finden.

Ich wollte zu ihr zurück.

Nur zu ihr.
 

~***~

Ich schreckte aus dem Schlaf.

Mein Herz schlug heftig gegen meine Brust, mein Atem kam stoßweise.

Ich zitterte am ganzen Körper.

Kalter Schweiß lief mir über die Stirn.

Er vermischte sich mit den Tränen, die sich ungehemmt ihren Weg bahnten.

In meinem Kopf spielte sich ein wirres Durcheinander von Bildern, Geräuschen und Gerüchen ab.

Ich konnte sie nicht mehr zuordnen.

Nur das Gefühl durchströmte noch deutlich meinen ganzen Körper und hallte in schwarz-roter Farbe vor meinem inneren Auge wider.

Es war pure Angst.

Dann tauchte wie aus dem Nichts ein anderes Bild in meinem Kopf auf.

Tote Augen. Blut. Dunkelheit.

Tiefe Schluchzer stiegen mir die Kehle hoch.

Panisch stieß ich die Bettdecke beiseite, obwohl ich erbärmlich fror, taumelte aus dem Bett und zur Tür, die mir, als ich sie aufzog, durch einen kalten Windstoß, der große weiße Flocken ins Haus wehte, aus der Hand gerissen wurde.

Ich lief mit vor Tränen blindem Blick nach draußen und warf mich nach einigen Schritten in den Schnee, der mir bis zu den nackten Knöcheln reichte.

Schluchzend grub ich meine Finger in die weiche, weiße Masse, merkte noch nicht einmal, wie die Taubheit sich ausbreitete.

Die Tränen brannten zunehmend auf meiner Haut.

Ich kniff die Augen zusammen und wimmerte.

Sofort war das Bild wieder da.

Er lag auf der Erde, blutüberströmt. Seine toten Augen sahen durch mich hindurch.

Verzweifelt vergrub ich meine tauben Finger in meinen Haaren, krümmte mich zusammen und flehte immer wieder, immer eindringlicher.

„Nein, bitte nicht. Das darf nicht sein. Tu mir das nicht an. Bitte nicht...“

Der qualvolle Schrei schien aus einer anderen Welt zu stammen. Er hallte ewig in meinem Kopf nach. Ich begriff kaum, dass er von mir stammte.

„SASUKEEE!!!“
 

~***~

Ich genoss das Gefühl, das wild in meinen Adern pulsierte. Eigentlich hätte ich mich schreiend am Boden winden müssen, doch ich lag nur still da.

Endlich hatte etwas diese elende seelische Pein erstickt. Endlich konnte ich für einen kleinen Moment frei sein von der Sehnsucht, die mit jeder Minute stärker geworden war und mich fast wahnsinnig gemacht hatte.

Endlich fühlte ich wieder den Moment – und nur den Moment.

Nur nebenbei erlebte ich mit, wie das Leben gleichmäßig aus meinem Körper rann. Ich realisierte kaum, dass ich starb. Da war nur diese wunderbare Freiheit. Ich konnte sie beinahe auf der Zunge schmecken.

Ja, es würde bald ein Ende finden.

Bald...

Bodom.

Meine Gesichtsmuskeln zuckten bei dem Geräusch.

Bodom.

Ich öffnete unwillig die Augen und blickte in den wolkenverhangenen Himmel, der alle Meere der Welt über mir zu entleeren schien.

Bodom.

Ich nahm einen tiefen Atemzug.

Bodom.

Es blitzte. Im grellen Widerschein meinte ich, ihr Gesicht zu erblicken.

BODOM!

Keuchend musste ich mir an die Brust fassen.

Da war es wieder.

Und schon kamen die Erinnerungen zurück.

Erinnerungen an glückliche Tage. Erinnerungen an sie und immer wieder sie.

Ich würde niemals Ruhe finden, solange ich nicht wieder bei ihr war.

Ein Wispern verließ meine Lippen, das selbst für meine eigenen Ohren zu schwach war.

„Haruka...“
 

~***~

Ich hielt es nicht mehr aus.

Diese Schmerzen!

Wenn sie doch nur endlich aufhören würden!

Wenn es doch nur endlich vorbei wäre!

Ich hatte keine Kraft mehr.

Ich ertrug es einfach nicht länger.

Meine blau angelaufenen Finger fassten bebend an den Griff des Messers.

Bevor ich es nahe genug zu mir gezogen hatte, fiel es zu Boden.

Mein Körper war nicht mehr in der Lage, vom Bett aufzustehen und es aufzuheben.

Ergeben ließ ich mich in die alten Decken zurück sinken.

Nun blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten.

Es würde wohl nicht mehr lange dauern.
 

~***~

Tränen liefen mir über die Wangen, als ich sie anblickte.

Es war mir vollkommen gleichgültig.

Sanft strich ich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, wie ich es schon unzählige Male getan hatte.

Doch diesmal war es etwas anderes.

Diesmal war es endgültig.

Nie mehr würde ich in ihre traurigen, besorgten Augen blicken.

Nie mehr würde ich sie weinen sehen.

Nie mehr würde ich sie schluchzen hören.

Denn ihre leuchtenden Augen sagten mir: Jetzt würde alles gut werden.

Ein zärtliches Lächeln legte sich auf ihre Lippen und ließ die Wärme sich wohltuend in meinem gesamten Körper ausbreiten.

Ich beugte mich vor und legte meine Stirn an die ihre.

Mit geschlossenen Augen atmete ich ihren Duft ein und nahm mit allen meinen Sinnen endlich wieder ihre Nähe wahr.

Ihr Flüstern war wie ein erster sanfter Frühlingshauch an einem klaren Wintermorgen.

„Willkommen zu Hause.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2012-06-17T08:42:53+00:00 17.06.2012 10:42
Eine wunderschöne, traurige, berührende Geschichte :)
Ich finde, dass es absolut toll geschrieben ist und die Charaktere in genau richtigem Maß nahegebracht hat!
Mach weiter so ~


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