Das letzte Puzzleteil
Leise knisternde Geräusche und dumpfes Schlagen auf das schon recht marode
Holzdach ließen Samantha immer wieder nach draußen sehen. Schon seit Stunden
regnete es und der Sturm, der mit diesem Regen hereingebrochen war schien nicht
nachlassen zu wollen. Katapultierte die Äste der alten Eiche, die vor dem Haus
stand immer wieder gegen das kleine Dach und ließ die junge Mutter ein ums
andere Mal zusammen zucken. Sie hatte Angst. Angst davor, dass das Dach doch
irgendwann nachgeben und sie und ihre kleine Tochter unter sich begraben
könnte. Und niemand würde ihnen helfen können, denn Stuart, ihr Mann und
bester Freund seit ihrer gemeinsamen Kindheit in Bristol war nicht da um sie zu
beschützen. Seit er den Job in der Firma seines Vaters angenommen hatte kam er
so gut wie nie nach Hause und dennoch brachte er nicht mehr Geld heim, als in
seinem alten Job. Obwohl er da wenigstens am Wochenende bei ihr und ihrer
gemeinsamen Tochter Lily war. Jetzt jedoch saß sie allein hier und machte sich
wirklich ernsthafte Gedanken, ob das Dach diesen Sturm aushalten würde.
„Mami?! Kannst du Lily helfen? Da sind nicht genug da“, kam es nun auch
schon aus dem Nebenzimmer, aus welchem nun auch schon der kleine, vierjährige
Sonnenschein der jungen Familie angetappert kam. Doch gerade schien sie leicht
frustriert und hielt ihrer Mami eine ganze Hand voll hölzerner Puzzleteile
entgegen.
„Mickey hat gar kein Auge“, erklärte sie und sah Samantha mit
herzerweichender Schnute an. Ohne Auge konnte die bekannte Trickfilmfigur doch
nichts sehen und DAS wollte doch sicherlich niemand. Kurz nickte die Mutter und
stand nun auf, legte die Socke zur Seite, die sie gerade hatte stopfen wollen
und ging mit in das Nebenzimmer um das fehlende Puzzleteil zu suchen. Minuten
vergingen, doch die Suche blieb erfolglos.
„Tut mir leid, Süße, aber Mami findet es nicht“, seufzte sie nach einer
ganzen Weile und sah ihre Kleine entschuldigend an. Ging wieder zurück in das
kleine, gemütliche Wohnzimmer und nahm erneut das Stopfen der Socke in
Angriff.
„Ah, gib das her. Gib das her!“ Irritiert blickte Samantha doch wieder von
dem Wäschestück auf. Legte es ein weiteres Mal auf den Tisch und ging wieder
zurück in das Kinderzimmer. Sah ihre Tochter fragend an.
„Mami, Logan hat Mickeys Auge!“, jammerte das Mädchen nun auch schon und
deutete auf die kleine Puppenwiege, die langsam hin und her wiegte.
„Aber, Lily, da ist doch gar niemand. Wir sind alleine hier. Denk dir nicht
immer irgendwelche Leute aus, wenn du etwas nicht finden kannst. Davon kommen
die Sachen auch nicht wieder“ Samantha sah ihre Mutter trotzig an, ehe sie zu
weinen begann.
„Aber das... Lily lügt nicht! Logan hat das Puzzle! Wirklich!“, schluchzte
sie nun auch schon. Wieso glaubte ihr ihre Mami denn nicht?! Sie hatte doch
wirklich nicht gelogen.
Abermals ließ ein Donnern das kleine Häuschen erbeben und die junge Frau
skeptisch nach oben blicken. Das Knarzen der Dachbalken hörte sich nicht
wirklich gut an, weshalb Samantha nun doch wieder aufstand und an das Fenster
trat. Es sah nicht so aus, als ob der Sturm bald nachlassen würde. Ein weiterer
Donner und das erneute dumpfe Aufschlagen der Äste ließ sie aufschreien, denn
in diese Geräusche mischte sich ein Knacken und Krachen, dass nichts gutes
erahnen ließ. Hastig rannte sie in das Nebenzimmer und zu ihrer Kleinen, wollte
sie schnell aus dem Haus bringen, doch es war zu spät. Das Dach konnte dem
ständigen Aufschlagen der Äste nicht standhalten und barst. Brach direkt über
dem Kinderzimmer ein und begrub Mutter und Kind unter sich.
Als Samantha wieder zu sich kam spürte sie keinen Schmerz, doch war das eh
nebensächlich, denn viel wichtiger war ihr kleiner Sonnenschein.
„Lily?“ Sie wusste, sie hatte sich schützend über ihr Kind gelegt, bevor
sie einen der Balken abbekommen hatte, der es vor ihren Augen hatte Nacht
werden lassen.
„Sie hört dich nicht“, antwortete statt der Vierjährigen eine leise
Stimme, die zu einem vielleicht siebenjährigen Jungen gehörte. Irritiert
rappelte sich die junge Frau auf und trat an den Jungen heran, musterte ihn und
konnte sich dennoch nicht erklären wie er hier hergekommen war. Langsam schritt
der Junge an die Stelle an der Lily gesessen und gespielt hatte und kniete sich
nieder. Besah sich das Puzzle und zog dann lächelnd das letzte fehlende Teil
aus seiner Hosentasche. Gab Mickey sein fehlendes Auge zurück.
„Ach übrigens, ich heiße Logan. Und wie heißt du?“