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Out of the Fire

[Wichtel-Geschichten]
von

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Family Snapshots

Erster Beitrag zum Rundum-Wichtel und gleich zwei Tage zu spät. Na, das fängt ja toll an. :/ Die Verspätung tut mir auch sehr leid; aber es ging nicht anders, mir sind ein paar Sachen dazwischen gekommen, unter anderem ein widerliches KreaTief.
 

Whatever. Jetzt ist es fertig und ich bin sogar ziemlich zufrieden damit.

Die Geschichte spielt in meinem Mutant-'verse und ich mag die beiden Hauptcharaktere - Eleonore und Rae - sehr.

Die Welt ist eine futuristische, etwas cyberpunkige (auch wenn man davon nicht sonderlich viel merkt) Version unserer Welt, in der es Mutanten gibt und die nicht nur von Regierungen, sondern auch von Unternehmen gelenkt wird.
 

Widmung: abgemeldet

Also, der OS ist für dich und ich hoffe, er gefällt dir. Deine Dialogfetzen (bzw. einer davon) hat mir die Idee für diesen OneShot gegeben und dann konnte ich irgendwie gar nichts mehr anderes machen. Auch wenn ich nicht genau weiß, ob das hier wirklich dein Ding ist oder nicht. :/ Ich hab ein bisschen SciFi drin, aber es ist doch eher am Rande und das Hauptgenre hier ist Drama. D:

Naja, ich hab mir allergrößte Mühe gegeben und bin gespannt, was du dazu sagst.

Viel Spaß. :D
 

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Family Snapshots
 

Sonne und Wind drangen durch die offenen Glasfenster herein, die sich an der gesamten Westfront des Zimmers entlangzogen. Singvögel zwitscherten in ihren Käfigen, die an strategischen Orten in dem meisterhaft gepflegten Garten befanden, der selbst ein Kunstwerk war. Die Bäume und Kletterpflanzen waren so geschickt verteilt, dass man von den hohen Mauern, die das Grundstück umgaben, kaum etwas sehen konnte.

Jenseits davon konnte man den Bradford Tower erkennen, der seine himmelhohe Spitze selbst am Anwesen der Marchands vorbeischob. Eleonore hatte nie einen weiteren Gedanken daran verschwendet, aber sie wusste, dass es ihren Vater nervte und in seinem Ego kränkte. Darum war ihr der enorme Turm der Bradfords immer ein lieber Anblick in diesem sonst so undurchbrochenen Bild des Himmels gewesen, der sich um sie herum erstreckte.

Unter ihnen befanden sich weitere Gebäude, Türme, Arkaden, Plattformen und Bogen, aber kaum etwas reichte so weit hinauf wie dieses Heim der Familie Marchand. Nur die Reichsten und Mächtigsten lebten hier oben im Himmel. Im Umkehrschluss bedeutete natürlich, dass sich dort unten, verborgen vom strahlenden Licht der natürlichen Sonne, die Armen, die Schwachen und die Mitfühlenden durch das Leben kämpften.

Doch Eleonore wusste davon wenig und nichts aus erster Hand, denn sie gehörte zu den Privilegierten. Sie war noch nie weiter als sieben oder acht Ebenen weiter unten gewesen, zumindest nicht körperlich. Im Geiste reiste sie viel.

„… unblutige Anschlag auf das Kongressgebäude.“

Im Gegensatz zu den meisten anderen wusste sie jedoch von ihrem Status, davon, in welchem Luxus sie hier tatsächlich hauste, verstand das feine Gefüge der Welt, das sie hier hoch gebracht hatte und dafür so viele andere in den Dreck warf.

„Die Splittergruppe militanter und mutierter Menschen fordert neben Geld und Waffen auch die Freiheit einiger politischer Gefangener.“

Eleonore warf einen Blick auf den Bildschirm des VidCom, auf dem ein in einen billigen Anzug gekleideter, hübsch anzusehender Reporter in ein kleines Mikrophon brabbelte. „Ansonsten, so drohen sie, würde es bei der nächsten Explosion Tote geben, denn für ein weiteres leeres Gebäude seien ihnen ihre Bomben zu schade.“

Das hatte schon am letzten Tag von dem Anschlag gehört – wer nicht? Wenn er nicht gerade so ignorant gegenüber solchen Nachrichten war wie ihre Mutter. Oder ihr Bruder. Sie verkniff sich ein spöttisches Hochziehen ihrer Mundwinkel und rutschte tiefer in die bequeme Couch, die eine von vielen in dem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer war. Von ihrem Platz aus hatte sie einen hervorragenden Blick auf den Bildschirm und ebenfalls hinaus in den Himmel, in dem sich die Silhouette des Bradford Towers abzeichnete.

„Die Mutanten wollen endlich gehört werden, eine politische Stimme, die für sie spricht.“

Eleonore warf einen matten Blick auf den Bildschirm und grinste. Was hatten die denn gedacht? Dass die mutierten Menschen – oder entwickelten Menschen, wie mancher Wissenschaftler glaubte – sich ewig als Menschen zweiter Klasse hinstellen lassen würden? Sich ewig verstecken würden? Das war Blödsinn und wenn man der Sache auch nur einen Gedanken geschenkt hätte, hätte man es gesehen, so wie Eleonore es getan hatte.

Schon bevor sie herausgefunden hatte, dass sie selbst eine Mutantin war, hatte sie das Schicksal dieser Menschen mit den besonderen Fähigkeiten verfolgt. Es war doch nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich einige von ihnen dazu entschlossen, sich zusammenzuschließen und sich Gehör zu verschaffen – wenn es sein musste auch mit Gewalt.

Auch wenn sie damit nur die Angst der Bevölkerung bestätigten, die von den Politikern und Wirtschaftsmagnaten noch geschürt wurde. Welcher normale Mensch hatte denn keine Angst vor jemandem, der einen mit einem einzigen Gedanken umbringen, der ihn Dinge denken oder sehen lassen, der selbst in die Gedanken seiner Mitmenschen eindringen konnte?

Niemand.

Der Mensch fürchtete sowieso, was er nicht verstand, und er wurde handgreiflich gegenüber dem, was er fürchtete. Das war schon immer so gewesen. Außerdem hatte er die Tendenz dazu, zurückzuschlagen anstatt die andere Wange hinzuhalten.

„Die Regierung reagierte ungehalten auf diese Drohung und verstärkte noch einmal ihren Standpunkt: mit Terroristen, seien sie nun normal oder mutiert, verhandele sie nicht. Was diese Aussage für eine Bedeutung hat – für die Regierung, für die Bevölkerung und auch für die Mutanten – lässt sich bis jetzt nur spekulieren. Aber die Ergebnisse werden, wie immer in solchen Fällen, nicht schön sei…“

Dem Sprecher wurde abrupt das Wort abgeschnitten, als der Bildschirm der VidCom auf einmal schwarz wurde. Eleonore fuhr heftig von ihrem Platz auf und fixierte sofort die Ursache des Ärgers. „Was soll das?!“, fauchte sie den jungen Mann, der einige Schritte entfernt stand, eine der Fernbedienungen in der Hand, mit zu Schlitzen verengten Augen an. Er war groß gewachsen und schlank, mit dem dunklen Haar und dem attraktiven, ausdrucksstarken Gesicht, die er von ihrer beider Vater geerbt hatte.

„Du bist irgendwie abnormal.“, erklärte ihr Bruder und auf seinem Gesicht zeichnete sich eine seltsame Mischung aus Verachtung, Widerwillen und Anerkennung ab. „Du bist die einzige Fünfzehnjährige, die sich mit Nachrichtensendern abgibt, das schwöre ich dir.“

Sie schnaubte und setzte sich aufrecht hin um ihn kühl und herablassend anzublicken. „Irgendwer in dieser Familie muss doch auf dem neuesten Stand sein, was das betrifft. Und du bist es sicher nicht, Nicolas Marchand.“ Sie richtete die kohlschwarzen Augen wieder auf den Bildschirm. „Und jetzt mach wieder an.“

Sie hätte wissen müssen, dass er der Aufforderung nicht nachkam. Mit einem tiefen Seufzen wandte sie sich ihm erneut zu. „Hast du ein bestimmtes Anliegen oder willst du mir einfach nur auf die Nerven gehen…?“

Nicolas grinste sie an. „So lustig es auch ist, dich zu ärgern, habe ich dafür nicht so oft Zeit, wie du vielleicht annimmst. Deine Mutter möchte dich sehen.“ Dass es auch seine Mutter war, vergaß er bei Gelegenheiten wie diesen manchmal. „Oh, und Paps kommt gleich. Er war gerade am Tor.“

Wie so vieles andere in diesem Haus – in dieser Welt – war das Tor automatisiert und technisiert, so dass es von selbst meldete, wann wer hindurchtrat. Dass es ihren Vater anmeldete, bedeutete nicht unbedingt, dass er auch kam, aber zumindest, dass eines seiner Autos auf das Gelände gefahren war, was meistens ein ebenso gutes Zeichen war.

Einmal war eines seiner … Mätressen (für diese Frauen gab es tatsächlich kein besseres Wort) mit dem roten Porsche aufgetaucht, den er wie seinen Augapfel hütete – die Aufregung war groß gewesen, nicht nur bei ihrer Mutter. Es war allerdings auch ein großartig anzuschauendes Spektakel gewesen.

Eleonore starrte ihm nach, während er durch die Tür verschwand und angelte sich dann die Fernbedienung, die er auf einen der mit cremefarbenem Leder überzogenen Sessel hatte fallen lassen. Einen Moment spielte sie mit den Gedanken, einfach sitzen zu bleiben und sich einen interessanten Sender in all den VidCom-Kanälen auszusuchen.

Doch sie ließ es blieben – Emilia, ihre Mutter, ließ ihrem Mann zwar alles durchgehen, bei ihren Kindern war sie jedoch weitaus strenger. Aus Protest blieb Eleonore trotzdem einige Minuten sitzen und spielte mit den langen, weißblonden Strähnen ihres leicht gelockten Haares, ehe sie aufstand und hinausging um die Frau aufzusuchen. Ewig konnte sie sie nicht warten lassen.

In der großen Eingangshalle kam sie ihr entgegen, mit forschen Schritten und einem halb wütenden, halb unglücklichen Ausdruck im hübschen Gesicht. Sie hatte die Größe und Figur eines Models und war in Würde älter geworden, doch die Linien um ihre Augen und die vollen Lippen stammten selten vom Lachen.

Emilia Marchand hatte immer ein klar vorgezeichnetes Leben gehabt, die Tochter eines Hotel-Tycoons, die die beste Partie geheiratet und dessen Kinder großgezogen hatte. Aber das Schicksal war nicht gut zu ihr gewesen, denn statt eines guten, treuen Ehemannes hatte sie einen großmäuligen, dauergeilen Hurenbock bekommen und die Verbitterung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Dass sie sich nie beklagt hatte, sich nicht von ihm trennte oder zumindest gegen die vielen Frauengeschichten protestierte, würde Eleonore nie verstehen und auch nie akzeptieren. Aber es war schon immer so gewesen und sie hatte gelernt, damit umzugehen. Mit vielen abstoßenden Dingen konnte man sich arrangieren, wenn man lange genug damit lebte.

„Da bist du ja!“, fauchte Emilia, beruhigte sich aber rasch wieder, als Eleonore sie fragend ansah. „Ich habe eine halbe Ewigkeit auf dich gewartet. Nic hat dir doch Bescheid gegeben?“

Eleonore senkte die Augen. „Ja, Mama. Ich wollte die Nachrichten schauen.“

Emilia warf die Hände in die Luft. „Das machst du jeden Tag! Hast du nicht Lust auf andere Dinge? Irgendwas, was andere Mädchen in deinem Alter auch machen? Warum bringst du keine Freundinnen heim und unterhältst dich über Jungs und Kleider oder so?“

Warum bin nur ich mit einer solch seltsamen Tochter gestraft? Eleonore wusste, dass sie diesen Satz niemals sagen würde, aber ihn jedes Mal dachte. Sie blickte ihre Mutter aus halb geschlossenen Augen an, antwortete aber nichts. Alles, was sie sagen würde, würde auf taube Ohren stoßen – ihre Mutter würde sie nicht verstehen und vielleicht war das auch gut so.

„Sie ist einfach abnormal.“, erklärte Nic spöttisch von der Seite. „Du musst dich einfach daran gewöhnen.“

Seine Schwester warf ihm einen genervten Blick zu und beschloss, das Gespräch woandershin zu lenken. Sie wollte gerade den Mund öffnen um etwas zu sagen, als die Eingangstür aufging und ihr Vater hereinkam.

Er war nicht sonderlich groß und außergewöhnlich zierlich für einen Mann, aber er hatte sein jugendliches, gutes Aussehen behalten und sein Körper war trainiert von dem vielen Sport, den er trieb. Dunkle Haarsträhnen fielen ihm lässig ins Gesicht, aber unter dem Pony blickten scharfe, eiskalte Augen hervor. Dieser Mann war ganz sicher niemand, mit dem man spaßen sollte und Eleonore wusste es ganz genau. Er war rücksichtslos, skrupellos und mitleidslos und ging entschlossen voran, selbst wenn er dabei über Leichen steigen musste. Als seine Tochter sollte sie es wissen.

Sie bedachte ihn mit einem kühlen Blick und bemerkte die zweite Person erst gar nicht, die hinter ihm hereintrat. Erst ein erstickter Laut ihrer Mutter lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Mädchen. Sie konnte nicht älter sein als Eleonore selbst, war ebenfalls schlank und zierlich, aber da hörte die Ähnlichkeit auf.

Sie trug das glatte, dunkelbraune Haar bis zum Kinn und der kurvige Körper unter der nonchalanten Kleidung war durchtrainiert und kräftig. Ihre hellen Augen sogen den Anblick der Eingangshalle beinahe verwundert auf, als würde sie so etwas zum ersten Mal sehen. Ganz im Allgemeinen betrachtet wirkte sie wie ein Kind, jung, unschuldig und sehr, sehr neugierig.

Eleonore runzelte die Stirn. Wer mochte das wohl sein und warum brachte Matthew Marchand sie mit? Er achtete sehr darauf, seine Familie und seine Mätressen getrennt zu halten und außerdem war die da sowieso viel zu jung für diese Stellung… Nicht, dass er eine Abneigung gegen Jüngere hätte, aber legal war es bis jetzt immer gewesen.

Matthew erblickte seine Familie sofort und sein Gesicht hellte sich auf. „Wie gut, dass ich euch alle hier treffe!“, erklärte er und winkte sie.

Nic folgte der Aufforderung ohne Zögern, während sein Blick auf dem fremden Mädchen lag, das ihn nicht einmal bemerkt zu haben schien. Emilia folgte langsamer und hielt auf halbem Wege die geschwungene Treppe hinunter inne. Eleonore blieb stur oben auf der Galerie stehen und starrte aus schwarzen Augen auf Matthew herunter.

„Das ist Rae Kendall.“, erklärte ihr Vater, ohne ihren Trotz zu beachten, den versammelten Anwesenden und die Fremde schreckte auf, als sie ihren Namen vernahm. Sie ließ den Blick kurz über die die drei Anwesenden schweifen, lächelte schüchtern und blickte wieder weg. Anscheinend war ihr das Ganze peinlich.

Bei den nächsten Worten ihres Vaters verstand Eleonore auch, warum. „Sie ist meine Tochter und sie wird ab jetzt bei uns wohnen.“
 


 


 

Leben mit Rae war seltsam, auch wenn man sie eher selten zu Gesicht bekam. Aber ihre Gegenwart war spürbar und präsent.

Da war das Geflüster des Personals, das wie alle anderen über Matthews Affären Bescheid wusste und sich wie alle anderen gerne das Maul darüber zerriss, auch wenn sie Rae am liebsten vor die Tür setzen würden.

Da waren die spöttischen Seitenhiebe aus Nicolas‘ Richtung, die teilweise obszönen Bemerkungen und sein schlichtweg widerliches Verhalten gegenüber Rae oder über sie.

Da waren Emilias eisiges Schweigen gegenüber ihrem Ehemann und ihre frostigen Blicke in seine Richtung.

Und da war Matthews Gleichgültigkeit. Anders konnte man es nicht nennen – es interessierte ihn schlichtweg nicht, was die Leute sagten, es interessierte ihn nicht, wie sein Sohn sich verhielt, und es interessierte ihn auch nicht der stetig wachsende Abscheu seiner Frau. Und Rae interessierte ihn auch nicht.

Nur Eleonore wusste nicht, was sie von dem anderen Mädchen halten sollte. Zuerst war sie wütend und enttäuscht gewesen – wieder einmal – aber dann fragte sie sich, was sie eigentlich erwartete. Ihr Vater hatte sicherlich mehr Kinder als nur drei und das Wissen um Halbgeschwister begleitete sie schon so lange, wie sie derlei Dinge verstehen konnte. Nachdem ihr dies klar geworden war, war ihr Zorn auf Rae ziemlich schnell verraucht.

Außerdem konnte sie wohl kaum das Mädchen für eine Sache verantwortlich machen, bei der sie noch nicht einmal geboren gewesen war. Nach und nach hatte sie etwas mehr über es herausgefunden, ohne es selbst ansprechen zu müssen.

Das wäre auch recht schwer geworden, denn es hatte sich in die Zimmerflucht zurückgezogen, die Matthew ihm zur Verfügung gestellt hatte, und war seitdem nicht wieder darauf aufgetaucht. Niemand hatte versucht, es dazu zu bringen, auch wenn seine Gründe unbekannt waren. Vielleicht hatte es Angst, der Familie gegenüberzutreten, der es als Kuckucksei ins Nest gelegt worden war. Vielleicht war es die Trauer um seine Mutter – immerhin war der Tod dieser Frau der Grund, warum es jetzt hier war, auch wenn er schon einige Monate zurücklag.

Die Zwischenzeit hatte es in verschiedenen Einrichtungen für Waisen verbracht, in zwei verschiedenen Pflegefamilien und einem Jugendzentrum, bis man endlich seinen Vater hatte ausfindig machen können. Und der hatte es – aus welchen Gründen auch immer – zu sich nach Hause geholt, zu der Familie, die er betrogen hatte, zu der Frau, die nicht die Mutter dieses seines Kindes war, und der Halbschwester, die nur ein paar wenige Monate älter war. Und dort hatte es sich in diese Zimmer eingeschlossen.

Doch als Rae sich nach über drei Wochen noch immer nicht rührte, beschloss Eleonore, die Sache in die eigene Hand zu nehmen. Sie war neugierig auf dieses andere Mädchen, interessiert an dem Wie und dem Weshalb. Wie hatte ihr Vater herausgefunden, dass Raes Mutter tot war? Und weshalb hatte er die Tochter mitgebracht, von der er wissen musste, dass sie hier nicht willkommen sein würde?

Es war ein kühles, seltsam abgesondertes Interesse, wissenschaftlich beinahe. Eleonore hatte immer gewusst, dass sie anders war als andere Menschen – ihre Fähigkeit, in die Träume anderer eindringen zu können, hatte sie nur bestätigt und nicht weiter erschreckt; sie war einfach so – aber Augenblicke wie dieser und solche Gefühle führten ihr immer wieder vor Augen, wie sehr anders sie war und manchmal machte es ihr Angst. Manchmal verschaffte es ihr einfach nur ein Gefühl tiefster Zufriedenheit.

Und dieses Interesse war trotz allem die positivste Empfindung, die Rae in diesem Haus entgegengebracht wurde. In Anbetracht all dieser Umstände, entschied Eleonore, konnte Rae sich nicht beschweren. Besser als Nic oder gar Emilia und von Matthew wollte sie gar nicht anfangen.

Also hob sie die Hand, klopfte einmal resolut gegen die Tür und drückte dann die Klinke nach unten. Überraschenderweise gab die Tür sofort nach und Eleonore trat ein mit diesem lautlosen Schritt, den sie an sich hatte. Wenn Rae das Klopfen nicht gehört hatte, war es unwahrscheinlich, dass sie das Eintreten ihrer Halbschwester bemerkt hatte.

Der Schlüssel steckte innen im Schloss aber anscheinend hatte Rae sich nicht die Mühe gemacht, abzuschließen. Weil sie dachte, dass das Personal sonst nicht hineinkam oder war es ihr einfach egal? Oder wusste sie, dass sie niemand aufsuchen würde? Nur ihre Halbschwester stand in ihrer Tür und diese war von sich selbst überrascht.

„Hallo?“, sagte Eleonore und blickte sich um. Die Zimmerflucht war vor Raes Einzug für Gäste vorgesehen gewesen, geschmackvoll möbliert, aber völlig unpersönlich. Ein paar Kleidungsstücke lagen auf einem der mit dunklem Leder überzogenen Couches und auf dem Esstisch in der anderen Hälfte des Zimmers stand ein vollgestelltes Tablett – die Reste des Mittagessens.

Zwei Türen führten in weitere Räume und eine davon – dahinter befand sich das Schlafzimmer – stand halb offen. Eleonore zuckte einmal mit den Schultern und ging zu der offenen Tür hinüber. Irgendwo musste sie ja mit dem Suchen beginnen.

Sie steckte den Kopf zur Tür hinein und hielt verdutzt inne. Das große Himmelbett thronte in der Mitte des nahezu runden Raumes, dessen Wände größtenteils aus hohen Bogenfenstern bestanden. Der Boden bestand aus dickem, plüschigem Teppich, der Schritte völlig dämpfte, und die Frisierkommode, die direkt neben der Tür an der Wand stand, wies die einzigen Hinweise auf, dass die Räume tatsächlich dauerhaft bewohnt waren: einige Fotographien in billigen Bilderrahmen.

Doch es waren die schweren, violetten Vorhänge, die Eleonore so verwundert innehalten ließ – sie waren alle zugezogen, so dass kaum Licht durch die schmalen Spalten drang, die hier und da aufblitzten. Das Dämmerlicht im Raum verhinderte beinahe, dass Eleonore ihre Schwester erkannte, die neben dem Bett am Boden kauerte.

Sie starrte auf ihre Hände mit den kräftigen Fingern, die aussahen, als könne ihre Besitzerin kräftig an- und zupacken. Ihr braunes Haar war unordentlich und wirr, als hätte sie es lange nicht gekämmt, und ihre Augen waren rot und verschwollen, als hätte sie geweint, worauf auch die Tränenspuren in ihrem Gesicht hinwiesen.

Aber anscheinend war nicht das ihr Problem, denn Teile ihre Arme waren bedeckt mit dichtem, braunem Fell, seidig glänzend und etwa so lang wie ihre Finger. Ihre Ohren wirkten deformiert, ebenfalls haarig und spitz zulaufend und ihre Nägel waren schwarz, schmal und äußerst spitz. Eleonore war sich sicher, dass, als sie die andere das letzte Mal gesehen hatte, nicht derart entstellt gewesen war…

Da war auch Blut in ihrem Gesicht, vor allem ihre Lippen wirkten unnatürlich rot und glänzend, als hätte sie ihre Zähne in noch durchblutetes Fleisch geschlagen.

Dann fuhr Rae erschrocken und blitzschnell auf, während Eleonore noch versuchte zu entscheiden, ob sie sich wieder leise davonstehlen oder sich bemerkbar machen sollte. Ihr durchdringender Blick richtete sich mit beunruhigender Härte auf den Eindringling und schien in der Dunkelheit bernsteinfarben zu glühen. Eleonore hätte schwören können, dass ihre Augen das letzte Mal noch hellgrau gewesen waren.

Rae fixierte sie und ihre Lippen zogen sich zurück und enthüllten zwei Reihen spitzer, scharfer, nicht menschlicher Zähne, ihre Eckzähne unnatürlich groß und offensichtlich für das Blut verantwortlich – sie musste sich selbst gebissen haben. Ein tiefes Knurren entwich ihrer Kehle, das völlig unmenschlich und animalisch klang.

Sie schien nicht bei Sinnen zu sein, sondern völlig aufgegangen in dieser anderen Seite ihrer selbst, die Fell und Krallen und Reißzähne hervorrief… Eleonore wich einen Schritt zurück, verwarf jedoch schnell wieder den Gedanken, sich umzudrehen und davonzulaufen – das hätte sicher nur noch mehr Unheil gebracht – und erwiderte den erbarmungslosen Blick aus glühenden, goldfarbenen Augen fest.

Doch ihre Gedanken überschlugen sich. Alles nur Denkbare kam ihr auf einmal in den Sinn, doch das meiste war Blödsinn und sie kam sehr schnell auf die einzig mögliche Lösung: Rae war eine Mutantin. Wie sie selbst auch. Sie war ebenfalls besonders, abnorm, wenn auch auf ihre eigene Art und so völlig anders als Eleonore, dass diese es – in einem seltsam leidenschaftslosen Teil ihres Gehirns – absolut interessant hielt. Wenn Rae sie jetzt nicht in animalischer Wut in Stücke riss, würde sie dem nachgehen müssen…

Für einen Moment wirkte es so, als würde ihre Halbschwester tatsächlich auf sie losgehen. Sie schob sich bereits auf alle Viere, ihre Finger gruben sich in den dichten Teppich und sie machte sich bereit zum Sprung…

Eleonores Hirn registrierte nebenbei, wie viel Abstand sie zu der Szene zu haben schien, als sei es nicht sie, die betroffen war, die hier gleich angegriffen werden würde… Doch sie nahm den Blick nicht von Rae und diese hielt plötzlich wie ertappt inne und ein heftiges Zittern ging durch ihren ganzen Körper. Dann sagte sie zusammen, als wäre sie eine Marionette, der man die Fäden mit einem Mal abgeschnitten hatte.

Unter Eleonores erstaunten Augen verschwanden die Haare auf ihren nackten Armen, ihre Ohren wurden kleiner und formten sich zu normalen menschlichen, vielleicht etwas großen Ohrmuscheln zurück und ihre Fingernägel wurden breiter und verloren die schwarze Farbe und die gefährliche Spitze.

Als sie schließlich wieder den Kopf hob, trug sie einen resignierten, aber gefassten Ausdruck im Gesicht und ihre Augen hatten wieder dieses helle Sturmgrau. Vermutlich erwartete sie jetzt, dass sie nicht mehr lange hier im Haus bleiben würde. Vielleicht war sie sogar erleichtert darüber.

Doch Eleonore lächelte die andere an, vielleicht etwas zu raubtierhaft und liebenswürdig, aber das machte nichts. „Ich hätte nicht gedacht, dass du so … wandelbar bist.“, gab sie zu und Rae starrte sie einfach nur an. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Vielleicht hatte sie erwartet, dass Eleonore umdrehte und schreiend davonlief um aller Welt zu erzählen, dass eine Mutantin im Haus war.

Aber da hatte sie sich in ihrer neuen Schwester verschätzt.
 


 


 

Das Anwesen, in dem Eleonore aufgewachsen war, war groß und weitläufig, voller verwinkelter Flure, gewundener Treppen und geheimer oder zumindest kaum sichtbarer Durchgänge. Verzierungen, Borten und anderer Firlefanz schmückten jedes sichtbare Treppengeländer, jede Wand, jedes Fenstersims und jeder Türrahmen (außer der entsprechende Gegenstand befand sich in den Örtlichkeiten, die ausschließlich für das Personal vorgesehen waren.) Es gab Balkone, Freitreppen und Galerien, hohe Hallen, deren Decken sich drei Stockwerke über ihnen befanden und weite Säle, Zimmerfluchten und groß angelegte Gärten.

Dieses Anwesen war allein für Emilia Marchand erbaut worden, als eine Art Hochzeitsgeschenk von dem Mann, der sie schon zu diesem Zeitpunkt betrogen hatte, und man sah es ihm an. Emilia mochte Schnörkel, Flitter und Kitsch.

Allerdings bedeutete das auch, dass es viele verborgene Plätze gab, tote Winkel und nicht einsehbare Orte, von denen man beobachten konnte. Eleonore liebte diese Stätten, liebte es, zu beobachten und einfach zuzuschauen. Man konnte so viel Interessantes sehen, denn die Leute benahmen sich völlig anders, wenn sie sich allein oder unter sich wähnten.

Auch jetzt stand sie auf einer der Galerien, verborgen in den Schatten, die hier oben herrschten. Unten in der Halle, von der aus man eine der zahlreichen Terrassen betreten konnte, brannten einige Standlampen und tauchten den Raum und die teuren Möbel in goldenes Licht. Das war einer der Gründe, warum Eleonore sicher war, dass ihre Eltern sich nicht sehen würden. Einer weiterer war, dass die beiden – mal wieder – streitdiskutierten und sich darum nur aufeinander konzentrierten.

„Du musst mehr Zeit mit deiner Familie verbringen.“, erklärte Emilia gerade mit beherrschter Stimme und vor der Brust verschränkten Armen. In dem hellen Sommerkleid nach neuester Mode, das ihre schlanke Linie betonte, und mit wallendem, blondem Haar sah sie in dem freundlichen Licht der Lampen wunderschön aus. Die Linien in ihrem Gesicht waren von Eleonores Beobachtungsplatz nicht zu sehen, was sie unglaublich jung wirken ließ.

Doch Matthew hatte keinen Blick für seine Frau übrig, nicht einmal eine Antwort. Er starrte nur mit verdrießlichem, märtyrerhaften Ausdruck gegen das Fenster, das durch die Dunkelheit der Nacht völlig schwarz wirkte.

Emilia, die schon eine Weile auf ihn einredete, ließ sich davon jedoch nicht aufhalten. „Dein Sohn braucht eine starke Hand und von deiner Tochter will ich gar nicht erst anfangen.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Du weißt genau, wie eigenwillig sie beide sind und wie wenig sie sich von jemand anderem als dir beeindrucken lassen! Aber wie soll das gehen, wenn du nie da bist?!“

Jetzt seufzte Matthew tief, als sei das Gezeter seiner Frau die schlimmste Folter. „Irgendjemand“, begann er mit beklagender Stimme zu sprechen. „muss sich um dieses riesige Imperium kümmern, dass meinen Namen trägt. Oder glaubst du, dass Autos sich von alleine bauen, Erfindungen sich von alleine schaffen, Ideen von alleine kommen oder Entwicklungen sich von alleine bilden? Ganz sicher nicht!“ Sein Ton war gleichzeitig anklagend und eiskalt.

Emilia starrte ihn für einen Moment mit offenem Mund an, ehe sie die Kiefer zusammenpresste. Ihre Augenbrauen waren zusammengezogen und sie wirkte, als wolle sie gleich explodieren, während sich die Spannung zwischen ihnen immer weiter aufbaute. Eleonore hatte selbst von ihrem erhöhten Standpunkt beinahe das Gefühl, sie greifen zu können. Es fehlte nicht mehr viel für die sprichwörtlichen Blitze und Entladungen zwischen ihnen. Aber ihr Vater legte es auch darauf an, das war so deutlich wie seine abweisende Haltung. Das einzige Vergnügen, das er jetzt noch aus seiner Frau zog, war sie bis aufs Blut zu reizen.

„Was glaubst du, wer du bist?!“, brüllte ihre Mutter so plötzlich los, dass Matthew, der sich wieder abgewandt hatte, zusammenzuckte, auch wenn er sich rasch wieder unter Kontrolle hatte. „Du hast auch Pflichten deinen Kindern gegenüber! Die solltest du wenigstens erfüllen, wenn du deine Versprechen an deine eigene Frau schon derartig mit den Füßen trittst!“

Eleonore zog eine Augenbraue hoch. Sie hatte ihre Mutter noch niemals derartig wütend gegenüber ihrem Vater gesehen. Ihr war klar, woran es lag: Rae. Die Beziehung zwischen ihr und ihrer Stiefmutter war kein Stück besser geworden und Eleonore konnte sie beide verstehen.

Und selbst Eleonore, die eine zögerliche Freundschaft zu dem anderen Mädchen aufbaute, hatte noch immer ihre abweisende Art, ihre Unfähigkeit, schnell Vertrauen zu fassen, ihre Mauer, die sie überwinden musste, um Rae tatsächlich als Freundin, als Schwester zu sehen – und Rae konnte dies spüren. Es war ganz sicher nicht leicht, für keinen der Familienmitglieder, außer ihren Vater.

Der hatte noch immer kein Interesse an der Sache und ließ es alle spüren. Dabei war alles seine Schuld, eine Meinung, die sie alle teilten und die ihre Mutter ihm noch immer entgegenbrüllte: „Dass du deine uneheliche Tochter sogar hier einquartierst und dich dann keinen Deut um deine anderen legitimen Kinder kümmerst! Ist dir eigentlich nie der Gedanke gekommen, dass sie mit dieser Situation überfordert sein könnten?! Dass das ein schlechtes Vorbild für sie darstellen könnte?! Welcher Vater setzt ihnen einfach derart unverschämt einen Bastard vor die Nase?! Nic hat sowieso schon genug Probleme mit Mädchen und Eleonore wird von Tag zu Tag skurriler! Ich überlege schon, mit ihr zu einem Psychologen zu gehen, ich bin mir sicher, mit dem Kind stimmt etwas nicht…“

Emilias Worte verloren sich kurz, während ihre Gedanken sich auf dieses andere Problem richteten. Eleonore hatte keinen Zweifel daran, dass es noch einige Zeit dauern würde, ehe ihre Mutter sie tatsächlich zu einem Psychiater schleppte. Und bis dahin würde sie sich keine Sorgen machen. Auch wenn sie stets deutlich sah, wie Emilia darüber nachdachte, wann immer das Verhalten oder die Worte ihrer Tochter ihr wieder aufgefallen waren.

Doch die Frau fing sich schnell und richtete die vor Wut funkelnden Augen wieder auf ihren Gatten. „Und dann kommst du an und tust so etwas! Denkst du, das wäre hilfreich für ihre Erziehung und Entfaltung?!“

„Machst du das eigentlich oft?“, wollte plötzlich eine leise Stimme hinter Eleonore wissen, die sich erschrocken gerade aufrichtete. Sie drehte den Kopf und blickte zu ihrer Halbschwester hinüber, die in der Tür am Ende der Galerie aufgetaucht war. Sie hatte die Augenbrauen fragend nach oben gezogen und den Kopf schief gelegt. Die Antwort schien sie tatsächlich zu interessieren. „Deine Eltern beim Streiten beobachten, meine ich?“, hakte sie nach, als Eleonore nicht antwortete.

Diese drehte sich wieder nach vorn, wo Emilia mit unruhigen Schritten hin und her ging und ihren Mann immer noch beschimpfte. Auch Rae selbst kam dabei nicht gut weg, aber der war es entweder gleichgültig oder sie hatte sich inzwischen daran gewöhnt, denn sie reagierte gar nicht darauf.

Matthew folgte seiner Frau mit den Blicken und wirkte überaus amüsiert über ihre Sorgen und Ängste. Als wären es nur Albernheiten, nicht ernst zu nehmen von einem Geschäftsmann wie ihm. Dabei wäre es eigentlich angebracht gewesen, wenn man nach Eleonores Verständnis von Gesellschaftsregeln ging. Nicht, dass sie selbst sich mehr Gedanken machte, aber da war die Situation auch völlig anders und sich wusste, dass sie und ihr Vater andere Gründe dafür hatten.

Rae trat leise neben sie an die Brüstung und folgte ihrem Blick, aber ihr Gesicht trug einen seltsamen Ausdruck zwischen Verwirrung, Entsetzen und Bestürzung. Eleonore dagegen hatte nur ein vages Interesse an der Situation, die sich vor ihnen abspielte. Vermutlich wäre das ein weiterer Grund für ihre Mutter, sie in die Hände eines guten Psychiaters zu geben.

„Ja.“, antwortete sie einfach auf die Frage ihrer Halbschwester. „Es ist … unterhaltsam.“ Sie konnte Raes Blick auf sich spüren, schwer und ungläubig.

Dann schüttelte die Andere den Kopf und trat vom Geländer zurück. „Du bist echt seltsam.“, erklärte sie, während sie langsam zurück zur Tür ging. Eleonore folgte ihr mit dem Blick.

„Aber trotz allem noch die erträglichste Person in diesem Haus. Deine Familie hasst mich. Unserem Vater bin ich egal – wie ihr anderen auch. Selbst das Personal sieht auf mich herab.“ Rae zuckte mit den Schultern. „Und die Atmosphäre in diesem Scheißanwesen ist so angespannt, dass ich manchmal abhauen oder einfach nur schreien will. Wie hältst du das nur aus?“

Jetzt lächelte Eleonore sie an, ehe sie sich vom Geländer löste und ihr folgte. Sie antwortete nicht auf diese Frage, sondern erklärte: „Ich habe auch eine besondere Fähigkeit.“ Warum sie das ausgerechnet jetzt erzählte, konnte sie nicht sagen, doch vielleicht lag es daran, dass sie einfach keine Antwort auf die eigentliche Frage wusste.

Aber Rae blieb erstaunt stehen, so dass sie an ihr vorbeigehen konnte. Im Türrahmen drehte sie sich um. „Kommst du oder willst du lieber hier bleiben?“ Sie warf einen vielsagenden Blick zur Brüstung hinüber, von wo man noch immer die wütenden Stimmen ihrer Eltern hören konnte.

Rae beeilte sich, ihr zu folgen. Doch im Gegensatz zu Eleonores Erwartungen erkundigte sie sich nicht nach den Fähigkeiten ihrer Halbschwester. Diese ließ es darauf beruhen. Was hätte sie sagen sollen? Dass sie die Träume anderer Menschen besuchen konnte, darin herumspielen wie in einem Sandkasten? Dass sie sie in intimsten Situationen beobachten konnte, von der Galerie aus, einem Logenplatz wie eben das Streitgespräch ihrer Eltern? In einer Situation, in denen alles bar und offen lag, in der das Unterbewusstsein selbst mitspielte und in aufregendster Verkleidung über die Bühne tanzte?

Den meisten Menschen wäre das unangenehm, das wusste Eleonore, auch wenn sie noch nie jemandem davon erzählt hatte. Das wäre einfach nur dumm gewesen. Aber bei Rae stand die Sache anders – zu ihr hatte sie ein ganz besonderes Band, etwas, was sie vorher noch nicht gekannt hatte.

„So“, begann Rae plötzlich und schreckte sie damit aus den Gedanken. „wo gehen normale Jugendliche denn hin?“ Sie klang beiläufig.

Eleonore warf ihr einen kurzen Blick zu. „Du meinst, wo gehen Jugendliche normalerweise hin?“

„Ja, sag ich doch.“ Die Brünette zuckte mit den Schultern.

Eleonore legte den Kopf schief, als würde sie nachdenken. „Ich habe keine Ahnung – ich bin nicht normal.“

Und Rae lachte.
 


 


 

Rae saß zwei Stühle entfernt, steif und sichtlich unwohl. Sie starrte den zarten Kristall der Gläser, das feine Porzellan und teure Silberbesteck vor sich an wie ein Kaninchen den Wolf und wirkte seltsam in dem eleganten Kleid und mit der meisterhaften Frisur. Und dieser Vergleich war nun wirklich seltsam, war nicht eigentlich Rae durch ihre Fähigkeit der Wolf? Sie hatte die Finger links und rechts neben die Reihen des Bestecks gelegt und wirkte, als hätte sie Angst etwas kaputt zu machen.

Eleonore war erstaunt, dass man sie überhaupt hatte kommen lassen. Auf der anderen Seite war ihre Anwesenheit ein einfacher Weg, Emilia zu reizen und seit einigen Tagen gerieten sie und Matthew immer wieder aneinander. Also war Rae hier, an diesem vollbeladenen Tisch, am Abend von Thanksgiving. Eleonore verabscheute ihren Vater bei diesem Gedanken, dass er ihre Schwester nur in dieser Runde akzeptierte, damit er seine Frau aufstacheln konnte.

Ihr war klar, dass sie selbst nicht das Bild einer perfekten Tochter darstellte, doch er war einfach nur … abstoßend. Sie rümpfte die Nase und richtete ihre Aufmerksamkeit zwanghaft auf die Mahlzeit, die ihnen bevorstand, wenn der Hausherr sich endlich dazu bequemte, sich zu ihnen zu gesellen.

Die Tischplatte bog sich beinahe unter dem Essen, das das Personal darauf aufgetürmt hatte. Der Blickfang war eindeutig der große Truthahn in der Mitte, doch von gekochtem Gemüse über Kartoffeln und weiteren Beilagen bis hin zu dem äußerst kreativ angerichteten Nachtisch schien alles vorhanden zu sein, was man sich nur wünschen konnte.

Ihre Mutter saß direkt neben ihr an der Stirnseite des Tisches, in einem eleganten Abendkleid und angetan mit dezentem, aber teurem Schmuck. Der Platz direkt neben ihr wiederum war frei, reserviert für den Mann, der sich zu viel Zeit ließ, nur um jedem hier auf die Nerven zu gehen. Nic saß gegenüber von seiner hellhaarigen Schwester, lässig zurückgelehnt und mit einem Grinsen im Gesicht. Von allen hier sah er am entspanntesten aus, als hätte er gar keine Sorgen in der Welt und fand die gesamte Situation äußerst amüsant. Jede der drei Frauen am Tisch warf ihm hin und wieder einen wütenden Blick zu; sie alle drei hatten keine gute Laune.

Doch es war vor allem Rae, die hier litt. Schon seit Wochen ging es ihr immer schlechter, obwohl die Unterstützung, die sie von ihrer Schwester bekam, mit jedem Tag zu wachsen schien, was Eleonore weit mehr wunderte als die andere. Aber sie ließ es zu, ließ es darauf ankommen, wie man so schön sagte. Es gefiel ihr.

Doch auch diese Zuneigung half nicht viel gegen Emilias Hass, Nics Kommentare und Matthews Desinteresse.

Als die Tür zum Speisezimmer geöffnet wurde, drehten sich vier Köpfe gleichzeitig in die Richtung des eintretenden Mannes. Matthew warf ihnen ein spöttisches Grinsen zu und spazierte aufreizend langsam auf seinen Platz zu. Rae starrte wieder auf ihren Teller und Eleonore wollte einen Stuhl weiterrutschen, damit sie direkt neben ihr sitzen konnte.

„Worauf hast du gewartet?“, wollte Emilia in kühlem Ton von ihrem Ehemann wissen, die Stimme mühsam beherrscht und rote Zornesflecken auf den Wangen. „Darauf, dass das Essen kalt ist oder wir alle verhungert sind?“

„Ich hatte eben noch zu tun.“, antwortete Matthew unwillig und griff nach dem kristallenen Weinglas, das man ihm bereits gefüllt hatte. Er grüßte damit erst seinen Sohn, dann Eleonore und schließlich Emilia, ehe er einen Schluck nahm. „Schönes Thanksgiving.“

Rae ignorierte er schlichtweg und Eleonore ignorierte dafür ihn, während die anderen beiden den Gruß erwiderten. Matthew warf seiner Tochter einen kurzen, verwirrten Blick zu und stellte sein Glas wieder ab, um sich zu setzen. „Ich sehe, dass unser Küchenchef mal wieder keine Mühen gescheut hat, uns ein wahres Festessen zu servieren.“ Er ließ den genießerischen Blick über die vollbeladene Tafel schweifen.

Aber Emilia schien nicht bereit, die Sachen auf sich beruhen zu lassen, die Matthew nicht zu interessieren schienen. „Ich dachte, Pünktlichkeit sei eine Tugend eines Geschäftsmannes.“, bemerkte sie spitz und legte die verschränkten Arme vor sich auf den Tisch.

Doch Matthew lachte nur. „Nur eines jenen, der sich alles andere nicht leisten kann.“

„Und doch könntest du nächstes Mal Rücksicht auf deine Familie nehmen, die schon eine ganze Weile hier sitzt und auf dich wartet.“

„Ich werde das nächste Mal daran denken.“, erklärte ihr Mann im wegwerfenden Tonfall, der deutete, dass er nichts dergleichen vorhatte. „Können wir nun mit dieser Mahlzeit beginnen, auf die wir alle schon warten?“

„Wenn du früher gekommen wärest, würdet ihr dieses Gespräch nicht führen und wir würden schon lange dieses köstlich duftende Essen vernichten.“, spöttelte Nic von der Seite, aber sein Vater reagierte nur mit einem Grinsen.

„Manchmal muss man die anderen warten lassen, mein Junge.“, erklärte er jovial. „Aber das wirst du auch noch lernen.“ Damit begann er, sich Erbsen auf den Teller zu schieben.

Nic seufzte erleichtert und griff nach den Nudeln; ihm schien es ganz recht zu sein, endlich mit dem anzufangen, zu was sie hier zusammengekommen waren. Doch Eleonore blickte zu Rae hinüber, die angestrengt auf den Teller vor sich starrte, die sturmgrauen Augen weit aufgerissen, als würde sie sich bemühen, nicht in Tränen auszubrechen.

„Und warum ist sie überhaupt da?“, fuhr Emilia mit einem Mal wütend auf und machte eine heftige Handbewegung in Richtung der unerwünschten Stieftochter. „Ich dachte, das sei ein Fest für die Familie?!“

Matthew warf ihr einen kalten Blick zu. „Sie gehört zur Familie.“

„Zu deiner vielleicht!“, fauchte Emilia und Nic fügte einen Moment später hinzu: „Das will man gar nicht glauben, wo du sie den ganzen Abend noch nicht angesehen oder auch nur zur Kenntnis genommen hast.“

Raes gesamter Körper schien zu zittern, wie Eleonore plötzlich bemerkte, als würde sie mit aller Selbstbeherrschung versuchen, nicht loszuschreien, oder in Tränen oder hysterisches Gelächter unterdrücken. Doch es war nicht zu erkennen, welche der drei Möglichkeiten tatsächlich zutraf.

Aber Matthew zuckte nachlässig mit den Schultern. „Und? Ändert nichts an der Tatsache, dass sie trotz allem meine Tochter ist. Erbsen, Eleonore?“

„Ich glaube nicht.“, antwortete diese. „Aber vielleicht möchte Rae welche.“

Der Effekt, den diese Worte auf ihn hatten, war ziemlich witzig. Er starrte sie entgeistert an, als würden ihn für einen Moment die Worte fehlen, als hätte er alles erwartet, nur nicht das. Manchmal ließ er sich doch ziemlich schnell aus der Fassung bringen. Und diese Überraschung hatte er sich selbst zuzuschreiben – wenn er mehr auf seine Familie achten würde, wüsste er, dass seine Töchter Freundschaft geschlossen hatten.

Doch er fing sich schnell wieder und stellte die Schüssel wieder auf den Tisch. „Nun gut, dann eben nicht. Wer will ein Stück Truthahn?“ Damit erhob er sich und nahm sich erst einmal selbst etwas von dem Tier.

Emilia rümpfte die Nase, warf Rae noch einen bitterbösen Blick zu und hob ihren Teller. Auch Nic tat es ihr nach und Matthew verhalf ihnen zu einem Stück. „Eleonore? Sei jetzt nicht biestig.“, verlangte ihr Vater. „Du magst das doch.“

„Irgendwie … ist mir der Appetit vergangen.“, erklärte sie. „Aber vielleicht mag Rae ein Stück?“

Diesmal blickte diese auf und Eleonore bemerkte beinahe erschrocken den goldenen Schimmer in ihren Augen.

„Oder vielleicht nicht.“, erklärte die Brünette spröde, als Matthew sie erneut einfach überging. Sie erhob sich. „Entschuldigt mich.“ Damit löste sie sich vom Tisch und ging zur Tür. Niemand versuchte, sie aufzuhalten und ihr Rücken war gerade wie ein Stock, ihr Kopf hoch erhoben, als wolle sie sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihr dieses Verhalten zusetzte. Eleonore sah diese Verletzlichkeit trotzdem, doch den anderen mochte es nicht auffallen. Sie kannten Rae ja gar nicht. Wie sollten sie auch?

„Da geht sie hin…“, sagte Nic, laut genug, dass Rae ihn noch verstehen musste. Aber sie kam nicht einmal aus dem Schritt und Eleonore zog spöttisch einen Mundwinkel nach oben, ehe sie beschloss, der Schwester zu folgen.
 


 


 

Das breite Himmelbett in Raes Zimmer hatte eine weichere Matratze als Eleonores eher schlichte Schlafangelegenheit. Die schweren Vorhänge warfen Schatten auf den Boden, geschaffen von den ungewöhnlich kräftigen Strahlen der Morgensonne, die durch die großen Fenster fielen. Rae lag neben ihr, zusammengerollt wie ein Baby und nur bedeckt von einer geblümten Decke, die zu dünn war für diese Jahreszeit.

Wenigstens war sie jetzt kein Tier mehr.

Ihre Kräfte verwandelten keine Kleider mit, das hatten die beiden Mädchen schon sehr früh herausgefunden, nachdem Rae es erst einmal geschafft hatte, ihre anfängliche Furcht vor der Mutation und ihren Ergebnissen zu überwinden.

Und menschliche Kleidung war nicht für eine große Wölfin geschaffen. Bei ihrem ersten Versucht, die Verwandlung komplett durchzuführen – nicht auf diese halbe Art, in der sie sie früher immer gestoppt hatte, bevor sie jemanden hatte, der sie unterstützte und ihre Angst nahm, diese halbherzige Wandlung, in der Eleonore sie damals erwischt hatte, als sie das erste Mal ihr Zimmer aufgesucht hatte – hatte sie sich hoffnungslos darin verheddert.

Doch das gestern war kein Versuch gewesen, sondern ein Unfall, herbeigeführt durch Gefühle und Kummer, böse Worte und Gleichgültigkeit. Eleonore hatte schon länger die Theorie, dass die Kräfte ihrer Schwester nicht nur durch Willen aktiviert wurden, sondern sich auch von starken Emotionen beeinflussen ließen. Und an solchen mangelte es in diesem Haus nicht, auch wenn jeder so tat und niemand sie akzeptieren wollte und sie alle negativ waren.

Vermutlich war das der Grund, warum die verwirrte Rae einen ganzen Tag als Wolf zugebracht hatte, verborgen vor aller Blicken, bis ihre Schwester sich ihrer angenommen hatte und aus Ermangelung einer anderen Idee ihr einfach Gesellschaft geleistet hatte, bis sie beide in diesem großen Himmelbett eingeschlafen waren.

Leise rollte Eleonore sich herum und setzte sich auf, ehe sie ihre Schwester vorsichtig an der Schulter berührte. Raes Augen – noch immer golden – öffneten sich mit einem Ruck und ihre Nasenflügel blähten sich, als sie tief die Luft einsog, den Körper angespannt.

Sie hatte einmal versucht zu erklären, wie es war, die Welt so intensiv durch Geruch wahrzunehmen, aber Eleonore hatte es nicht verstanden und bald das Interesse daran wieder verloren. Doch Raes Sinne waren besser jetzt, gingen in die Richtung eines Wolfes und ihre Nase war so viel besser als die eines Menschen.

Es brauchte nur eine Sekunde und ihr Körper entspannte sich wieder, nachdem sie gemerkt hatte, dass außer ihr nur Eleonore anwesend war. Sie wandte den Kopf, ihre Lider flatterten müde und sie setzte sich langsam auf um sich zu strecken. Sie wurde allerdings schlagartig rot, als sie ihre Nacktheit bemerkte und zog sich hastig die Decke über die Brust, während ihre Hände an dem Saum herumfummelten.

„Ich…“, begann sie. „Ist es vorbei?“

Eleonore hob die Schultern. „Wer weiß? Du solltest deine Gefühle mehr unter Kontrolle bekommen. Und hör auf, dich ständig in Selbstmitleid zu baden.“ Sie schwang die Beine über die Bettkante und erhob sich.

Im Gegensatz zu Rae war sie noch komplett angezogen; ihre ständige Anwesenheit an Raes Seite hatte nichts anderes erlaubt. Sie musste ihre Schwester nicht ansehen um zu wissen, dass diese das Gesicht verzogen hatte, die Stirn ärgerlich gerunzelt, den Mund zu einer Grimasse verzogen.

„Und deine Augen sind noch golden.“, schnitt sie ihr das Wort ab, ehe Rae sich über den Kommentar mit dem Selbstmitleid beschweren konnte. „Außerdem solltest du dir etwas anziehen; ich lasse uns Frühstück bringen.“ Sie ging zu der HouseLink-Station in dem anderen Zimmer hinüber, die überall an strategisch günstigen Punkten im Anwesen verteilt waren und mit diversem höher gestelltem Personal verbanden.

Sie achtete nicht auf Rae, die mit hastigen Bewegungen Kleidung aufsammelte und anschließend im Bad verschwand. Als sie sich wieder herauswagte, hatten die Dienstmädchen die verlange Mahlzeit bereits aufgebaut und waren wieder verschwunden. Eleonore warf ihr einen kurzen, missbilligenden Blick zu – warum hatte sie so lange gebraucht? Sie hatte sich nicht einmal die Haare gekämmt – und begann, sich ihr Müsli zu richten.

Während sie anfing einen Apfel zu schälen, starrte sie Rae durchdringend an, die jedoch überall hinsah, nur nicht zu ihr. Aber Eleonore hatte Geduld und Nerven und schließlich war es Rae, die die Stille durchbrach. „

Ich bade nicht in Selbstmitleid.“, erklärte sie mit fester Stimme, doch ihr Unterton verriet ihre Unsicherheit.

„Natürlich tust du das.“, antwortete Eleonore und goss Milch in ihre persönliche Schüssel mit den tanzenden Katzen darauf. Sie fand dieses Motiv schon immer etwas kindisch, allerdings amüsierte es sie trotzdem. Es war kein Fehler, etwas kindlich zu sein, oder?

Für einen Moment sah es so aus, als wolle Rae ein Brötchen nach ihr werfen, entschied sich dann jedoch, sie lieber böse anzuknurren und zu zischen: „Nein! Meine Mutter ist tot, mein Vater ist ein Arschloch, den meine Existenz kein Stück kümmert, meine Stiefmutter hasst mich – nicht, dass ich es ihr wirklich verübeln kann – und mein Halbbruder verachtet mich, was ich kein Stück verstehe. Mein Gott, selbst das Dienstpersonal und meine Privatlehrer können mich nicht ausstehen! Die einzige Verbündete, die ich in diesem Scheißhaus habe, ist eine emotional zurückgebliebene, besserwisserische, sonderbare Fünfzehnjährige, die keine Ahnung vom wahren Leben hat! Mir geht’s einfach nur schlecht!“

„Selbstmitleid.“, wiederholte Eleonore wissend und hob dann die Schultern. Die Beleidigung gegen sie selbst überging sie nonchalant. „Deine Mutter starb vor beinahe einem Jahr und …“ Sie unterbrach sich selbst. Vielleicht war das ja das Problem.

„Ja.“, antwortete Rae still. „Ja, das weiß ich selber.“ Sie seufzte tief. „Ich vermisse sie.“, gab sie dann zu. „Ich vermisse sie so sehr. Und noch mehr, wenn ich daran denke, wo ich hier gelandet bin.“ Sie zuckte mit den Schultern, als wüsste sie nicht, was sie noch sagen sollte, und wirkte auf einmal so verletzlich, wie sie nicht das Recht hatte auszusehen.

Sie konnte sich in einen monströs großen Wolf verwandeln, einen von denen, die noch Urängste in Menschen weckten, einer von denen, warum manche Leute große, sanfte Hunde schräg anblickten, einer von denen mit fingerlangen Zähnen und scharfen Krallen. Aber manche Feinde konnte man nicht mit purer Kraft und großem Wissen schlagen und dieser Kampf gehörte dazu.

„Ich bin hier, weißt du.“, erklärte Eleonore und überraschte damit nicht nur ihre Schwester, sondern in erster Linie auch sich selbst. Seit wann war sie so … sozial? „Ich bin für dich da, auch wenn du mir vielleicht erklären musst, wie man so etwas tut.“ Ahnung hatte sie davon immerhin nicht sonderlich viel.

Aber Rae schenkte ihr ein erleichtertes, seltsam liebevolles Lächeln, in dem all ihre Dankbarkeit lag. „Ich schätze das, weißt du das eigentlich?“, sagte sie aufrichtig und bestimmt. „Ich bin dir wirklich dankbar für deine Unterstützung und deine Freundschaft, auch wenn ich nicht weiß, wie ich dazu gekommen bin. Aber es hilft mir ungemein. Ich glaube, ohne dich hätte ich schon lange meine Sachen gepackt und wäre auf und davon. Also: Danke.“

Eleonore starrte sie einige Augenblicke schweigend an, konsterniert und ungläubig, und fühlte sich einen Atemzug lang verloren, außerhalb ihrer Komfortzone und völlig überwältigt. Rae brauchte sie und das war ein überwältigendes Gefühl, das ihr Angst machte.

Niemand hatte sie je gebraucht.

Sie senkte den Blick auf ihr Müsli und antwortete nichts. Aber das musste sie auch nicht.
 


 


 

Es war beinahe stockdunkel in der Eingangshalle. Durch die großen, hohen Fenster fielen einige verirrte Strahlen der Laternen draußen und enthüllten einige wenige Silhouetten und Linien. Das Zifferblatt einer Uhr leuchtete in schwachblauem Licht und zeigte auf kurz nach drei.

Der Sessel war weich und bequem und Eleonore wartete schon seit mehr als einer Stunde hier. Ihr Körper war entspannt, aber sie war noch nicht müde, trotz der späten Uhrzeit und ihres langen Tages. Sie hatte den Kopf schräg gelegt und lauschte den Geräuschen der Nacht, dem Rauschen des Windes um das Anwesen, den Stimmen einiger Nachtvögel im Garten, den Geräuschen von Autos in der Ferne – leise und vereinzelt.

Manchmal saß sie in der Nacht wach auf ihrem Balkon und fragte sich, wie laut die Nächte weiter unten in der Stadt waren, dort, wo die Lüftungsmaschinen immerwährend arbeiteten, wo allzeit Lichter brannten, die UV-Lampen, die Neonröhren vor den Geschäften, die Scheinwerfer der Stadt, die alten Glühbirnen innerhalb der Häuser, manche lauter, manche kaum zu hören, wo ständig Menschen waren.

Die Stadt schlief niemals, aber hier oben konnte man sich täuschen lassen, hier oben, so abgeschnitten von allem anderen, wo die Stille tief sein konnte und manchmal erschreckend. Sie richtete sich auf, als der leise Motor eines modernen Autos sich näherte und direkt vor der Tür zum Stehen kam. Vermutlich würde es morgen aufgeräumt in der Garage stehen, aber es wäre nicht der Verdienst ihres Vaters, der jetzt die Autotür laut hinter sich zuschlug. Jemand anderes räumte ihm stets alles hinterher.

Matthew Marchand musste jetzt die Freitreppe heraufkommen und kurz darauf konnte sie hören, wie er versuchte, den elektronischen Schlüssel in das Schloss zu bekommen. Er benötigte mehrere Versuche – er hatte getrunken, sicherlich, und ganz sicher nicht allein – und schließlich öffneten sich die Türen und er kam herein mit dem konzentrieren Gang eines Mannes, der auf einer Linie bleiben wollte. Die Aktentasche und die Schlüssel wurden achtlos auf eine der Kommoden verfrachtet, bevor er noch beim Gehen aus dem Mantel schlüpfte und ihn über eine der Lehnen warf.

Eleonore beobachtete ihn mit kühlem Blick und unbewegtem Gesicht, ohne das er sie überhaupt bemerkte. Nicht, dass er sie gesehen hätte, wenn er nüchtern gewesen wäre – dazu war es zu dunkel und sie bewegte sich nicht auf ihrem Sitzplatz. Einzig Licht hätte ihm geholfen, trotz ihres so hellen Haares, ihrer blassen Haut und des weißen Kleides, das sie trug. Aber sie saß absichtlich im Schatten ihres Sessels.

„Gute Nacht, Papa.“, durchbrach sie die friedliche Stille und Matthew gab ein würdeloses, beinahe schrilles Geräusch von sich. Er fing sich bemerkenswert rasch und wandte sich nach einigen Augenblicken zu ihr um, eine Hand schwer auf dem Couchrücken, über dem unordentlich sein Mantel hing.

„Eleonore.“, bemerkte er und nickte. Seine weißen Zähne blitzen kurz in der Dunkelheit, als er ihr ein Grinsen zuwarf. „Was machst du um diese Zeit noch hier? Solltest du nicht im Bett liegen und schlafen?“

Eleonore hob die Schultern, wohl wissend, dass er sie nicht sehen konnte. „Ich wollte auf dich warten.“, erklärte sie bestimmt. Sie wollte mit ihm reden. Da waren Worte, die ihr schon seit Tagen auf der Zunge lagen, die sie ihm unbedingt mitteilen wollte und jetzt schien der Zeitpunkt gekommen.

„Nun, jetzt bin ich hier.“ Er wedelte mit der Hand in ihre Richtung. „Mach mal Licht, damit ich meine Lieblingstochter auch sehen kann, wenn ich mit ihr spreche.“

Sie folgte der Aufforderung und streckte die Hand aus, um den Schalter der Standlampe zu drücken, die halb neben, halb hinter ihrem Sessel stand. Der Schein war nicht hell, aber golden und freundlich und beleuchtete einige Meter um sie herum.

„Was gibt’s? Glaub nicht, ich wüsste nicht, dass du etwas willst, wenn du um diese Zeit hier bist und auf deinen Vater wartest.“ Er lachte. „Ich war auch einmal jung wie du, weißt du?“

Sie hob eine Augenbraue und hatte keinen Zweifel daran, dass er einmal jung gewesen war. Aber noch nie wie sie.

Statt einer Antwort blickte sie auf seinen Mantel, musterte ihn durchdringend, bemerkte den unsteten Blick, die geöffneten Manschetten, die gelockerte Krawatte und die Lippenstiftspuren auf seinem Hemdkragen. Wenn sie vorher einen Zweifel gehabt hatte, wo er gewesen war, so war dieser jetzt weggeräumt.

„Bei welcher Geliebten warst du denn heute?“, wollte sie interessiert wissen und brachte ihn wieder aus dem Konzept. Das war beinahe wie ein Spiel – Matthew war stets so beherrscht und in Kontrolle von allem um ihn herum, dass es ihr wieder und wieder Spaß machte, ihn aus der Reserve zu locken. Und heute hatte sie es bereits mehr als einmal geschafft.

„Das geht dich nun wirklich nichts an!“, fuhr er dann auf und wandte sich um, um davonzugehen.

Sie könnte jetzt so tun, als würde das nicht stimmen, als würde das Leid und der Zorn ihrer Mutter über seinen Betrug ihr nahegehen oder die Tatsache, dass sein so offenes Fremdgehen die Ehre der Familie verletzte, aber in Wirklichkeit interessierte sie nichts davon. Er hatte Recht – es ging sie tatsächlich nichts an.

Also schwieg sie und erhob sich nur, um ihm zu nachzugehen, wie er die Treppe hochstieg und in den Gang einbog, der zu seinem Arbeitszimmer führte. Sie folgte wie ihm wie ein lautloser Schatten – oder besser, ein Geist, hell und gespenstig durch das silberne Licht der Gartenlampen, das durch die Fenster hereindrang.

Matthew sagte nichts dagegen, also glitt sie hinter ihm in sein Arbeitszimmer und sank auf eines der Sofas, die dort standen. Matthew ging zu einem der Schränke hinüber, hinter dessen verglasten Türen eine Ansammlung feinster, alkoholischer Getränke zu sehen war.

„Ich wollte dir nur etwas sagen.“, erklärte sie und er zog fragend eine Augenbraue hoch, ehe er sich der Auswahl seines nächtlichen Trunkes widmete. Sie schwieg, bis er schließlich einen teuren Whiskey aus der Vitrine nahm, und suchte nach Worten.

„Ich …“, begann sie dann einfach und blickte ihn an.

Er hob den Kopf, während er den Pfropfen aus der Kristallflasche zog. „Ja?“ Das Wort klang nicht interessiert, eher, als wolle er die Sache schnell hinter sich bringen. Er goss sich einige Schlucke der goldenen Flüssigkeit in der Flasche in das Whiskeyglas und stellte die Karaffe wieder sorgfältig in den Schrank, ehe er das Glas aufnahm und dessen Inhalt kurz schwenkte.

Für einen Moment wollte sie ihn anschreien, ihm sagen, wie sehr sie ihn und sein Verhalten verabscheute und abstieß, wie widerlich, unfair und ekelhaft er war. Aber dann wurde ihr klar, dass er sie nicht ernst nehmen würde, dass er darüber lachen und es einfach wegwerfen werde, als wäre es nur eine Phase von ihr, als würde sie ihre Meinung noch einmal ändern und in seine Arme fallen, um sich zu entschuldigen. Als wäre sie jemals so wankelmütig gewesen.

„...hasse dich.“, schloss sie, die Stimme ruhig und sicher.

Sie fühlte sich erleichtert, jetzt waren diese Worte heraus, die sie schon einige Tage sprechen wollte, aber für die sie nie die richtige Gelegenheit gefunden hatte.

Matthew blickte sie an, die Augen scharf und nicht mehr vom Alkohol verschleiert. Dann wandte er sich ab und nahm einen Schluck. „Du weißt gar nicht, wovon du redest.“, tat er sie ab und sie wollte mit dem Fuß stampfen und ihre Worte noch einmal wiederholen. Verstand er überhaupt, was sie hier sagte, was sie hier meinte?

Dann wich die Anspannung aus ihrem Körper und ihr wurde klar, dass er es entweder tatsächlich nicht verstand oder – was vielleicht schlimmer war, darüber war sie sich nicht ganz klar – es ihn schlichtweg nicht interessierte, so wenig, wie Rae ihn interessierte.

Und was spielte es überhaupt für eine Rolle? Sie hatte gesagt, was sie sagen wollte und ob er ihr glaubte oder nicht – war das nicht seine Sache? Also hob sie nur einmal kurz die Schultern und erhob sich. Sie ging wortlos zur Tür, doch bevor sie hinaus auf den Gang trat, wandte sie sich noch einmal um: „Gute Nacht, Papa.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln, das überhaupt nicht freundlich war. „Süße Träume.“

Er winkte ihr nur zu und nahm erneut einen Schluck, ohne sie überhaupt richtig anzusehen.

Heute Nacht, beschloss sie, während sie lautlos den Flur hinunterging, heute Nacht würde sie das erste Mal absichtlich in die Träume einer Person eindringen, die sie kannte, die ihr nahe stand, eine Person von ihrem eigenen Blut. Und vielleicht würde sie einen Weg finden, ihn auf die dunkle Seite der Traumwelt zu locken, dorthin, wo Alptraummonster und die Untiefen des Unterbewusstseins lauerten.

Und sie würde es so lange tun, Nacht für Nacht, bis sie das Interesse daran verlor, wie er das Interesse an Rae verloren hatte, kaum nachdem er sie hergebracht hatte. Nur hatte sie mehr Ausdauer und Geduld.
 

~~~~~~~
 

Fini.
 

Gruß

Sorca~

Chance Encounter (pt. 1)

Okay, weil meine Muse mich irgendwie ein wenig allein gelassen hat mit dieser Aufgabe, bin ich noch nicht ganz fertig und mache 2 Parts aus der Story. Das ist okay, ich hab nämlich erst die Hälfte der Szenen aber schon 6.ooo Worte, ist also wieder mal etwas länger geworden. (Aber mit mehr Dialog. Irgendwie. Und der Stil ist auch - strange, irgendwie, weil ich aus einem Grund, den ich nicht weiß, ziemlich wirr war, glaube ich. Ich hab das schlimmste ausgemerzt, aber man kann ja nie wissen.) Der zweite Part wird dann morgen, wenn ich fertig bin, kommen. (Oder wenn mein Wichtel den 1. gelesen hat.)
 

Die Story spielt in dem Mutant!Universe, mit dem ich mich schon seit einiger Zeit herumspielte, da ich es zur Zeit mag und mein Wichtelkind nicht wirklich präzisiert hat, was sie denn gerne hätte (es war so was in der Richtung 'so lange es nicht dark oder so ist, ist alleso okay'.) Also hab ich die Chance beim Kopf gepackt.

Rina (mein Hauptcharakter) ist der erste Charakter, der bereits in einer der anderen 3 Stories auftauchte. (Endlich!) Allerdings ist der OS selbst eher etwas ... pointless geworden. :/ Es ist nicht wirklich aufregend oder so und es passiert auch nicht viel und die Warnings sind daher mit mindless, strange friendship-fluff und 2o-minutes-to-the-future-SciFi ganz gut ausgedrückt.

Der Titel bedeutet 'zufällige Begegnung'.
 

Widmung: MoonlightWhisper

Ich hoffe, es gefällt dir. Wie oben gesagt, ich war etwas aufgeschmissen was deine so weiten Wünsche angeht, darum hab ich mich an den Charakteren orientiert, ohne einen richtigen Plot dazuzupacken. :/ Ich hab mir allerdings wie immer Mühe gegeben und irgendwas ist dabei rausgekommen.

So, have some fun. (I'm open to complaints.)
 

~~~~~~
 

Chance Encounter
 

I
 

Die Kälte kroch Alexandrina bis unter die Kleidung und hielt sie fest im Griff. Sie hielt die Arme um den Körper geschlungen, die Ärmel ihres taillierten Mantels – ein elegantes Stück, das sie hauptsächlich wegen ihrer Arbeit gekauft hatte – bis über die Hände gezogen und die abgewetzte Umhängetasche beinahe nachlässig über der Schulter.

Der Herbst war mit aller Macht über das Land eingebrochen, doch ohne die hübschen bunten Blätter an den Bäumen, ohne die goldenen Tage mit strahlender Sonne und sanftem Wind, ohne den Vogelschwärmen am strahlend blauen, mit Schäfchenwolken getupftem Himmel. Solch einen Herbst gab es nur noch in Büchern und weit entfernten Ländern.

Hier war er bitter und kalt und der unregelmäßig auftretende Nebel schien jedes Jahr ein oder zwei Level der Stadt mehr zu verschlingen. Die Kälte kam immer schnell und sie kam immer mit Macht – die Umstellung von Sommer war stets schwer und Rina bekam jedes Mal eine Erkältung, egal, was sie versuchte, diese zu unterbinden.

Sie hatte sich den dunkelvioletten Mantel früh genug mit Bedacht auf eben solche Situationen gekauft (in einem Second-hand-Laden), bevor warme Kleidung teuer geworden war, doch heute half nicht einmal er. Der Regen, der zur Mittagszeit begonnen hatte, trug auch einen Teil der Schuld. So durchnässt wie heute war sie schon lange nicht mehr gewesen.
 

In einer Stadt wie dieser – mit Schicht um Schicht an Plattformen, Straßen und Stockwerken übereinander – war es nicht unmöglich, trotz nassem Wetters trockenen Fußes von einem Haus in das nächste zu kommen, aber bei einem solchen Sauwetter brauchte man eben ein Auto und das war etwas, was sie vermutlich nicht so bald besitzen würde.

Ihr Geld würde hinten und vorne nicht reichen (sie tauschte diesen Komfort lieber gegen eine Wohnung, die näher an ihrem Arbeitsplatz lag), die öffentlichen Verkehrsmittel waren meistens gut genug und ihr Lebensstil ließ längere Anschaffungen sowieso einfach nicht zu. Nicht, dass es ihr jetzt geholfen hätte – hier im Opera District war motorisierter Verkehr (bis auf ein paar wenige lizensierte Ausnahmen) sowieso verboten.

Es waren Tage wie dieser, die sie verfluchte. Nicht nur das schlechte Wetter, die Kälte, die diversen Ausbrüche und Forderungen und das Gezeter ihrer befehlssüchtigen, tyrannischen Chefin zehrten an ihren Nerven, sondern auch ihre Fähigkeit.
 

Sie hatte schon immer gewusst, dass sie eine Mutantin war. Als kleines Kind war es ihr eine Quelle ständigen Amüsements gewesen, aber sie hatte schnell erkannt, was es wirklich war – mehr ein Fluch denn ein Segen, eine missliche Sache, die sie am Liebsten wieder los werden würde, ein verdammtes Unheil. Manchmal hatte sie gedacht, dass sie verrückt war, und manchmal, dass sie verrückt werden würde.

Die geschlechtslosen Stimmen, die zu ihr sprachen – leise, flüsternd, durcheinander, oft unverständlich, trieben sie manchmal (meist figürlich gesprochen) in den Wahnsinn (und manchmal beinahe wortwörtlich.) Die meisten schmolzen zu einem kaum verständlichen Kauderwelsch zusammen, einem Tohuwabohu aus Worten, die sich zu sinnlosen Sätzen zusammensetzten, wenn sie sich nicht auf individuelle Stimmen konzentrierte. Doch mindestens zwei oder drei der Stimmen waren immer gut zu verstehen, deutlich und klar hoben sie sich von den anderen hervor, selbst wenn sie zuweilen sehr gedämpft waren.

Sie erzählten ihr von der Zukunft, von den vielen Möglichkeiten, die sich auftaten, nicht nur ihr, sondern jedem und allem.
 

Um sich abzulenken ließ sie den Blick über den Bahnsteig gleiten. Altes Opernhaus stand in großen, geschwungenen Lettern an der Wand hinter den Gleisen, obwohl nichts Altes hier zu finden war, weder in dem ästhetisch aufgemachten U-Bahnhof selbst, noch an dem namensgebenden Gebäude, das sich direkt gegenüber des Haupteingangs befand. Es war nur erreichbar über eine breite, geschwungene Brücke, während es umgeben war von erstaunlich tiefen Abgründen.

Menschen in allen Größen und Farben warteten auf die U-Bahnen, die zu dieser späten Stunde nicht wie zur Rush-Hour alle fünf Minuten vorbeikamen. Das war einer der Gründe, warum sie es hasste, so spät Feierabend zu haben, aber was sollte sie tun? Der Job war gut und interessant und machte, wenn sie sich nicht gerade mit Consuela-der-Diva herumschlagen musste (was leider zu oft der Fall war), sogar Spaß.

Vom Kiosk in der Nähe trieb der aromatische Duft von frischem Brot herüber und vermischte sich mit den anderen Gerüchen, die hier unten in der Luft hingen – Metall, menschliche und sogar tierische Ausdünstungen, Zigarettenqualm und Alkoholdunst, Pisse und das Odeur, das aus den Tunneln aufstieg, undefinierbar und dezent widerlich. Stimmengewirr erfüllte die Luft und bunte Werbehologramme flirrten über den Köpfen der Wartenden herum und priesen die verschiedensten Produkte an. Jene reichten von Kinofilmen über Echtes Frischobst über Designerkleidung bis hin zu Reklame für Künstlerbedarf.

Diese Differenz im Werbespektrum ließ sich auf die so unterschiedlichen Menschen zurückführen, die diese U-Bahnstation nutzten. Kein Wunder, sie lag in mitten von jenem Viertel, das als das der Künstler und Philanthropen, Intellektuellen und Philosophen, Stars und Diven bekannt war. Das Theaterviertel, wo sich abendlich die High Society traf und wo die Abweichler und Studenten ein und ausgingen, wo die verschiedensten Gesellschaftsschichten aufeinandertrafen. Und sie benutzten wegen des Motorfahrzeugverbotes alle die gleichen Mittel um herzukommen – die öffentlichen.
 

In der Nähe stand eine hochgewachsene ältere Frau, die die Bezeichnung ‚Dame‘ verdient hatte, gehüllt in einen Pelzmantel und angetan mit Stiefeln, die teurer gewesen sein mussten als Rinas gesamte Garderobe. Sie würde sich vermutlich nicht vom Fleck rühren, bis die U-Bahn eintraf und sich dann im Erste-Klasse-Abteil niederlassen. (Vermutlich verfluchte sie innerlich die Tatsache, dass man sich bei dieser Haltestation auf alte Werte wie Parität und Slogans wie ‚Alle Menschen sind gleich‘ zurückbesonnen und keine abgeschlossenen Bereiche für die Oberschicht geschaffen hatte.)
 

Keine drei Schritte weiter stand ein junges Mädchen in schwarzer Kleidung – Rüschen, Spitze und demonstrativ provokativer Emo-Goth-Stil – das vermutlich gerade überlegte, ob sie sich umbringen sollte. Zumindest nahm Rina das an, wenn sie ihren Stimmen vertrauen konnte, denn die Chance stand fünfzig zu fünfzig, dass sie es tatsächlich machen würde. Warum sie es nicht tat, stand zur Debatte, aber Rina würde sicher nicht zu ihr gehen und sie fragen.

Sie hatte schon vor langer Zeit den Entschluss gefasst, sich nicht einzumischen – es ging sie alles nichts an, wer wann was tat oder tun könnte oder hätte tun können. Wer war da gewesen und hatte ihr geholfen? Nein, helfende Hände reichte sie so selten, wie sie sie bekam und vor allem nicht in Dingen, die vielleicht (wahrscheinlich) passieren könnten.
 

Neben dem suizidgefährdeten Mädchen in Schwarz hockten zwei stilvoll heruntergekommen wirkende Jungen in Jeans und Leder auf dem Boden und unterhielten sich. Einer hatte einen Gitarrenkoffer bei sich, der andere eine selbstgedrehte Zigarette. Die Möglichkeit, dass einer von ihnen plötzlich aufsprang und wahllos begann, einige Zeilen eines Liedes zu singen, war so hoch, dass Rina überrascht war, weil es nicht geschah.
 

Hinter ihnen stand eine Gruppe junger Frauen, die offensichtlich vom Ballettunterricht kamen. Sie trugen noch Trainingskleidung und eine von ihnen hatte ein schlankes, muskulöses Bein so hoch erhoben, dass sich der Unterschenkel neben ihrem Kopf befand, eine perfekte, gerade Linie. Die Ballerina folgten – berechenbarerweise – genau dem, was die Stimmen Rina ins Ohr flüsterten; sie reden, lachten, zeigten Figuren, kritisierten.
 

Einige Schritte von ihnen wiederrum entfernt befand sich eine Gruppe Kindergartenkinder, von denen einige, vor allem Mädchen, den Ballerina fasziniert zusahen (mindestens eine von ihnen würde ebenfalls diese Tanzlaufbahn einschlagen, da war Rina sich sicher, die Wahrscheinlichkeit deutete allerdings eher auf zwei oder drei hin). Die beiden Kindergärtnerinnen waren währenddessen voll und ganz damit beschäftigt, mehrere Streithähne auseinander zu bringen. (Was eine solche Gruppe um diese Uhrzeit hier machte, war allerdings ein Rätsel – ihre Stimmen erzählten ihr über die Zukunft, nichts anderes. Manchmal konnte man sich einiges denken, aber das hing eher mit ihrer Beobachtungsgabe zusammen als ihrer Fähigkeit.)

Die Möglichkeit, dass einer der anderen, herumstehenden kleinen Jungen plötzlich losrannte und – ausversehen – gerade dann über den Rand des Bahnsteigs stolperte, als die U-Bahn eintraf, war erschreckend hoch. Und die, dass die beiden Kindergärtnerinnen ihn rechtzeitig erreichten, erschreckend klein.

Natürlich könnte Rina selbst eingreifen, aber das war nicht ihre Art und als der Junge plötzlich losrannte, sah sie beinahe teilnahmslos zu. Sie erfuhr in Bruchteilen von Augenblicken die Möglichkeit, dass die Sache in einer blutigen Tragödie endete, und erkannte doch gleichzeitig die (bemerkenswert hohe) Wahrscheinlichkeit, dass jemand ihn rechtzeitig fing.

Die Kindergärtnerinnen begriffen erstaunlich schnell, was geschah, aber es war doch schon zu spät. Es war das Suizidmädchen, das eingriff, das in einem einzigen, instinktiven Augenblick reagierte, den kleinen Jungen am Arm packte und ihn herumriss und weg von den Schienen. Und für einen Moment wurde Rina schwarz vor Augen und sie sah klar und deutlich, dass das Leben des Mädchens nun wohl doch einen anderen Weg nehmen und sie sich nicht umbringen würde.

Dies war einer der wenigen Augenblicke, in denen sie die Zukunft nicht hörte, sondern sah in klaren, deutlichen Bildern – so wahrscheinlich wie nichts anderes, kaum zu verhindern.

Suizidmädchen würde in der Liga der ungewöhnlichen Psychiaterinnen ziemlich weit nach oben klettern, immer noch in schwarz und Goth, aber gut in dem, was sie tat, und warum sollte Rina das überhaupt interessieren?! Und warum lauschte sie schon wieder ihren Stimmen, hörte zu, was sie zu sagen hatten über die Personen, die sie unbemerkt musterte, was sie wahrscheinlich tun würden, in den nächsten paar Sekunden oder Minuten?! Es war so leicht, abzurutschen und sich in dem Geflüster zu verlieren, so leicht. Leicht genug, dass sie von anderen oft als ein wenig zurückgeblieben oder zumindest als Tagträumerin gesehen wurde.
 

„Alles in Ordnung?“

Die ehrlich besorgte Stimme, die sie so plötzlich ansprach, riss sie in die Realität zurück und weg von ihrer Fähigkeit. Aufmerksamkeit, die auf sie gerichtet war, half ihr immer, sich zu konzentrieren und nicht zuzuhören. Es war eigentlich ein Wunder, dass sie sich lieber im Hintergrund hielt und keine bizarren Kapriolen schlug, einfach um nicht zuhören zu müssen.

„Du wirkst so blass.“

Sie drehte sich zu dem Sprecher um, musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht sehen zu können; er war so viel größer als sie. Ihr Atem stockte, als sie seinen Anblick in sich aufsog, und für einen Moment wusste sie nicht einmal, wo unten und oben war, so sehr überrumpelte er sie.

Sein athletischer Körper war ein verdammtes Kunstwerk, wie von einem Meisterbildhauer aus goldbraunem Stein geschlagen. Sein Gesicht, umrahmt von goldgelocktem Haar, war das, was Künstler ihren Engeln verpassten. Seine großen, unschuldig wirkenden Augen waren tief und kornblumenblau mit der Weite von Sommerhimmeln – faszinierend und fesselnd.

Neben ihm kam Rina sich noch mehr vor wie eine graue, unscheinbare Maus mit ihrem eher wenig bemerkenswerten Aussehen. Sie war keineswegs hässlich (durchschnittlich eher, was okay war), aber er… Selbst ihren eigenen Augen, für die sie Komplimente bekam und auf die sie immer stolz gewesen war, konnten seine das Wasser reichen.
 

Für einen Moment war sie sprachlos, aber dann fing sie sich und hob eine Augenbraue hoch. Einige Meter von ihnen entfernt bedankten sich die Kindergärtnerinnen erleichtert bei dem lebensrettenden Mädchen, der kleine Junge hatte noch nicht einmal begriffen, in welcher Gefahr er sich befunden hatte, und einige Umstehenden applaudierten. Die beiden jungen Musiker auf dem Boden pfiffen sogar begeistert. Und zu allem Überfluss rauschte gerade die U-Bahn in den Bahnsteig und kam sehr abrupt und erstaunlich leise zum Stehen. Und dieser hübsche Junge sprach ausgerechnet sie an?

Sie warf einen vielsagenden Blick zu dem aktuellen Hauptschauplatz der U-Bahnstation hinüber und bemerkte: „Und neben dieser Szene machst du dir Sorgen um mich?“

Der junge Mann – ein Junge noch, in Wirklichkeit, er konnte noch keine zwanzig Jahre alt sein, und war damit jünger als sie selbst, obwohl ihr eigenes jugendliches Aussehen ihren zweiundzwanzig Jahren Lügen strafte – lächelte. „Aber da ist ja nichts geschehen und du siehst wirklich nicht sonderlich gut aus. Du bist ziemlich blass.“ Und er klang, als würde er seine Sorge tatsächlich ernst meinen. Ihre Stimmen erzählten ihr wenig hilfreich, was für ein enttäuschtes Gesicht er machen würde, wenn sie sich einfach umdrehen und in die U-Bahn steigen würde wie die Menschen um sie herum. Aber sie war es einfach nicht gewöhnt, dass man sich Sorgen um sie machte; da war nur ihr Bruder gewesen, selbst ihre Mutter hatte stets alles abgewunken, so dass Rina bald aufgehört hatte, zu ihr zu gehen.
 

„Mir geht es gut.“, erklärte die Mutantin abweisend. (Es widerstrebte ihr, trotz ihrer generell reservierten Art, ihn zu schlecht zu behandeln, wie sie es mit jedem anderen getan hätte.) „Ich hatte nur einen stressigen Tag.“

Die kornblumenblauen Augen blickten sie eindringlich an und sie fühlte sich gezwungen, einen überraschend aufrichtiges „Aber vielen Dank für die Nachfrage.“ hinzuzufügen. Sie nickte ihm zu und huschte schnell in den nächsten Bahnwagen, ehe der Zug ohne ihr darin abfuhr.

Er folgte ihr nicht – anscheinend war das nicht seine Linie, er würde, wie die Stimmen ihr hilfreich mitteilten, in die nächste einsteigen, die gleich in den Bahnhof rauschen würde – blickte ihr aber nach, während die Türen sich vor ihrem Gesicht schlossen. Durch das schmale Fenster konnte sie sehen, wie er ihr mit einem strahlenden Lächeln zuwinkte.

Beinahe hätte sie die Gesten erwidert.
 


 


 

II
 

Rockige Musik übertönte den größten Teil der Geräusche um sie herum, das Rascheln der Kleidung, das Gerede der Menschen, die Musiker, die sich neben der winzigen Boutique aufgebaut hatten, die billigen Schmuck anbot, und den allgemeinen Lärm der U-Bahnstation. Eine Frauenstimme sang vor dem Hintergrund einer gitarrenlastigen Melodie über ihr kaputtes Leben; ihre Worte deutlich zu verstehen, und Rina konzentrierte sich voll darauf.

Musik – vor allem, wenn sie so laut war, dass man auch drei Schritte von ihr entfernt mithören konnte, trotz der Kopfhörer – half ihr, die Stimmen auszublenden. Wann immer sie die Kopfhörer über den Ohren hatte, fühlte sie sich halbwegs wie ein normaler Mensch.

Keine Spoiler über die Zukunft, ihre Möglichkeiten, über Leute, die Rina überhaupt nicht interessierten. Selbst die lauteste Stimme – die, die ihr erzählte, was am wahrscheinlichsten war, und manchmal überraschte Rina es, wie oft sie recht hatte – war nur manchmal im Hintergrund zu verstehen, ein nervtötendes Geflüster in der Tiefe der Musik.
 

Diese Stille war jedes Mal eine angenehme Erleichterung, so paradox es auch war, bei der Lautstärke ihres Musikplayers von ‚Stille‘ zu sprechen. Aber diese brauchte sie jetzt auch – ihr Tag war schon stressig genug gewesen, auch ohne den Input ihrer wispernden Stimmen.

Diva Consuela, ihre Chefin (was nicht ganz wahr war – eigentlich war Rina beim Opernhaus angestellt, doch da sie Consuela als Helferin diente, lief es auf das gleiche hinaus, wenn sie die Diva als ihre Arbeitgeberin ansah), war so anstrengend wie talentiert. Und als Sopranistin war sie weltberühmt und das – was sogar Rina zugeben musste – zu Recht. Dies änderte allerdings nichts an der Tatsache das Consuela anspruchsvoll war, gern ihre Untergebenen herumkommandierte und ganz im Allgemeinen absolut unausstehlich zu allen war, die weder reich noch schön noch hochtalentiert noch ihr sonst auf einer Ebene nützlich sein konnte, die sie in ihrer Karriere weiterbrachte.
 

Rina, die als das Mädchen-für-alles der Diva zugewiesen war, wurde meist mit gnädiger Herablassung behandelt, was allerdings mehr war, als die meisten anderen erwarten konnten. Allerdings war es auch Rina, die sich um ihre Kleider, ihre Post, ihre Termine und eigentlich alles andere (außer um ihre Schminke, die Frisur und den Auftritt selbst) kümmerte.

Das letzte Mädchen, das diese Stelle gehabt hatte und weit weniger freundlich von ihrer Dienstherrin behandelt worden war, hatte anscheinend weniger Geduld gehabt und Rache an den teuren Kleidern geübt, ehe sie auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Vermutlich riskierte selbst Consuela so etwas kein zweites Mal und darum übte sie Nachsicht mit ihrem neuen Helferlein.
 

Unvermittelt prallte sie gegen etwas Hartes, Unnachgiebiges – eine andere Person, allerdings jemand, der nicht einmal wankte, als sie geradewegs in ihn hineinlief, und an dessen Muskeln sich beinahe die Nase aufschlug. Vielleicht hätte sie doch besser auf den Weg achten sollen… (Oder ihre Stimmen – die hätten sie auf ihre eigene Art gewarnt.) Aber was sollte man machen…? Jetzt einfach Kopf runter, entschuldigen und weg. Niemand war gut gelaunt, wenn ein scheinbar junges Mädchen so abrupt in ihn hineinlief.

Aber anscheinend hatte ausgerechnet sie heute den erwischt, den so etwas nicht störte. „So sieht man sich wieder!“, bemerkte eine gutgelaunte Stimme halb lachend. Rina blickte erstaunt auf (wobei sie sich beinahe den Hals verrenkte) und starrte geradewegs in ein männliches, unbekanntes Gesicht.

Einen Moment später erkannte sie ihn und sie fragte sich, wie sie jemanden wie ihn vergessen konnte, wenn auch nur für einen Moment. Aber dann – sie hatten sich nur einmal kurz auf einem Bahnsteig getroffen, vor einigen Tagen, als beinahe ein kleiner Junge vor den Zug gelaufen wäre…
 

„Du wirkst ein wenig zerstreut.“, bemerkte der Junge und fuhr sich durch das seidig glänzende, goldene Haar.

Rina wich einen halben Schritt zurück. „Ich… Tut mir leid, dass ich dich angerempelt habe.“, antwortete sie, aber er zuckte mit den Schultern und winkte ab. „Macht nichts. Ein Mensch kann nicht immer aufmerksam sein.“

Sie blinzelte ihn an, einen Moment verwirrt. Meinte er das etwa ernst?! Er war nicht der erste, gegen den sie lief – bei weitem nicht. Ihre Fähigkeit war nicht gerade hilfreich dabei, ihre Umgebung ständig im Blick zu haben, so seltsam sich das auch anhörte. Sie hörte oft Musik und ignorierte dabei alles um sich herum. Aber die freundlichste Reaktion, die sie darauf bekommen hatte, war Indifferenz. Meist waren es ein paar Flüche, ein hingeworfenes „Pass doch auf, du blöde Göre!“, eine wegwerfende Bemerkung. Ein paar Mal hatte man ihr Prügel angedroht und einmal waren darauf sogar Taten gefolgt – sie hatte tagelang einen anderen Bahnsteig genutzt, obwohl sie davongekommen war.

Niemand hatte es je einfach so weggewischt und auch noch mit einem Lächeln auf den Lippen.
 

„Ist dir nicht gut? Hör mal, ich weiß, es geht mich eigentlich nichts an, aber vielleicht solltest du mal etwas kürzer treten, was auch immer du tust? Du wirkst ziemlich gestresst und das ist nicht gut für den Körper.“

Es ging ihn tatsächlich nichts an und sie ließ den Gedanken auf dem Gesicht widerspiegeln, damit er sah, was sie von seiner Einmischung hielt. Dann setzte sie ohne ein weiteres Wort ihren Weg fort.

Doch er fiel nur in Schritt neben ihr. Allerdings sagte er nichts mehr, trotzdem irritierte sie seine Anwesenheit. Was sollte das denn?

Auf der Rolltreppe nach unten wandte sie sich zu ihm um. „Warum folgst du mir?“, fauchte sie und klang dabei feindseliger, als sie es eigentlich vorgehabt hatte.

Er grinste jedoch nur noch breiter, wobei seine erstaunlich weißen Zähne hell in seinem Gesicht aufblitzten. „Hör mal, ich muss auch da hin. Oder ist das dein privater Bahnsteig?“ Sein Lachen zeigte, wie wenig ernst er es meinte, aber sie wollte ihm trotzdem das Grinsen aus dem hübschen Gesicht wischen, weil er natürlich Recht hatte. Wie peinlich! (Und ärgerlich.) Sie wurde rot und schwieg. Mit Feindseligkeit konnte sie umgehen, aber diese Freundlichkeit…? Das war neu und sie verstand es einfach nicht.
 

„Meine Großmutter besteht auf heiße Milch mit Honig oder Schokolade, wenn es mir nicht gut geht.“, erzählte er ihr leutselig, als sie die Rolltreppe hinunterfuhren. „Vielleicht hilft dir das auch.“

„Wa… was?“, wollte sie verdutzt wissen und starrte ihn an. Was zum Teufel sollte sie mit ihm anfangen?! Sie stolperte, als das Laufband der Treppe sein Ende erreichte, und wenn er sie nicht gefangen hätte, wäre sie gefallen.

„Ups. Aufpassen.“

Sie war sogar zu verwirrt, um seine große, kräftige, aber doch nicht grobe Hand von ihrem Arm zu schlagen, bis er sie nach einigen Schritten von alleine losließ. „Honig oder Schokolade in heißer Milch. Soll helfen. Versuch’s mal.“ Damit zwinkerte er ihr zu und tauchte in der Menge unter, die sich auf dem Bahnsteig versammelt hatte.

Rina starrte ihm nach und antwortete nichts – er hätte sie sowieso nicht gehört.
 


 


 

III
 

Die geschäftige Betriebsamkeit der U-Bahnstation wirkte heute ausnahmsweise nicht unangenehm und aufdringlich, sondern eher anregend. Die Geschäfte in der Passage mit ihrer leuchtend bunten Hologramm-Werbung über und vor den offenen Fassaden flimmerten verlockend.

Allerdings mochte das (das hieß, ihre gute Laune und ihre fehlende allabendliche Müdigkeit) daran liegen, dass sie heute nur die zweite Hälfte des Tages gearbeitet und ausgeschlafen hatte. Sie war sogar gut genug aufgelegt, um ihre Stimmen auch ohne die Hilfe von Musik ignorieren zu können. An den meisten anderen Tagen war sie einfach zu müde, um sich noch mehr Gedanken zu machen als um das abendliche Filmprogramm oder das Buch, das sie gerade las. Dann hatte sie absolut kein Interesse zum Bummeln, nicht einmal in der kurzen Passage, die in der U-Bahnstation untergebracht war.

Rina schlenderte langsam an den Auslagen vorbei, blieb eine Weile vor dem kleinen Buchhändler stehen – klein, aber fein war hier die tatsächliche Parole; er verkaufte sogar noch echte Bücher aus Papier, die im hinteren Teil des Ladens in einigen Regalen standen (sie hatte sich schon vor Ewigkeiten einmal vorgenommen, sich das genauer anzuschauen, sie liebte echte Bücher) – und betrachtete einige Meter weiter die im strategisch günstig angebrachten Licht funkelnden Auslagen des Modejuweliers sehnsüchtig durch die Fenster.
 

Mit Schmuck war es bei ihr eine sehr widersprüchliche Sache. Sie trug keinen, außer dem sehr alten Silberring, ein Erbstück ihrer Großmutter, und manchmal einer Kette oder einem Ohrclip. Mehr wäre unsinnig oder gefährlich für jemanden wie sie. Nicht, dass sie es nicht wollte…

Aber wer bewunderte sie nicht, diese kunstvollen, rein oder teuer wirkenden Stücke, selbst wenn es Mode- oder gar Billigschmuck war? Sie war jedes Mal fasziniert von den Auslagen der Juweliere; seien es nun jene billigen Läden oder die, deren Preisklasse ihre eigene so weit überstieg, dass sie nie im Traum daran dachte, hineinzugehen.

Manchmal, wann immer sie ein wirklich wertvolles Kleinod in die Hand bekam (Consuelas zum Beispiel, die einige wirklich auserlesene Stücke besaß, oft Geschenke von Verehrern), war es Ehrfurcht, die sie ergriff, und sie behandelte jedes einzelne mit beinahe übertriebener Vorsicht. Das stand ihnen nur zu.

Als sie einmal Hals über Kopf aus einer Stadt hatte verschwinden müssen – lange Geschichte – hatte sie ihre Ersparnisse in Goldschmuck angelegt, was eine weise Entscheidung gewesen war. Vielleicht entsprang ein Teil ihrer Bewunderung für teuren Schmuck auch ihrer so praktischen Seite.
 

Zögernd löste sie sich von der Auslage und richtete den Blick auf die große Digitaluhr, die kurz unter der Decke der Halle hängt, von beinahe jedem Ort einsehbar. Entsetzt riss sie die Augen auf. Verdammt! Schon kurz vor halb? Ihre Bahn kam in wenigen Minuten und eigentlich wollte sie ja noch in den Kiosk…

Rasch beschleunigte sie ihren Schritt und bog kurz vor den Rolltreppen zum eigentlichen Bahnsteig in den stets ein wenig unordentlichen Laden ein. Sie konzentrierte sich auf ihre Umgebung und den Input, den ihre Stimmen ihr lieferten. Das sollte zu schaffen sein, wenn sie alles richtig machte – außer ihr befand sich niemand in dem kleinen Kiosk und der Weg nach unten würde ebenfalls glatt verlaufen...

An einer Wand des winzigen Geschäftes türmten sich Süßigkeiten übereinander, auf den Gestellen in der Mitte gab es Zeitungen, ganz traditionell auf Papier, dahinter befand sich eine Reihe von verpackten Lebensmitteln, Eine-Portion-Mahlzeiten. In den anderen Regalen des Kiosks war der Kleinkram verteilt, den man an einem Ort wie diesem erwarten konnte – Zigaretten, Feuerzeuge, Zeitschriften, Kondome, Andenken...

Sie brauchte nicht lange, zu entscheiden, was sie heute zu Abend essen würde, nahm beinahe wahllos einen der Billigkrimis (in armseligen Einweg-e-books) vom Regal – bei ihren Büchern achtete sie im Grunde nur noch darauf, dass sie sie nicht kannte – und ließ beides zusammen mit einigen abgegriffenen Scheinen auf den Tresen fallen. Die Verkäuferin, fahrig und abgelenkt, gab ihr mehr Geld heraus, als sie gegeben hatte. Rina schob es in die Tasche, nahm rasch ihre Einkäufe auf und duckte sich aus dem Laden, ehe der Frau der Fehler auffiel.

Ohne Essen und Buch wegzupacken stürmte sie die Rolltreppe hinunter (und warf dabei fast einen Mann im Anzug um, der ihr eine Beleidigung hinterher rief, was sie kein Stück kümmerte) und schlüpfte im letzten Moment zwischen den sich schließenden Türen ihrer Bahn hindurch in den Wagon.

Perfektes Timing – so wie ihre Stimmen es ihr vorausgesagt hatten. Manchmal waren sie doch ganz nützlich. (Einmal hatte sie eine Gruppe halbwüchsiger Ganger auf diese Weise abgehängt und an der Nase herumgeführt – es war eigentlich recht amüsant gewesen, allerdings erst im Nachhinein.)
 

Als die U-Bahn mit einem Ruck anfuhr, stolperte sie zwei Schritte zurück und griff nach den Haltestangen, wobei sie beinahe gegen jemanden stieß. Nachdem sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, drehte sie sich um, um sich zu entschuldigen. (Hin und wieder tat selbst sie das.)

„So trifft man sich wieder.“, ertönte jedoch eine lachende Stimme über ihr und sie blickte auf und direkt in das Gesicht jenes Jungen, den sie hier immer wieder traf. Die letzten paar Tage hatte sie ihn auf dem Bahnsteig stehen sehen und er hatte ihr jedes Mal (sofern er sie überhaupt bemerkt hatte) zugewinkt.

Fuhr er, schoss es ihr beinahe verärgert durch den Kopf, nicht eigentlich mit einer anderen Linie? In diesem Zug hatte sie ihn noch nie gesehen. Aber sie sollte sich nicht beschweren. Immerhin reagierte er nicht unwillig auf sie und sie hatte heute sowieso viel zu gute Laune, als dass sie sich diese verderben lassen wollte.
 

Sie stellte sich neben ihn. „Kann man so sagen.“, antwortete sie in einem Tonfall, der irgendwo zwischen Langweile und Ablehnung lag. Sie stopfte ihre Einkäufe in ihre Umhängetasche, die sie eigentlich überall hin mitbegleitete und in der sie das trug, was absolut notwendig für sie war.

„Wir wollen das nicht zur Gewohnheit machen, in Ordnung?“, war die Antwort und seine blauen Augen schienen vor Belustigung zu tanzen.

Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu und seine Stimmung wechselte sofort zu unbeholfen-verlegen.

„Ich, äh, meine, dass du ständig … gegen mich läufst? Oder fällst oder so?“

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Das habe ich schon verstanden. Und heute hab ich es ganz gut verhindert, meinst du nicht?“ Damit drehte sie sich nach vorn. „Ich mache das sicher nicht mit Absicht.“

Für einen Moment überlegte sie, ihn einfach weiterstottern zu lassen, aber dann hat sie Gnade mit ihm und erkundigte sich: „Fährst du nicht eigentlich mit der Drei?“

Er sprang sofort – dankbar – auf den Themenwechsel an. „Ich … muss etwas für meine Oma abholen.“ Wieder diese Verlegenheit; als erwarte er, dass sie jetzt über ihn lachen würde.

Vielleicht, weil er glaubte, dass es uncool war, seiner Oma unter die Arme zu helfen, oder dachte, dass seine typischen Altersgenossen das glauben. Was vermutlich auch der Fall war – aber Rina war weder typisch noch sein Altersgenosse, auch wenn er letzteres eindeutig noch nicht bemerkt hatte und sie ihm sicher nicht unter die Nase reiben würde.

Doch er war ebenso wenig typisch…

Denn wie konnte jemand, der so gut aussieht, so unbeholfen wirken? Sollte er nicht einer von denen sein, die den Ton angaben, zu denen aufgesehen wurde und die die Trends setzten? Außergewöhnlich gut aussehende Leute, so hatte Rina schon als Kind gelernt, hatten höhere Chancen auf eine solche gesellschaftliche Stellung als all jene anderen, die normal erschienen oder einfach nicht ganz so perfekt. Die wenigsten unter den Schönen (und Reichen, nebenbei gemerkt) endeten als Mauerblümchen.
 

Rinas Stimmen zeigten ihr verschiedene Möglichkeiten auf, wie sie reagieren konnte und wie er darauf reagieren würde – oder könnte. So einfach war das ganze ja nicht. Sie wählte die beste aus und schob ihre Gabe in den Hintergrund, ignorierte das Geflüster um sie herum. „Deine Oma ist sicher froh, eine Hilfe wie dich zu haben.“

Er blickte sie mit offenem Gesicht an. „Oh ja, sicher, aber sie ist noch ziemlich rüstig. Meine Großeltern und meine Eltern sind ziemlich früh… naja, halt Eltern geworden. Meine Oma arbeitet noch.“

Rina nickte. Was hatte sie erwartet? Er sah nicht aus, als würde er aus einer höheren Schicht kommen. Nicht mal aus der Mittelschicht – eher Arbeiterklasse. Handwerker, vielleicht. Dort arbeiteten viele bis ins hohe Alter um zumindest ein halbwegs gutes Leben zu haben. Wenn sie überhaupt Arbeit hatten.

„Es ist trotzdem keine Schande, ihr zu helfen.“

Er lachte und klang dabei fast erleichtert. „Nein, das ist es nicht.“ Die Bahn ruckelte und fuhr in die nächste Station ein. „Hier muss ich raus. Also, man sieht sich.“ Er winkte ihr zum Abschied beinahe nachlässig zu und verließ mit einem Strom an weiteren Menschen den Zug.
 

Rina blickte ihm nach, bis sein blonder Haarschopf in der Menge verschwunden war und fragte sich, warum sie überhaupt mit ihm gesprochen hatte. Vielleicht weil zumindest ein freundliches Gesicht am Ende eines Arbeitstages gut tat? Oder einfach, weil er in ihr den Wunsch nach etwas weckte, was sie nicht haben konnte? Diese Sehnsucht nach etwas Besserem, etwas weniger Einsamen, nach etwas, was sie geglaubt hatte, lange hinter sich gelassen zu haben?
 


 


 

IV
 

Die Gittersitze, die überall und in zu geringer Anzahl auf allen U-Bahnstationen verteilt waren, waren hart und unbequem, aber Rina zog sie im Moment doch vor anstatt stehen zu müssen. Ihre Füße taten weh von den hochhakigen Schuhen, die sie heute hatte tragen müssen, und der Tatsache, dass Consuela sie kreuz und quer durch das Opernhaus geschickt hatte. Ihre Schulter schmerzte, weil sie heute in einen Fensterrahmen gelaufen war, nachdem man ihr – ausversehen – eine schwere Kiste dagegen gerammt und ein Stapel Bücher darauf fallen gelassen hatte.

Heute war so eindeutig nicht ihr Tag und nicht nur deswegen. Consuela stand vor der Premiere einer neuen Oper, die um sie und ihre Rolle herumgeschrieben worden war, und war entsprechend aufgeregt. So weit konnte Rina sie verstehen. Was sie nicht verstand (und ihr gehörig gegen den Strich ging), war, warum die Diva ihren Stress an den Angestellten der Oper auslassen musste.

Und zu allem Überfluss hatte die Mutantin ihre Kopfhörer liegen lassen und ihre Stimmen flüsterten ihr eindringlich Dinge zu, die sie gar nicht wissen wollte. Es wirkte, als wolle jede der Aufdringlicheren lauter sein als die andere, als würden sie um ihre Aufmerksamkeit kämpfen. Wären sie Kinder, würden sie mit wedelnden Armen auf und ab hüpfen und herumschreien. Sie verstand kaum ein Wort und ihr Kopf dröhnte.
 

Vielleicht sollte sie einfach eine Kopfschmerztablette schlucken. Das würde zumindest gegen eines ihrer vielen Probleme an diesem Tag helfen, wenn auch etwas zeitverzögert. Allerdings würde es neue schaffen, denn die meisten Medikamente (ebenso wie andere Rauschmittel wie Alkohol, halluzinogene Drogen und dergleichen) hatten eine verheerende Wirkung auf ihre Fähigkeiten, die sie sowieso nicht im Griff hatte.

Sie hatte kein Interesse auf einen präkognitiven Trip, bei dem sie wie eine Drogensüchtige wirkte, die auf einen neuen Fix aus war. Bei ihrem heutigen Glück würde irgendwer aus der Oper sie sehen, Consuela würde davon Wind kriegen und Rina schneller auf der Straße stehen als sie ‚Medikament‘ sagen konnte. Und das war das Ganze absolut nicht wert.
 

„Du siehst aus, als hätte die Bahn dich überrollt und wäre als Zugabe noch einmal rückwärts gefahren.“, erklärte plötzlich eine Stimme neben ihr und sie zuckte heftig zusammen. Die Tatsache, dass sich jemand so an sie hatte heranschleichen können, sprach mehr als alles andere dafür, wie schlecht es ihr wirklich ging.

Sie blickte auf und direkt in kornblumenblaue Augen. „Hi.“, sagte sie dann etwas verspätet und senkte den Blick wieder auf den Boden. Es war angenehmer, nichts anzusehen und sich nicht zu bewegen.

Für einen Moment schwieg er, dann fügte er zu seiner vorherigen Feststellung hinzu: „Dir geht es wirklich schlecht.“

Diesmal machte sie sich nicht die Mühe, ihn anzusehen, aber der Sarkasmus war nicht zu überhören, als sie antwortete: „Ach, denkst du?“

Aber ihr seltsamer, blonder U-Bahnfreund schien ihn nicht mal zu bemerken. „Es ist kaum zu übersehen. Mieser Tag?“ Seine Stimme klang mitfühlend und wieder fuhr es Rina durch den Kopf, dass er eigentlich viel zu freundlich und naiv war.

Sie konnte keinerlei Arglist in ihm entdecken, keine Hinterlist, nichts, was auf eine böswillige Absicht hindeutete. Nicht einmal ihre Stimmen, so wenig hilfreich sie im Moment auch waren, flüsterten ihr von einer Zukunft, in der er irgendetwas anderes als freundlich und hilfsbereit war. Oder etwas weniger ahnungslos und unbedacht.

Trotzdem nickte sie auf seine Bemerkung. Es musste ja nicht unbedingt sie sein, die ihn darauf hinwies, dass die Welt schlecht und ungerecht war. Selbst sie war anständig genug, ihre schlechte Laune nicht an jemandem auszulassen, der nichts anderes ihr als echte Freundlichkeit und Sorge entgegengebracht hatte. Und etwas aufdringlich gewesen war, aber was zählte das? Auch nicht, wenn sie einfach nur dem Rest der Welt die Tür vor der Nase zuschlagen und in eine Ecke kriechen wollte.
 

„Kannst du wohl sagen.“ Für einen Moment schwieg sie, dann fügte sie hinzu: „Meine Chefin ist bescheuert und ich kann sie nicht ausstehen.“

„Sollten Chefs sowas nicht an sich haben?“, war die lakonische Antwort und dann zwinkerte er ihr zu. „Bessere Tage kommen.“

Sie seufzte tief. „Aber so schlimm muss es auch nicht sein, oder? Sie kann es nicht lassen, alle in einem herrischen Ton herumzukommandieren, sinnlose Aufträge für mich zu finden und ganz allgemein jedem auf die Nerven zu gehen, der unter ihrem ‚Niveau‘ ist.“

Sie fügte Gänsefüßchen mit den Fingern hinzu. Eigentlich war es ganz erleichternd, sich alles mal von der Seele reden zu können, ohne dass sie Angst haben musste, dass man gleich petzte – denn im Grunde gehörten alle Leute, mit denen sie mehr als drei Sätze wechselte, zum Personal der Oper.

Natürlich, es gab selbst dort die ein oder andere Person, der Rina genug vertraute, dass sie solche Dinge (oder auch irgendetwas anderes) nicht weitertragen würde. Aber in diesem Gebäude hatten die Wände die sprichwörtlichen Ohren und war ein Geheimnis erst einmal jemand anderem erzählt, so wusste es bald – und wenn man noch so vorsichtig war – das ganze Haus. Und Rina würde sich auf keinen Fall von Consuela erwischen lassen, dass sie schlecht über die Diva sprach.

Sie brauchte diesen Job und auch wenn die Frau unausstehlich war, machte er ihr doch tatsächlich Spaß. Vorausgesetzt, die Sopranistin war nicht in der Nähe, was in letzter Zeit immer seltener der Fall war. Und die Atmosphäre, die in dem gesamten Viertel herrschte, war angenehm. Ebenso wie das Gefühl, zumindest für eine kurze Zeit irgendwo dazuzugehören, so etwas Ähnliches wie Freunde oder zumindest Bekannte zu haben, einen Platz, an den sie gehörte… Sie vermisste das, die Zeit, als ihre Mutter noch nicht zu verrückt gewesen war und ihr Bruder stets vergnügt und ein einfaches Kind.
 

„Oh je. Hört sich nach einem Drachen an.“, bemerkte ihr Sitznachbar aufgeräumt.

Rina schnaubte belustigt. „Einer, der singen kann wie ein Engel und auch so aussieht und ganz nebenbei rachsüchtig ist wie ein Dämon.“

Er lachte, leise nur, vermutlich, um ihren Kopf nicht explodieren zu lassen, wofür sie ihm ehrlich dankbar war. „Keine Sorge, ich erzähle es niemandem weiter. Indianerehrenwort.“

Sie warf ihm einen Seitenblick zu, ließ den Blick kurz auf seinem so angenehm anzusehenden Profil ruhen. „Sehr freundlich.“ Nicht, dass er überhaupt wusste, wie sie hieß oder wo sie arbeitete, aber darum ging es nicht.

„Immer doch.“ Er grinste und ließ wieder diese weißen Zähne aufblitzen, die beinahe zu perfekt wirkten. Aber er ließ ihr gar nicht die Zeit, darüber nachzudenken, denn er bemerkte: „Hey, da kommt dein Zug, kann das sein?“

Rina folgte seinem Fingerzeig zu der gerade zum Stillstand kommenden Bahn und erhob sich. „Stimmt.“ Sie nickte ihm grüßend zu und machte sich auf den Weg hinüber. Vermutlich hätte sie ihn verpasst, wenn er sie nicht darauf hingewiesen hätte.

„Und ruh dich ordentlich aus, hörst du?“, rief er ihr hinterher und sie fühlte sich für einen kurzen Augenblick ein bisschen besser.

Oder auch für einen längeren Moment.
 

~~~~~~
 

Okay, ich hoffe, es ist nicht zu langweilig. >.< Wie gesagt, nächster Part kommt dann die nächsten Tage, schätze ich. Oder nächstes WE. Hoffe, das ist okay.
 

Bis dann ^^-

Sorca~

Cold-served Sweets

So, endlich hab ich das hier auch fertig. Ich bin so erleichtert, es war nämlich eine echt schwere, lange Geburt - was man auch daran sieht, dass ich den Termin dummerweise um mehr als 3 Wochen überzogen habe. X__X Was mir sehr, sehr leid tut.
 

Im Gegensatz zu den anderen beiden Geschichten spielt diese hier nicht in meinem Mutant-'verse und steht damit auch nicht im Zusammenhang mit irgendeiner anderen, sondern ist völlig eigenständig.

Außerdem ist sie recht gewalttätig und blutrünstig, wenn auch nicht unbedingt in den Beschreibungen. So, Warnungen beachten, ja?
 

Das Thema, das ich für diesen OS verwendet habe, war Verzauberte Musik / verzauberte Instrumente. Ich hoffe, ich habe es auf eine Weise aufgegriffen, die logisch ist.

Das Thema fand ich nämlich von Anfang an interessant, leider kam nicht wirklich die supertolle, zündende Idee, was eigentlich sehr schade ist. :/ Naja, vielleicht ein andermal.
 

Warnings: Rape, Violence, Characterdeath
 

@ Sissel

Erst mal muss ich sagen, dass es mir wirklich, wirklich leid tut, dass ich so lange gebraucht habe. Aber zuerst fehlte die Inspiration und dann die Zeit - ich hoffe, du kannst das verstehen.

Außerdem hoffe ich, dass der OneShot dir gefällt. Ich wusste nämlich von Anfang an absolut nicht, was ich dir schreiben soll. Das Thema, das ich jetzt verwendet habe, hat mich von Anfang an gereizt, aber mir ist etwas Passendes erst später eingefallen. Die andere Geschichte wollte aber nicht, darum bin ich nochmal darauf zurückgekommen. Ich hoffe jetzt nur, dass ich es auf eine Art aufgegriffen habe, die dich auch anspricht.
 

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Cold-served Sweets
 

Der Markt in den engen Gassen Bergheims war stets gut besucht. Obwohl die Ortschaft in den Maßstäben des Königreiches gemessen recht klein war, war sie doch die einzige Stadt in diesem unwirtlichen Landstrich, der so weit im Norden lag. Ansonsten gab es hier noch ein paar Ansammlungen von Hütten, einige wenige Dörfer und natürlich die Siedlungen der Clane, die noch immer Anspruch auf das Land erhoben.

Catlena hatte keine Ahnung von alledem und Bergheim erschien ihr riesig. Sie konnte sich keine größere Siedlung vorstellen und für ein Mädchen vom Lande, wie sie eines war, war sie beängstigend genug. Menschen der unterschiedlichsten Ranges und Aussehens drängten sich durch die alten Gassen. Pferde, Vieh und Hunde verstopften die Straßen noch mehr. Kinder schrien, laute Gespräche erfüllten die Luft und Tiergeschrei vollendete diese Mischung zu einem ohrenbetäubenden Lärm. Es stank nach den Ausscheidungen von Tier und Mensch, nach Unrat, Müll und zu vielen Menschen auf einem zu engen Platz.

Inzwischen hatte Catlena sich an all das gewöhnt, aber zu Beginn ihrer Anstellung bei dem reichen Händler Narran hatte sie sich vor Angst kaum auf die Straße getraut, was wirklich hinderlich gewesen war. Aber in Begleitung Ariannas, Narrans Tochter, der sie inzwischen als Zofe zugeteilt war, machte man ihnen sowieso Platz, wenn sie durch die Straßen gingen.

Narran war überall bekannt und Arianna gehörte zu jener Art Person, der man automatisch aus dem Weg ging. Nicht, weil sie aggressiv auf verstellte Wege reagieren würde, sondern eher im Gegenteil – weil man instinktiv zurückwich, nur um sie anzusehen. Zumindest stellte ihre Zofe sich das so vor.

Denn Catlenas Herrin war wunderschön. Schlank und zierlich wie eine junge Birke, mit alabasterweiser Haut und dickem, langem Haar wie gesponnenes Gold. Ihr Gesicht war wie eine sich öffnende Blüte und ihre Augen strahlten in tiefstem Kornblumenblau. Dazu strahlte sie eine solch natürliche Liebenswürdigkeit aus, dass man ihr nicht böse sein konnte.

Ihr Vater hatte sich nach ganz oben gearbeitet, von einer ungünstigen Stellung wie dieser, soweit oben im Norden, wo es nichts anderes gab als Wälder, Tiere und Barbaren. Catlena verstand nicht sonderlich viel von diesen Geschäften, aber ihr Vater redete sehr gut von ihrem Herrn, der Pelz, Forsterträge und Schmuck aus Knochen und Holz gen Süden brachte und außerdem die feinsten Schmiedearbeiten der barbarischen Clane, die in zivilisierteren Gebieten angeblich so begehrt waren.

Als Catlena bei ihm eine Stelle bekam – erst als Küchenmädchen, aber dann als persönliche Zofe von Fräulein Arianna, weil der ihr Gesicht gefiel – war ihr Vater so stolz auf sie gewesen und sie war nach wie vor fest entschlossen, ihn nicht zu enttäuschen. Bis jetzt hatte sie es geschafft, aber seitdem sie Arianna kannte, hatte sie noch ein zweites: Sie wollte so sein wie Arianna, denn jeder liebte Arianna und Arianna war wunderschön.

Catlena wusste, dass sie dieses zweite Ziel nie erreichen würde, darum begnügte sie sich damit, hinter ihrer Herrin herzulaufen, ihr nach Kräften behilflich zu sein und sie bewundernd anzusehen. Im Moment trug sie eine kleine Spieldose für das Fräulein, welche ein bekanntes, trauriges Liebeslied spielte, wenn man sie aufklappte, und ein in Wachspapier eingeschlagenes Päckchen mit süßen Apfelkuchen, die das Fräulein ihr spendiert hatte.

„Lass uns noch sehen, ob Meister Golok mein Reitkleid fertig hat.“, bemerkte Arianna gerade und bog bei der nächsten Kreuzung in die Straße ab, in der der Schneider sein Geschäft hatte. „Und vielleicht können wir endlich einen Stoff für dein neues Kleid aussuchen.“

Catlena wurde – wie immer, wenn es auf dieses Thema kam – rot. Ihre Mutter hatte sie zur Bescheidenheit erzogen und die beiden Kleider, die sie besaß, waren noch gut und nicht zu oft geflickt. „Ihr müsst nicht…“, begann sie, aber Arianna unterbrach sie einfach.

„Papperlapapp! Du gehörst zu unserem Haushalt und wir sorgen für unsere Bediensteten.“, betonte die Blondine. „Und ich weiß, dass du diesen blauen Stoff beäugt hast, letztes Mal.“

Der Rotton in Catlenas Gesicht wurde tiefer. Es stand ihr nicht zu, sich darüber Gedanken zu machen, aber das Blau war so hübsch gewesen…

Das Fräulein schenkte ihr ein halb verschwörerisches, halb belustigtes Lächeln. „Ich werde sehen, was ich tun kann.“, versprach sie und ihrer Zofe schlug das Herz höher vor Glück. War das Fräulein nicht wunderbar?

„Ah, die schöne Arianna.“ Die tiefe, männliche Stimme riss die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen abrupt auf sich. Sie gehörte einem jungen Mann, nur ein paar Jahre älter als das die junge Händlertochter, ausnehmend gut gekleidet und auch recht nett anzusehen, sofern Catlena das schon beurteilen konnte. Er hatte scharfe Gesichtszüge und dunkles Haar, das er in einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug.

Arianna aber seufzte beinahe genervt. „Lord Odilon.“, grüßte sie. „Ich habe nicht erwartet Euch hier zu treffen.“

Er musterte sie einen Moment zu lange, während er für das kleine Dienstmädchen keinen Blick übrig hatte. „Ich musste mich um einige Angelegenheiten kümmern. Was soll man tun, wenn das Personal die einfachsten Sachen nicht auf die Reihe bekommt? Aber wenn ich gewusst hätte, dass man Euch hier trifft, hätte ich das schon früher getan.“

Für einen Moment wirkte Arianna so, als wünschte sie, dass er das nie herausgefunden hätte, aber dann lächelte sie nur unsicher. Der Blick des jungen Lords – der Erbe eines Fürsten, weiter im Süden, der diesen Sommer bei seinem Onkel verweilte, einem reichen Gutsherrn in der Nähe – sprach Bände, gierig, lüstern und unersättlich verweilte er auf der jungen Händlertochter, die nicht begriff, wie weit das tatsächlich ging.

Catlena mochte erst zwölf sein, aber sie wusste schon einiges und mehr als mancher Erwachsene ihr zutraute. Wenn die anderen Dienstmägde, mit denen sie den Schlafraum teilte – alle noch junge Mädchen, aber älter als sie – abends untereinander flüstern und kichern, über hübsche Männer und Geschenke, Liebeleien, Affären und anzüglichere Dinge redeten, schlüpfrige Anspielungen und anstößige Witze tauschten, war sie wach. Sie sagte nie ein Wort, aber ihre Augen waren weit aufgerissen und sie hörte zu.

Manchmal glaubte sie, dass Arianna selbst sehr viel unschuldiger und behüteter war, obwohl sie schon drei Jahre älter war. Und auch wenn es dem Fräulein nicht bemerkte, Catlena sah genau, was dieser Mann wollte: ein einzelner, schlichter Kuss war es ganz sicher nicht.

Sie funkelte den jungen Lord mit all dem rechtschaffenen Zorn an, den sie aufbringen konnte, und warf ihm böse Blicke zu. Natürlich bemerkte Odilon es, aber mehr als ein kurzes, amüsiertes Schmunzeln hatte er nicht für sie übrig. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf Arianna gerichtet, die gar nicht bemerkte, wo das enden konnte. Sie war einfach nur verärgert über Aufmerksamkeit von jemandem, den sie nicht mochte. Aufmerksamkeit, die sie vielleicht etwas unbehaglich machte, aber an der sie nichts Falsches sehen konnte, wie Catlena es tat.

Jetzt trat Odilon näher und hob eine Hand, um dem blonden Mädchen eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen, eine Geste, die so viel intimer war, als er sich erlauben durfte. Erschrocken trat Arianna einen Schritt zurück und öffnete den Mund um erbost etwas zu sagen, doch der Lord kümmerte sich nicht darum, sondern erklärte: „Ich benötige noch eine Begleitung zum Ball des Fürsten. Und da Ihr das großartigste Mädchen in dieser öden Gegend seid, dachte ich natürlich sofort an Euch.“

Er machte eine Bewegung, als wollte er eine ihrer Hände nehmen, doch Arianna zog sie weg, ehe er sie berühren konnte. „Ich glaube nicht, dass ich mit Euch dorthin gehen möchte, Lord Odilon.“, antwortete sie. „Entschuldigt uns jetzt.“

Die kleine Zofe sah mit offenem Mund zu und realisierte einen Moment zu spät, dass Arianna genug von dem Gespräch hatte. Die junge Blondine schob sich grob an Odilon vorbei und stolzierte mit schnellem Schritt die Gasse hinunter. „Catlena! Komm jetzt! Wir haben heute noch einiges vor und die Arbeit erledigt sich nicht von allein!“

Das Mädchen beeilte sich, zu ihrer Herrin aufzuschließen. Doch im Vorbeigehen warf sie dem stehengelassenen Lord noch einen scharfen, wissenden Blick zu, den er hoffentlich als Warnung nahm. Wenn es sein musste, würde sie zu Ariannas Vater gehen. Hoffentlich verstand Odilon das.
 


 


 

Das Schloss des Fürsten zu Hartenstein war weitläufig und groß angelegt und ähnelte in keinem Aspekt den Sitzen der Lords in Farrans Heimat. Wo dort die Mauern mächtig und hoch waren, die Gebäude eng und platzsparend und die Türme schwer und hoch, gab es hier weitläufiges Gelände mit nahezu zierlichen, kunstvollen Bauten und so fragilen Türmchen, dass sie beinahe zerbrechlich wirkten.

Grüne Gärten umgaben die Gebäude, die sich deutlich in Ställe, Schuppen und Wohnhäuser für einerseits die Herrschaften und andererseits das Personal einteilten. Bäume, Büsche und Beete waren in kunstvollen Arrangements angeordnet, die sicher mehr gekostet hatten, als das gesamte Küchenpersonal in einem Jahr verdiente.

Hohe Mauern umgaben das Gelände – doch auch sie schienen sehr viel weniger robust als eine echte Burgmauer und auch weniger Vertrauen erweckend. Welcher Dieb, der etwas auf sich hielt, würde sich davon abhalten lassen? Vermutlich bestanden die Schutzmaßnahmen des Schlosses einerseits aus den zahlreichen Wachen, die man schon von weitem sehen konnte, und andererseits aus Zaubersprüchen und magischen Abwehrmechanismen.

Farran brauchte lange, um sich von dem märchenhaften Anblick des Schlosses und den Gedanken, die ihm dabei durch den Kopf schossen, zu lösen. Denn selbst bei dem strömenden Regen, der schon seit Tagen auf sie niederprasselte, wirkte der Palast wie einer alten Legende über Feen entsprungen.

Schließlich schüttelte er heftig den Kopf, um ihn wieder freizubekommen, und nahm die Zügel seiner scheckigen Stute auf. „Na, dann wollen wir mal.“, sagte er zu ihr und ließ sie den Hügel hinuntertraben. Das Schloss lag geschützt in der Kuhle eines Tales, ein weiterer Punkt, der es von den Festungen des Nordens unterschied – einen Angriff auf dieses Schloss wäre ein Frontalangriff, durch den man es einfach überrennen würde. Die Stute schnaubte wie zu einer Antwort und beschleunigte den Schritt.

Vermutlich wollte sie wie er auch einfach nur aus diesem Wetter heraus. Das wäre für alle Beteiligten sowieso das Beste – für ihn, sein Pferd und seine Instrumente. Es war ein halbes Wunder (und natürlich halfen die hervorragenden Hüllen ebenfalls), dass noch keines von ihnen Schaden genommen hatte. Allerdings achtete er auch besonders auf sie – immerhin waren sie für ihn als Skalde (oder Barde, wie man seinen Berufsstand hier im Süden nannte) sein Kapital.

Die Wachen am Tor richteten ihre Aufmerksamkeit auf ihn, als er seinen Schecken geradewegs auf sie zu lenkte. Sie wirkten nicht sonderlich geflissentlich in ihrer Aufgabe, doch trotz allem würde er sie mit Respekt behandeln – sie waren seine Eintrittskarte. Außerdem waren sie die mit den gefährlich aussehenden Hellebarden und den Rüstungen, während er nur einen einfachen, aber langen Dolch trug.

Im Hintergrund waren ein paar Stallburschen zu sehen, die gerade von einem besser gekleideten, älteren Mann gemaßregelt wurden – dem Haushofmeister oder jemand in ähnlicher Position? Denn für den Fürsten war er trotz allem nicht reich genug angetan. Da kam Farran ja gerade perfekt…

Er zügelte sein Pferd und stieg ab. Das durchnässte Leder des Sattels quietschte dabei und er wünschte sich, dass er die Kapuze nicht herunternehmen müsste um den Männern sein Gesicht zu zeigen.

„Wer seid Ihr und was wollt Ihr?!“, blaffte einer der Soldaten am Tor ihn an, ein riesiger Kerl mit schwarzem Vollbart.

Farran verbeugte sich leicht und schob beim Aufrichten die Kapuze leicht nach hinten. „Nur ein reisender Barde aus dem hohen Norden auf der Suche nach einem trockenen Plätzchen.“, antwortete er. „Ich habe gehört, dass Euer Herr gäbe ein Fest und dafür ist Unterhaltung immer gefragt.“

Einer der Männer lachte. „Als sei dafür noch nicht gesorgt worden! Verschwinde!“ Er machte eine fortscheuchende Bewegung mit der Hand, aber die Stimme von hinten hielt ihn auf. „Was ist los?“ Das war der Haushofmeister und Farrans Rechnung ging auf.

„Ein Barde, der sich hier verkriechen will.“, antwortete der Soldat, der offensichtlich der Ranghöchste war. Leiser fügte er hinzu: „Nicht, dass ich es ihm verübeln kann…“

„Ich bin ein weitgereister Mann, mein Herr.“, wandte Farran sich frech an den Majordomus. „Und auch wenn Ihr bereits die besten Künstler Eures Landes herbeigerufen habt, so kann ich vielleicht doch einen bescheidenen Beitrag leisten?“ Mit einem bittenden Gesichtsausdruck fügte er hinzu: „Lasst mich nicht bei diesem Wetter vor Euren Toren stehen.“

Der Haushofmeister schmunzelte leicht bei der letzten Bemerkung und hatte glücklicherweise rasch ein Einsehen. „Lasst ihn rein. Er kann vielleicht nicht vor dem Herrn und seinen Gästen spielen, aber den Bediensteten und euch Soldaten kann er sein Ständchen bringen.“ Bei diesen Worten hellten sich die Gesichter der Wachleute deutlich auf und sie beeilten sich dabei, das Tor zu öffnen.

Währenddessen wandte der Majordomus sich wieder an den jungen Skalden. „Vorausgesetzt, Ihr habt nichts dagegen, für ein Dach, Essen und ein paar Silberstücke am Tag vor unserem Personal aufzutreten.“

„Wo denkt Ihr hin?“, antwortete Farran freundlich. „Das ist mir genug – und einfaches Volk war schon immer ein dankbareres Publikum als die hohen Herrschaften.“ Nicht, dass er am Ende nicht auch vor letzteren spielen würde… Er schenkte den Soldaten ein breites Lächeln, während er durch das Tor schritt. „Wir sehen uns wohl nachher, Männer.“

Die grüßten leutselig zurück, sichtbar zufrieden mit der Entwicklung der Dinge und nun sehr viel freundlicher als vorhin, als er nur ein Eindringling gewesen war. Das Leben als Soldat in einem solchen Schloss musste ziemlich langweilig sein.

Die Stallburschen nahmen so pflichtversessen sein Pferd entgegen, dass er es kaum schaffte, seine Laute vom Sattel zu lösen und sie zu ermahnen, mit seinem Gepäck vorsichtig umzugehen. Der Haushofmeister führte ihn durch den schönen Garten zu einem der abgelegenen Häuser, die weit weniger prunkvoll aussahen als die Hauptgebäuden Es musste für das Personal sein. Der erste Schritt war getan.

Der Majordomus, der, wie er erklärte, mit Meister Jeremy angesprochen wurde, brachte ihn schnurstracks zu einer matronenhaft wirkenden, älteren Frau, die als Oberste Haushälterin und Vorstand des Personals vermutlich das gesamte Schloss am Laufen hielt, auch wenn verschiedene Männer diese Lorbeeren für sich beanspruchten. Ihr Gesicht war freundlich und mütterlich, aber streng und sie stellte sich als Frau Leona vor, ehe sie ihn in die Küche trieb.

„Ich werde veranlassen, dass Ihr etwas zu essen bekommt, ehe man Euch auf das Zimmer führt, das Ihr für die nächsten Tage bewohnen könnt, ehe Ihr weiterzieht.“ Sie schob eine Tür auf. „Dieser Part des Schlosses ist den Küchen und alles, was dazu gehört, vorbehalten. Wenn Ihr etwas zu essen wollt, kommt hierher. Die Bediensteten essen dreimal am Tag in Räumen, die am Ende des Gebäudes liegen. Heute werdet ihr ausnahmsweise in der Hauptküche essen dürfen. Und wenn Ihr Euch beim Küchenpersonal lieb Kind machen wollt, holt ihr danach Eure Laute heraus und spielt ein wenig.“ Sie zwinkerte ihm dabei vergnügt zu und Farran erwiderte das Lächeln. „Keine Sorge. Das war der Plan, als ihr mein Instrument mitgenommen habe.“

„Ah, ich sehe, ein erfahrener Mann, trotz des jungen Alters.“, antwortete Frau Leona und schob eine Tür auf, die in den geschäftigsten, betriebsamsten Raum im gesamten Gebäude führte: die Schlossküche, in der der Küchenmeister wie ein Dirigent seine Köche, Küchenmägde und Gehilfen herumscheuchte, während er trotz allem Wirrwarr und Chaos den Überblick behielt. Farran hatte für Männer und Frauen wie ihn nie etwas anderes als Respekt empfunden.

Darum schrumpfte er jetzt unter dem Blick des imposanten, schweren Mannes zusammen, der seine Aufmerksamkeit sofort auf die Eindringlinge lenkte. Doch Frau Leona schien wenig beeindruckt von dem Herrn der Küche. „Meister Maurice, das ist der Barde Farran. Seid nett zu ihm, denn der Majordomus hat veranlasst, dass er an den nächsten Abenden für uns aufspielen wird. Behandelt ihn besser gut oder Ihr kommt nicht in den Genuss.“ Die letzten Worte waren scherzhaft gesprochen, aber ein ernster Unterton schwang in den Worten mit.

Farran verbeugte sich leicht und höflich und grüßte ehrerbietig. Das schien dem Küchenmeister zu gefallen, denn sein abweisender Gesichtsausdruck hellte sich ein wenig auf. Auch die Umstehenden hielten mit ihrer Arbeit inne und musterten den Barden in variierender Intensität.

„Nun, dann setz dich dahin“ Meister Maurice wies auf einen Tisch etwas abseits „und iss und dann spiel uns ein kleines Liedchen – die Arbeit geht dann besser von der Hand.“

„Es wird mir eine Ehre sein.“, erwiderte Farran und wenn er nachher in die Saiten seiner Laute Griff, würde er diese Männer und Frauen in der Küche (die sichtlich erfreut darüber waren, als erster in den Genuss des versprochenen Barden zu kommen, ganz egal, wie gut er war) mit seiner Musik verzaubern. Und das im wahrsten Sinne des Wortes…

Es würde sicher nach lange dauern, bis er auch vor dem Fürsten spielen konnte. Lächelnd machte Farran sich über die versprochene, köstlich duftende Mahlzeit her. Es war schon zu lange her, dass er etwas Anständiges gegessen hatte.
 


 


 

Das Heim des Fürsten der Nordlande war die trutzige Burg, die das Tal überschaute. Dem Gemäuer sah man sein Alter an, aber auch, dass es gut gepflegt wurde und in Schuss war. Die Zeiten der andauernden Kämpfe und Grenzstreitigkeiten um dieses Land waren längst vorbei. Doch wo andere Fürsten sich einen Palast hatten bauen lassen, verweilte der Fürst von Nordland in seiner mächtigen Burg und hielt in ihr auch seine gerühmten Feste wie der diesjährige Sommerwendball ab.

Catlena wusste nicht, warum Arianna sie mitgenommen hatte, aber sie würde sich sicher nicht beklagen. Die Burg war ihr immer plump und hässlich vorgekommen, aber jetzt war sie alles andere – herausgeputzt wie die Damen, die sich hier tummelten, angetan mit Schmuck in Form von Bannern und Kerzen und funkelnden Lichtern. Festtafeln an den Längsseiten des Festsaales bogen sich unter den Köstlichkeiten, Musik spielte auf den Podesten und lud die Gäste zum Tanzen ein, wunderschöne Damen und Herren in ihren besten Garderoben glitten über die blitzblanken Böden und ihre Stimmen erfüllten die Luft.

Catlena drückte sich mit einigen anderen Bediensteten, die nicht zur Belegschaft des Fürsten gehörten, am Rande der Tanzfläche herum, kaute auf einem mit Lachs belegten Brötchen, dass ein Page ihr gebracht hatte, und ließ ihre Herrin kaum aus den Augen für den Fall, dass diese etwas benötigte. Aber Arianna schien sich einfach nur zu amüsieren, tanzte mit verschiedenen jungen Männern, lachte und redete. Ihr ganzes Gesicht schien zu strahlen und man sah ihr an, wie glücklich sie war.

Doch Catlena achtete nicht nur auf sie. Die Zofe ließ ihren Blick dann und wann forschend durch den Saal schweifen auf der Suche nach einem bestimmten Mann: Lord Odilon. Die Begegnung auf dem Weg zum Schneider hatte sie vorgewarnt und wenn Odilon kam, würde er ganz sicher etwas versuchen und sei es nur, einmal mit Arianna zu tanzen – was diese sicher nicht dulden würde.

Doch Odilon war niemand, der ein ‚Nein‘ akzeptieren würde.

Catlena mochte noch jung sein, aber ihr Menschenverstand war gut genug. Auf die eine oder andere Weise würde er Arianna verletzen wollen und Catlena würde nicht offenen Auges daneben stehen und zusehen.

„Deine Herrin ist sehr hübsch.“, bemerkte der Page neben ihr, der ihr das Essen gebracht hatte.

Sie blickte zu ihm und nickte eifrig, aber da sie gerade einen vollen Mund hatte, konnte sie nicht antworten. Doch je schneller sie kaute, desto größer schien der Bissen in ihrem Mund zu werden.

„Ich diene Ritter Ewein.“, fuhr der Junge fort und blickte sie aus leuchtenden Augen an. Seine Bewunderung für seinen Herrn mochte so groß sein wie jene, die Catlena für die schöne Arianna hatte. Doch da sie den Ruf seines Ritters kannte, wusste sie woher sie stammte. Ewein galt als der beste, galanteste Recke des Fürsten.

„Er ist toll! Mutig und stark und er kann kämpfen wie kein Zweiter. Wenn er in den Ring tritt, verlassen alle anderen ihn, weil er so gut ist!“

Endlich schaffte Catlena es, ihren Bissen herunter zu schlucken. „Fräulein Arianna machen alle Leute Platz, wenn sie durch die Gassen geht und sie braucht nicht einmal ein Pferd dazu!“, triumphierte sie, als ob das ein Wettstreit wäre, wer den besseren Herrn hatte. „Und sie hat mir dieses Kleid gekauft.“ Das Mädchen strich über den schönen, blauen Stoff, der sich so weich unter ihren Fingern anfühlte, und die grünen Borten, die ihre Herrin dafür ausgesucht hatte.

Aber statt einem weiteren Auftrumpfen antwortete der Page: „Das sieht hübsch aus.“

Einige Sekunden war sie sprachlos und aus dem Konzept gebracht, ehe sie begriff, dass er mit ihr kein Gespräch angefangen hatte, weil er über seinen Ritter plaudern wollte. Anscheinend hatte – ausnahmsweise – einmal sie den Bewunderer und nicht ihre Herrin. Nicht, dass diese jemals für ihren Gesprächspartner erreichbar gewesen wäre, aber das hatte bis jetzt noch niemanden gestört. Aber sie hatte neben der schönen Händlertochter noch niemand bemerkt… Abrupt wurde sie rot und senkte die Augen. Arianna mochte Antworten auf derlei Reden haben, aber sie war es nicht gewohnt.

Wie Halt suchend blickte sie auf und ließ den Blick über die Menge der tanzenden Gäste gleiten, bis sie ihre Herrin fand, die in ein Gespräch mit zwei weiteren jungen Damen verwickelt war. Sie schien ganz vertieft in die Unterhaltung, was auch der Grund sein mochte, dass sie nicht bemerkte, wie sich hinter ihr der Mann näherte, dem sie schon den ganzen Abend aus dem Weg gegangen war.

Lord Odilon steuerte mit zielstrebigen Schritten entschlossen auf sie zu. Catlena aber bemerkte ihn beinahe sofort. Ihr wurde es ganz kalt und sie fragte sich, ob sie laut rufen oder einfach durch die tanzenden Leute auf Arianna zulaufen sollte. Doch noch ehe sie zu einer Entscheidung kam, hatte der Lord sein Ziel bereits erreicht.

Er brauchte nicht lang, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: Ariannas, die ihrer Freundinnen, die der anderen Umstehenden. Aber Catlena wusste, wer nicht begeistert von seiner Aufmerksamkeit war: ihre Herrin.

Zwar konnte die Zofe von dem Platz, an dem sie stand, kein Wort der Unterhaltung zwischen dem Lord und der Bürgerstochter verstehen, aber Ariannas gesamte Körperhaltung, der Ausdruck in ihrem Gesicht und nicht zuletzt die immer heftiger werdende Gestik sprachen für sich. Auch Odilon schien nicht begeistert über den Verlauf des Gespräches zu sein…

„Was ist?“, wollte der Page neben ihr wissen, dem der plötzliche Stimmungsumschwung erstaunlich schnell aufgefallen war. Er folgte ihrem Blick und musterte den Störenfried im Gespräch der drei jungen Damen. „Kennt deine Herrin den Lord?“, wollte er dann wissen. „Ritter Ewein hält nicht viel von ihm…“

„Das kann nicht gut enden.“, murmelte Catlena statt einer Antwort und jetzt hielt sie nichts mehr. Mit entschlossenen Schritten marschierte sie auf Arianna zu. Sie hätte sich vorher keine Sorgen zu machen brauchen – kaum jemand bemerkte sie und wer doch, schenkte ihr kaum einen zweiten Blick.

„…nichts mit Euch zu tun haben, Lord!“, bemerkte Arianna gerade heftig, als ihre Zofe endlich in Reichweite kam.

„So ein Pech.“, antwortete Odilon kalt. „Zu eurem Glück beruht das nicht auf Gegenseitigkeit.“ Er streckte die Hand aus und packte sie am Oberarm – fest. Arianna zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen.

„Was fällt Euch ein…!“, begann sie und dann ohrfeigte sie ihn. Das Geräusch hallte unglaublich laut in dem Saal wieder und abrupt wandten sich die meisten Leute den Streitenden zu.

Odilon stand für einen Moment stocksteif vor dem jüngeren Fräulein und starrte sie an, als könne er nicht begreifen, was gerade geschehen war. Seine Hände hingen für einen Moment einfach an seinen Seiten hinunter, dann ballten sie sich langsam zu Fäusten. In seinen Augen stieg Zorn hoch, langsam und gefährlich und für einen Moment verzerrte sich sein sonst so gutaussehendes Gesicht zu einer hässlichen, grollenden Fratze, ehe er sich wieder unter Kontrolle bekam.

Doch die Wut stand noch in sein Gesicht geschrieben, unerbittlich und endlos. Aber auch der Unglaube war noch immer da, beinahe verdrängt, aber doch noch immer deutlich. Als hätte noch nie jemand ihn geschlagen. Vermutlich war es auch so – vermutlich hatte es noch niemand gewagt, Hand an ihn zu legen. Vermutlich hatte noch niemand gewagt, ihn derartig in aller Öffentlichkeit zu demütigen. Und Catlena fragte sich, ob das zu einem guten Ende führen konnte.

Arianna aber schien sich keine solchen Sorgen zu machen – anscheinend war die Sache für sie zumindest erledigt. „Lasst mich endlich zufrieden!“, fauchte sie, drehte sich um und winkte ihrer Zofe. „Wir gehen. Komm, Catlena!“ Damit rauschte sie hoch erhobenen Hauptes aus dem Saal, so schnell, dass ihr Dienstmädchen rennen musste, um den Anschluss nicht zu verlieren. Sie musste doch aufgewühlter sein, als sie den Anschein hatte.

Den ganzen Weg hinaus aber spürte Catlena den stechenden, wutentbrannten Blick des Lords, der diese Sache weder ruhen noch auf sich sitzen lassen würde. Dessen war Catlena sich gewiss.
 


 


 

Der nächste Tag begrüßte die Sonne mit strahlend blauem Himmel und keiner einzigen Wolke. Farran starrte aus dem Echtglasfenster und fragte sich, ob das ein Witz war. Die letzten Tage war er durch Regen und Sturm geritten um rechtzeitig vor dem Fest Schoss Hartenstein zu erreichen. Jetzt, wo er ein Dach über dem Kopf hatte, brach die Sonne hervor mit einem Versprechen auf weitere regenlose Tage.

Auf der anderen Seite – vielleicht war es ein Omen. Und was konnte es anderes bedeuten als Erfolg und Sieg?

Mit einem Lächeln auf den Lippen zog er sich seine Kleidung über, schlüpfte in die Stiefel und suchte sich den Weg in den Essensaal, wo er von einigen begeisterten Bediensteten empfangen wurde. Sie grüßten ihn lachend, klopften ihm auf die Schulter und lobten ihn. Der letzte Abend war genau das gewesen, was er erwartet hatte: ein voller Erfolg. Seine Lieder und Erzählungen hatten dem Personal des Schlosses mehr als nur gefallen.

Farran antwortete mit geübten Phrasen und war stolz auf sich – auf diesem Gebiet war er schon immer gut gewesen. Nicht, dass es gestern nur Talent gewesen war…

Den Morgen verbrachte er damit, den Leuten gerade so viel auf die Nerven zu gehen, dass sie nicht böse auf ihn wurden, und mit der Laute auf dem Rücken durch die Gärten zu spazieren. Im Moment hieß es nur abwarten – nicht er würde den nächsten Schritt machen. Es kribbelte ihm zwar in den Fingerspitzen, endlich etwas zu tun, endlich seinen Plan voranzutreiben, aber wenn er zu schnell war, zu ungestüm würde nur alles nach hinten losgehen. Nur war Geduld noch nie seine Stärke gewesen…

„Meine Zofe hat mir erzählt, Ihr wäret der beste Barde auf diesem Schloss.“, erklärte plötzlich eine jugendliche Mädchenstimme hinter ihm und er drehte sich um. Hinter ihm stand ein hübsches Mädchen, das nur wenig jünger sein konnte als er, aber erheblich besser gekleidet war. Wenn er raten müsste, würde er schätzen, dass sie die Tochter des Fürsten war.

Sie wurde von einer älteren, matronenhaften Frau begleitet, die jedoch nicht Frau Leonas natürliche Freundlichkeit besaß, nur dieselbe Strenge. Die Gouvernante des Fräuleins?

Er verbeugte sich so galant, wie er konnte. „Da ich noch keinem anderen Barden hier begegnet bin, kann ich das wohl kaum beurteilen, junge Dame.“

Die Matrone musterte ihn mit missbilligendem Gesicht, sagte aber nichts, auch nicht, als ihr Schützling näherkam. „Ich bin Lady Isadora, aber das wisst Ihr sicher bereits – der Fürst ist mein Vater.“

Der hochnäsige Ton traf einen falschen Nerv bei Farran, aber er behielt das höfliche Lächeln bei und antwortete nur liebenswürdig: „Dann fühle ich mich durch Eure Gegenwart aufs Höchste geehrt. Kann ich Euch irgendwie helfen?“

Das Mädchen klimperte mit den langen Wimpern und befahl: „Spielt mir etwas.“ Anscheinend war sie es gewohnt, dass jeder nach ihrer Pfeife tanzte – und vermutlich geschah das auf ihr Wort auch.

Farran blickte sich demonstrativ um. „Gleich hier? Ich glaube, das ist ein eher ungünstiger Ort. Vielleicht wisst Ihr einen besseren?“

Die Matrone runzelte die Stirn, aber Farran warf ihr ein unschuldiges Lächeln zu – er war tatsächlich nur auf der Suche nach einem etwas abseits gelegenem Ort, damit es keine Unterbrechungen gab. Nicht, damit er mit einer jungen Dame allein sein konnte, an der er kein weiteres Interesse hatte, als dass sie eine Trittstufe weiter nach oben zu ihrem Vater war.

„Im Rosengarten hier in der Nähe ist es immer sehr nett. Ava, können wir…?“

Die Amme seufzte. „Ich werde Euch wohl kaum davon abhalten können, mein Täubchen, nicht wahr? Aber glaubt bloß nicht, dass Ihr mich schon wieder abhängen könnt.“

„Es wäre mir eine Ehre, wenn auch Ihr meiner Musik lauschen würdet, verehrte Frau Ava.“, schaltete Farran sich ein. „Bitte, geht voran – ich weiß den Weg nicht.“

Die Frau wirkte sichtlich erfreut über die Bemerkung und übernahm tatsächlich die Führung. Der junge Skalde und Isadora folgten ihr.

„Ihr kommt nicht von hier, nicht wahr?“, bemerkte die junge Lady plötzlich. „Euren Akzent habe ich noch nie gehört.“

Der Skalde zog eine Augenbraue hoch. Anscheinend war die Kleine doch aufmerksamer, als er ihr hatte zugestehen wollen. „Ihr seid sehr scharfsinnig. Ich komme aus den Nordlanden.“

„Oh!“, rief sie aus und klatschte die Hände zusammen. „Davon habe ich in meinem Unterricht gehört. Neben den normalen Bürgern des Reiches gibt es dort auch die barbarischen, unbarmherzigen Clane.“

Farran verkniff sich ein Grinsen ob der Beschreibung. „Das stimmt. Aber die Geschichten über die unzivilisierten Barbaren sind weit übertrieben oder gehören der Vergangenheit an. Tatsächlich bin ich ein Halbblut – mein Vater gehört den Clanen an.“

„Was Ihr nicht sagt!“, rief die junge Dame erstaunt aus. „Das hätte ich nicht gedacht!“

Das glaubte er ihr aufs Wort, aber er zog vor, sie mit anderen, nützlichen Fakten zu füttern. „Bei uns nennt man Barden auch anders. Ich bin dort als Skalde ausgebildet worden. Wir sind als die Hüter der Sagen, Legenden und Erzählungen ziemlich wichtig im Gefüge der Clans.“

Es war nicht nur der Titel und der Stand in der Gesellschaft unterschied den Skalden der Clane vom gewöhnlichen Barden, wie er hier im Süden bekannt war. Da war auch die Magie, die sie durch ihre Musik zum Ausdruck brachten, mit der sie großartige Dinge vollbringen konnten. Anders als die Zauberer, aber nicht weniger gewaltig – nur subtiler. Aber das war nichts, was er der Dame, ihrer Amme oder sonst jemandem in diesem Schloss auf die Nase binden würde.

„Was tut Ihr dann hier, so weit im Süden?“

Das war eine berechtigte Frage, aber er hatte die passende Antwort darauf. „Es ist üblich, dass ein Skalde nach der Ausbildungszeit eine ausgedehnte Reise unternimmt, um eigene Erfahrungen und noch mehr Geschichten zu sammeln. Meist finden die nur innerhalb der anderen Clans statt, aber ich wollte mehr von der Welt sehen. Also bin ich hier.“

Isadora lachte ihn an. „Das ist sehr interessant. Ihr müsst mir unbedingt mehr darüber erzählen, wenn wir einmal Zeit haben.“

Inzwischen hatten sie die Rosengärten erreicht, ein wunderschönes Stück Garten und vermutlich ein hartes Stück Arbeit. Farran wollte nicht derjenige sein, der sich um diese filigranen, wehrhaften Pflanzen kümmern musste, die in einem irreführenden Muster angeordnet waren.

Isadora wusste genau, wo sie hinwollte und führte die kleine Gruppe auf eine kleine, offene Fläche, auf der eine Gruppe marmorner Sitzmöbel auf Benutzung warteten. Das Mädchen ließ sich anmutig auf einer Bank nieder, ihre Amme sank schwer neben sie auf den harten Stein. Dann blickten beide erwartungsvoll zu dem jungen Musiker hinüber, der sich ungefragt auf einem Stuhl niederließ, ehe er die Laute hob.

„Nun denn, gibt es bestimmte Lieder, die ich Euch Damen spielen soll?“

„Oh ja!“, rief Isadora aus. „Ein Liebeslied. Aus Eurer Heimat!“

Farran neigte zustimmend den Kopf und wählte rasch eine der bei seinem Volk beliebtesten Balladen aus, während seine Finger bereits testend an den Saiten zupften. Es würde der jungen Dame gewiss gefallen; die Geschichte um einen jungen Krieger und eine Prinzessin, die sich verliebten und am Ende trotz aller Widrigkeiten heirateten. Soweit Farran wusste, war sie sogar wahr.

Während er in die Saiten griff, fühlte er, wie die Magie erwachte, ein kleiner Funken, der schnell zu gleißendem Schein wurde, den nur er sehen konnte, schillernd und hell. Sie floss durch seine Finger und ging in die Musik ein. Es war eine leise, lockende, verführerische Magie, kaum zu bemerken selbst für einen Zauberer. Ein Laie oder gar ein Unwissender, wie Isadoro und Ava es beide waren, würde nicht einmal auf die Idee kommen, dass hier übernatürliche Kräfte am Werk waren, um sie einzuwickeln, zu bezaubern und für den Musikanten einzunehmen.

Auf diese Weise wurde die Magie der Skalden am öftesten genutzt, aber es war sicher nicht die einzige. Noch aber war es nicht so weit, noch musste er sich beherrschen, auch wenn es ihn in den Fingern juckte…

Es war leicht, Isadora und selbst ihre Gouvernante einzuwickeln. Bald lauschten beide hingerissen den magischen Klängen, die er der Laute entlockte, und seiner Stimme, die dazu Geschichten spann. Es war wie ein geknüpftes Netz, das er über seine Zuhörer warf; er konnte die Fäden beinahe sehen, die sich um die beiden Frauen legten. Nicht mehr lange, dann konnte er dieses Netz auch um den Fürsten legen…

Die musikalische Vorführung wurde abrupt unterbrochen, als jemand laut dazwischenrief. „Isadora! Isadora!“ Die Stimme war so nah, dass man auch die schweren Schritte der dazugehörigen Person hören konnte.

Erschrocken blickten die Angesprochene und deren Amme sich um, während Farran sich etwas in den Schatten gleiten ließ. Es wäre ungünstig, im Mittelpunkt zu stehen, wenn der Rufer unvermittelt hier auftauchte.

„Das… das ist mein Vater.“, murmelte das Mädchen verdutzt und kurz darauf erschien besagter Mann unter einem aus Rosen geformten Torbogen. Der Fürst war ein großer, stattlicher Mann, der in seiner Jugend vermutlich jeden Tag eine andere Verehrerin hatte abweisen müssen. Noch immer mussten die Herzen der Frauen ihm zufliegen, doch sein Haar war inzwischen mehr grau als braun und die grauen Augen zu scharf.

Er lächelte, als er seine Tochter sah. „Da bist du, mein Kind. Ich habe dich vorhin zum Essen erwartet.“

Isadora starrte ihn erstaunt an und blickte dann gen Himmel. Ein erstaunter Ausdruck breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie bemerkte, wie weit die Reise der Sonne schon fortgeschritten war. „Verzeih, Vater. Ich habe gar nicht gemerkt, wie spät es schon ist.“ Sie blickte zu ihrer Amme, die ähnlich überrascht wirkte. „Wir waren wohl so vertieft in die Musik…“

Jetzt richtete ihr Vater die Aufmerksamkeit auf den letzten der Anwesenden, der sich eilig erhob und eine Verbeugung andeutete. „Verzeiht. Ich habe nicht gewusst, dass Eure Tochter Verpflichtungen hat und beim Spielen vergesse ich die Zeit.“, kam Farran dem Fürsten zuvor. „Ich hoffe, Ihr könnt Eurer Tochter verzeihen.“

„Du bist der Barde, der gestern kam, richtig?“

Der Angesprochene nickte und hoffte, dass das Treffen doch nicht so negativ ausging, wie es vorhin schien. Vielleicht konnte er noch etwas herausschlagen? So war das nicht geplant gewesen… Isadora sollte ihrem Vater von ihm erzählen, nicht wegen ihm ein Essen verpassen! Hätte er doch nur etwas mehr aufgepasst…

„Mein Majordomus hat mir davon berichtet.“ Plötzlich lachte der ältere Mann, laut und herzlich. „Du scheinst sehr begabt zu sein, wenn du meine Tochter so lange die Welt um sich vergessen lässt. Sie hat meistens ein sehr launisches Gemüt.“

Farran verbeugte sich dankend. „Ich gebe stets mein Bestes.“

Wieder lachte der Fürst. „Nichts anderes wird von dir erwartet. Aber sag, wärest du bereit, heute Abend meinen Gästen, meiner Familie und mir aufzuspielen? Die Gruppe gestern war doch nicht so aufregend, wie ihr Ruf dies versprochen hat.“

Diesmal verbeugte der Skalde sich tief. „Es wäre mir eine Ehre.“ Als er sich wieder aufrichtete, um dem Fürst in die Augen zu sehen, hatte er seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle und von dem triumphierenden Lächeln war nichts mehr zu sehen.
 


 


 

Händler Narran besaß keine Pferde, aber Arianna ritt um ihr Leben gern, weswegen sie alle zwei oder drei Tage die Städtischen Ställe aufsuchte. Catlena begleitete sie stets und ein paar Mal hatte Arianna sogar ein Pony für sie gemietet und ihr gezeigt, wie man ritt. Das hatte ausnehmend Spaß gemacht, aber es kam viel seltener vor, als sie es sich wünschen würde. Doch ihr stand es nicht zu, solche Dinge zu fordern, also war sie einfach glücklich, wenn sie es durfte.

Heute würde sie nicht so viel Glück haben, aber Arianna hatte ihr eine silberne Münze zugesteckt. Damit würde sie nachher zum Bäcker gehen, sich ein Honigbrötchen kaufen und sich dann zu dem Pony sitzen, auf dem sie immer reiten durfte. Der Stallmeister erlaubte es ihr seit einiger Zeit, weil sie manchmal mit anpackte und Arianna eine gute Kundin war.

„Catlena, hilf mir mit dem Sattel.“ Ariannas Ton war beinahe barsch, aber seit einigen Tagen hatte sie schlechte Laune. Ihre Zofe wusste genau, woran das lag – oder besser, an wem: Lord Odilon. Nach ihrem Zusammenstoß auf dem Ball des Fürsten waren sie sich noch einmal begegnet, aber hatten keine weiteren Worte mehr gewechselt – nur finstere Blicke.

Catlena war es eisig den Rücken hinuntergelaufen, als sie den Blick des jungen Lords gesehen hatte. Kein Wunder, denn inzwischen sprach die ganze Stadt über die Ohrfeige und viele lachten hinter vorgehaltener Hand über ihn. Bald würde Gras über die Sache wachsen, aber bis dahin musste Catlena eine schlecht gelaunte Herrin ertragen.

Wenigstens wusste die, dass sie ihrer Zofe unrecht tat und schenkte ihr Geld als Entschuldigung. Doch der dunkle Gemütszustand Ariannas war ein weiterer Grund, warum es dem Mädchen ganz recht war, dass die Händlertochter allein reiten ging.

„Ja, Fräulein.“ Catlena beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen, und huschte hinüber um Arianna zu helfen. Gemeinsam wuchteten sie den Sattel hinüber zu dem Bereich, an dem die Pferde aufgezäumt waren.

Außer ihnen war niemand im Stall, da um diese Tageszeit nie viel los war und Arianna um Ruhe gebeten hatte. Vermutlich würden der Stallmeister und seine beiden Burschen nicht mal auf laute Rufe reagieren, da sie zu weit weg waren. Aber Arianna sattelte ihr Pferd sowieso immer allein – beziehungsweise mit Catlenas Hilfe – auf und ab.

„Ich hole Tausendschön.“, erklärte die Händlertochter und wandte sich um, um das Tier zu holen.

„Na, wen haben wir denn da?“, wollte plötzlich eine tiefe Stimme vom Stalleingang wissen. Beide Mädchen fuhren herum und Catlena brauchte einen Moment um die Silhouette im Tor zu erkennen. Es war Odilon, der auch schon weitersprach: „Die schöne Arianna.“ Damit betrat er den Stall.

Die Angesprochene war stocksteif stehen geblieben und starrte den Mann an. „Was wollt Ihr?“, antwortete sie dann frostig. Ihre Augen waren so kalt wie ihre Stimme und sie war deutlich abgeneigt davon, mit ihm sprechen zu müssen.

Als der junge Lord in den Stall trat, konnte Catlena auch sein Gesicht sehen. Das hässliche Grinsen, das sich darauf abzeichnete, und das Glitzern in seinen harten Augen schickten ihr einen Schauer über den Rücken. Sie ging nach vorn, bis sie halb zwischen Arianna und Odilon stand, direkt neben der beinahe leeren Futterkiste, die ihnen noch mehr Schutz bieten konnte, falls der Mann sie angriff.

Doch Odilon blieb zwei Schritte vor ihnen stehen und schenkte der Zofe nur einen kurzen, missachtenden Blick. „Eine Entschuldigung von Euch, schönste Frau dieses grässlichen Landes.“

Arianna lachte, kurz und hart, und wenn sie nicht so gut erzogen wäre, hätte sie vor ihm auf den Boden gespuckt. „Darauf könnt Ihr lange warten, Ihr Schurke!“

Odilons Lippen verzerrten sich weiter, eine Karikatur eines Lächelns. „Nein? Überlegt es euch gut…“ Der Lord tat einen weiteren, drohenden Schritt auf sie zu und Catlena straffte die Schultern.

„Lasst das Fräulein in Ruhe.“, sagte sie, aber ihre Stimme klang klein und unbedeutend neben jenen der hohen Herren und sie fragte sich, was sie hier überhaupt tat. Arianna konnte trotz aller Naivität ganz gut auf sich selbst aufpassen – immerhin war sie eine Tochter des Nordens. Aber Catlena sah den gierigen, hasserfüllten Blick in Odilons Augen, sein scheußliche Grinsen, seine drohende, beunruhigende Haltung…

Ihre Herrin legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Verschwindet!“, befahl sie dem Lord. „Und lasst mich endlich in Ruhe!“

Einen Moment hoffte Catlena, dass ihre Worte Gehör fanden, aber sie wusste gleichzeitig, dass es nicht so war. Doch dann geschah es trotz allem so schnell, dass sie nicht einmal reagieren konnte.

Mit einem Handgriff schlug der Lord den Deckel der Futterkiste zurück und hievte das Mädchen beinahe gleichzeitig unsanft hinein. Über ihr schlug der Deckel wieder zu und sie hörte, wie der Riegel vorgeschrieben wurde. Sie presste die Hände gegen die Holzplatten über sich, aber es war einen Augenblick zu spät. Sie war gefangen in einer engen, stickigen Futterkiste. Aber noch mehr Sorgen machte sie sich um ihre Herrin… Was hatte der Lord vor?!

„Wa…?!“, drang Ariannas entsetzte und empörte Stimme zu ihrer Zofe durch. „Was tut Ihr?!“ Danach folgte ein heftiges Klatschen von Haut auf Haut und dann ein Körper, der auf den Boden geschleudert wurde. Ariannas Ausruf war diesmal ein Schmerzensschrei.

„Ich werde Euch lehren, höhergestellte Männer mit dem Respekt zu behandeln, der uns zusteht.“, antwortete Odilon kalt und einen Moment später schrie Arianna erneut auf.

„Fräulein!“ Catlenas Stimme klang selbst für sie ungewohnt in dem engen Raum und sie fragte sich, ob ihre Herrin sie überhaupt hörte. „Fräulein! Fräulein! Arianna!“ Sie holte tief Luft und brüllte: „Hilfe! Hilfe!“

Aber die einzige Antwort, die sie bekam, war ein erneuter Schmerzensschrei von ihrer Herrin und dann noch einmal das Geräusch eines lauten Schlages. „Wa… Was habt Ihr vor?!“, wollte Arianna noch einmal wissen, verzweifelter diesmal und die Geräusche eines Kampfes waren zu hören. „La…Lasst mich sofort los! Nein! Nein!“ Arianna jaulte laut auf, aber ihr Schrei wurde abrupt abgewürgt.

„Haltet die Klappe, schönste Frau.“, spottete Odilon hämisch und dann war es einen Moment still. Oder … war das das Geraschel von Kleidung?! Catlena horchte auf und dann übertönte lautes Schluchzen von Arianna alles andere. „Lasst mich. Nein. La…Lasst mich los! Ich… Bitte.“

Aber Odilon lachte nur. „Das hättet Ihr Euch früher überlegen sollen, Schönste.“

Catlena begann außer sich gegen den Deckel der Futterkiste zu hämmern. Sie wollte hier raus. Sie wollte Arianna helfen oder losrennen und so laut schreien, bis jemand auf sie und die schreckliche Situation ihrer Herrin aufmerksam wurde. Aber der Riegel gab nicht nach und Catlena musste in der Futterkiste bleiben.

Sie brauchte nicht viel Phantasie um zu wissen, was dieser verabscheuungswürdige Mann mit ihrer Herrin anstellte und deren lautes Jammern und Weinen halfen nicht. Warum hörte sie niemand? Warum war niemand da, der helfen konnte? Wo waren der Stallmeister und seine Burschen?!

Aber Catlena wusste es ganz genau – Arianna selbst hatte sie davongeschickt und sie würden erst kommen, wenn das junge Fräulein davongeritten war. Niemand würde sie um Hilfe schreien hören. Niemand würde Ariannas Schluchzen hören, die Verzweiflung in ihrer Stimme, die pure Hoffnungslosigkeit. Niemand würde Odilons höhnische Worte hören, die er der jungen Frau entgegenwarf, sein Grunzen und Lachen.

Niemand außer der kleinen Zofe, die eingesperrt in einer Kiste saß und zuhören musste, welche Gewalt ihrer verehrten Herrin angetan wurde.

Catlenas Hände und Gesicht waren nass von Blut und Tränen, ihr Körper geschüttelt von ihrem eigenen Schluchzen und ihre Stimme versagte bereits durch Anstrengung, Hilflosigkeit und erzwungener Tatenlosigkeit, als Odilon endlich ging.

Sie verstand die Worte nicht, die er zu ihrer Herrin sagte, aber sie verstand den Tonfall, der so höhnisch und triumphierend war, dass sie sich beinahe übergab. Seine Schritte entfernten sich rasch und zielstrebig und von draußen drangen nur noch die Laute der Pferde, das Scharren der Hufe auf dem Boden, Schnauben, einmal ein Wiehern… Ansonsten war es still.

War Arianna etwa tot? Aber hätte der Lord mit ihr gesprochen, wenn er sie umgebracht hätte? Wäre er wirklich so dumm gewesen, sie umzubringen? Ein Mord würde nicht ungesühnt bleiben, wie vielleicht eine andere Tat…

Von draußen ertönte leises Knistern im Heu, das Rascheln von Kleidung… Ariannas leises Weinen. Catlena schloss ergeben die Augen und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Es dauerte lange – eine Ewigkeit – bevor Arianna den Riegel der Futterkiste zurückschob und diese öffnete.

Über der Zofe erschien das Gesicht ihrer Herrin, auf dem bereits die Schläge in Form von Schwellungen zu Tage traten. Ihre Kleidung war zerrissen und Blut klebte an ihrem Kinn; die Lippe war aufgeplatzt. Catlena wollte gar nicht wissen, was für Verletzungen – körperliche sowie seelische und emotionale – der Lord ihrem Fräulein noch zugefügt hatte. Aber sie wusste, dass sie trotzdem alles tun würde, um der Händlertochter zu helfen.

Arianna starrte auf sie herunter und die sonst so lachenden Augen waren die einer Toten, stumpf und leblos. „Zu niemandem ein Wort, Catlena.“ Und ihre Stimme klang hart.
 


 


 

Der Raum, in dem der Fürst den festlichen Abend für seine Gäste veranstaltete, war verhältnismäßig klein, aber nur gerade so, dass es gemütlich wirkte und nicht voll. Durch eine hohe Fensterwand konnte man über den kunstvoll angerichteten Garten sehen, und eine Tür darin öffnete sich auf die Terrasse.

Um einen wahrlich monströsen, offenen Kamin, der das gesamte Zimmer beherrschte, gruppierten sich geschmackvoll bequem aussehende Sitzgruppen. Gegenüber dem Kachelofen war an der Wand eine lange Tafel aufgebaut, die mit einem kalten Bankett beladen war. Die Tischplatte bog sich unter den Köstlichkeiten, die vom Personal immer wieder aufgefüllt wurden. Und das, nachdem die Gäste schon ein ausgiebiges Mahl mit fünf Gängen hinter sich hatten.

Reiche Leute, dachte Farran, lebten tatsächlich wie Maden im Speck. Allerdings war dieses Fest trotz allem kein Maßstab, an dem er das normale Leben des Fürsten und seiner Familie messen konnte. Im Moment bewirteten sie immerhin einen Cousin ihres Königs und dessen Hofstaat und das natürlich königlich. Wie alle anderen wollten sie, dass jemand ein gutes Wort bei ihrem Herrscher für sie einlegte und wie die Liebe durch den Magen ging, gingen derartige Gefallen vermutlich einen ähnlichen Weg.

Farran grinste – sein Schaden war es ganz sicher nicht. Er saß in einer Nische im Schatten, seine Harfe, die er für dieses Ereignis ausgewählt hatte, auf dem Schoß. Seine Finger zupften abwechseln da den Saiten und verhalfen seinem Mund etwas zum Beißen, was wirklich köstlich und vielfältig war.

Selbst die Clane, die Feste zu feiern wussten, hatten zu diesen Anlässen nicht derlei reichhaltiges, mannigfaltiges und gleichzeitig gutes Essen. Hin und wieder nippte er an dem Weinkelch, dem ein Diener ihm gereicht hatte, aber zu viel durfte er nicht trinken. Er musste einen kühlen Kopf bewahren. Nachher musste er aufspielen, seine Magie wirken und nicht nur jenes einfache Netz, das er um Isadora und ihre Gouvernante gesponnen hatte, sondern etwas weitaus komplizierteres.

Und dafür, das wusste er, konnte er kaum einen besseren Zeitpunkt erwischen. Der zweite Sohn des Fürsten war zwar nicht anwesend, aber dafür der Rest seiner näheren Familie und noch dazu solch hochgestellte und zahlreiche Gäste.

„Ihr seid also tatsächlich gekommen.“, bemerkte plötzlich eine Stimme neben ihm und er blickte auf.

„Mein Fräulein.“ Er erhob sich zu einer leichten Verbeugung. „Natürlich bin ich hier. Immerhin arbeite ich im Moment für Euren Vater.“

Isadora lächelte erfreut. „Dennoch. Ich bin froh, dass Ihr heute spielt. Die gestern waren so langweilig.“ Sie winkte ab. „Wenn Ihr so weitermach wie bisher, werdet Ihr nächste Woche schon vor dem König spielen.“

Das glaubte er weniger. „Zu viel der Ehre.“

„Oh nein, Ihr seid wirklich gut.“, bestätigte das junge Mädchen noch einmal. „Was habt Ihr für uns vorbereitet? Ich hoffe, wieder etwas aus Eurer Heimat.“

„Natürlich. Die anderen Lieder kennt hier vermutlich jeder schon. Außerdem kenne ich sie nicht so gut – und ich muss doch perfekt sein.“

Isadora lachte. „Das ist wahr. Mein Vater wird nichts anderes akzeptieren. Und ich denke, Ihr habt Recht, wenn Ihr sagt, dass die meisten unserer großen Lieder hier allen bekannt sind. Aber was genau habt ihr für uns? Liebeslieder? Volkslieder?“

Farran erwiderte ihr Lächeln freundlich. Wolf im Schafspelz, dachte er. „Die eine oder andere Ballade, Volksweisen und natürlich große Lieder über Helden. Jeder mag Heldensagen – von Ruhm, Ehre und großen Taten hört jeder gern und davon handeln diese Lieder.“ Und von Mord und Todschlag – passend zum Anlass.

Idadora klatschte begeistert in die Hände. „Warum fangt Ihr nicht einfach mal an. Ich warte schon seit Eurer kleinen Vorführung im Rosengarten auf die Fortsetzung!“

„Oh ja, Barde, warum spielt Ihr nicht?“, schaltete sich eine ältere Dame in einem moosgrünen Kleid ein, das vermutlich mehr gekostet hatte, als eine durchschnittliche Bauernfamilie im Jahr verdiente. „Dafür seid Ihr doch da?“

Farran neigte den Kopf in ihre Richtung. „Wie Ihr wünscht. Habt Ihr einen besonderen Wunsch, mit was ich anfangen soll?“

„Nun, Ihr spracht doch gerade von einer Heldenballade aus Eurer Heimat?“, antwortete die Dame. „Und Ihr habt natürlich Recht, wenn Ihr sagt, jeder mag solche Geschichten.“

Farran schenkte ihr ein liebenswürdiges Lächeln und ließ die Finger prüfend über die Saiten seiner Harfe gleiten. Es ging doch schneller, als erwartet.

Zeit für das große Finale.

Als er zu spielen begann, zog er wieder die Magie herbei und je länger er spielte, desto mehr Zuhörer hatte er. Die Anwesen hielten mit ihren Gesprächen inne, stellten ihre kostbaren Kristallgläser und ihre kleinen Fingerhappen beiseite und kamen herüber um besser zu hören. Isadora kauerte sich vor ihm auf den Boden und starrte ihn aus großen, grauen Augen bewundernd an.

Farran erwiderte diesen Blick mit einem zuvorkommenden Lächeln, kurz nur, und schaute dann weg, ehe er den Gesichtsausdruck verlor. Diese Magie, die er jetzt wob, war anders – sie war krank und unheilbar, giftig wie eine Kobra, übel. Hätte sie eine Farbe, wäre sie ungesund rotbraun, mit einem unreinen Schwarzstich.

Denn dieses Mal war es eine andere Kraft, auf die er zurückgriff, eine, die viel tiefer lag, vergraben, verborgen, ganz nach hinten geschoben – und das mit einem Grund. Sie diente nicht dem Schönen und Guten in der Musik, wie es sein sollte.

Sie diente dem Tod, dem Zerfall, dem Hass.

Und je länger er spielte, desto schlimmer wurde es, für ihn und, auf andere Weise, für die anderen Anwesenden. Erst waren sie fasziniert, seine Zuhörer, denn Menschen, erkannte er in diesem Moment, wurden angezogen von Unglück und Leid, solange es nicht sie selbst betraf, sondern andere.

Aber dieser Verfall, diese Verderbnis blieb nicht in dem Lied. Sie griff über auf jene, die es hörten, jene, die nicht einmal bemerken, was vor sich ging.

Schließlich brach einer von ihnen unter dem Druck und mit ihm brach der Damm. Und dann fielen sie übereinander her wie Tiere, mit Zähnen und Klauen und allem, was sie finden konnten. Bald bedeckte Blut den Boden und die Wände und selbst an der Decke befanden sich scharlachrote Spritzer. Leichen fielen zwischen die zerschlagenen Möbel. Das feine Essen wurde in den dicken, teuren Teppich getreten, Splitter von Glas, Kristall und Porzellan verteilten sich beinahe regelmäßig über den Boden und bald folgten die Körper.

Es war ein Gemetzel.

Ein Massaker, herbeigeführt durch Musik, mit Hilfe festlich herausgeputzte Menschen mit baren Händen.

Sie alle waren bar jedes Gedanken, jeder Friedfertigkeit, jeder Vernunft. Es war bestialisch, grausam – unmenschlich.

Farran saß daneben, die Harfe auf dem Schoß, auf der er wahllose Melodien klimperte. Es spielte gar keine Rolle, was er vortrug. Einzig die Tatsache, dass er es tat, hielt die zerstörerische, destruktive Magie aufrecht.

Sie floss weiterhin durch seine Finger wie das Kranke, Giftige, das sie war, und wenn dies vorbei war, würde er sich die Hände waschen, bis sie wund waren. Oder sie einfach abhaken.

Jetzt verstand er, warum so viele Skalden sich weigerten, diesen Teil ihrer Macht jemals anzurühren. Und wenn er sich die tobenden, seelenlosen Menschen, die wie toll aufeinander losgingen, ansah, was er möglichst vermied, wusste er, warum all jene, die es dennoch taten, so gefürchtet waren.

Dies war monströs, brutal und bestialisch und gleichzeitig völlig menschenverachtend.

Aber er würde diesen Weg bis zum Ende gehen oder sterben. Denn für seine Mutter, das war schon immer so gewesen, würde er alles tun.

Der Lärm des Kampfes und des Sterbens klang schon bald ab. Eine solch große Menge an Leuten brauchte unglaublich wenig Zeit, sich gegenseitig abzuschlachten, stellte er abwesend fest, während er den Blick über die Leichen schweifen ließ. Mit leichtem Bedauern entdeckte er Isadora und ihre Amme und ihm wurde übel, als er ein paar Kinder entdeckte.

Aber er war bis hierher gegangen – dies war seine Tat und er schämte sich nicht dafür, wenn sie ihn auch nicht mit Stolz erfüllte, wie er es erwartet hatte. War sie nicht die Antwort auf eine andere, ebenso gewaltsame, brutale Tat? Doch Rache, stellte er fest, als sein Blick wieder zu den toten Kindern schweifte, machte jedoch nicht glücklich. Im Moment fühlte er sich einfach nur leer und ausgelaugt.

Der Hausherr lebte noch. Er sah übel aus, eine Wunde in seinem Bauchraum blutete stark und aus seinem Mund quoll weiterer Lebenssaft und färbte sein Kinn und seine Brust rot. Dieser Anblick war der einzig befriedigende in diesem Raum.

Farran ging neben ihm in die Hocke und blickte ihn an. Der Mann sollte wissen, wem er dies hier zu verdanken hatte: den Tod, die beinahe völlige Vernichtung seiner Familie, das Versagen darin, die hochgestellten Gäste zu beschützen, und die Schande, die dieses Unvermögen über die überlebenden Verwandten brachte, insbesondere seinen letzten Erben.

„Wa…warum hast du das getan?“, wollte der Fürst wissen, völliges Unverständnis in den Augen.

Die Augen des Skalden waren kalt. „Weil Ihr meine Mutter vergewaltigt habt, Fürst Odilon. Sie hat sich nie gänzlich wieder davon erholt – ihre Zofe hat mir vor ein paar Jahren davon erzählt. Ihr wisst doch noch? Das Mädchen, das Ihr in die Futterkiste gesperrt habt, während Ihr über ihre geliebte Herrin hergefallen seid.“

Langsam breitete sich verstehen auf dem entkräfteten Gesicht ab. „Ich habe doch nur…“, begann der Mann, doch Farran wollte keine Ausflüchte, keine Entschuldigungen und keine Rechtfertigungen hören für etwas, was man weder entschuldigen noch rechtfertigen konnte.

Er schenkte Odilon ein eiskaltes Lächeln und stand auf. „Ich hoffe, die Hölle empfängt Euch mit offenen Armen.“, erklärte er dem Mann, drehte sich fort und ging davon. Wenn die Wachen oder das Personal dieses Massaker entdeckten, dann würde er schon weit, weit entfernt sein. Auf dem Weg zurück in seine Heimat und zu seiner Mutter, für die er dies alles getan hatte.
 

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Ich hoffe, es ist allen klar, was geschehen ist. Um es nochmal klar zu sagen:

Farran ist Ariannas Sohn und die Ereignisse um Arianna & Catlena haben sich ~25 Jahre vor denen um Farran abgespielt.
 

Der Titel kommt von den beiden Sprichwörtern Revenge is sweet. und Revenge is a dish best served cold.
 

Ich hoffe, es hat (trotz allem) jemandem gefallen und natürlich ganz besonders meinem Wichtelkind.
 

Gruß

Sorca~

On helplessness, friendship and hope (pt. 1)

Okay, schon wieder ein Zweiteiler, weil es einfach so lang wurde. Nächster Part kommt dann, wenn ich ihn fertig habe. Die Geschichte spielt wieder in meinem Mutant-'verse, was ein paar Jahre in der Zukunft liegt, darum ist es ein wenig SciFi, wenn das auch kaum auffällt, glaube ich.

Anyway, ich hatte ein paar Probleme mit den Vorgaben und so, aber nachdem erst mal eine Idee da war, hatte ich viel Spaß mit der Geschichte und ich mag sie. :) Sie ist allerdings doch etwas anders geworden, als ich gedacht hab und den einen oder anderen Charakter hab ich leider noch nicht so gut im Griff, wie ich das gern hätte.

Das Thema waren die Gesprächsfetzen und offensichtlich ist es auch Eigene Serie. Außerdem hab ich aus den likes-Wünschen doch einen kleinen Mischmasch gebaut und zwar einen anderen, als ich eigentlich wollte. Whatever.
 

Widmung: abgemeldet

Also, ich hoffe, es gefällt.

Ich hab, während ich nach einer Story gesucht hab, festgestellt, das wir uns schon früher mal über den Weg gelaufen sind - die Welt ist echt klein. Als eigentliches Thema wollte ich Freundschaft haben und auch wenn es drin ist, ist es doch etwas in den Hintergrund gerückt. u.u

So, trotzdem viel Spaß mit der Geschichte. ^.^
 

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On helplessness, friendship and hope
 

Es war still in der Bibliothek, nur das leise Klackern von Tastaturen, das Geräusch von Schritten und leise Stimmen von Studenten durchbrachen die Ruhe. Die Regale, die in langen Reihen in den Räumen verteilt waren, schluckten das meiste, und nur an den langen Tischen mit den dort eingerichteten Lernplätzen war es etwas lauter.

Die Deckenlichter gaben ein sanftes, goldenes Licht ab, es roch nach Staub, Papier und, wie Deirdre schwören würde, Ehrwürdigkeit und Wissen. Die zahlreichen flachen Computerbildschirme, die überall verteilt waren, leuchteten in einem kälteren Blau.
 

Dennoch stützen sich viele Studenten auf die traditionellen Mittel, schlugen in Büchern nach, stapelten die dicken Wälzer um sich herum und nutzten nicht immer – und manche sogar recht selten – die technologischen Medien, die ihnen zur Verfügung standen. An anderen Instituten, das wusste Deirdre ganz genau, war es anders. Aber hier handelte es sich immerhin um eine geschichtliche Abteilung und die Professoren hielten dazu an, sich von den gewohnten Pfaden, die man von der Schule kannte, zu lösen und sich zurückzubesinnen. Manche Studenten hatten vorher sogar noch nie ein echtes Buch zur Hand genommen, hatten sich immer auf ihre Computer gestützt, die E-Books und alles, was dazugehörte.

Deirdre fand die Atmosphäre der Bibliothek, die unter anderem auch durch die Bücher und alles, was damit zusammenhing, erzeugt wurde, beruhigend und entspannend. Darum lernte sie am liebsten hier, inmitten all der anderen Studenten, die herumwuselten und teilweise doch recht viel Lärm machten. Aber auf sie hatte das ganze keinen störenden Effekt. Vielleicht konnte sie sich einfach besser konzentrieren als manch anderer.
 

„Wusste ich doch, dass du hier herumsitzt und so tust, als würde etwas in deinem hübschen Köpfchen stecken.“, bemerkte plötzlich eine spöttische, unangenehm schrille (zumindest kam es ihr so vor) Stimme hinter ihr.

Deirdre erstarrte. Da ging die Ruhe und Entspannung hin… Langsam drehte sie sich um und fixierte das junge Mädchen, das da so plötzlich hinter ihr aufgetaucht war. Es war groß, schlank, hübsch und langbeinig, der Typ Frau, dem Männer schon hinterherschauten, wenn sie vorbeiging. Ihr langes, hellbraunes Haar floss ihr wie Seide den Rücken hinunter und sie trug ein grelles, enges T-Shirt mit irgendeinem Bandlogo und V-Ausschnitt, das den Ansatz ihrer wohlgeformten Brüste zeigte. Im Moment hatte sie die vollen, rosa geschminkten Lippen zu einem höhnischen Lächeln verzogen, das ihr gar nicht stand, und ihre Augen waren kalt.

Deirdre seufzte genervt. Madison Boivin war nicht nur die Geisel ihrer Schulzeit gewesen, sie schien zu beabsichtigen, ihre persönliche Fehde auch während der Universität weiterzuführen. „Was willst du? Du hast dich doch nicht nur wegen mir hier hoch gequält, oder? Wenn doch, zieh Leine, es gibt hier Leute, die wollen hier tatsächlich etwas lernen und nicht nur einen Abschluss machen, weil der sich im Lebenslauf gut macht.“ Sie wedelte mit der Hand.
 

Doch Madison lachte nur. „Wo denkst du hin? Warum sollte ich wegen dir einen Umweg machen? Das bist du nicht wert. Ich hab dich nur zufällig gesehen und dachte, ich begrüße dich kurz.“ Sie tätschelte kurz Deirdres Schulter. „Du bist doch etwas ganz außergewöhnlich Abnormes. Wie kann ich da einfach vorbeigehen?“

Das klang, als würde mit Deirdre etwas nicht stimmen. Doch die verzog nur unwillig das Gesicht. „Hau ab. Auf dich wartet doch sicher jemand.“

Madison grinste wieder. „Unhöflich wie immer. Übrigens, wie geht es denn deiner Schwester? Wie ich hörte, ist sie etwas genauso … Besonderes wie du, nur ein wenig anders.“ Die Art, wie sie diesen Satz aussprach, zeigte, dass da tatsächlich etwas war, auf das sie hinauswollte. Etwas, was Deirdre wissen sollte, aber sie verstand die Anspielung nicht.

Mór war ein süßes Ding, ihre geliebte, kleine Schwester, aber sie war noch nie Gegenstand von Madisons bösartigen Bemerkungen gewesen. Vielleicht, weil selbst Hexen wie Madison irgendwo ein Herz haben mussten und sie es bei jüngeren Schwestern fand – sie hatte immerhin selbst eine. Was war denn da kaputt gegangen, dass sich das jetzt plötzlich änderte?
 

Und an Mór war sicher nichts abnorm oder krank, wie Madisons Tonfall andeutete! Deirdre stand heftig auf, bereit, ihre kleine Schwester vor irgendwelchen blöden Anschuldigungen zu beschützen. „Lass bloß meine Schwester da raus! Sie hat nichts mit uns zu tun! Von was redest du überhaupt!?“

Über das Gesicht ihrer Lieblingsfeindin huschte kurz ein verdutzter Ausdruck – hatte sie tatsächlich erwartet, Deirdre würde sie verstehen mit ihrer geheimnisvollen Andeutung? „Ach, verpiss dich doch einfach.“, knurrte sie.

Madison lächelte jedoch nur leicht, ein berechnender Ausdruck in den Augen, und Deirdre konnte sehen, wie sich hinter ihrer Stirn die Zahnräder drehten. Was auch immer sie von Mór dachte, sie überlegte gerade, wie sie es am besten benutzen konnte, um deren großer Schwester zu schaden. Gut, dass es da nichts gab.

„Wie du wünschst.“, antwortete Madison und hinter ihrem Lächeln verbarg sich pures Gift. „Wir sehen uns dann.“ Winkend schritt sie auf hochhakigen Schuhen davon.
 


 


 

Ihr Smartphone vibrierte gerade, als sie aus der U-Bahn stieg. Verwirrt zog Deirdre das flache Gerät aus der Tasche und blickte auf die Anzeige. Mrs. Huxley stand auf dem Bildschirm, unter einem Bild von Mórs Schule – ihre Klassenlehrerin. Verwirrt runzelte Deirdre die Stirn und fragte sich, was die Frau wollte.

Sie hatte gerade eben mit ihrer kleinen Schwester telefoniert und ihr versichert, gleich zu Hause zu sein. Es konnte also nichts passiert sein. Mór hatte sich etwas aufgelöst angehört, aber sie war sicher in dem Apartement. Also konnte es nicht sein, dass sie einen Unfall gehabt hatte oder etwas Ähnliches geschehen war.

Und etwas angestellt hatte sie sicher nicht. Mór mochte ein Faible für Streiche haben und manchmal eine zu freche oder patzige Antwort geben, aber bis jetzt hatte noch nichts davon einen Anruf bei den Eltern – oder wie in ihrem Fall bei der großen Schwester, weil ihr Vater ständig unterwegs und die Mutter tot waren – gerechtfertigt.

Was wollte die Lehrerin denn dann? Nun, es gab wohl nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
 

Während sie die Treppe zur Straße hochlief, nahm sie den Anruf entgegen und hielt das Telefon an das Ohr. „O’Leary.“, meldete sie sich und wurde auch gleich mit einer angenehmen, dunklen Stimme in äußerst korrektem Englisch begrüßt: „Guten Tag, Miss O’Leary. Hier spricht Mrs. Huxley, die Klassenlehrerin ihrer Schwester?“

„Ja, ist … ist etwas geschehen?“ Jetzt schlich sich doch ein besorgter Tonfall in ihre Stimme. Vielleicht war Mór wegen so etwas so beunruhigt gewesen? Und manchmal hatte sie äußerst seltsame Prioritäten… Vielleicht hatte sie doch einen Unfall gehabt und freute sich jetzt, dass sie ein paar Tage zuhause bleiben konnte. Aber dann hätte man die Familie schon vorher benachrichtigt, richtig?

„Ja, das kann man wohl sagen.“, antwortete die Pädagogin vorsichtig. „Aber … sicher nichts von dem, an das Sie jetzt denken. Ihrer Schwester geht es gut.“

Deirdre grinste und strich sich das lange, dunkelbraune Haar aus der Stirn, das der Wind ihr ins Gesicht trieb, als sie endlich auf die Straße trat. Um sie herum ragten die monströsen Wolkenkratzer der Stadt in den Himmel, mächtige, ein oder zwei kilometerlange Blöcke aus Beton, Metall und Glas. Straßen, Wege und Plattformen zogen sich zwischen ihnen kreuz und quer durch die Luft und UV-Lampen spendeten Helligkeit.

Manchmal, wenn sie in einer bestimmten, komischen Stimmung war, stellte sie sich an ein Geländer, welche überall die Ränder begrenzten. Dann blickte sie nach unten in die Tiefe, die sich irgendwann in Dunkelheit verlor, hunderte Meter unter ihr, wo man den Boden nicht mehr sehen konnte – vermutlich nicht einmal könnte, wenn genug Licht da wäre.
 

Aber das spielte jetzt wohl keine Rolle. Sie konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. „Ich weiß, ich habe gerade mit ihr gesprochen. Was gibt es?“

Für einen Moment blieb es still, dann fragte die Lehrerin mit einem forschen Unterton in der Stimme: „Hätten Sie Zeit, kurz in der Schule vorbeizukommen?“

Das brachte Deirdre für einen Moment zum Stocken. Vorbeikommen? In der Schule? Es musste wirklich etwas äußerst Ernstes vorgefallen sein, wenn Mrs. Huxley sie vorlud. „Wi…wieso, was ist passiert? Ich muss … ich muss erst zu Mór, ich hab ihr versprochen, gleich Zuhause zu sein und meine Hausaufgaben und… Ich…“ Sie unterbrach sich. Was stammelte sie hier so herum? „Geht es morgen auch? Heute habe ich wirklich keine Zeit mehr.“

Auf der anderen Seite war es still und sie konnte beinahe hören, wie sich die Zahnräder im Kopf der Lehrerin drehten, als sie nachdachte. Sie schloss für einen Moment die Augen und hoffte, ehe sie sich wieder auf ihren Weg konzentrierte und sich an den Menschen vorbeidrängte, die ihr entgegenkamen oder in die gleiche Richtung liefen wie sie. Sie wollte jetzt einfach nur nach Hause, Mór sehen und wissen, dass es ihr wirklich gut ging.
 

„Nein, ich glaube, solange kann es nicht warten, Sie müssen das wirklich jetzt erfahren.“, erklärte Mrs. Huxley bestimmt. „Aber dann muss ich es ihnen einfach so sagen. Ich wollte das eigentlich nicht am Telefon besprechen, weil es so ernst ist, aber …“ Die Stimme der Frau verklang. Anscheinend wusste sie auch nicht ganz, wie sie die Sache angehen sollte. „Vermutlich spielt es sowieso keine Rolle. Also hören Sie gut zu. Ich werde das nur einmal sagen.“ Die Lehrerin verstummte erneut, aber dann rückte sie endlich mit der Sprache heraus: „Heute im Sportunterricht gab es einen Zwischenfall.“

Deirdre überkam es heiß und kalt. Sie hatte ihre eigenen schlechten Erinnerungen an den Sportunterricht und nicht wenige davon hingen mit Madison zusammen. Und für manche Blamage dort würde sie heute noch gern im Erdboden versinken. Hoffentlich war es nicht so etwas?! Mór war doch immer bei allen so beliebt gewesen…?

„Ich dachte immer, Mór wäre einfach nur etwas schüchtern, weil sie sich immer im Klo einschließt, wenn sie sich umziehen soll, aber heute habe ich zufällig herausgefunden, was wirklich los ist.“, fuhr die Lehrerin rasch fort.

Das hörte sich doch gar nicht so schlimm an…?
 

Aber Mrs. Huxley holte tief Luft. „Ihre Schwester ist eine Mutantin, Miss O’Leary.“

Deirdre erstarrte abrupt und bemerkte den Kerl, der dadurch beinahe in sie hineinlief, und seine Beschimpfungen kaum. „Wa… was? Bitte?“

„Ich… bitte, Sie haben mich verstanden und ich mache keine Witze darüber. Ich habe es niemand anderem gesagt und werde das auch nicht tun. Aber ich glaube, Sie sollen das wissen.“

Deirdre konnte sich noch immer nicht rühren, stand mitten auf dem Gehweg und hielt den Verkehr auf, der um diese Uhrzeit allerdings sowieso nicht so groß war. Diese Neuigkeit kam so völlig überraschend… Sie hatte rein gar nichts bemerkt. Seit wann…? Und warum war ihre kleine Schwester nicht zu ihr gekommen? Sie war doch immer für sie da gewesen? Ihr war zum Heulen zumute. Was sollte sie jetzt tun?
 

„Ich… Da…danke.“, murmelte sie. Sollte sie ihren Vater anrufen? Aber was konnte der schon tun? Der war doch sowieso nie da… Nein, das war etwas, um das sie sich kümmern müsste, auch wenn sie sich im Moment so verdammt hilflos fühlte… „Ich…“

Mrs. Huxley unterbrach sie: „Ich kann Ihnen auch nicht helfen, Miss O’Leary. Aber ich glaube, sie sollten mit Mór darüber sprechen und dafür sorgen, dass es sonst niemand herausfindet. Ich kann nur noch einmal sagen, dass das von mir niemand erfahren wird und es ein Geheimnis bleiben wird. Ich … habe so etwas noch nie gesehen. Diese Mutationen nehmen doch ein größeres Ausmaß an, als man in den Nachrichten so hören kann…“ Die Stimme der Frau verklang. „Ich… Auf Wiederhören, Miss O’Leary.“ Die letzten Worte waren sanft, aber nachdrücklich. Anscheinend hielt die Lehrerin es tatsächlich für besser, wenn sie sich nicht weiter in die Sache einmischte – beziehungsweise, wenn sie sich nicht damit befassen musste. Deirdre verstand sie.

„Ja… ich … danke, vielen Dank. Guten Abend noch.“ Die letzte Phrase kam ihr hohl und leer vor, aber sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Mechanisch schob sie das Smartphone wieder in ihre Tasche und lief los, noch rascher als vorhin. Sie wollte so schnell wie möglich ihre kleine Schwester sehen und sich vergewissern, dass es wirklich wahr war. Dass ihre kleine Schwester, ihre süße Mór, tatsächlich eine Mutantin war.

Aber warum sollte die Lehrerin lügen? Sie hatte so besorgt geklungen und aufrichtig… Aber da war das kleine Fünkchen Hoffnung, das bald erlöschen wurde. Solange das noch bestand, solange sie noch nichts gesehen hatte, konnte sie es noch ignorieren, das riesige Problem, das da auf sie wartete.
 

Deirdre schloss die Haustür auf, die in das Mehrfamilienhaus führte, eilte an dem Concierge in der großen, freundlichen Eingangshalle vorbei und wartete nicht erst auf den Aufzug, sondern stürmte die drei Treppen zu Fuß hoch. Da ihr Vater, trotz all seiner Unverantwortlichkeit nicht schlecht verdiente, lebten sie in einem äußerst luxuriösen Apartment in einem der besseren Teile der Stadt. Alles war sauber, sicher und hell. Und die Leute achteten die Privatsphäre.

„Mór?“, rief sie den Flur hinunter, kaum dass sie die Wohnungstür aufgestoßen hatte. „Morag, bist du da?“

Die Tür fiel hinter ihr wieder ins Schloss und einen Moment später kam Mór schon um die Ecke geschossen und warf ihre Arme um Deirdre. „Du bist da!“, rief sie und ihr Griff war beinahe zu eng.

Die Schwestern sahen sich sehr ähnlich – beide hatten sie dichtes, dunkles Haar, das ihnen lang über die Schultern fiel, und erstaunlich grüne Augen, auch wenn Mórs heller waren und vermischt mit einem freundlichen Braun. Auch ihre Gesichtszüge wirkten beinahe wie aus einem Guss und sie hatten beide die langgliedrige Gestalt der Mutter geerbt. Doch das neunjährige Kind hatte natürlich noch nicht die hochgewachsene, kurvige Figur ihrer großen Schwester.
 

„Hey, Morag.“, begrüßte sie das Mädchen zärtlich und ließ ihren Rucksack einfach fallen. Sie löste sich aus der Umklammerung, wuschelte der Kleinen durch das weiche Haar und fragte sich, wie sie anfangen sollte. Was sie sagen sollte. Wie sie fragen sollte. Was sie tun sollte.

„Morag… Mór. Deine Lehrerin hat mich eben angerufen.“ Die Angesprochene starrte sie aus riesigen, glänzenden Augen an und Entsetzen stand in ihr Gesicht geschrieben. Anscheinend wusste sie ganz genau, auf was Deirdre hinauswollte. „Wegen … wegen dem, was im Sportunterricht vorgefallen ist.“

Mór blickte zu Boden. Und dann fing sie an zu weinen.
 


 


 

Es hatte ewig gedauert, Mór zu beruhigen. Die ungelenken Worte ihrer Schwester hatten sie völlig aufgewühlt und so verängstigt, dass Deirdre zuerst nicht gewusst hatte, was sie sagen sollte. Was sie denken sollte. Was sie tun sollte. Die Hilflosigkeit, die sie seit Mrs. Huxleys Anruf ergriffen hatte, hatte sie auch hier nicht verlassen, war nur noch stärker geworden.

Mórs Worte – „Bitte, jag mich nicht weg.“ „Bitte, ich werde auch keine Streiche mehr spielen, ich werde ganz brav sein.“ „Bitte, ich will hier bleiben.“ „Bitte, bitte, bitte.“ – hatten alles nur noch schlimmer gemacht. Als ob sie ein Monster wäre, das seine kleine Schwester fressen würde, wegen … wegen … wegen so etwas. Als ob es Mórs Schuld wäre. Als ob es irgendetwas ändern würde. Als ob sie darum gebeten hätte. Als ob sie dadurch zu dem Monster geworden wäre. Als ob!

Und Deirdre bekam das Bild trotzdem nicht aus dem Kopf.

Das Bild von den türkis- und jadefarbenen, geschmeidig wirkenden Schuppen, die sich über Mórs Rücken ausbreiteten, ausgehend von der Wirbelsäule.

Egal, wie sehr sie sich dagegen wehrte, ihre Gedanken kehrten immer wieder dorthin zurück. Es war grotesk. Es war verrückt. Es war zum Heulen. Erneut blickte sie zu ihrem Smartphone hinüber, das auf dem kleinen Glastisch lag, der neben dem Fenster stand. Davor breitete sich Dunkelheit aus, nur die Straßenlampen und zwei oder drei erleuchtete Zimmer bildeten winzige Quellen des Lichts in etwas, das aussah wie ein Abgrund.
 

Sie hatte nur eine der Lichterleisten in der Decke an gelassen, ansonsten lag die gesamte Wohnung im Dunkeln.

Mór schlief jetzt endlich auf dem breiten Sofa, das an der anderen Wand stand, und morgen würde sie nicht zur Schule gehen. Deirdre würde nicht zur Uni gehen – sie würde sich sowieso auf nichts konzentrieren können. Aber sie musste dennoch eine Lösung finden.

Wieder wanderte ihr Blick zu dem Telefon hinüber. Sie konnte damit nicht allein fertig werden. Sie brauchte jemand, mit dem sie sprechen konnte. Mit dem sie denken konnte. Und da gab es sicher nicht viele.

Mit einem lauten Seufzen griff sie nach dem kleinen Gerät und klickte sich ins Telefonbuch. Sie flippte hindurch, bis sie zu einem Namen kam. Papa stand da, aber sie zögerte. Sollte sie ihn anrufen? Was wenn er mit einer mutierten Tochter nichts zu tun haben wollte? Würde er dem allgemeinen Strom der Gesellschaft folgen? Die Mutanten ausstoßen, verteufeln, verachten?

Wie traurig war es, dass sie keine Antwort auf diese Frage geben konnte?
 

Deirdre hatte, wenn sie ehrlich war, vorher noch nie Gedanken darüber gemacht, sie nur am Rande mitgekriegt, die Mutantenproblematik. Sie war nicht politisch interessiert, sie hatte sich nur wenig über gesellschaftliche Streitfragen informiert, sie hatte von all dem nichts wissen wollen. Sie hatte genug eigene Probleme. Sie wusste nur, was jeder wusste, aber sie wusste durchaus, dass sie sich daraus kein Urteil erlauben durfte. Dazu hatte sie einfach zu wenige Informationen, die nicht verdreht, durcheinander oder aus der Luft gegriffen waren.

Das Mutanten-Problem, sagten die Medien.

Die Mutanten-Bedrohung, sagten die Politiker.

Die Zukunft, sagten einige Wissenschaftler.

Aber das waren so wenige, dass ihre Stimmen in der Flut der Gegenteiligen untergingen – sie hatte nur einmal in einer alternativen Zeitschrift darüber gelesen und das auch nur, weil dieser Artikel so anders gewesen war und sich so abhob von der öffentlichen Meinung und etwas anderes sagte als das, was sowieso jeder wusste – oder glaubte zu wissen.

Sie hatte keine Meinung über dieses Thema.

Was war es sie angegangen? Sie hatte genug zu tun, sich um ihre Schwester zu kümmern, ihr Studium voranzutreiben und nebenbei mit ihren Freunden noch ein wenig Spaß zu haben. Zu mehr fehlte ihr einfach die Zeit.
 

Wenn sie selbst keine Meinung dazu hatte, wie konnte sie von ihrem Vater eine erwarten? Wie konnte sie eine Entscheidung von ihm erwarten? Dazu war er nie bereit gewesen… Ja, sie liebte ihren Vater. Aber ihr war bewusst, dass es bessere Väter gab, bessere Männer, die nicht einfach von der Verantwortung davonliefen, nur weil ihnen die Frau wegstarb. Und genau das hatte Meallán O‘Leary getan.

Es war Deirdre gewesen, die die Verantwortung übernommen hatte, für sich und für Mór und sogar ein bisschen für ihn. Sie war da gewesen, sie hatte die Rolle ihrer Mutter eingenommen, obwohl sie selbst noch trauerte, sie hatte alles getan und er war nur weggelaufen.

Nein, ihn konnte sie jetzt nicht anrufen. Was konnte sie von ihm schon erwarten?

Sie scrollte wieder nach oben, bis sie einen anderen Namen erreichte, den, an den sie sich immer wandte, wenn sie Rat brauchte. Jay stand da und sie ließ das kleine Gerät die Verbindung herstellen.

Die Zeit, die Jayden Dalton brauchte, um abzunehmen, kam ihr wie eine Ewigkeit vor und sie fragte sich mit jedem vergehenden Augenblick, ob das so eine gute Idee gewesen war. Aber sie konnte jetzt nicht einfach auflegen und … sie vertraute Jayden, er war wie der Bruder, den sie nicht hatte. Sie kannten sich schon ewig und drei Tage – immer, im Grunde seit dem Kreißsaal. An wen sollte sie sich sonst wenden?
 

„Ja?“, meldete sich schließlich seine verschlafene, dunkle Stimme und Deirdre ließ die Luft entweichen, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie sie anhielt. „Jay?“, wollte sie wissen und wunderte sich selbst darüber, wie dünn ihre Stimme klang. „Jay, ich…“

„Deirdre?“ Jetzt klang er wacher. „Deirdre, es ist … zwei Uhr in der Nacht. Was ist passiert?!“ Seine Stimme war alarmiert und sie konnte das Rascheln der Bettdecke im Hintergrund hören. Das war eine der Eigenschaften, die sie so an ihm liebte. Er beschwerte sich nicht, er jammerte nicht, er wunderte sich nicht. Er war da, wenn sie ihn brauchte.

„Ich…“ Sie zog die Nase hoch und merkte, dass sie weinte. „Ich…“ Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Wie konnte sie ihm das auch erklären? Und dann noch über das Telefon?

„Okay.“, erklärte Jayden. „Ich bin gleich da. Ich ruf dich dann wieder an, damit du mich reinlassen kannst.“

„Danke.“, antwortete sie und beendete den Anruf. Sie zog ihre Strickjacke enger um sich und schniefte. Eigentlich war es die Jacke ihrer Mutter, aber sie hatte sie geerbt und seitdem trug sie sie, wenn es ihr schlecht ging oder wenn sie sich an etwas festhalten musste. Es hatte immer eine beruhigende Wirkung auf sie gehabt – als wäre ihre Mutter noch immer da. Sie wüsste jetzt sicher, was zu tun war.
 

Wie lang würde es dauern, bis Jayden da war? Er wohnte nicht in ihrem Viertel, das konnte seine Familie sich nicht leisten. Aber so weit weg war er nun auch wieder nicht. Und die U-Bahnen fuhren ja zu jeder Tages- und Nachtzeit und zur Not konnte er sicher das Auto nehmen und….

Sie sprang auf und lief unruhig hin und her. Ihr Blick wanderte immer wieder zu der beleuchteten Uhr, die im Flur hing. Die Zeiger schienen quälend langsam voranzuschleichen. Als Mór unruhig wurde, verließ sie das Wohnzimmer, schnappte sich einen Schlüssel und lief in die Eingangshalle hinunter. Sie konnte ja ebenso gut hier warten wie oben in der Wohnung. Hier lief sie wenigstens nicht in Gefahr, ihre kleine Schwester zu wecken, was sie auf keinen Fall wollte.

Der Nachtwächter warf ihr zwar einen seltsamen Blick zu, aber sie ignorierte ihn völlig. Erst, als Jayden an die gläserne Eingangstür klopfte, gab sie dem Mann ein Zeichen, dass alles in Ordnung war und der Junge vor dem Gebäude keine Gefahr darstellte, sondern zu ihr gehörte.
 

Jayden grinste sie an, als er eintrat. Er war so alt wie sie, zwanzig, wirkte aber manchmal älter und meistens jünger. Im Moment traf trotz des Grinsens ersteres zu.

Sein schwarzes Haar fiel ihm unordentlich in das gutaussehende Gesicht – er schien sich nicht damit aufgehalten haben, sich zu kämmen – und seine stechend blauen Augen blickten sie forschend an. Sein Vater war schwarz gewesen, weswegen seine Haut einen viel dunkleren Ton hatte als ihre und der einzelne Goldohrring in seinem linken Ohr hob sich deutlich davon ab. Er trug alte Jeans, eine Lederjacke über dem T-Shirt und wie gewohnt die Kette mit den beiden Dogtags seiner Eltern.

„Scheiße, du siehst aus, als hätte dich ein Bulldozer überrollt oder so.“, bemerkte er und legte ihr den Arm um sie. Deirdre schluchzte und ließ sich von ihm nach oben und in die Wohnung dirigieren. Ein Blick in das Wohnzimmer zeigte ihm, dass das im Moment kein guter Ort für eine Unterhaltung war, also schob er die Tür zu und brachte sie in die Küche. „Soll ich dir einen Kakao machen?“
 

„Ich…“, begann Deirdre wieder und sank auf einen der Barhocker. Dann nickte sie. „Bitte.“ Während er sich so leise wie möglich an die Arbeit machte – er kannte sich in ihrer Küche mindestens ebenso gut aus wie in der eigenen, wenn nicht sogar besser – starrte sie auf ihre verschränkten Hände und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln.

Als er ihr schließlich die große, bauchige Tasse mit dem Katzenmotiv darauf unter die Nase schob, zuckte sie zusammen, ehe sie das Gefäß entgegennahm. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen war. Er hatte sich selbst auch eine Tasse gemacht und wie er ihr jetzt da so gegenübersaß, die lange, athletische Gestalt auf den Stuhl gefaltet, den grellgrünen Becher mit der dampfenden Flüssigkeit darin in der Hand, das Gesicht ernst, hatte etwas ungemein Beruhigendes auf sie.

Jemand, der ihn nur flüchtig kannte, nur aus dem Unterricht oder so nebenbei würde ihn nicht wiedererkennen. Eigentlich war Jayden ein Spaßvogel. Jemand, der keinen noch so peinlichen oder blöden Witz auslassen konnte. Jemand, der das Leben auf die leichte Schulter nahm und zu allem eine dumme Bemerkung hatte. Aber sie wusste, dass noch viel mehr in ihrem Sandkastenfreund steckte. Dass er jetzt nichts fragte, sondern nur an seiner Tasse nippte, zeigte das nur einmal mehr.
 

Sie versuchte, ihre Erlebnisse dieses Abends zusammenzufassen und zu erklären und setzte mehrmals dazu an. Aber sie wusste einfach nicht, wie sie beginnen sollte. Schließlich, als er sie über seiner geleerten Tasse hinweg fixierte, wollte sie nicht länger herumdrucksen. „Heute hat mich Mrs. Huxley angerufen.“

Verwirrt zog er die Augenbrauen hoch. „Wer…?“

„Morags Klassenlehrerin. Sie … es gab im Sportunterricht einen Zwischenfall und…“ Sie verstummte. Wie sollte sie es ihm sagen?

„Morag geht es doch gut, oder?“ Er blickte beunruhigt in die Richtung des Wohnzimmers, wo die Kleine auf dem Sofa schlief.

„Ja, sie … naja. Sie ist nicht verletzt oder so.“ Deirdre hob hilflos die Schultern. „Sie ist … sie ist eine Mutantin, Jay…“ Sie schluchzte. „Ich… sie war völlig durch den Wind, als ich sie danach gefragt hab. Und jetzt schläft sie, weil sie so total fertig ist und nicht, weil sie es will. Ich war grad auf dem Nachhauseweg und noch völlig mit den Gedanken bei meinem Seminar und diese blöde Kuh Madison hat mich heute auch genervt und dann das noch und Mór hat mir nichts davon gesagt, Jay! Sie hat sich mir nicht anvertraut und sie hat darum gebettelt, dass ich sie nicht rauswerfe, als ich gefragt habe und bin ich so eine schlechte Schwester, dass sie mir nicht mal mehr so weit vertraut, dass ich sie nicht auf die Straße setze?! Und…!“
 

„Warte.“, fiel er ihr ins Wort und griff über den Tisch nach ihrer Hand. „Alles der Reihe nach. Wie war das mit dem Nachhauseweg?“

Deirdre atmete tief ein und aus und versuchte, sich unter Kontrolle zu bekommen. „Mrs. Huxley… sie hat mich erwischt, als ich aus der U-Bahn ausgestiegen bin. Egal. Ich bin sofort heim und … ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Also … hab ich Mór einfach darauf angesprochen.“ Deirdre spürte wieder, wie die Tränen ihr in die Augen sprangen, aber sie wischte sie wütend weg. Sie wollte nicht schon wieder heulen. Sie war die große Schwester, die, die immer alles unter Kontrolle hatte und immer wusste, was getan werden musste.

Geräuschvoll zog sie die Nase hoch und nahm einen Schluck ihres inzwischen beinahe kalten Kakaos. „Sie … sie hat sofort angefangen zu weinen.“, flüsterte sie dann. „Ich weiß nicht, wie lange sie das jetzt schon mit sich herumträgt und ich habe es noch nicht einmal gemerkt. Sie muss sich solche Sorgen gemacht haben – ich weiß nicht, woher sie die dumme Idee hat, ich könnte sie verstoßen deswegen und … und …“
 

Sie schluchzte und ihr fiel auf, dass das, was sie an diesem Abend tatsächlich am meisten mitgenommen hatte, die Tatsache war, dass ihre kleine Schwester ihr nicht genug vertraute, um es ihr zu sagen. Dass sie darüber sogar annahm, sie nicht mehr in der Familie haben zu wollen. Das tat weh.

„Das Glück ist nur ein Traum“, bemerkte Jayden leise und drehte seine Tasse in den langen Fingern. „und der Schmerz ist wirklich.“

Deirdre stieß ein leises Lachen aus. Wie wahr das heute klang und wie wenig wahr wollte sie es haben! „Wer hat das gesagt?“, erkundigte sie sich.

„Voltaire.“, antwortete Jayden einfach, dann zuckte er mit den Schultern. „Was wollt ihr jetzt tun?“ Er stellte die Frage, als wäre das keine große Angelegenheit. Als wäre sie nicht verwirrt darüber und nicht verletzt, weil Mór ihr nichts gesagt hatte, und nicht völlig am Boden zerstört, weil das so vieles aus der Bahn warf. Als wäre es kein großes Problem, dass Mór eine Mutantin wäre.

„Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Was soll ich jetzt tun? Es ist nicht so, als könnte ich das einfach ignorieren, als könnte ich es wegmachen oder verleugnen oder so! Ich will es nicht mal Papa erzählen!

Mrs. Huxley will es übrigens für sich behalten und ich glaube, wir können ihr trauen. Sie ist immerhin zuerst zu mir gekommen, oder? Das würde keinen Sinn machen, wenn sie danach die Behörden informieren will. Aber wenn es jemand anderes herausfindet? Und was soll ich überhaupt jetzt tun? Was, wenn irgendein Wissenschaftler davon Wind bekommt? Es ist anders als von jeder Mutation, von der ich je gehört habe und sie werden es sicher untersuchen wollen und dann werden sie mir Mór wegnehmen und sie wird ganz alleine sein und so verängstigt, weil diese Typen Experimente mit ihr machen werden und sie wi…“
 

„Halt!“ Er hob eine Hand und rutschte von seinem Barhocker. Anscheinend hatte er jetzt doch genug von ihrem wilden Gerede und den verrückten Mutmaßungen.

„Was denn nun schon wieder?“, fuhr sie ungeduldig auf.

„Ich muss mal für kleine Königstiger.“ Er stellte seine Tasse ab. „Und du überlegst dir währenddessen, wie du das formulieren willst – du plapperst.“ Damit verschwand er aus der Küche und kurz darauf hörte sie die Toilettentür.

Sie starrte ihm nach und atmete tief ein. Er hatte natürlich recht. Sie plapperte. Sie wurde hysterisch. Aber ihre Familie – und damit schloss sie Jayden und seine engsten Verwandten mit ein – war der einzige Punkt, über den sie wirklich angreifbar war. Weil sie ihr einfach so wichtig waren, dass ihr allein bei dem Gedanken, einen von ihnen in Gefahr zu wissen oder gar befürchten zu müssen, jemanden aus diesem kleinen Kreis zu verlieren, das Herz brach. Nein, das durfte sie auf keinen Fall zulassen.
 

Als Jayden zurückkam, lächelte sie ihn tapfer an. Sie wusste noch immer nicht mehr als vorhin, aber immerhin hatte sie sich wieder so weit unter Kontrolle, dass sie sich bereit fühlte, darüber zu sprechen und Pläne zu machen.

Ihr Verstand lief bereits auf Hochtouren. Mrs. Huxley würde nichts erzählen, das stand für sie fest. Alles andere würde sowieso keinen Sinn ergeben. Mór hatte es so lange selbst vor ihr verheimlicht, sie konnte diese Scharade weiterführen. Und Deirdre selbst konnte Geheimnisse für sich behalten, das hatte sie Mal um Mal, wann immer ihr jemand eines anvertraut hatte, bewiesen.

Aber sie konnte sich nicht ewig darauf verlassen, dass es verborgen blieb, und was, wenn es sich noch weiter ausbreitete? Irgendwann würde es herauskommen und wenn es so weit war, wollte sie vorbereitet sein. Alles würde sie für ihre Schwester tun.

Und – oh Gott! Ihre Augen weiteten sich entsetzt. Madison…!
 

„Was ist?“, wollte Jayden beunruhigt wissen und folgte ihrem Blick, aber natürlich war da nur die Wand.

„Ich… Madison hat heute so eine komische Bemerkung fallen lassen. Zu dem Zeitpunkt hat sie keinen Sinn gemacht, aber jetzt…“ Jetzt sah sie das in einem ganz anderen Licht.

Wie ich hörte, ist sie etwas genauso … Besonderes wie du, nur ein wenig anders.

Aber nein, das konnte nicht sein! Woher sollte Madison von etwas wissen, was bis vor ein paar Stunden nicht einmal sie selbst gewusst hatte? Unwahrscheinlich…!, erklärte ihr Gehirn, aber es verstummte sehr schnell, als sie sich erinnerte, dass Madisons kleine Schwester Lauren in Mórs Klasse ging. Ob Lauren etwas gesehen hatte?

Deirdre wurde es eiskalt. Was sollte sie nur tun?
 


 


 

Marc O’Sullivan war kleiner als Jayden, schlank und blond. Er hatte allerdings auch so gut wie immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen und seine braunen Augen funkelten stets, als wäre ihm gerade eben etwas besonders Tolles zugestoßen.

Es gab niemanden, der ihn nicht mochte, so viel stand fest. Deirdre ging es nicht anders – Marc war einfach freundlich, immer gut gelaunt, höflich zu jedem, aber nicht zu gesittet. Bei ihm war das keine Frage der Erziehung, der Laune oder der Stimmung, sondern der Lebenseinstellung.

„Goody two shoes.“, hatte Jayden treffend gesagt, als er den Jungen zum ersten Mal gesehen hatte, und er hatte damit recht. Aber nicht einmal er hatte es zu höhnisch gemeint, auch wenn er sonst gerne über solche Leute herzog.

Marc O’Sullivan war in drei von Deirdres Vorlesungen und allen ihren Seminaren, denn er hatte genau die gleichen Studienfächer wie sie und sie hatten gemeinsam begonnen. Darum waren sie sich gleich am ersten Tag hier begegnet und hatten sich bekannt gemacht. Seitdem hatten sie schon zwei oder drei Projekte gemeinsam gemacht, waren unzählige Male miteinander und ein paar anderen in die Cafeteria gegangen und hatten einige Lernabende zusammen verbracht. Das würde ihnen jetzt zu Gute kommen, ihr, Mór und Jayden.
 

Marc O’Sullivan war nämlich auch der erste Schritt zur Lösung ihres Problems.

Zu diesem Schluss waren sie am letzten Tag zumindest gekommen. Denn Marc O’Sullivan war nicht nur stets zuvorkommend, er hatte auch zu vielem, was gerade in den Schlagzeilen oder irgendeinmal dort gewesen war, eine Meinung, auch zu Mutanten. Und auch wenn er diese Meinungen selten lautstark verkündete, so konnte man sie doch aufschnappen, wenn man zuhörte.

Seine Meinung über Mutanten war die, dass sie auch nur Menschen waren, die ihr Recht auf Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung hatten. Es war keine Meinung, die viele Leute mit ihm teilten, sahen die meisten Menschen doch die Gefahr, die von den gefährlichen, abnormalen Mutanten ausging, aber er hatte sie stets fest vertreten, unbeirrbar. Das war Mut einer ganz eigenen Art und es ließ Hoffnung in Deirdre aufflammen.

„Er könnte uns verraten, sobald er davon Wind bekommt.“, bemerkte Deirdre leise und beobachtete den jungen Mann von ihrem Sitzplatz auf der Treppe aus.

„Möglicherweise.“, gab Jayden lapidar zu, klang aber nicht so, als wolle er versuchen, ihr das Vorhaben auszureden. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

„Möglicherweise aber auch nicht.“, widersprach sie sich selbst und drehte den Pappbecher mit ihrem To-Go-Kakao darin.
 

Sie hatten das Thema gestern zu genüge durchgekaut. Keiner von ihnen konnte sich vorstellen, dass Marc sie hintergehen würde, dass er sie verraten würde und morgen die ganze Welt von Mórs besonderem … Zustand wusste. Also hatten sie sich gedacht, sie horchten ihn aus.

Vielleicht kannte er jemanden, der jemanden kannte. Vielleicht hatte er selbst ein paar Kontakte. Vielleicht war er irgendwo aktiv. Die eine oder andere Bemerkung, die er hatte fallen lassen, konnte man auf diese Art deuten. Vielleicht hatten sie ausnahmsweise mal Glück.

„Worauf wartest du noch?“, fuhr Jayden ihr in die Gedanken. „Darauf, dass er aufspringt und ihm Flügel sprießen?“

Sie nahm einen Schluck ihres Kakaos. „Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.“, gestand sie, anstatt einfach zu sagen „Ich trau‘ mich nicht.“

„Dann trink dir noch einen Schluck Mut an, steh auf und geh einfach rüber. Du wirst schon ein paar passende Worte finden. Und die Gelegenheit ist perfekt, so oft sieht man ihn nicht ohne irgendwelche Begleitung.“

Damit hatte Jayden Recht. Marc hatte gern Leute um sich, auch wenn er eher selten der Mittelpunkt war. Aber im Moment saß er allein an einem Tisch etwas abseits, während was abseits von ihm Trubel herrschte. Er hatte ein paar Bücher um sich herum ausgebreitet und sein Tabletcomputer lag vor ihm auf der Tischplatte. Doch er saß einfach nur da, den Kopf auf die aufgestützte Hand gelehnt, und starrte ins Leere.
 

Deirdre nahm den Schluck, aber sie stand nicht auf, also tat Jayden es für sie. „Aufauf, Darling. Deine Probleme lösen sich nicht von allein.“ Damit marschierte er den Rest der Treppe hinunter und Deirdre blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sie wuchtete ihre schwere Tasche auf die Schulter und rannte hinter ihm her.

Marc blickte auf, als sie sich neben seinem Tisch aufbauten. Für einen Moment wirkte er verwirrt, dann breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht aus. „Hey, Deirdre.“, begrüßte er das Mädchen. „Und … Jayden, richtig?“ Es war erstaunlich, dass er sich den Namen gemerkt hatte, obwohl die beiden sich nur einmal kurz getroffen hatten, sozusagen im Vorübergehen.

Der Angesprochene verbeugte sich halb im Scherz. „Stets zu Diensten, oh Großmeister der immerwährenden Freundlichkeit.“

Marc musterte ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck und schien zu beschließen, auf bekanntem Gebiet zu bleiben, denn er bot an: „Setzt euch doch oder müsst ihr gleich wieder weg?“

„Nö.“ Jayden ließ sich auf einen der freien Stühle fallen.

Deirdre tat es ihm etwas gesitteter nach. „Wir wollten eigentlich mit dir sprechen.“, erklärte sie, bevor ihr bester Freund eine Bemerkung machen konnte, die schlecht für ihr Vorhaben war.

Marc klappte das Buch zu, das vor ihm lag, eines, das sie selbst auch noch lesen musste, wie sie abwesend bemerkte. „Klar, schieß los.“ Erwartungsvoll blickte er sie an.
 

So weit, so gut. Aber was jetzt? Wie fing man ein solches Gespräch am besten an, wie konnte sie sich vorsichtig an dieses Thema herantasten, ohne das Marc sofort wusste, worauf sie hinaus wollte und warum? Hinten herum beginnen?

„Kennst du dich mit Bürgerrechtsbewegungen aus? Irgendwelche aktiven Gruppen, die sich für so was einsetzen?“, fragte sie eilig und fragte sich, ob er sie überhaupt verstanden hatte. „So, zum Beispiel für Mutanten oder so?“

Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie fast denken, dass er wachsam geworden war. „Wie…? Warum das denn? Willst du dich etwa politisch engagieren?“, neckte er sie, da er wie alle ihre Freunde und engeren Bekannten wusste, dass das ein Gebiet war, gegen das sie sich immer gestemmt hatte. Sie sagte jedem, der es hören wollte, dass sie so viel zu tun hätte, dass sie sich darum nicht auch noch kümmern konnte.

„Naja, nee, eigentlich ist das eine Art privates Projekt.“, wich sie aus. „Jedenfalls… Dachte ich, dass du mir vielleicht helfen kannst? Du bist immer noch der, der da irgendwie … am meisten Erfahrung hat von allen meinen Freunden.“

Marc wurde leicht rot vor Freude über dieses Vertrauen und lächelte sie verschmitzt an. „Klar, ich helfe gern. Aber woher das plötzliche Interesse aus heiterem Himmel?“
 

Deirdre winkte ab und wusste so recht keine Antwort. Was sollte sie auch sagen? So wirklich war ihr Interesse nicht erwacht.

„Wer sich nicht mit der Politik befasst, hat die politische Parteinahme, die er sich sparen möchte, bereits vollzogen: er dient der herrschenden Partei.“, warf Jayden ein und die anderen beiden schenkten ihm einen Blick. Er sah äußerst unbeteiligt aus, wie er da in seinem Stuhl lümmelte und sich die Sonne – die echte, nicht das Licht eines UV-Strahlers, da die Universität auf einer sehr hohen Ebene der Stadt eingerichtet worden war – ins Gesicht schienen ließ.

„Hä?“, machte Marc dann verwirrt und Deirdre musste grinsen. Der Blonde wusste ja noch nichts von Jaydens Vorliebe dafür, mit Zitaten um sich zu werfen.

„Von wem?“, fragte sie darum und der Dunkelhaarige winkte ab. „Irgend so einem schweizerischer Schriftsteller. Egal. Fahret fort, ihr zwei.“ Mit einem gönnerhaften Winken wandte er seine Aufmerksamkeit einer Gruppe Mädchen in Miniröcken zu.
 

Deirdre verdrehte die Augen und beschloss, der Aufforderung nachzukommen. „Und?“, hakte sie nach.

„Huh?“, war Marcs äußerst kluge Antwort und für einen Moment wirkte er, als hätten sie ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Dann fing er sich. „Äh… ein paar. Ich hab auch schon hier und da mal mitgeholfen, aber so wirklich drin war ich noch nie in einer.“ Er rieb sich verlegen den Hinterkopf. „Dazu fehlt mir dann doch die Zeit. Ich bin halt doch nicht wirklich von etwas betroffen, vielleicht wäre das dann anders.“

„Ganz sicher.“, stimmte sie ihm zu, aber eigentlich spielte es keine Rolle für sie. „Kannst du mir da so ein paar Tipps geben oder Namen nennen, an die ich mich wenden kann um ein paar Fragen zu stellen?“

„Klar, was brauchst du? Irgendeine bestimmte Richtung? Ökofreaks? Homogruppen?“

Deirdre zuckte mit den Schultern und tat so, als könne sie sich nicht entscheiden. Es war nicht schwer, unentschlossen zu wirken, also hoffte sie einfach, dass sie überzeugend genug war. „Wir waren grad bei Mutanten, vielleicht bleiben wir einfach dabei?“ Ihre Hände schwitzten. Warum war sie so nervös? Und warum spiegelte diese Nervosität sich in ihrer Stimme?! Oder bildete sie sich das nur ein?

Sie warf ihrem besten Freund einen Blick zu, aber der schnitt gerade jemandem am anderen Ende des kleinen Innenhofes Fratzen und damit konnte sie recht wenig anfangen.
 

„Klar, aber so wirklich gibt es da niemanden.“, zerstörte Marc alle ihre Hoffnungen mit ein paar Worten. „Zumindest niemanden, der wirklich nennenswert ist. Es gibt ein paar Gruppen, aber die sind ziemlich ineffektiv und kaum mehr als ein paar Spinner – so wirklich eine Stimme haben sie nicht. Viele solcher Gruppen leben vor allem von Spenden der wohlmeinenden Bevölkerung oder irgendwelchen Gönnern, aber für Mutanten lassen nicht so viele Leute etwas springen.“

Und viel bewegen konnten solch kleine Organisationen vermutlich auch nicht… Sie verzog enttäuscht das Gesicht, ehe sie sich davon abhalten konnte. Wenn Marc ihr ihre Coverstory abkaufen sollte, durfte sie nicht zu emotional reagieren. Immerhin war es nur ein einfaches Projekt, von dem eigentlich nichts abhing.

Aber wenn er sagte, dass es niemanden gab, dann gab es sicher auch niemanden. Und was machte sie jetzt mit Mór?! Ihr war schon wieder zum Heulen zumute. Dabei war der letzte Tag so gut gelaufen mit ihren Plänen und ihrer kleinen Schwester.

Mór hatte sich über den freien Tag gefreut und hatte sich sogar überzeugen lassen, dass sie sie noch immer so liebten wie vorher und die Eispackung, die sie ihr gegeben hatten und die sie ganz alleine hatte löffeln dürfen, hatte sicher das seine dazu getan. Es war alles so toll gewesen.

Und jetzt … machte Marc all ihre Hoffnungen mit nur ein paar Worten kaputt.

Nicht, dass sie es ihm verübeln konnte. Er wusste ja nicht, was alles davon abhing.
 

Sie blickte auf, längst nach einem Weg suchend, sich loszueisen. Sie würden jemand anderen finden, der ihnen helfen konnte. Doch sein Blick war scharf und lauernd, ein Ausdruck, den sie bei ihm niemals erwartet hätte.

„Kennst du jemanden?“, wollte er dann wissen und Deirdre zuckte ertappt zusammen. War sie tatsächlich wirklich so durchsichtig? Jayden hätte sie ruhig warnen können, aber er schaute ja nur dumm in der Gegend herum! Oder war Marc einfach empfänglicher für so etwas, als sie gedacht hatte?

„Jemand, der betroffen ist?“ Jetzt horchte selbst Jayden auf und er setzte sich langsam richtig hin. Die Bewegung hatte etwas bedrohliches, aber Marc schien ihn nicht einmal zu bemerken. Deirdre antwortete nicht, sondern starrte stumm und, wie sie hoffte, eisern zurück. Ein „Nein, wie kommst du darauf?“ wäre am besten gewesen, aber auf diese Idee kam sie in diesem Moment nicht einmal.

Ein Tag und schon hatte sie Mórs Geheimnis ausgeplaudert. Eine gute Schwester war sie, fuhr es ihr sarkastisch durch den Kopf.
 

Sie wollte aufstehen und verschwinden, doch Marc schien noch nicht fertig zu sein. Und etwas in seinem Gesicht, in seiner Haltung brachte sie dazu, zu bleiben und ihm zuzuhören. Er beugte sich vor und seine Stimme war leise, als er weitersprach: „Hör zu, Deirdre. Ich weiß nicht, wer aus deiner Familie betroffen ist und ich will es jetzt auch gar nicht wissen. Das ist eure Sache. Aber wenn du willst, hau ich mal jemanden an, den ich so kenne und so, und arrangiere ein Treffen für dich. Vielleicht hilft es euch.“

„Hast du nicht gerade gesagt, dass von denen sowieso niemand helfen kann? Dass sie ineffektiv wären?“, wollte Jayden wissen, seine Stimme kühl.

„Ich sagte nicht, dass es eine dieser Gruppen ist.“, erklärte Marc scharf. „Die können euch tatsächlich nicht helfen. Sagen wir, ich kenn jemanden, der da mehr tun kann.“

„Du kennst jemanden.“, bemerkte Deirdre. „Aber du klingst nicht so, als wolltest du dich mit dieser Information an das Schwarze Brett stellen.“

„Es wäre nicht ganz … weiß.“, gab er zu und sie wusste, worauf er anspielte. Nicht ganz legal. Aber das war ihr absolut völlig egal. Sie wollte nur ihre kleine Morag in Sicherheit wissen.

„Eher grau. Und ich bräuchte eure volle Verschwiegenheit.“ Marc warf Jayden einen kurzen Blick zu und Deirdre wusste, was er bedeutete. Er kannte Jayden nicht. Sie dafür aber schon.
 

„Du kannst uns vertrauen.“, sagte sie darum. „Bitte.“ Sie versuchte nicht einmal, das Flehen aus ihrer Stimme zu halten. Immerhin ging es hier um ihre Schwester.

„Okay.“ Marc nickte. „Aber ich brauche ein paar Tage, das ist nicht so einfach. Und ich hoffe wirklich, dass ihr des Vertrauens würdig seid. Um euretwillen.“ Das klang jetzt wie eine echte Drohung, eine, hinter der wirkliche Gefahr lauerte und Deirdre fragte sich, ob ihrem besten Freund auch ein kalter Schauer über den Rücken jagte. Wer hätte gedacht, dass goody two shoes-Marc derartig gut drohen konnte? Aber Jayden wirkte unbeeindruckt – das tat er allerdings meistens.

„Danke.“, flüsterte Deirdre. „Sag mir einfach Bescheid, wenn du soweit bist.“ Damit stand sie auf. „Wir sehen uns nachher in der Vorlesung, oder?“

Marc nickte. „Klar, bis dann.“

Sie winkte ihm zu und war schon einige Schritte von dem Tisch entfernt, als sie bemerkte, dass Jayden ihr nicht gefolgt war.

Er saß noch immer auf seinem Platz, aber jetzt war er es, der sich vorgebeugt hatte. Er sagte noch etwas zu dem Blonden – Deirdre hatte keinen Zweifel, dass es eine Drohung war, eine, die er einhalten würde –, aber Marc grinste nur. „Mach dir mal keine Sorgen! Das klappt schon! Es beruht einfach auf Gegenseitigkeit.“

Er klang dabei so zuversichtlich und optimistisch und Deirdre wollte ihm mit verzweifelter Hoffnung so sehr glauben, dass sie für einen Moment das Gefühl hatte, alles würde wieder gut werden. Sie musste nur ihren Teil der Abmachung einhalten und das würde sie, auch wenn es das letzte war, was sie tun würde.

Und dann, dachte sie, wenn auch nur für einen einzigen Moment, würde alles wieder gut werden.
 

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Der erwähnte schweizerische Schriftsteller ist übrigens Max Frisch, falls es wen interessiert.

Morag ist eine Art Spitzname für den Namen Mór, darum die Variante.

Ähm... Mehr hab ich im Moment nicht zu sagen.
 

Gruß

Sorca~

Satanshimmel voller Geigen (pt. 1)

So, endlich fertig. >.< Und natürlich zu spät. Ich glaube, das Wichteln war einfach zu lang und zu viel und jetzt ist die Luft raus. Gerne wieder, aber erst in einem Jahr oder so. XD"
 

Anyway, als ich diese Geschichte entworfen hab, hab ich sofort gemerkt, dass sie länger wird als ein Kapitel, aber das war okay, weil ich sie sehr mag. :) Ich hoffe, dass es auch für mein Wichtelkind okay ist. Sogar das erste Kapitel ist weit länger, als es hätte sein sollen.

Es ist wie die anderen ein Original, hat aber gar nichts mit den anderen zu tun. Außerdem ist es sehr stark inspiriert von Supernatural, was man auch merkt, wenn man die Serie kennt, weil ich viel von der Welt übernommen habe. Ich hoffe, das stört nicht. Ein anderer Input kam von einer Folge NCIS, die vor kurzem kam.
 

Die Geschichte hat übrigens auch nix mit dem gleichnamigen Lied von Samsas Traum zu tun. ^^ Ich hab mir nur den Titel leihen sollen.
 

Widmung: Sam_Linnifer

Ehrlich gesagt wusste ich am Anfang gar nicht, was ich dir schreiben sollte. Aber ich hatte ziemlich schnell eine Idee und dann noch eine zweite, für die ich mich dann entschieden hab. Wie oben erwähnt mag ich die Geschichte sehr gern und ich hoffe, dass sie dir auch gefällt. Wie lang sie wird, weiß ich noch nicht, aber es sind mehr als 3 Parts. (Ich ziele im Moment so auf 5, aber wer mich kennt, weiß, dass solche Pläne bei mir eher selten aufgehen. ^^")

Well, anyway - enjoy. :)
 

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Part I – All things that go bump in the night
 

Die Lichter der Tankstelle wirkten wie Inseln der Gastfreundlichkeit in der Dunkelheit der Nacht. Vermutlich war es ein heruntergekommenes Geschäft, das mal wieder geputzt werden sollte, aber im Moment war Jacquetta einfach froh, dass es da war. Sie hatte Hunger, ihr war kalt und ihr Rücken schmerzte von dem langen Sitzen. Außerdem mussten sie sowieso tanken. Wenigstens gab das Baby ausnahmsweise mal Ruhe.

Die Scheinwerfer des Jeep Cherokee durchschnitten die Nacht wie Messer und Schneeflocken tanzten wild in dem Licht. Der Niederschlag hatte bereits abgenommen, dafür war der Wind stärker geworden und der Himmel war noch schwarz von den Wolken – kein Stern zu sehen und der beinahe volle Mond war nur manchmal ein heller Schatten am Himmel, wie ein kaltes Licht in dichtem Nebel.

„Vielleicht können die uns einen Weg zum nächsten Motel zeigen.“, bemerkte Benjamin neben ihr, seine Stimme rau von Kälte und dem langen Nichtgebrauch. Während der letzten sieben, acht Stunden hatte nicht viel die Stille zwischen ihnen unterbrochen. Da waren nur das Radio, das irgendwelche Musik vor sich hindudelte, die keiner von ihnen mochte, und Addys – eigentlich Adrianna of the Southern Bay – Schnaufen und Seufzen, das die große Hündin manchmal von sich gab.
 

Das Tier war eine Do Khyi-Hündin, beinahe reinrassig, wenn man von dem einen oder anderen Barghest im Stammbaum absah. Welpen von normalen Hunden und den mystischen, blutrünstigen Schwarzen mochten beinahe noch schlimmer sein als letztere. Aber ihre Nachkommen wiederum machten alles wieder wett mit den Eigenschaften, die sie vererbten: überdurchschnittliche Intelligenz, die Fähigkeit, Übernatürliches zu riechen, die Macht, die eine oder andere nicht so ganz normale Gefahr verjagen zu können, und der unerschütterlichen Loyalität.

„Jack?“

Anscheinend wartete ihr Bruder auf einer Antwort, also erklärte sie mit einiger Verspätung: „Okay.“

Er warf ihr einen Blick zu, seine Augen beinahe unnatürlich hell und stechend im dunklen Inneren des Wagens, sein eigentlich braunes, kurzes Haar fast schwarz. „Alles okay?“, wollte er aus heiterem Himmel wissen, eine Frage, die er ihr schon lange nicht mehr gestellt hatte. Er wusste doch sowieso, wie es ihr ging.

Sie blickte ihn nicht an, als sie trotzdem nickte. Aber es nutzte nichts – er wusste, dass nicht alles okay war, dass nichts okay war. Überhaupt nichts.

Es war schon lange nicht mehr alles okay.

Vielleicht war es das nie gewesen.
 

Doch statt einer weiteren Nachfrage lenkte Ben den Jeep Cherokee nur in die Einfahrt der Tankstelle. Sie war klein, mit nur vier Zapfsäulen, aber dafür gab es einen kleinen Laden, dessen Fenster hell erleuchtet waren und das überraschend gut besucht schien. Wenn man den Schildern trauen konnte, befand sich ums Eck auch ein Diner (das im Moment jedoch geschlossen hatte.)

Auf dem Parkplatz stand jedoch eine ganze Reihe Autos und auch vor einer der Zapfsäulen parkte ein Auto, ein nahezu fabrikneuer Ford Focus in Knallrot. Eine breite Frau mit grau durchschossenem, dunklem Haar stand tankend mit dem Rücken zu ihnen, den Blick fest auf die hochrasenden Nummern der Anzeige geheftet. Neben einer der anderen Tanksäulen stand ein gelbes Taxi, doch der Fahrer war nicht zu sehen.

Ben lenkte den Cherokee hinter das parkende Auto und stoppte den Motor und schlug mit einem kurzen Blick auf den Rücksitz vor: „Nimm Addy mit, vielleicht kriegst du vom Verkäufer was zu trinken für sie.“ Die große Hündin hob den Kopf, als er ihren Namen nannte, und begann dann mit dem Schwanz zu wedeln, die beiden ihre Aufmerksamkeit auf sie richteten.

„Also gut.“ Die junge Frau wusste, dass der Hund nicht nur Wasser (und vielleicht einen Bissen zu fressen) brauchte, sondern sich, wie sie beide auch, einfach mal die Beine vertreten musste. Die langen Autofahrten ohne Pause konnten nicht gut für das Tier sein.
 

„Geh du schon mal rein, ich tanke und ruf noch kurz Sol und Noelle an. Vielleicht wissen die schon was.“

Jacquetta nickte und stieß ihre Tür auf, damit sie sich hinauswuchten konnte. Ihr großer Babybauch, obwohl sie ihn jetzt schon so lange mit sich herumschleppte, war immer noch seltsam und monströs. Sie war es gewohnt, beweglich, agil und schnell zu sein und nicht darauf achten zu müssen, mit etwas derartig großem irgendwo anzustoßen. Sie hasste es, schwanger zu sein. Sie fühlte sich schwer und alles – insbesondere ihre Füße und ihr Rücken – tat ihr weh.

Und sowieso, alles ging den Bach runter.

Ihr Leben war vorher nicht unbedingt gut gewesen, zumindest nicht immer, aber jetzt war es einfach nur noch scheiße. Aber vielleicht sollte sie aufhören, sich zu beklagen und sich einfach freuen, noch am Leben zu sein. Das konnte sich auch bald ändern.

Mit einer energischen Bewegung öffnete sie die hintere Tür für die Hündin, die einige Augenblicke brauchte, um ihren riesigen Körper aus dem Auto zu verfrachten. Sie war ein massiges, bärenhaftes Tier, das Jacquetta bis über die Hüfte ging, und das Winterfell – dicht, lang und schwarz – ließen sie noch mächtiger erscheinen. Doch ihre großen Augen waren freundlich, ernst und braun und der weiße Stern auf ihrer Brust verpasste ihr eine besondere Note.
 

Die Schwangere hakte die Leine in das dunkle Halsband, das in dem dichten Fell beinahe unterging, und schnappte sich die kleine Umhängetasche im Armystil, die immer vor ihr auf dem Armaturenbrett lag. Sie nahm auch das Messer aus dem Handschuhfach, das sie ‚bekommen‘ hatten, kurz nachdem sie erfahren hatten, dass Engel nicht so gut und toll waren, wie sie vorher gedacht hatten.

Es war eine lange Waffe mit breiter, gefährlich wirkender Klinge, die im Moment jedoch in der abgewetzten Scheide eines verlorenen Bowiemessers verborgen war. So würde sich niemand über blanke Schneiden oder die mystischen Symbole darauf aufregen.

Sie schob die Klinge in den Gürtel, so dass ihre Jacke darüber fiel, und setzte sich in Bewegung. Ihre Arbeitsstiefel knirschten in der dünnen Schneedecke, die der Wind unter das große Dach der Tankstelle getrieben hatte.

Sie zuckte heftig zusammen, als plötzlich ein Mann um die Ecke des Gebäudes bog. Er schenkte ihr einen überraschten Blick. Verdammte Paranoia… Addy hatte sich noch nicht einmal angespannt und selbst jetzt betrachtete sie den Fremden nur mit einem milden Blick. Auch ihre eigenen übernatürlichen Sinne, die ihr ermöglichten, mehr wahrzunehmen als ein normaler Mensch, hatten nicht angeschlagen.
 

Dann grinste der Mann entschuldigend. „Sorry, Missy.“

Jacquetta lächelte unsicher zurück und unterzog ihn einer kurzen Musterung – er war nicht sonderlich groß, aber drahtig, sein Gesicht war wettergegerbt, aber freundlich, und seine Kleidung war sauber, aber einfach und abgetragen. Ein Trucker, wahrscheinlich, der hier kurz einen Zwischenstopp eingelegt hatte. Vermutlich zum Pinkeln, wenn sie dem Schild trauen konnte, das darauf hinwies, dass die Klos um die Ecke waren.

„Bitte sehr, Missy.“ Er hielt die Tür des kleinen Ladens auf und machte eine einladende Handbewegung. Sie dankte mit einem unsicheren Kopfnicken; sie war es einfach nicht gewohnt, dass Leute freundlich zu ihr waren und ihr sogar Türen aufhielten. Addy hatte nicht solche Bedenken, sie lief einfach los und zog ihr Frauchen beinahe hinter sich hier.

Im Laden schlug ihnen mollige Wärme entgegen, das Licht war sanft und golden und er wirkte überraschend aufgeräumt. Auch die Regale schienen gut sortiert mit all dem Angebot, den man in Tankstellen normalerweise so fand und noch ein bisschen mehr.

Vielleicht diente das Geschäft auch den Einheimischen als Nahkauf. Der winzige Ort, zu dem es gehörte, konnte sich kaum als ein solcher bezeichnen, darum gab es sicher nicht noch mehr solche Läden. Vielleicht war deswegen so viel los – denn das war es wirklich für eine so fortgeschrittene Stunde.
 

Zwei Afroamerikaner mittleren Alters standen neben den Zeitungsständen und unterhielten sich leise, der eine wirkte angespannt und müde, der andere, als wirkte gelöst und strahlte eine beruhigende Ruhe aus. Hinten bei den Eisregalen standen ein seltsames Pärchen, eine junge, strohblonde Frau, die ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte, und ein dunkelhäutiger Mann (aus dem Nahen Osten vielleicht oder zumindest mit dieser Abstammung), der offensichtlich versuchte, etwas aus dem bizarr reichhaltigen Angebot an Eis auszusuchen.

Der Verkäufer, der gelangweilt hinter seiner Kasse stand, war noch jung – keine achtzehn, darauf würde Jacquetta ihre Jacke verwetten. Wie der Ladenbesitzer es geschafft hatte, an den Behörden vorbeizubringen, dass er um diese Zeit noch hier arbeiten durfte, war sicher eine Geschichte wert. Aber der brünette Junge vom Typ Sunnyboy – Chad, wenn man dem Aufnäher auf seiner Brusttasche glauben durfte – wirkte, als wäre er lieber irgendwo anders als hier.

Der Trucker steuerte sofort das Regal mit den Fertigsandwiches an und begann, sich jede einzelne Sorte eingehend anzusehen. Anscheinend würde er einige Zeit brauchen, ehe er sich entschied.
 

Aus Lautsprechern an der Decke dudelte leise, unpassende Musik, Geigenklänge. Jacquetta wurde es schlecht von den hochkommenden Erinnerungen, als sie das erkannte. Der Klang von Violinen zerrte die schlimmsten Tage ihres Lebens hervor.

Chad schaute kaum auf, als sie und der freundliche Trucker unter dem Gebimmel des Windspiels, das über der Tür hing, eintraten, sondern widmete sich sofort wieder seinem IPhone, auf dem er eifrig herumtippte. Sie ignorierte ihn ebenfalls fürs erste und schnappte sich einen der kränklich roten Plastikkörbe, die für die Einkaufenden bereitstanden. Die Geschwister hatten hier noch mehr zu kaufen als nur den Sprit.

Ihr Ziel war im Moment die abgelegene Ranch eines alten Freundes, ein ehemaliger Jäger wie sie, der bei dem Kampf gegen einen Wendigo eine schwere Verletzung davon getragen hatte und seitdem im Rollstuhl saß. Sein Heim diente ihnen, ihrer Familie und ihren Verbündeten als Unterschlupf und Basis.

Dort bekamen die Jäger in ihrer kleinen Gemeinschaft Ausrüstung, Unterstützung, Unterschlupf, einen Platz, gefährliche Gegenstände zu lagern, und nicht zuletzt Informationen, wenn sie welche benötigten – meist über die selteneren, kurioseren Monster, die ihnen während der Jobs so über den Weg liefen. Die schiere Menge an alten Büchern, die dort aufbewahrt wurde, brachte Jacquetta Mal um Mal ins Staunen.
 

Da sie und Ben, trotz allem Ärger, der ihnen folgte wie ein Rattenschwanz, und ihrer Schwangerschaft die eigene Jagd noch nicht aufgegeben hatten, standen sie in unregelmäßigen, aber steten Kontakt mit der Smith-Ranch. Besucht hatten sie sie jedoch nicht mehr, seit die ganze Sache angefangen hatte. Sie weigerten sich schlichtweg die Smith-Ranch auf diese Art in Gefahr zu bringen. Dafür war sie zu wichtig, zu wertvoll, nicht nur wegen dem strategischen Vorteil, den sie brachte. Sie war das einzige Heim, das die meisten von ihnen hatten.

Während Jacquetta jetzt durch die Gänge ging und aus den Regalen nahm, was sie brauchten – fertig verpackte Sandwiches, Obst, Whiskey, Hundefutter, Aspirin, Mullbinden, Wasserflaschen und mehr – schweiften ihre Gedanken zurück zu den Ereignissen des letzten Jahres, die sich so überschlagen hatten. Es war nicht so, dass ihr Leben jemals leicht gewesen war, mit der Jagd und dem Nomadenleben, das alle ihres Schlages führte, ob sie nun Kinder hatten oder nicht.

Aber das letzte Jahr war … Chaos und Blut und Schmerz.

Wenigstens hatten sie noch keine Probleme mit dem Gesetz, wie manch anderer Jäger es hingekriegt hatte. Das war ein ganz anderes Hornissennest, in das sie stechen konnten, und auch noch eines, mit dem sie keine Erfahrung hatten.
 

Als das Windspiel über der Tür ging, blickte sie auf, doch nur ein alter Mann hinkte schwer auf seinen Stock gestützt herein, mit einem Gesicht voll Falten und einem weißen Haarschopf. Das einzig besondere an ihm war, das Chad ihn tatsächlich begrüßte und auch die beiden Afroamerikaner ihm freundlich zunickten. Anscheinend war er überall bekannt, ein Fixum in der kleinen Gesellschaft dieser Ortschaft.

Jaqcetta wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Regal vor sich zu und warf einige Packungen Energieriegel in ihren Korb, der sich rasch anfüllte. Addy begleitete sie still und friedlich auf ihrem Spaziergang durch den Laden. Nur die junge Frau an der Eistheke warf der großen Hündin einen schiefen Seitenblick zu und rückte einen Schritt zur Seite. Aber sie warf der Besitzerin auch ein entschuldigendes Lächeln zu, als wolle sie sich rechtfertigen, Angst vor dem Tier zu haben.

Als Jacquetta endlich ihren Korb neben die Kasse auf die Ablagefläche wuchtete, blickte der Kassierer kaum von seinem Handy auf. Erst, als er seine Nachricht zu Ende getippt hatte, legte er das Smartphone zur Seite und wandte sich ihr mit einem gewinnenden Lächeln zu. Jacquetta starrte unbewegt zurück, zu erschöpft, um die Geste zu erwidern.
 

„Hast du vielleicht etwas lauwarmes Wasser für den Hund?“, wollte sie stattdessen von dem Teenager wissen und machte eine Kopfbewegung zu Addy hinüber, die geduldig neben ihrem Frauchen saß. Als sie bemerkte, dass die Aufmerksamkeit sich auf sie richtete, wedelte sie mit dem Schwanz, so dass sie damit rhythmisch auf den Boden klopfte.

Chad blickte das Tier an, als würde er es erst jetzt bemerken, und zuckte dann mit den Schultern. „Sicher. Aber nachher.“ Dann begann er ohne sonderliche Eile damit, die Waren einzuscannen.

Jacquetta verkniff sich eine Bemerkung, sondern fügte nur hinzu: „Und der Sprit an Zapfsäule Zwei.“ Sie deutete mit dem Kopf in die entsprechende Richtung. Chad nickte nur und tippte etwas auf seiner Kasse herum. Als sein Handy quakte – anscheinend sein Signalton für eine SMS – nahm er es auf und begann, darauf herumzutippen.

Die junge Frau hätte ihn am liebsten angefahren, aber sie hielt sich zurück, wandte sich ab und spähte angestrengter durch das Fenster. Draußen war nur die beleuchtete Tankstelle zu erkennen und ein wenig Schnee, der unter das Dach getrieben wurde. Alles hinter dem Lichtschein wurde verschluckt von scheinbar ewiger Dunkelheit. Da waren keine weiteren Lichter – wegen der Bäume, die hier überall standen – keine Schatten oder Silhouetten, nichts. Es war beinahe unheimlich.

Für einen normalen Menschen mochte ein solcher Anblick Urängste wachrufen, Ahnungen von Geistern und Monstern, reißenden Bestien und grausamsten Kreaturen, an die in dieser aufgeklärten, modernen Welt niemand mehr glauben wollte. Für jemanden wie sie, die wusste, was dort draußen tatsächlich lauerte, war es auf der einen Seite viel einfacher – und auf der anderen viel schlimmer. Sie hatte die Schrecken, die das Übernatürliche für die Menschheit bereithielt, gesehen. Sie wusste, was dort draußen war.
 

Der Jeep Cherokee war nicht mehr zu sehen, was bedeutete, dass Ben ihn vollgetankt und irgendwo zur Seite gefahren hatte. Wo blieb ihr Bruder eigentlich? Selbst Gespräche mit Noelle oder gar Sol konnten nicht so lange dauern. Es sei denn, sie hatten irgendetwas Wichtiges zu erzählen. Das konnte ein sehr, sehr schlechtes Zeichen sein. Oder ein gutes, aber nach all dem Pech, das sie in letzter Zeit verfolgte, bezweifelte sie es.

Als ein knallgrüner, blitzblanker Porsche Panamera in die Tankstelle einbog und nur wenige Schritte von der Tür entfernt anhielt, fielen ihr beinahe die Augen aus dem Kopf. Was machte ein Auto wie dieses in einer Gegend wie dieser?! Es wirkte so völlig deplatziert, dass sie einen Moment nur starren konnte.

Im nächsten Augenblick wurde ihr eiskalt vor Schrecken.

Was, wenn das ihre Feinde waren, wenn man sie gefunden hatte, wenn ihre lange Flucht nun vorbei war, weil sie hier alle sterben würden, Ben und sie und Addy…? Das Blut schien ihr in den Adern zu gefrieren. Und sie hatte nicht mehr dabei als ihre Beretta in der Handtasche und das Runenmesser…

Aber Addy war vollkommen ruhig – sie hätte längst angeschlagen, wenn dort irgendeine Kreatur der Hölle vorgefahren wäre.

Oder?
 

Außerdem, bemerkte die Jägerin nach einem gehetzten Rundblick durch das Geschäft, war sie die einzige, die sich über den Wagen wunderte. Chad starrte ihn mit einem beinahe feindseligen Blick an, ehe er sich wieder seiner Aufgabe widmete, der Rest der Kunden wandte sich rasch wieder ihren eigenen Themen zu. Also musste das jemand sein, der öfter hier vorbeikam…

Sie ließ langsam die Luft entweichen, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie sie angehalten hatte, und schaute nun unbeteiligt zu, wie drei junge Mädchen aus dem Auto kletterten. „Das sind nur die Tussen aus dem Internat.“, bemerkte Chad plötzlich, den Blick ebenfalls auf die drei Neuankömmlinge gerichtet, das Handy noch in der Hand.

Sie waren alle drei sehr gepflegt und perfekt geschminkt und anscheinend hatten sie eine Art Partnerlook mit Farbschema am Laufen. Sie trugen alle sehr ähnlich geschnittene Kleidung, weiße Hosen und wegen des falschen Fells riesig wirkende Stiefel. Dazu trugen sie dicke Parkas, über deren fellbesetzte Kapuzen sich die künstlich gelockten Haare ringelten. Jacken und Stiefel hatten stets die gleiche Farbe, eine, brünett und hübsch, trug blasses Lila, die zweite, eine Afroamerikanerin, Rosa und die dritte, blond und blass, war ganz in Eisblau gekleidet.
 

„Hm?“, wollte Jacquetta wissen und blickte ihn an. Eigentlich interessierte es sie nicht, aber der Verkäufer schien den Laut als Neugierde zu interpretieren, denn er fuhr fort: „Wir haben hier ein Schickimicki-Internat, ein paar Meilen die Straße runter. Die Schüler dort kommen gern hierher, in ihren Luxuskarren und wollen Alkohol und Zigaretten kaufen oder Süßigkeiten und Pornos.“ Er zuckte mit den Schultern, verzog angewidert das Gesicht und fuhr endlich mit seiner Arbeit fort.

Sie zog eine Augenbraue hoch und warf keinen kurzen Blick zur Tür hinüber, wo die Mädchen sich vor die Frau drängelten, die sie vorher bei dem Ford Focus gesehen hatte. Diese hatte einen südländischen Touch, dunkles Haar, ein hübsches, breites Gesicht, ausladende Hüften, und außerdem ein kleines Mädchen an der Hand. Es war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, ein süßes kleines Ding und wirkte todmüde, nicht zuletzt wegen des abgewetzten Teddys, den es im Arm hielt.

Die Kleine starrte die frechen Schülerinnen an wie gottgesandte Engelsgestalten. Und die sahen natürlich auch gut aus mit ihren hübschen, sauberen Kleidern, dem perfekten Make-up und ihren farblich abgestimmten Achseltaschen, eine künstliche, kunstvolle Schönheit, die Jacquetta, trotz all ihrem natürlichen Liebreiz, niemals erreichen würde.

Die Blonde trug in ihrer Tasche sogar ein kleines wuscheliges Hündchen herum, das sofort anfing mit einem hohen Stimmchen zu kläffen, als es Addy gewahr wurde. Die eindrucksvolle Do Khyi kümmerte sich nicht darum, sie hob nicht einmal den Kopf von dem Boden, wo sie sich neben Jacquetta hingelegt hatte.

Dafür musterte die Blondine das größere Tier und dessen Herrin mit ihrem deutlichenen Babybauch und ihren abgewetzten Kleidern mit einem abschätzigen Blick. Ihr Mundwinkel zog sich in einer spöttischen Geste nach oben, als sie sich zu ihren Freundinnen drehte. Jacquetta verstand die Worte nicht, aber sie konnte sie sich denken, als die drei in herablassendes Gelächter ausbrachen und dann hinter einem der Regale verschwanden.
 

Sie wandte sich ab. Gesten wie diese verletzten sie, auch wenn sie es sich niemals eingestehen wollte. Was verstanden Zivilisten wie die drei schon von einem entbehrungsreichen, gefährlichen Leben wie dem ihren? Verwöhnte Gören von Entbehrung? Reiche Töchter von Geldnot? Es gab so vieles, was sie voneinander unterschied… Wie konnten sie es wagen, über sie zu richten?!

„Wann ist es denn so weit?“, wollte plötzlich eine herzliche Stimme neben ihr plötzlich wissen und sie blickte auf. Die andere Frau mit ihrer Tochter war inzwischen zu ihr getreten, ihre dunklen Augen freundlich und ein liebenswürdiges Lächeln auf den Lippen. Vermutlich hatte sie die hässliche Bemerkung der Blondine gehört und wollte etwas gut machen, das sie gar nicht verbrochen hatte. Und so sehr Jacquetta sich auch einreden wollte, dass die Geste nicht die beabsichtigte Wirkung hatte – auch Zivilisten, die es gut meinten, waren nur Zivilisten – war es doch so.

Also antwortete sie: „In ein, zwei Wochen.“ Sie legte die Hand auf ihren Bauch und hoffte, dass es wirklich so war. Sie wollte, dass es endlich vorbei war. „Wird langsam auch Zeit.“

Ihre Gesprächspartnerin nickte: „Das dachte ich damals auch.“ Sie wuschelte ihrer Tochter, die ihrer Aufmerksamkeit inzwischen der noch immer desinteressierten Addy zugewandt hatte, durch das Haar. „Ich hab inzwischen fünf von den Rackern und möchte keinen von ihnen von ihnen missen.“
 

Ich hätte am liebsten nicht einmal das eine, hätte Jacquetta am liebsten geantwortet – weil es die Wahrheit war – aber das ging nur sie und ihre Familie etwas an. Darum lächelte sie nur unsicher und wandte sich Chad zu, der endlich damit fertig war, neben seinem SMS-Gespräch auch die Artikel einzuscannen. Bevor er den Betrag nennen konnte, reichte sie ihm eine (gefälschte) Kreditkarte über das Register.

„Keine Sorge, du wirst das schon schaffen.“, ermutigte die Südländerin sie inzwischen und Jacquetta senkte den Kopf. Wenn das Kind aufzuziehen ihr einziges Problem wäre, dann würde sie auch so denken. Dummerweise war dem nicht so. Glücklicherweise lenkte Chad die Aufmerksamkeit wieder auf sich.

„Ich hole noch schnell Wasser für den Hund“, erklärte der Verkäufer, während er die Kreditkarte zurückgab. „wenn es dir nichts ausmacht.“ Den letzten Satz richtete er an die andere Frau.

Die winkte ab. „Auf die paar Minuten kommt es mir jetzt auch nicht mehr an.“, erklärte sie lachend und dafür war Jacquetta ihr wirklich dankbar.

Chad verschwand hinter der Tür, die in die hinteren Räume des Gebäudes führte. Die Jägerin begann, ihre Einkäufe in den Korb zurückzupacken, damit sie sie nachher zum Auto zurücktransportieren konnte. Apropos – sie wandte den Kopf und spähte aus dem Fenster, doch von ihrem Bruder war noch immer nichts zu sehen. Wo, verdammt noch mal, blieb er?! So lang konnte noch nicht einmal ein wichtiges Gespräch mit Noelle dauern!
 

Aber draußen hatte sich nur ein ramponierter SUV zu dem Ford und den Zapfsäulen gesellt. Wenn er nicht bald auftauchte, würde sie nachsehen müssen und am Besten mit der Waffe in der Hand und dem Hund von der Leine.

Sie warf einen Blick zu Addy hinunter, doch die wirkte immer noch entspannt. Wenn also weder die Hündin auf irgendetwas reagierte noch ihre eigenen überirdischen Sinne anschlugen, bemerkten sie die Gefahr dann nicht oder war gar keine da? In letzter Zeit war so vieles nicht mehr so klar geschnitten, nicht mehr schwarz und weiß, nicht mehr so einfach wie früher.

Dann kam Chad mit einem Kübel voll lauwarmem Wasser zurück und lenkte sie ab. Er stellte den Behälter vor der Hündin ab, die sich erhob, etwas daran herumschnüffelte und dann die Schnauze hineinsteckte um geräuschvoll das Wasser aufzuschlabbern.

„Ein schönes Tier.“, bemerkte er und wandte sich dann wieder seiner Aufgabe.

Jacquetta trat zur Seite, so dass die freundliche Frau an die Kasse treten konnte, und reckte wieder den Hals um nach ihrem Bruder Ausschau zu halten. Aber Ben ließ sich einfach nicht blicken. Langsam machte sie sich wirklich Sorgen. Was, wenn tatsächlich etwas passiert war? Wenn man sie eingeholt hatte? Ihre Feinde würden sicher keinen Moment zögern, ihn auf die grausamste Art und Weise umzubringen, die ihnen einfiel. In dieser Hinsicht hatten sie eine erstaunlich weite, vielfältige Phantasie.

Und alleine konnte sie nicht weitermachen, das wusste sie. Sie bückte sich und wuschelte Addy durch das Fell. Die Hündin war eine große Unterstützung, doch sie konnte Ben nicht ersetzen. Niemand konnte das. Ben war ihre Säule, ihr Mittelpunkt, das, auf das sie immer zurückfallen und sich verlassen konnte, ihr Vertrauter, ihr Bruder, die einzige Person, die immer, immer da gewesen war, von Anfang an.
 

Als das Windspiel über der Tür noch einmal erklang, fuhr sie herum, doch es war nicht Ben. Es waren drei Männer von unterschiedlicher Gestalt und in abgetragener Arbeiterkleidung. Ihr Eintreten veränderte die bisher entspanne, beinahe freundschaftliche Atmosphäre im Laden auf einen Schlag. Es war, als würden sie etwas Dunkles mit hereintragen, etwas Bedrohliches, Angsteinflößendes. Jacquettas transzendente Sinne schrien sofort eine wortlose Warnung und Addy wandte sich von ihrem Wassernapf ab, um die klugen Augen auf die Neuankömmlinge zu richten. Die Jägerin würde am liebsten sofort Fersengeld geben, den Laden hinter sich lassen und allem Ärger aus dem Weg gehen.
 

Aber nicht nur sie reagierten, auch die anderen Anwesenden bemerkten die Veränderung, die sie mit ihrer Übersinnlichkeit sofort erkannte; die subtilen Signale, die unbewusst versendet und empfangen wurden. Die beiden Schwarzen und der Alte unterbrachen ihr bisher angeregtes Gespräch. Die Blonde und der Dunkelhäutige, der sich inzwischen einen ganzen Stapel von Eispackungen auf die Arme geladen hatte, stoppten ihre scherzende Unterhaltung. Der Trucker entschied sich endlich für eines der beiden Sandwiches, über die er grübelte. Das kleine Mädchen versteckte sich hinter ihrer Mutter, die plötzlich gar nicht mehr so wirkte, als hätte sie Zeit. Chad verfolgte die Männer kurz mit dem Blick, trotz seines Handys, das schon einige Augenblicke quakende Töne von sich gab und anzeigte, dass eine SMS eingetroffen war.

Jacquetta wünschte sich, ihre Hündin wäre schnell fertig, aber sie hatte sich wieder ihrem Napf zugewandt. Oder zumindest, dass Ben da wäre. Jemand wie er, groß, muskulös und gefährlich auf eine ganz andere Art als diese Typen, wurde eher selten blöd von der Seite angequatscht. Während sie nicht nur schwanger war, sondern eine junge, hübsche Frau mit einer drohenden Aura meist eher als Herausforderung denn als Warnung betrachtet wurde. Und er hätte sowieso schon lange hier sein müssen!

Wo, verdammt, blieb er nur?!
 


 


 

Die beleuchtete Tankstelle sah von ihrem Beobachtungsplatz aus wie eine kleine Insel in einem Meer von Dunkelheit. Einladend, beinahe, heimelig. Mehr als ein halbes Dutzend Autos waren unter dem Dach und um das Gebäude herum geparkt, die meisten auf dem kleinen Parkplatz. Irgendwo auf der anderen Seite des Gebäudes stand ein alter Jeep Cherokee im Parkverbot, kaum zu sehen. Ohne das Fernglas war auch der Mann nicht zu identifizieren, der neben dem Wagen stand und telefonierte. Aber der SUV, ramponiert und zerkratzt, der zwischen dem Ford und dem Taxi beinahe auf dem Präsentierteller stand, war gut zu erkennen.

„Das sind sie.“, sagte Elijah und obwohl es keine Frage war, bestätigte Buster und nahm das Fernglas herunter.

„Sie geben sich ja nicht sonderlich Mühe, sich zu verstecken.“, bemerkte Christmas vom Beifahrersitz. „Gib mal her.“

Er reichte ihr den Feldstecher nach vorn und sie hielt ihn sich sofort vor die Augen. Sie war eine hübsche, winzige Frau Anfang Dreißig mit lockigem, blondem Haar, das im Moment zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden war, und einer süßen, kleinen Stupsnase. Aber hinter diesem reizenden Exterieur verbarg sich eine taffe FBI-Agentin, die schon jung eine steile Karriere gemacht hatte und gefährlichste Verbrecher zu Geständnissen geängstigt hatte.
 

Buster dagegen sah ganz genau so aus, wie sich Leute jemanden mit seinem Namen vorstellten. Groß und muskulös, wild und bedrohlich, mit sonnengebräunter Haut und dunkelbraunem Haar, das in alle Richtungen abstand. Sein Gesicht bekam meistens die Bezeichnung ‚interessant‘ verpasst, weil niemandem etwas Passenderes einfiel, und seine Nase war so platt, als hätte sie ihm jemand eingeschlagen.

Doch mit der Charakter-Aussehen-Beziehung verhielt es sich bei ihm genau wie bei Christmas – er war eher der zurückhaltende, nachdenkliche Typ, selbst wenn er nicht so aussah, keinesfalls dumm, aber manchmal naiv, auch wenn sein Job ihm viel von seinen arglosen Illusionen über die Welt genommen hatte.

Elijah, ihr beider Boss und Teamleiter, der im Moment hinter dem Steuer saß, war wieder ein ganz anderes Blatt, ein großer, kräftiger Mann mit graumeliertem Haar, eher grau denn das ursprüngliche Dunkelbraun, und ausdrucksstarken Gesichtszügen. Aber das, was bei ihm am Häufigsten auffiel, war seine Aura, die eine seltsame Mischung aus Gelassenheit, Gefährlichkeit und Intelligenz ausstrahlte.

Während seine beiden Agents ihre Aufmerksamkeit der Tankstelle widmeten, in der vor ein paar Minuten zwei höchst gefährliche Verbrecher und ein Trickbetrüger-Schrägstrich-Dieb-Schrägstrich-Spieler verschwunden waren, telefonierte er mit der nächstgelegenen Zentrale nach Verstärkung.
 

„Hören Sie, das sind keine nullachtfünfzehn Diebe. Das sind nicht mal nullachtfünfzehn Schläger. Diese beiden Typen sind extrem gefährliche Killer und ich sehe hier mindestens zehn Zivilisten in ihrer unmittelbaren Nähe. Wenn Sie uns nicht sofort Verstärkung herschicken, werde ich Sie für jeden Mord, jede Folter, jede Vergewaltigung verantwortlich machen, die diese beiden begehen. Haben Sie mich verstanden?!“

Kurze Pause.

„Das ist mir scheißegal! Und wenn es weiße Mäuse schneien würde oder die ganze verdammte Welt vor die Hunde geht! Sie schicken mir sofort ein paar Agents her und dazu auch noch Verstärkung durch die örtlichen Polizisten!“

Buster unterdrücke ein spöttisches Lächeln. Auch wenn er oft genug auf der falschen Seite von Elijahs drohenden Anweisung gewesen war, so wusste er doch auch, dass es oft genug absolut notwendig war. Mit seinem Boss war ganz sicher nicht gut Kirschen essen, vor allem nicht, wenn er in einer solchen Laune war wie dieser, mit zwei entflohenen Gewaltverbrechern, denen sie schon seit einigen äußerst anstrengenden Tagen folgten in einem Geschäft voller unschuldiger Zivilisten. Aber man bekam sonst auch nicht einen Job wie diesen, bei dem man auf schwerste Verbrechen angesetzt wurde, ohne einen gewissen Biss.
 

Bei den Schwerverbrechern handelte es sich um Kenneth Bennington, der Spaß daran hatte, anderen den Schädel einzuschlagen, nachdem er sie erst über länger Zeit verprügelt und vielleicht auch noch seine Zigaretten auf ihnen ausgedrückt hatte, und Nickolas Combs, den Kenneth verehrte, seit er ihn einige Wochen vorher im Knast kennen gelernt hatte. Er war weit schlimmer als Kenneth, ein sadistischer Mörder, der kein Gewissen mehr hatte – falls da je eines gewesen war. Der Dritte im Bunde war ‚Lucky‘ Craig Maddox, der nur aus Zufall in die Flucht hineingerutscht war. Er musste inzwischen genug von seinen gewalttätigen, brutalen Begleitern haben und würde vermutlich beim ersten Anzeichen von Ärger in Form von Gesetzeshütern entweder aufgeben oder verschwinden.
 

„Sorgen Sie dafür!“ Mit diesem letzten Satz unterbrach Elijah die Verbindung. „Die Verstärkung braucht noch eine Weile.“ Schweigend wandten die drei Agents sich wieder der Tankstelle zu. Was jetzt?

„Ich gehe rein.“, erklärte Christmas plötzlich. „Wir können nicht so lange warten. Ich glaube nicht, dass das noch lange friedlich bleiben wird, und dann haben wir unsere Chance vertan. Und ich bin die einzige, die sie noch nicht kennen.“

Sie konnten ja nicht zulassen, dass jemand verletzt wurde. Für einen Moment herrschte Stille im Wagen.

„Okay.“, stimmte Elijah dann zu. „Du nimmst den Wagen. Buster und ich gehen hinten rum und wir ziehen auch gleich diesen Knaben aus dem Verkehr.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf den Mann neben dem Cherokee, der noch immer telefonierte, inzwischen angeregter, wenn die heftigen Bewegungen und der unruhige Gang ein Anzeichen waren.

„Keine unüberlegten Handlungen, zieh ihre Aufmerksamkeit nicht auf dich, warte, bis sie reagieren oder wir da sind, und wenn du’s schaffst, schick die Zivilisten raus.“, wies Elijah seine Senior Field Agentin an.
 

Christmas nickte und nahm ihr Waffenholster ab, um sich die Pistole – Glock 22, Standardausgabe für das FBI – hinten in den Hosenbund, unter die dicke Jacke, wo man sie nicht sehen konnte. „Ich nehme das Auto.“, erklärte sie. „Sonst sieht das seltsam aus. Beeilt euch, ich hab ein echt schlechtes Gefühl bei dieser Sache.“ Sie verzog das Gesicht.

Der Boss nickte, als würde sie ihm aus der Seele sprechen, und Buster gab einen zustimmenden Laut von sich. Es war tatsächlich, als würde eine dunkle, unheilbringende Wolke über ihnen hängen, die Katastrophen und Desaster ankündigte. Diese Verbrecherjagd konnte in nichts Gutem enden.

Buster stieß die Tür des dunklen Ford Mondeo auf und kletterte hinaus. Sofort schlug ihm eisige Kälte entgegen, anscheinend waren die Temperaturen noch einmal gefallen. Der Wind pfiff ihm um die Ohren und er rieb die Hände aneinander, um sie wieder zu erwärmen, ehe er sie in die Jackentaschen schob.

Elijah stellte sich neben ihn, während Christmas auf den Fahrersitz rutschte. Sie zeigte ihnen den erhobenen Daumen und startete das Auto. „Bis gleich. Passt auf euch auf.“ Sie waren ein eingespieltes Team, darum bedurfte es keiner weiteren Worte. Elijah klopfte noch einmal kurz auf das Wagendach, dann machten sie sich auf den Weg.

Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln und manchmal schlitterten sie über glatte Stellen auf dem Asphalt, aber sie kamen gut voran. Als Christmas den Ford an die letzte freie Zapfsäule stellte, hatten sie schon beinahe die Hälfte des Weges hinter sich.
 

„Wir ziehen erst unseren Dauertelefonierer da drüben aus dem Verkehr.“, erklärte Elijah und nickte zu dem Cherokee hinüber. Der Mann sah inzwischen ziemlich erregt aus, stapfte Spuren durch den Schnee und gestikulierte wild mit der freien Hand. Als sie ihn endlich erreichten, war Christmas schon längst im Geschäft verschwunden.

Dass bis jetzt alles still blieb, war ein gutes Zeichen. Vielleicht hatten die Flüchtlinge doch nur vor, kurz zu tanken und sich einen Snack zu besorgen. Das würde den Verfolgern natürlich zugute kommen, dann konnten sie ruhig auf Verstärkung warten und sie dann ein Stück die Straße hinunter stellen. Dann wäre die Gefahr, dass Zivilisten ins Kreuzfeuer gerieten, auch geringer.

Elijah schlug einen Bogen, damit man sie von den Fenstern des Ladens aus nicht sehen konnte. Der junge Mann mit dem Handy am Ohr drehte sich zu ihnen um und blickte ihnen misstrauisch entgegen. Was machten auch zwei Männer hier in dieser abgelegenen Gegend ohne ein Auto?

„Einen Moment.“, sagte er in das Telefon und nahm es herunter. bevor er etwas sagen konnte, holte Elijah schon seinen Ausweis heraus. „FBI.“, erklärte er und hielt ihn dem Mann unter die Nase. „Ich möchte Sie bitten, hier zu bleiben, sich hinter ihrem Auto zu verschanzen, und sich nicht weiter der Tankstelle zu nähern.“ Der Jeep stand weit genug im Windschatten von allen Gebäuden, dass er weder auffiel noch in der Schusslinie stand. Wenn der Mann jetzt wegfuhr, würde es vielleicht als Auslöser reichen, dass Combs durchdrehte.
 

„… wie bitte?“, war die Antwort des Mannes, die Stimme beherrscht und tief. „Wollen Sie damit etwa sagen, dass da irgendein Verbrecher drin ist?“ Er erfasste die Lage erstaunlich schnell. Und wirkte ziemlich ruhig dabei.

Sein dunkles Haar fiel ihm wirr über die Augen, die immer wieder zur Tankstelle hinüberhuschten. „Aber Jack ist da drin…“ Der letzte Satz war unverkennbar an ihn selbst gerichtet, nicht die beiden Agents.

„Wir werden uns darum kümmern, dass wir … Jack und alle anderen Zivilisten in Sicherheit bringen.“, schaltete Buster sich ein und der Blick, der ihm geschenkt wurde, zeigte deutlich, wie viel die Worte dem Anderen bedeuteten: gar nichts. Er glaubte nicht daran, dass sie das konnten und vermutlich hatte er auch recht damit. Es würde schwer werden; beengter Raum, wenig Ausgänge und alles.

„Wie heißen Sie?“, wollte Elijah wissen und ging an ihm vorbei um ihn in Richtung Jeep zu lenken.

„Benja-“ Der Mann unterbrach sich. „Blackburn.“

„Kommen Sie, Mr. Blackburn, hinter das Auto, dort sind Sie am sichersten. Bleiben Sie unten, wir holen Sie, sobald die Gefahr vorbei ist.“

Der Boss hatte normalerweise eine sehr überzeugende Art, dass man seinen Anweisungen unwillkürlich folgte, doch der Angesprochene rührte sich keinen Zentimeter, sondern blieb hartnäckig an Ort und Stelle. „Aber ich muss jetzt weg. Und ich muss Jack mitnehmen…“ Er blickte zum Laden hinüber als würde er hoffen, Jack käme in diesem Moment aus der Tür getanzt.
 

„Es tut mir Leid, aber Sie können jetzt auf keinen Fall gehen.“, bemerkte Elijah und seine Stimme war streng. „Ganz egal, ob Ihr Begleiter noch drin ist oder nicht. Gehen Sie hinter das Auto, bleiben Sie unten und warten Sie.“

Der Mann starrte ihn feindselig an – Jack musste ihm echt nahe stehen – und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Vermutlich war es eine Beleidigung, ein Fluch, eine weitere, lautstärkere Weigerung. Doch dann schloss er den Mund wieder, starrte die beiden Agents finster an und tat, was man von ihm verlangt hatte.

Buster fragte sich, ob er tatsächlich klein beigab oder nachher noch Schwierigkeiten machen würde. Doch irgendetwas sagte ihm, dass Blackburn nicht die ganze Zeit hinter seinem Jeep sitzen bleiben würde. Anscheinend war Jack – sein Bruder? Freund? … Sohn? – ihm viel zu wichtig und er hielt sich vermutlich auch für hart genug, sich in das kleine Standoff zwischen FBI-Agenten und Gewaltverbrechern einzumischen. Verdammt.

Buster wechselte einen Blick mit seinem Boss, doch dem schien das im Moment ziemlich egal zu sein. Sie entfernten sich von dem Jeep, wieder voll auf ihre Aufgabe konzentriert. Elijah zog seine Kanone und deutete auf die einfache Metalltür, die wenige Meter von ihnen entfernt in die Wand eingelassen war. „Hintereingang.“, erklärte er, während Buster seine eigene Waffe zog, entsicherte und routinemäßig überprüfte. „Wir sollten uns beeilen.“ Damit setzte er sich in Bewegung, nur um ein zwei Schritte später wieder stehen zu bleiben, den Kopf schief gelegt als würde er lauschen.
 

„Was ist…?“, erkundigte sich der jüngere Agent. Er konnte nichts hören. Oder doch…? Da war etwas… Erst dachte er, es wäre etwas wie sehr seltsamer, sehr leiser Donner, tief und grollend. Aber es erfüllte die Luft und es wurde immer lauter.

Nein, es wurde nicht lauter, es kam näher.

Ihm durchfuhr es kalt und die kleinen Härchen in seinem Nacken stellten sich auf. Das Geräusch war unheimlich, erschreckend und rief Ängste in ihm wach, von denen er gar nicht gewusst hatte, dass sie da waren, so tief vergraben und versteckt waren sie. Es war, als käme es nicht von dieser Erde, sondern von Orten, böserer und finsterer noch als selbst ihre kleine, entstellte Welt, in der Monster wie Nick Combs frei herumliefen.

Dann erkannte er schlagartig, was es war: Hundegebell.

Es mussten ziemlich große Hunde sein, der tiefen Tonlage des Gebells nach zu urteilen auch wenn sich das höhere Gekläff von kleineren mit hineinmischte. Und es schien von überall her zu kommen.

Es war verdammt unheimlich.

Unnatürlich.

Richtige Hunde würden sich nie so verhalten, das wusste Buster, in seiner Familie gab es immerhin genug von den Tieren.
 

„Was zum…?“ Das war absolut nicht natürlich. Er warf einen Blick auf Elijah, dessen Schultern zu einer defensiven Haltung hochgezogen waren, sich aber sonst nicht rührte, und dann einen zu dem Jeep hinüber, hinter dem Blackburn kauerte. Oder gekauert hatte. Jetzt spähte er – wieder mit dem Handy am Ohr – über die Motorhaube. Seine Augen wirkten wie schwarze Löcher und sein Gesicht unbewegt. Er ließ nach ein paar letzten geflüsterten Worten das Telefon zusammengleiten und schob es mit schlafwandlerischen Bewegungen in die Jackentasche. Buster wollte ihn gerade anweisen, sich am besten im Jeep selbst zu verstecken, doch ehe er etwas sagen konnte, hallten Schüsse durch die Nacht.

Und die Hunde verstummten abrupt. Wenn das mal kein schlechtes Zeichen war!
 


 


 

Christmas empfand die Wärme, die ihr im Laden entgegenschlug, als beinahe angenehm. Doch ihr gesamter Körper stand unter nervöser Spannung und beim Anblick der drei Verbrecher war ihr Adrenalinspiegel schlagartig angestiegen. Sie brauchte nur Augenblicke, um den Innenraum des Ladens in sich aufzunehmen und sich einen Überblick zu schaffen – vor allem über die Anwesenden.

Das erste, was ihr dabei auffiel (und was sie sofort verfluchte, sie hasste so etwas), war, dass sich hier nicht nur ein Kind und vier Teenager befanden sondern auch eine hochschwangere, junge Frau. Derartige Geiseln, vor allem, wenn sie dann tot in den Schlagzeilen endeten, was durchaus noch der Fall sein konnte, waren immer die Schlimmsten.

Die drei jungen Mädchen, die sich flüsternd und kichernd immer näher an das Regal mit dem Alkohol heranschoben, würden ganz sicher auch kontraproduktiv aufführen. Teenager dieses Schlages tendierten meist zur Hysterie. Am besten wäre es einfach, Combs würde seine beiden Kameraden zur Eile antreiben und dann von hier verschwinden, ohne irgendeine Waffe zu ziehen, ohne irgendwen zu bedrohen oder sonst irgendwas anzustellen.

Christmas nickte dem jugendlichen Verkäufer zu – wer war dafür verantwortlich, dass ein halbes Kind um diese Uhrzeit hier arbeitete, zum Teufel noch eins?! – und schlenderte an den Regalen vorbei. Unter dem Pony spähte sie unauffällig zu den drei Männern hinüber, wegen denen sie hier war.
 

Benningtons massiger, großer Körper war nicht zu übersehen, Muskeln wie ein Berg und Schultern so breit, dass es wirkte, als würde er nicht durch eine normale Tür passen. Combs war ebenfalls groß und muskulös, aber da war mehr Balance in seiner Gestalt, er wirkte ausgeglichener, nicht so massiv. Der letzte im Bund, Lucky Craig, hob sich deutlich von ihnen ab, kleiner und schlanker, sympathischer.

Christmas konzentrierte ihren Blick schlagartig auf das Regal vor sich – Hygieneartikel für Frauen, wie passend – als Combs sich zu ihr umdrehte. „Komm jetzt, Addy.“ Die schwangere Frau, kaum mehr als ein Mädchen, mit brünettem, zu einem langen Zopf geflochtenem Haar und blauen Augen wie Eis, zog an der Leine ihres Hundes, einem Kalb von einem Tier. Vermutlich konnte sie an dem Strick ziehen, so lang sie wollte, wenn Addy sich nicht von selbst bewegte, würde sie keinen Zentimeter weichen. „Wir müssen jetzt wirklich gehen und Ben wartet sicher schon.“ In der anderen Hand hielt die Frau einen der hauseigenen Einkaufskörbe, in den nicht einmal mehr ein Müsliriegel passe, so voll war er. „Brauchst du Hilfe, Missy?“, wollte einer der Kunden wissen, der gerade an die Kasse trat, ein Mann mit Truckercap und wettergegerbtem Gesicht.
 

Christmas wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ab. Sollten die beiden das untereinander ausmachen und dann von hier verschwinden; zwei Leute weniger, um die sie sich Sorgen machen musste. Bennington starrte im Moment die drei Schülerinnen ziemlich begehrlich an. Das sah nicht gut aus… Christmas konnte genau sehen, worauf das hinauslief. Wo blieben denn Buster und ihr Boss, zum Teufel noch eins?! Allein konnte sie hier nicht viel tun!

Wenigstens driftete der größte Teil der Kunden in Richtung Kasse. Eine hellblonde junge Frau schnappte sich im Vorbeigehen eine Packung Aspirin aus dem Regal, der dunkelhäutige Mann wählte nicht einmal eine seiner vielen Eispackungen aus, sondern schleppte alle zur Kasse, und auch die kleine Gesprächsrunde bei den Zeitungsständern löste sich auf. Anscheinend hatten sie alle vor, den Laden so schnell wie möglich zu verlassen.

Was die Anwesenheit von drei Verbrechern so alles mit sich brachte, selbst wenn niemand wusste, wie gefährlich sie wirklich waren… Vielleicht hatten sie Glück und die meisten Zivilisten wären verschwunden, wenn die Situation eskalierte.

„Was starrst du so, du Ochse?“, erklang plötzlich die Stimme eines der drei Mädchen und in dem Moment wusste Christmas, dass alles vorbei war. Augenblicklich wandte sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre Zielpersonen zurück.
 

Bennington starrte das Mädchen nieder, das ihn eben angepflaumt hatte, seine Augenbraue zuckte und er rang nach Worten. Maddox hatte sich entfernt und fummelte nervös an diversen Schokoladentafeln herum. Er fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Combs dagegen schien Spaß an der Sache zu haben und seine Augen huschten zwischen seinem jüngeren Begleiter und den drei Mädchen hin und her.

Der Chihuahua in der Tasche der Blondine kläffte aufgeregt und penetrant. Von vorn drang das Rascheln von Plastik, das Piepsen der Kasse und die Geräusche, die der Riesenhund beim Trinken machte, zu ihr.

Bennington starrte die Brünette, die ihn so schief angemault hatte an, und befahl mit einem hässlichem Grinsen im Gesicht: „Reiß das Maul nicht so auf, Schlampe. Die Gesellschaft einer Frau genießt man auf eine andere Weise.“

Das Gesicht des Mädchens verzog sich angewidert. Aber bevor sie eine scharfe, höhnische Antwort geben konnte, die womöglich darin gemündet hätte, dass er sie einfach über den Haufen schoss, schaltete Combs sich ein. „Ja, warum nicht?“, grinste er und griff nach hinten unter seine Jacke. Christmas echote Combs‘ Bewegung augenblicklich, aber einen Moment zu spät, und als sich ihre Finger um den Griff ihrer Glock schlossen, war der Mann längst dabei seine eigene Waffe zu ziehen, eine gestohlene Beretta.
 

„Warum“, begann die Blondine, die seinen Vorsatz nicht erkannte, und schob sich neben ihre Freundin. „glaubt ihr ekligen Typen eigentlich immer, dass wir…“ Ihre Bemerkung endete in einem schrillen Kreischen, als er die Beretta auf sie richtete.

Combs‘ Grinsen wurde breiter. „Jetzt habt ihr keine blöde Bemerkung mehr auf den Lippen, was?“

Die FBI-Agentin überlegte einen Moment, hinter ihrem Regal abzutauchen, ließ es aber sein – dann könnte sie nichts mehr sehen. Sie ließ ihre Waffe jedoch, wo sie war und hoffte, dass die Verbrecher sie nicht durchsuchen würden. Das wäre vermutlich ihr Tod.

Als jetzt auch Bennington seine Waffe zog, wurden auch die anderen Gäste aufmerksam, und es wurde mit einem Mal unruhig. Stimmen, Schreie und die Geräusche hastiger Bewegungen mischten sich durcheinander. Irgendetwas fiel polternd um, aber sie wagte nicht, den Blick von den dreien zu nehmen.

„Niemand verlässt das Gebäude.“, bestimmte Combs und seine Stimme war ruhig und amüsiert. Soviel zeigte nicht nur sein Tonfall, sondern auch das Grinsen, das seine Lippen umspielte. Als sei das hier alles ein Spaß, ein Spiel, bei dem er allein die Regeln bestimmte – und er allein beschloss, wer überleben würde.

Teufel noch eins.
 

Christmas schob sich hinter ihrem Regal hervor und tat, als sei sie Zivilistin. Buster und Elijah konnten die Situation noch herumreißen, wenn sie bald auftauchten, aber nicht, wenn diese Typen herausfanden, was sie war.

„Hey, du!“ Die schwangere Frau mit dem Hund und dem vollgepackten Einkaufskorb stand einige Schritte von der Tür entfernt, als hätte sie einfach verschwinden wollen. Combs hatte seine Waffe auf sie gerichtet.

Die anderen Kunden standen durcheinander, ein paar waren bleich, andere hatten die Hände erhoben, wie man es immer in Filmen sehen konnte. Das kleine Mädchen weinte, auch wenn sie absolut keine Ahnung haben konnte, was hier wirklich abging, und die andere junge Frau war grün im Gesicht, als würde sie sich gleich übergeben.

„Craig, verrammel‘ die Tür.“, befahl Combs, doch Maddox rührte sich nicht von der Stelle.

Er hob in Abwehrhaltung beide Hände. „Können wir nicht einfach nehmen, was wir brauchen, und dann gehen?“

„Nein. Verrammel‘ die Tür.“ Lucky Craig wirkte nicht glücklich über diese Aufgabe, aber er setzte sich bin Bewegung.

„Lassen Sie mich gehen, bitte.“, sagte die Schwangere und drehte sich langsam um, die Hände deutlich zu sehen, eine um die Hundeleine geschlossen, die andere um den Henkel ihres Einkaufskorbes. Sie blickte Combs direkt ins Gesicht und es sah nicht so aus, als hätte sie Angst.
 

Christmas runzelte die Stirn und fragte sich, wie ihr hatte entgehen können, dass diese Frau nicht normal war. Keine normale Frau und schon gar keine Schwangere reagierte so ruhig in einer solchen Situation. Vielleicht war sie Polizistin oder erfahrene Soldatin. Aber dazu war sie eigentlich zu jung…

Christmas fluchte leise; es hätte ihr vorher auffallen müssen. Eigentlich konnte sie sich auf ihre Menschenkenntnis und ihre Instinkte verlassen. Vielleicht war sie einfach zu sehr auf die drei Verbrecher konzentriert gewesen, weswegen ihr dies entgangen war.

Der große Hund setzte sich auf den Boden und nahm seinerseits Combs ins Visier, der das nicht einmal zu bemerken schien. Er wirkte wie die Ruhe selbst, gelassen und mit einem traurigen, seelenvollen Blick, wie nur Hunde es schafften.

„Nein. Komm zurück, Schätzchen.“ Er bedeutete mit der Hand, in der er die Waffe hielt, wo er sie genau wollte. „Ihr auch, hopp, hopp. Da rüber.“ Die letzten Worte sagte er zu den drei Mädchen.

Bennington grinste sie an und diesmal bekam er keine hässliche Bemerkung an den Kopf geworfen. Christmas und die drei Mädchen gesellten sich zu den anderen Geiseln. Sie hatten alle Angst, das war gut zu erkennen, und sie hatten allen Grund dafür. Wenn nicht bald etwas geschah – zum Beispiel, dass Elijah und Buster endlich hereinkamen, Teufel noch eins! – würde es Verletzte und wohl auch Tote geben.
 

Craig war inzwischen an der Tür angelangt und benutzte grausilbernes Klebeband, das an der Kasse herumgelegen hatte, um die beiden Griffe fest zum Umwickeln. Hier würde niemand so bald rauskommen.

„Und was jetzt?“, wollte Maddox wissen und klang herausfordernd und aufsässig. „Hätten wir nicht einfach gehen können? Das wäre doch viel einfacher gewesen. Das FBI wird das hier mitkriegen, auf die eine oder andere Weise.“

Combs warf ihm einen gönnerhaften Blick zu. „Wo bliebe da all der Spaß?“ Seine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf die Gefangenen, insbesondere die junge Frau, die er vorhin davon abgehalten hatte, zu gehen. „Ich hab noch nie ‘ne Schwangere gevögelt.“, bemerkte er. „Und ich mag feurige Frauen.“

Das Mädchen wurde bleich, sagte aber nichts und ihr Blick war noch genauso fest wie vorher. Doch der Hund knurrte, tief in der Kehle, ein bedrohliches Geräusch, vor dem jeder andere zurückgezuckt wäre.

Combs jedoch wirkte unbeeindruckt. „Halte dein kleines Schoßhündchen an der kurzen Leine, sonst erschieß ich es.“

Ihre Finger drehten sich einmal mehr um die Leine, so dass ihre Haut sich weiß verfärbte, weil der Riemen zu fest einschnitt. Aber sie blieb stumm, der Blick trotzig und unversöhnlich.

Das Hündchen in der Handtasche bellte noch immer und das Geräusch schien ein Echo zu haben, von überall her zu kommen. Verwirrt blickte sie sich um; so einen Effekt hatte sie noch nie mitbekommen und…
 

Der Chihuahua verstummte schlagartig und Christmas bemerkte, dass die Geräusche von draußen kamen – und immer lauter wurden.

„Was ist das, verdammte Scheiße?!“, fluchte Bennington, den Kopf schief gelegt. Er hatte seine Aufmerksamkeit wieder dem brünetten Mädchen gewidmet gehabt, das sich so gut wie möglich zwischen den Freundinnen versteckt hatte, aber jetzt starrte er zum Fenster hinüber.

„Nur ein paar Köter, die draußen Krach machen, du Schlappschwanz.“, antwortete Combs wegwerfend, während Lucky Craig bereits Abstand zwischen sich und die Fenster brachte. Er wirkte jetzt mehr denn je, als wolle er woanders sein. Am besten am anderen Ende der Welt oder wieder im Gefängnis.

„Klingt aber nicht so…“, bemerkte einer der beiden Afroamerikaner, sein Blick besorgt. „Klingt eher nach Tollwut oder so. Und, als würden sie näher kommen.“

„Schnauze!“ Combs holte aus und schlug dem Mann mit dem Pistolengriff ins Gesicht, einfach so. Das ekelerregende Knacken von brechendem Knochen ertönte und mit einem schmerzerfüllten Aufschrei sankt der Mann in die Knie, die Hände vor das Gesicht geschlagen. Blut strömte zwischen seinen Fingern hervor; gebrochene Nase vermutlich.
 

„Derek!“ Der alte Mann war mit einem Schritt bei ihm und versuchte, ihm zu helfen, doch Combs hielt ihn mit vorgehaltener Waffe davon ab, nahm anscheinend Freude daraus, dem Verletzten die Hilfe zu gewähren.

Das Bellen draußen wurde immer lauter und furchterregender und Christmas wurde jetzt unruhig. Es war einfach unheimlich und die Situation, in der sie sich befand, half nicht gerade. Ihre Gedanken rasten. Sie musste doch irgendetwas tun!

Sie hatte eine Waffe im Hosenbund, aber da waren zwei bewaffnete Männer und beide würden schießen, sobald dem anderen etwas geschah. Es war einfach nicht die Zeit dafür, beide abzuknallen, ganz egal, wie schnell sie war.

Bennington warf einen Blick über die Schulter. „Das ist doch nicht normal, Nick!“, bemerkte er und dann versuchte der Trucker einen so plötzlichen Angriff auf ihn, dass es selbst für Christmas überraschend kam, die die ganze Zeit auf eine günstige Gelegenheit gewartet hatte.

Doch Bennington war schnell, schneller als er aussah und er schleuderte den Mann gegen das Regal, auf dem die Kasse stand. Dann schoss er, drei-, viermal. Das kleine Mädchen begann zu kreischen, seine Mutter zog es an sich. Der Trucker brüllte auf, als eine Kugel seine Schulter traf, die anderen schlugen nutzlos in den Boden und das Kassenregister ein.
 

Draußen war das Gebell schlagartig verstummt und für einen Moment herrschte Totenstille.

Dann spuckte Bennington aus und stieß ein Geräusch aus, halb Lachen, halb Schnauben. „Geschieht dir recht, Opa.“, knurrte er und beugte sich vor. Er wedelte mit der Waffe vor seinem Gesicht herum. „Hätteste mal nicht den Helden gespielt.“ Bei den Worten drückte er dem Mann den Lauf der Waffe gegen die Einschusswunde. Der Mann schrie auf.

„So lassen Sie ihn doch zufrieden!“, brüllte die junge Frau. Tränen liefen ihr über die Wangen.

„Du solltest besser zuhören.“, erklärte Combs ihr und legte ihr in einer beinahe väterlichen Geste die Hand auf die Schulter. Sie zuckte zusammen und erstarrte. „Es ist seine eigene Schuld.“ Damit tätschelte er ihren Arm und sie wirkte verängstigter als noch zuvor.

„Jetzt ist aber genug.“, bemerkte Christmas fest und in dem ruhigsten Tonfall, den sie in dieser Situation zustande bekam. „Was wollen Sie von uns?“

„Haben wir hier noch eine Heldin?“, erkundigte der Psychopath sich und wandte nun seine Aufmerksamkeit zu ihr. Jetzt war zwar sie in Gefahr, aber wenigstens lenkte sie ihn von den Zivilisten ab.
 

Zu weiteren Worten kam es jedoch nicht mehr, denn plötzlich fing der große Hund an zu bellen, ein lautes, tiefes Geräusch, drohend und grollend. Jeder im Raum, außer vielleicht seine Besitzerin, zuckten heftig zusammen, als hätte niemand das erwartet – vielleicht, weil das Tier sich bis jetzt so ruhig verhalten hatte. Combs richtete sofort seine Kanone auf es, doch der große Hund beachtete ihn gar nicht. Stattdessen bellte er die Tür an.

„Der muss wohl krank im Kopf sein.“, bemerkte Bennington und machte mit dem Zeigefinger eine kreisende Bewegung neben seiner Schläfe, ehe er als einziger über seinen eigenen Witz lachte.

Christmas musterte kurz die Besitzerin, die bleich und abgehärmt wirkte, ängstlich beinahe. Was konnte eine Frau, die jemandem wie Combs so offen ins Gesicht geblickt hatte, erschrecken?!

Dann explodierten die Fenster mit einem Mal. Glassplitter wurden nach innen geschleudert und fühlten sich wie Eisregen auf ihrer Haut an. Riesige Schatten huschten durch ihr Gesichtsfeld. Christmas Hände zuckten aus Reflex zu ihrer Kanone, während sie sich zur Seite warf, hinter eines der Regale um Schutz vor der Detonation zu finden.

Aber es war keine Bombe, kein Sprengsatz – es war mindestens ein Dutzend Hunde in verschiedenen Größen. Jeder einzelne war rabenschwarz, mit verfilztem Fell, Reißzähnen so lang wie ihre Finger und glühend roten Augen, die wirkten, als würden sie brennen.
 

Die großen Glasscherben, die noch vom Türrahmen gehalten wurden, fielen klirrend zu Boden und hinterließen eine Öffnung, groß genug für eine Person. Aber keiner der Menschen machte eine Anstalt dazu, die Chance zu nutzen.

Die höllenschwarzen Hunde knurrten tief und bedrohlich. Ihr Geifer tropfte auf die Fliesen und brannte zischende Löcher hinein, als bestünde er aus Säure.

„Dio mio!“, rief die Südländerin und zog ihre schreiende Tochter enger an sich.

„Oh Gott!“, stöhnte auch die Hellblonde.

„Tut mir leid.“, erklang eine tiefe, melodische Stimme. „Ich fürchte, der hat nichts damit zu tun.“ Der Sprecher stand im Türrahmen und starrte die verwirrten Personen aus gnadenlosen Augen an.

Es war ein Mann, nicht sonderlich groß, mit wildem, hellbraunem Haar, einem niedlichem Grübchen am Kinn und einem ziemlich küssenswerten Mund – und Augen so schwarz wie die Dunkelheit, die sich hinter dem Lichtkreis der Tankstelle erstreckte.

Niemand hatte bemerkt, wie er durch eben diesen Lichtschein gekommen und an die Tür getreten war. Wie der Jäger, der seinen Hunden folgt, die die Beute gestellt haben, fuhr es Christmas durch den Kopf.

Nun stieg er mit flüssigen Bewegungen durch die Reste der Tür. Sein Gesicht war verzogen zu dem grotesken Duplikat eines Grinsens und er bewegte sich, als hätte er ein Ziel und wäre kurz davor, es zu erreichen. Seine Tiere knurrten, der große Hund an der Leine bellte noch immer und das Kind schrie wie am Spieß.

„Wer zum Teufel bist du?!“, brüllte Combs, wütend über die Unterbrechung, und richtete die Waffe auf den Mann.
 

Der seltsame, furchterregende Neuankömmling breitete leutselig die Hände aus, als wäre das hier nur ein kleines Kaffeekränzchen, zu dem er gerade angekommen war. „Du kannst mich Danny nennen.“, antwortete er heiter. „Und nun, bringen wir erst Mal das Kind zum Schweigen, sonst versteht man ja sein eigenes Wort nicht.“ Er schnippte mit den Fingern und sofort verstummte das Gekreische, auch wenn die Kleine ihr Verhalten nicht änderte. Es war, als hätte er ihr einfach die Stimme genommen.

Christmas wurde es übel vor Grausen.

„Was haben Sie getan?!“, brüllte die Mutter und dann schoss Bennington sein Magazin leer – direkt in den schwarzäugigen Mann. Dieser wankte nicht einmal und seine Hunde stießen Geräusche aus, die wie bellendes Gelächter klangen.

Was war hier los, Teufel noch eins?! Das war doch nicht natürlich! Nicht möglich!
 

~~~~~~~
 

So, Auftakt vorbei, ich hoffe, jemand findet es spannend genug, auf den nächsten Part zu warten. (Wer eine Benachrichtigung will, kann mir das sagen.)

Ansonsten weiß ich im Moment nix zu sagen und hab eigentlich auch keine Zeit. ^^ Wer Fragen hat, einfach stellen.
 

Gruß

Sorca~



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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von:  Sam_Linnifer
2012-04-19T15:24:24+00:00 19.04.2012 17:24
Mir gefällt die Geschichte sehr gut, vielen Dank dafür :)
Und ich bin schon gespannt, worauf es hinauslaufen wird und wie es weitergeht.
Mir gefällt deine Art zu schreiben und Charaktere darzustellen.
Dass es etwas mit "Supernatural" zu tun hat stört mich nicht, ich hätte es wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, hättest du nichts dazu geschrieben, da ich die Serie noch nie gesehen habe.
Allerdings, ich nehme an, dass es damit im Zusammenhang steht, aber der Begriff Wendigo war mir nicht vertraut. In dem Fall war das kein Problem, falls dergleichen aber in Zukunft oft auftaucht, wäre eine kurze Beschreibung ganz hilfreich :)
Das ist dann aber auch der einzige "Kritikpunkt"
Ich würde gern über neue Kapitel informiert werden.
Bin schon sehr gespannt^^
LG
Sam
Von:  Chimi-mimi
2011-10-26T17:48:24+00:00 26.10.2011 19:48
I like it ♥
Ich fand es gar nicht langweilig, mir hat es sogar ziemlich gut gefallen bisher und ich würde mich freuen, den zweiten Teil zu lesen.
Rina finde ich sehr sympathisch (unter anderem weil... ich Rina genannt werde, mich leicht erkälte, eher distanziert wirke und sie wirklich gut verstehen kann o.o). Ich fand auch deinen Schreibstil nicht irgendwie seltsam oder so, mir hats wirklich gefallen ♥
Von:  MoonlightWhisper
2011-10-22T12:43:17+00:00 22.10.2011 14:43
Zuerst entschuldige ich mich dafür, das ich immer so ungenau bin '///'
Aber ich finde es schöner, wenn Autoren ihre Fantasie ausleben können und deswegen kann ich auch nur wenige Angaben machen, weil mir vieles gefällt

Nun zu deiner Geschichte.
Zu aller erst, ich mochte sie. Es war schön zu lesen, wie du die verschieden Facetten des Settings U-Bahn mit deinem Charakter verbunden hast. Du hast da wirklich eine tolle Figur geschaffen, die autentisch rüber kommt.
Ich freue mich schon mehr im zweiten Teil über Rina und den großen blonden Unbekannten zu lesen

lg
Cliona
Von: abgemeldet
2011-09-19T23:46:20+00:00 20.09.2011 01:46
way, ich hab mich total gefreut, als ich gesehen habe, dass du du meine wichtelpatin bist, weil ich ein fan deiner ffs bin und dachte 'oh.mein.gott! das wird bestimmt cool'. und es ist cool. auch wenn ich, wie ich zugeben muss, am anfang ein wenig skeptisch war. familie und drama? ich bin, was familie angeht immer so zart besaitet und hab dann bestimmt wieder einen kloß im hals, wenn ich lese, wie ein kind sich nach dem verlust seiner familie alleine durchschlägt und diesen verlust irgendwie verarbeitet oder so.
aber durch diese etwas gleichgültige, distanzierte und klare sicht von eleonore auf das geschehen um sie herum (was ja eigentlich das tragische ist, wie sie ja irgendwo einmal selbst so oder so ähnlich festgestellt hat), macht dieses drama irgendwie erträglicher weil die negativen gefühle einer zerissenen familie nicht so an einen herankommen, hat aber trotzdem einen guten einblick in das ... nennen wir es 'familienleben'.
die 'sci-fi'- erwähnung am anfang hat ebenfalls zu meiner skepsis beigetragen, weil ich mehr aktion und damit auch mehr diese 'familien- verlust'- sitation erwartet habe, aber durch diesen gesellschafts- und familienkonflikt ist das ganze etwas nachdenklicher und 'langsamer'. eben ohne viel aktion.
ich muss fukuyama in ihrer kritik über das familienanwesen zustimmen. diese hohen mauern und der garten haben mich an ein stark abgeschirmtes anwesen denken lassen. als das mit den ebenen kam, hab ich an einen dieser familientürme gedacht, die es früher in italien für die adeligen gab, damit sie 'über allem erhaben' waren und sich nicht mit dem nieder volk abgeben mussten (worin ja offenbar auch der sinn dieses anwesens ist). was es genau ist, weiß ich aber immernoch nicht.
diese 'dialog- armut', die ja in beiden kommentaren schon angesprochen wurde, passt meiner meinung nach zu eleonore, eben weil sie, wie oben erwähnt, distanzierter und einfach ein wenig anderes sieht.

also, kurz und knapp: trotz anfänglicher skepsis hat es mir super gefallen!
LG

PS: danke für deine ens. ist ja nicht schlimm, dass das schreiben ein bisschen länger gedauert hat. musen sind halt launisch und das warten hat sich gelohnt. (;

Von:  fukuyama
2011-09-19T13:21:28+00:00 19.09.2011 15:21
Wo sind die restlichen Geschichten aus diesem Universum? Ich warte sehnsüchtig auf den Teil, in dem Rae und elenore einen ausflug in die unteren Areale der Stadt machen.

Hierzu gleich anzumerken: Es wäre freundlich, den Leser nicht über Gebühr zu verwirren und mal nebenbei zu erklären, wie diese Stadt eigentlich aufgebaut ist. Die ersten Abschnitte lass einen eher denken, die Familie würde auf einem Hügel bzw. Berg wohnen mit dem großen, "von hohen Mauern ungebenen" Garten, der wirklich sehr nach einer Außenanlage auf dem Boden klingt. Dazu passen die Anmerkungen über die schlossartige Struktur des Gebäudes und das Wort "Anwesen".
Dem entgegen stehen Bemerkungen wie dass Elenore nie mehr als "7 oder 8 Stockwerke tiefer" gewesen ist, was darauf schließen lässt, dass sie in einer Art Hochhaus wohnt.
Ebenfalls verwirrend sind Aussagen wie "ihr Vater fuhr vor", "fuhr durch das Tor" etc., denn das scheint sich wieder auf ebenem Boden abzuspielen.
Aufklärung dringend erwünscht!

Das Os gefällt mir sehr gut, wobei ich finde, dass man merkt, dass du dich mit dem Einbauen des ersten Dialog-Fetzen etwas schwer getan hast, es wirkt ein wenig aufgesetzt. Die anderen Dialoge klingen sehr natürlich und ich finde, damit es auch getan, mehr Rede hätte dem OS, gerade aus Elenores Sicht, vielleicht sogar geschadet.
Besonders interessant finde ich in dieser Geschichte die Lichtverhältnisse, die oft in einem krassen Gegesatz stehen. Insgesamt entsteht ein eher dunkler Eindruck, v.a. durch E.s Hobby, durch die dunkelsten Ecken im "Anwesen" zu schleichen und natürlich nicht zuletzt durch die fantastische Nachtszene am Ende. überhaupt ist es meiner Meinung nach sehr passend, dass die Handlung in einem lichtdurchfluteten Raum beginnt und in einem dunklen Gang endet.Übrigens im Gegensatz zu der Handlung in Raes Zimmer, die mit geschlossenen, schweren Vorhängen beginnt und an einem (hellen) Morgen endet.
Farbtechnisch interessant (du weißt ja, dass ich darauf bei jeder deiner Geschichten komme) fand ich übrigens den lila Vorhang, auf den ich mir noch nicht ganz einen Reim machen kann, und außerdem provokant natürlich Elenores weißes Kleid, das sie in der letzten Szene trägt, was aber in der Dunkelheit nicht ersichtlich ist. In der Schule hätten wir damit sicher einen field day gehabt. xD

Jedenfalls freue ich mich jetzt schon auf die nächsten One-shots (yeah, endlich musst du wieder wichteln!) und wäre für Hinweise zu anderen Geschichten dieses Universums dankbar. Und falls du die beiden mal in die Stadt schicken könntest...?

Liebe Grüße,
Yama
Von:  Votani
2011-09-19T05:44:44+00:00 19.09.2011 07:44
Okay, bevor ich es vergesse oder nicht dazu komme, hab ich schnell die letzte Szene gelesen. :)

Ich war ja schon vorher von der Idee begeistert gewesen, weil ich auf Familiendramen stehe, und du hast echt nicht enttäuscht. Nic mag ich immer noch am meisten und ich hoffe, dass er irgendwann in einer Story von dir noch mal auftaucht bzw. es einen tieferen Einblick in seinen Charakter gibt. Auch Eleonore und Rae sind toll, aber du weißt ja, dass ich deine Charakter meist sehr mag. Sie alle sind so unterschiedlich und ihre ganz eigene Person - und so soll es ja auch sein.

Was ich gut finde ist, dass man die Beziehungen der Charakter zueinander sehr gut mitverfolgen kann. Das passiert so zwischen den Zeilen, was sie richtig realistisch erscheinen lässt. Wie, dass Eleonore ihr Vaters Liebling ist, was er erst in der letzten Szene offiziell sagt. Aber auch Rae, die erst gar nicht redet und dann eine Bindung zu ihr aufbaut und aus sich herauskommt. Gleiches geht für Eleonore, da ich das Ende so interpretiere, als ob ihr Hass auf ihren Vater wegen dessen Verhalten gegenüber Rae drastisch ansteigt, dass sie ihm das so an den Kopf wirft und anfängt dann seine Träume zu manipulieren.

Alles in allem: Eleonore IST merkwürdig, was sie gleichzeitig auch interessant und zu einem guten Hauptcharakter macht.

Meine Kritik kennst du ja schon, etwas zu viele Beschreibungen/Adjektive und meines Geschmacks nachzuurteilen zu wenig Dialog. Ansonsten top geschrieben wie immer und der Titel ist auch ironisch toll.


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