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Klassisch

KaiHiromi, ReiMao
von

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Klartext

Gott, ich bin beinahe ein bisschen gerührt, dass ich es endlich wieder mal pünktlich geschafft habe ;.; Das Kapitel konnte sogar noch zwei Tage reifen, bevor es jetzt onkommt...Schönes Gefühl.
 

Ich saß wie bestellt und nicht abgeholt auf einem Barhocker, der übertrieben stark gepolstert war. Es roch noch ein wenig nach Farbe und anderen neuen Materialien, aber sie hatten es irgendwie geschafft, dass es nicht mehr penetrant war, obwohl „Kaiser Wilhelm“ erst seit ein paar Tagen geöffnet hatte.

Der Tresen war aus massivem, dunklem Holz und mit pompösen Schnitzereien verziert. An den bestuckten Wänden waren silberne Kerzenhalter montiert, unter denen kleine Sofas auf zierlichen Beinen standen. Auch sie waren mit großzügigen, roten Samtpolstern versehen. Wie gesagt, diese Bar war eine Ausgeburt des Neobarock. Im Vergleich zu draußen war das Licht zwar dem Ambiente entsprechend schummrig und alles wirkte verdammt fein, aber durch die vielen Stoffbahnen, die für die Einrichtung verwendet worden waren, blieb es doch irgendwie gemütlich.

Passend dazu lief im Hintergrund Panic! At The Disco.
 

„Wenn du etwas Trinken willst, such dir was von Seite Drei aus“, meinte Kai und schob mir die Karte zu, „Die sehen bei mir fast alle noch nicht so aus, wie sie aussehen müssten, also kann ich dir einen umsonst geben. Optisch misslungene Cocktails darf ich nicht verkaufen.“

„Dann macht dein Chef ja noch ganz schön Verluste…“, murmelte ich, während ich die Liste durchlas.

„Nope. Im Moment arbeite ich nur probehalber. Chef entscheidet nächste Woche, ob er mich einstellt.“

„Hm“, murmelte ich und wählte schnell irgendeinen der Drinks aus, dessen Namen ich nicht aussprechen konnte. Kai beugte sich mit gerunzelter Stirn ebenfalls über die Karte und war mir plötzlich so nahe, dass ich sein Shampoo riechen konnte. Ich zuckte zurück, doch er merkte es Gott sei Dank nicht. Wahrscheinlich war er mit den Gedanken bei dem Cocktailrezept, denn er griff unter die Arbeitsfläche und holte ein paar Flaschen hervor. Ich hob die Augenbrauen. So viel Alkohol –na das konnte ja lustig werden…

„Und?“, fragte er, während er ein paar Zentiliter abmaß und die Menge kritisch begutachtete, „Was verschafft mir die Ehre?“

„Ich hatte Lust, dich zu sehen“, antwortete ich wahrheitsgemäß, „Und mit dir zu reden. Ich war bei Takao, aber ohne dich war’s irgendwie langweilig.“
 

„Wer hätte gedacht, dass ich jemals der ausschlaggebende Punkt für Gelingen oder Misslingen eines Treffens sein könnte“, entgegnete er gestelzt und stellte einen bunten Drink vor meine Nase, den ich neugierig beäugte. „Also für mich sieht der okay aus“, meinte ich, um erstmal wieder ein neutrales Thema anzuschneiden. Kai brummte missmutig. „Das da unten dürfte sich eigentlich nicht so absetzen. Ich glaube, ich muss das Zeug noch länger schütteln…“ Ich hob die Schultern. Schmecken tat’s trotzdem, obwohl ich schon beim ersten Schluck bemerkte, dass wirklich mehr Alkohol darin war, als gut für mich wäre. Kai beobachtete meine Reaktion, deswegen nickte ich ihm kurz zu und trank gleich noch ein bisschen mehr.

„Du musst dich meinetwegen aber nicht betrinken, oder?“, kommentierte er. Ich schüttelte schnell den Kopf, stellte das Glas ein Stück zur Seite und stützte mich auf dem Tresen ab. „Und?“, fragte ich, wobei ich möglichst beiläufig klingen wollte, „Was machst du so? Also, außer Drinks mixen?“

„Illegal Bücher aus dem Internet downloaden“, antwortete er spöttisch, „Ich habe gerade die Liste fürs nächste Semester gesehen. Wenn ich die wirklich alle kaufen wollte, müsste ich meinen Großvater umbringen, damit ich ihn endlich beerben kann.“
 

Ach Gott, war es wirklich schon wieder soweit, dass das Semester bald anfing? Ich hatte mir in den letzten Wochen herzlich wenig Gedanken darum gemacht, denn meine Ausbildungsstelle hatte ich seit Ewigkeiten in Sack und Tüten gebracht, sodass ich nur noch auf den Tag warten musste, an dem sie anfing. Vorbereitungen waren da nicht nötig, aber da Kai und Rei mir ein Jahr voraus waren, hatte ich schon öfter erlebt, wie sie zu rotieren begannen, sobald der Unialltag wieder beginnen sollte.

„Der Job wird dich umbringen“, stellte ich lakonisch fest und deutete zur Unterstreichung auf mein Glas, „Wenn du jetzt wieder anfängst, gleichzeitig zu lernen und zu arbeiten, bist du in spätestens zwei Wochen tot.“ Kai hatte dafür nur ein Schulterzucken übrig. „Es geht nun mal nicht anders“, sagte er, „Voltaire hat eben ein mieses Timing. Er dreht mir immer sofort den Geldhahn zu, wenn es in der Firma Schwierigkeiten gibt. Vermutlich hat er bloß einen Auftrag nicht bekommen, aber das ist ihm schon genug. Dummerweise zicken seine Kunden regelmäßig zu Semesterbeginn rum. Ich hab ja schon überlegt, ob ich mich auf ein Stipendium bewerbe, aber ehe ich mich durch die ganzen Tests gearbeitet und mich mit allen Mitbewerbern geprügelt habe, fließt die Kohle entweder wieder oder bin ich längst tot.“

„Shit happens“, murmelte ich.

„Story of my life“, ergänzte er trocken. Ich versuchte zu ergründen, ob er mir (noch) böse war, aber er ließ sich wie immer nichts anmerken. Es gab nicht das kleinste Anzeichen darauf, dass er überhaupt an unsere Beziehung zurückdachte. Ich seufzte. Da musste ich wohl nachhaken.
 

„Ähm, ich hab gehört, dass du dich von Alyona getrennt hast…?“, setzte ich vorsichtig an und erntete einen genervten Blick. Kai warf das Handtuch, mit dem er gerade wieder ein Glas abgetrocknet hatte, zur Seite und stützte die Hände in die Hüften. „Was die anderen erzählen, ist kompletter Bullshit“, sagte er, „Ich hatte nichts mit ihr. Zugegeben…“ In diesem Moment wich er tatsächlich kurz meinem Blick aus, aber er fing sich blitzschnell wieder und sah mich an, „Ich will nicht behaupten, dass da gar nichts gelaufen ist. Aber wir waren verdammt noch mal nicht zusammen. Ich bin nicht so einer, der sofort zur nächsten rennt, wenn es mit der ersten nicht klappt…“, fügte er so leise hinzu, dass ich es kaum verstand. Sein Ton war aber keineswegs anklagend, also fühlte ich mich auch nicht beschämt –er wirkte wirklich eher wie eine Richtigstellung.

„Ich weiß doch“, murmelte ich entschuldigend.

Als danach betretenes Schweigen zwischen uns herrschte, hörte ich zum ersten Mal wieder auf die Musik. Ich erkannte den Song nach ein paar Takten und hätte am liebsten laut aufgelacht.
 

Is it still me that makes you sweat?

Am I who you think about in bed?

When the lights are dim and your hands are shaking as you're sliding off your dress?

Then think of what you did

And how I hope to God he was worth it.

When the lights are dim and your heart is racing as your fingers touch his skin.
 

Das passte beinahe unverschämt gut zu Kais Gesichtsausdruck, denn er sah mich wirklich äußerst aufmerksam an. Ich erwiderte seinen Blick und merkte, wie ich nun doch verlegen wurde.

Ich dachte manchmal an ihn, wenn ich neben Katsumi lag. Eigentlich dachte ich sowieso ständig über ihn nach…

Neben mir tauchte eine Kellnerin auf und gab im Vorbeigehen einen Kaffee in Bestellung. Kai unterbrach unseren Blickkontakt und wandte mir den Rücken zu, um die Kaffeemaschine zu bedienen. Ich starrte wie hypnotisiert seinen Rücken an, während das Gluckern und Rattern der Maschine die Musik übertönte. Es half nichts, ich war wieder beim Ausgangspunkt angelangt: Ich wollte Kai nicht einfach nur mal eben besuchen. Ich wollte zeigen, hier, da bin ich, überzeug mich gefälligst davon, wieder zu dir gerannt zu kommen.

Gott, das war ja so erniedrigend.

Der Kaffee war fertig, Kai schob ihn über den Tresen, damit seine Kollegin ihn abholen konnte, und klopfte dann das Kaffeepulver aus dem Portionierer. Und da bemerkte ich es; zuerst sah ich, dass er kaum merklich die Lippen bewegte, und dann hörte ich es sogar. Er sang ganz leise mit.
 

I've got more with, a better kiss, a hotter touch, a better fuck

Than any boy you'll ever meet, sweetie you had me

Girl I was it, look past the sweat, a better love deserving of

Exchanging body heat in the passenger seat?

No, no, no, you know it will always just be me
 

Auf einmal fühlte ich mich komplett entlarvt und wurde knallrot.

„Ist alles in Ordnung?“

Die Kellnerin war wieder neben mir aufgetaucht und stellte die Tasse auf ihr Tablett. Dabei musterte sie mich neugierig. „Ist Ihnen nicht gut?“ Auch Kais Aufmerksamkeit war mir so wieder sicher. Schnell winkte ich ab. „Nein, nein, es ist nur…ein bisschen warm hier drin…“ Über Kais Gesicht huschte ein Grinsen, für das ich ihn am Liebsten geschlagen hätte, doch seine Kollegin gab sich mit der Ausrede zufrieden und zog wieder ab.

„Also jetzt mal Klartext, Hiromi“, sagte Kai, sobald wir wieder unter uns waren, „Ich habe seit zwei Wochen kein Wort mehr von dir gehört, und wir haben noch nie so wirklich über diese Sache zwischen uns geredet. Das willst du doch nachholen, oder?“

Ich verzog den Mund. Ja, das wäre zumindest ein guter Anfang, obwohl ich schon wieder nicht wusste, ob ich einfach ganz neutral über „diese Sache“ sprechen konnte, wo er mir doch sofort wieder den Kopf verdrehte.

„Hast du denn Zeit?“, fragte ich und hoffte, dass er passen musste. Doch natürlich hob er nur beide Hände, um zu signalisieren, dass sowieso nicht viel los war und er praktisch alle Zeit der Welt hatte. „Kaffee?“, bot er mir an, und dazu sagte ich nicht nein.
 

Nachdem er das erledigt hatte, kam er vor den Tresen und setzte sich ebenfalls auf einen Barhocker. Ich fragte mich kurz, was wohl sein Chef dazu sagen würde, aber ihm schien dieser Gedanke gar nicht zu kommen. Er sah eine Weile zu, wie ich erst den Cocktail austrank und dann den Kaffee umrührte, bevor er wieder zu sprechen begann: „Also, das hilft dir jetzt bestimmt nicht weiter, aber ich wollte nur sagen, dass ich natürlich verstanden habe, warum du das beendet hast…“

„Naja, mir war eigentlich klar, dass du das tust“, entgegnete ich spöttisch, wodurch es mir tatsächlich gelang, dass er sich verlegen am Kopf kratzte.

„Jaah“, machte er langgezogen, „Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Du bist schließlich nicht wie Alyona –hey, ist nicht böse gemeint!“, sagte er schnell, als ich empört die Luft einzog. „Ich meine, mit dir kann man halt nicht solche Dummheiten machen, wie offene Beziehungen und so. Das hast du nicht verdient, und ich hätte gar nicht damit anfangen dürfen.“

Ich sah ihn verwirrt an. „Du…du machst dir Vorwürfe?“, fragte ich, „Du?“

„Was soll denn das jetzt heißen? Natürlich mache ich mir Vorwürfe, wenn ich jemanden verletze, den ich sehr…mag.“ Sympathiebekundungen fielen ihm wohl doch noch ziemlich schwer. Als er merkte, worauf sein Satz zusteuerte, wurde er wieder verdächtig leise.

Ich strich mir verlegen die Haare aus dem Gesicht, um wenigstens etwas zu tun. Gerade weil er sich offensichtlich doch so einige Gedanken um mich machte, was ich ihm irgendwie nicht zugetraut hatte, schoss mein Puls wieder in die Höhe. Er dachte an mich. Irgendwie war das schön.
 

Ich räusperte mich kurz. „Aber, naja, ich hab mich ja schließlich darauf eingelassen“, sagte ich dann, „Und mir ist dann auch klar geworden, dass es halt nichts für mich ist, so eine…offene Sache eben. Aber ich bin daran genauso…Schuld, wie du. Ich hätte ja auch einfach nein sagen können.“ Verdammt, ich redete schon wieder mehr mit dem Boden und den Wänden, als mit ihm.

„Ich will nicht, dass du denkst, ich hätte dir das nur vorgeschlagen, weil es mir gerade in den Kram passte“, murmelte Kai. Ein kurzer Blick sagte mir, dass er die Oberfläche des Tresens auch ziemlich interessant fand. „Ich meine, ich wollte eigentlich gar nichts machen und lieber abwarten, was jetzt mit Katsumi wird. Aber dann ist das mit uns so nebenher gelaufen und Yuriy hat mich vollgequatscht…“

„Was hat er denn gesagt?“, unterbrach ich, weil ich meine Neugierde natürlich wieder mal nicht zurückhalten konnte. Kai verdrehte die Augen. „Naja, das Übliche –dass ich endlich mal den Arsch an die Wand kriegen soll. Ich glaube, er meinte eigentlich, dass ich Katsumi aufs Maul geben und richtig mit dir zusammen sein sollte. Aber du warst so verschossen in ihn, und das mit uns war ja eher so eine Affäre…“
 

„Verdammt, Hiwatari“, stieß ich hervor und vergaß vollkommen meine Verlegenheit, sodass ich ihm direkt in die Augen sah, „Du machst dir mehr Gedanken, als eine Frau!“

„Sagt die, die wochenlang behauptet, es wäre alles in Ordnung, obwohl man ihr an der Nasenspitze ansieht, dass sie einfach nicht darauf klarkommt, zweigleisig zu fahren.“

„Ach ja? Und warum hast du bitteschön nichts gemacht, wenn du doch alles gewusst hast?“, fragte ich spitz.

„Weil ich geahnt habe, dass du dich früher oder später für Katsumi entscheidest. Und mir war später einfach lieber.“

An seiner Miene war deutlich abzulesen, wie ihm erst klarwurde, was er gesagt hatte und dann, welche Konsequenzen das haben könnte. Eigentlich ein sehr seltener Anblick.

„Scheiße“, nuschelte er, „Sorry.“

„Warum?“, fragte ich rhethorisch. Jetzt war der Karren gegen die Wand gefahren. Die letzten Wochen über hatte ich mir eingeredet, dass es Kai sowieso nicht kümmerte, ob ich nun was mit ihm hatte oder nicht. Aber irgendwie war mir auch immer klar gewesen, dass das nur eine billige Ausrede war. Wenn dem so wäre, hätte er wirklich erst gar nichts mit mir angefangen.

Er musterte mich ausgiebig. Ich bemühte mich nicht, irgendwas vor ihm zu verbergen. Er durfte sehen, wie unentschlossen ich war und wie sehr ich einige meiner Entscheidungen bereute.

„Es war einfach so kompliziert“, erklärte ich, „Und ich war so…wütend auf dich. Katsumi war immer so nett und du schienst dich für nichts zu interessieren, dabei…wollte ich doch gerade von dir, dass du dich um mich kümmerst.“ Jetzt war es raus und ich wurde ganz automatisch wieder rot. Das kam ja einem Liebesgeständnis gleich.
 

„Tja, und ich dachte, du bräuchtest nur noch ein bisschen Zeit, um Katsumi näher kennenzulernen und wollte nicht dazwischen stehen. Jedenfalls nicht mehr, als ich es schon tat. Ich hab doch nie angenommen, dass du wirklich ernsthaft erwogen hast, Katsumi in den Wind zu schießen. Du warst immer so gelassen, wenn du bei mir warst. Ich dachte wirklich, du würdest dir nur Sorgen machen, dass Katsumi dahinter kommt und mit dir Schluss macht.“

„Na, da sind wir wohl auf direktem Weg aneinander vorbei gelaufen“, stellte ich lakonisch fest und Kai stieß zustimmend die Luft aus.

Einer Eingebung folgend griff ich nach seiner Hand und umschloss sie leicht. „Und jetzt?“

„Das ist eine verdammt gute Frage“, entgegnete er, „Schließlich liegt dir ja doch ziemlich was an Katsumi, oder?“

Klar, stellte ich achselzuckend fest. Sonst wäre ich nicht mit ihm zusammen. Vielleicht war ich auch noch in ihn verliebt. Ich war gern seine Freundin; er war zuvorkommend, zärtlich und kein schlechter Liebhaber. Wir verstanden uns gut. Es war unkompliziert. Aber bis auf die Tatsache, dass er Musiker war, auch nichts Besonderes.

„Naja, ich will schon nicht so einfach mit ihm Schluss machen“, murmelte ich und fühlte mich, als müsste ich mich rechtfertigen. Fakt war aber, dass ich sofort ein schlechtes Gewissen bekam, wenn ich an ihn dachte.

„Das verlangt ja auch keiner“, sagte Kai, „Ich meine, jetzt hast du das schon so lange durchgehalten…“
 

Ich runzelte die Stirn. Eigentlich hätte man bei diesen Worten einen sarkastischen Unterton erwarten können, aber Kai sagte das, als würde er es völlig ernst meinen.

„Naja, sooo schlimm ist er nun auch wieder nicht“, entgegnete ich verwirrt und erntete einen ebenso verwirrten Blick von Kai. Seine Hand umfasste meine Finger ein bisschen fester.

„Aber wir reden schon von derselben Sache, oder?“, fragte er.

„Häh? Also ich rede von Katsumi“, antwortete ich perplex.

„Ja, und ich rede von dem, was wegen euch grad im Internet los ist“, sagte Kai, „Hast du das noch nicht bemerkt?“

Natürlich hatte ich nichts bemerkt. Ich war seit zwei Wochen internetabstinent. „Was ist denn los?“, fragte ich vorsichtig. Statt eine Antwort zu geben, zog Kai sein Handy aus der Tasche und loggte sich auf Facebook ein. Kurz danach reichte er mir das Gerät. Auf dem Display erkannte ich die Facebookseite von Showdown, die ich natürlich auch vernachlässigt hatte, was die Jungs aber mit einem gelassenen Abwinken toleriert hatten, so nach dem Motto, was soll schon passieren?
 

Was da alles passieren konnte, erkannte ich jetzt. Sprachlos scrollte ich nach unten und las die Pinnwandeinträge. Beinahe alle enthielten Beschimpfungen über Katsumis neue Freundin. Über mich. Diverse umgangssprachliche Bezeichnungen für „Prostituierte“ waren noch das Harmloseste. Meine Hand wanderte zu meinem Mund; ich hatte früher nie geglaubt, dass diese Geste außerhalb von Hollywoodfilmen überhaupt gemacht wurde, aber in Situationen wie diesen passierte es einfach. Dort standen Beschwerden, Lästereien, Gerüchte und Drohungen. Jemand behauptete, Katsumi habe mich geschwängert und sei nur deswegen mit mir zusammen. Andere sagten, ich würde wahrscheinlich gut ficken und er würde mich nur als Zeitvertreib „halten“. So ging es weiter, die Einträge waren Stunden, Tage, Wochen alt. Unsinnig viele Links zu irgendwelchen Hiromi-Hass-Seiten tauchten auf. Irgendwann sah ich sogar ein Foto von mir –es war mein Myspace-Profilbild. Irgendjemand hatte mich dort gefunden, das Bild kopiert und es so bearbeitet, dass ich jetzt Mittelpunkt einer obszönen Karikatur war. Und wer wusste denn, wie weit sich dieses Bild schon verbreitet hatte.
 

Ich spürte, wie mir vor lauter Fassungslosigkeit die Tränen in die Augen stiegen. In meinem Kopf tauchten Erinnerungen an Nachrichten auf, die es von anderen Internetusern gegeben hatte, die eine Dummheit begangen hatten und deswegen für immer bloßgestellt waren. Und ich hatte meines Erachtens noch nicht einmal eine Dummheit gemacht. Ich hatte weder ein peinliches Video von mir gedreht, noch irgendwelche dummen Sprüche irgendwo gepostet. Ich war doch nur mit einem Typen zusammen.

„Viele von den Posts wurden auch gemeldet“, sagte Kai neben mir, „Aber es waren einfach zu viele. Und die meisten Leute sind zu faul, sich jeden Tag hinzusetzen und die ganze Pinnwand zu melden. Oder haben keine Zeit…“ Ich nickte nur. Natürlich, und das verlangte auch keiner. Das wäre ja auch eigentlich meine Aufgabe gewesen, also war es irgendwie auch meine eigene Schuld.

„Weißt du, wie es auf den anderen Plattformen aussieht?“, fragte ich leise und nahm dankbar die Serviette entgegen, die er aus ihrem Halter gezupft hatte, damit ich die Tränen wegwischen konnte.

„Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, ungefähr genauso“, sagte er, „Aber auf Facebook ist es am Schlimmsten, weil das alle haben.“

„Scheiße“, stieß ich hervor und merkte, dass meine Stimme blockiert war, „Scheiße…“
 

Kai rutschte von seinem Hocker und umarmte mich. Sofort drückte ich mich an ihn, als wollte ich mich in ihm verkriechen, damit mich niemand mehr sehen konnte. Wenn uns jetzt zufällig eines dieser Fangirls sah und ein Foto machte, würde der Skandal noch größer werden. Mir wurde klar, dass mir ab sofort immer bewusst sein musste, dass mich irgendjemand sehen und mir aus meinen Taten einen Strick drehen könnte.

Warum, verdammt noch mal, hatte Katsumi mir nichts erzählt? Er musste doch davon wissen! Hatte er mir den zusätzlichen Stress etwa ersparen wollen, weil er gesehen hatte, wie mies ich mich ohnehin schon fühlte? Eine andere Erklärung fiel mir nicht ein. Und was sollte ich jetzt machen? Heute Abend hatte ich eigentlich zu ihm zurückgehen wollen, aber unter diesen Umständen? Ich war komplett überfordert, wollte nur noch raus, aus diesem ganzen Chaos verschwinden.
 

Und dann kam mir ein rettender Gedanke. Ich hob den Kopf und sah zu Kai hoch, der nachdenklich und mit einem Hauch Wut ins Leere blickte. Aber würde ich ihn dann nicht schon wieder ausnutzen? Wir hatten uns doch gerade erst wieder vertragen…Und was, wenn wieder etwas passierte? Dann ging alles wieder von vorn los.

Aber es war eine unleugbare Tatsache: Bei Kai fühlte ich mich wirklich sicher.

„Kai?“, fragte ich vorsichtig, „Kann ich vielleicht…also, wenn du hier Schluss hast…kann ich mit zu dir kommen? Ich will auch gar nicht über Nacht bleiben oder so…aber zu Hause würde ich alleine rumsitzen und die anderen würden mich nur ausfragen und…“

„Okay“, unterbrach er mich.
 


 

Schon eine Stunde später betraten wir seine Wohnung. Ich war erleichtert. Noch immer fühlte ich mich ein wenig von der Welt entrückt, sobald ich hier war, und genau das brauchte ich jetzt.

Minerva lag zusammengerollt auf dem ungemachten Bett und ich setzte mich zu ihr, um ihr über das dicke Fell zu streichen. Kai legte seine Tasche ab und fuhr den Computer hoch. Er musste noch was für die Uni machen, und wir waren stillschweigend übereingekommen, dass sich jeder mit sich selbst beschäftigen würde. Ich wollte ihm auch nicht gleich wieder zur Last fallen. Erschöpft sank ich auf die Seite, sodass mein Kopf neben Minerva lag und ich sie weiter streicheln konnte. Ein leises Schnurren ging von der Katze aus, das mich ganz dösig machte. Dann setzte das gleichmäßige Klackern der Computertastatur ein, unterbrochen von Mausklicks.
 

Ich musste eingeschlafen sein. Als ich wieder erwachte, dämmerte es bereits. Kai saß neben mir und sah fern. Ich fühlte mich wie gerädert.

„Alles klar?“, fragte er, während ich mich aufsetzte.

„Hm“, brummte ich, „Besser, als vorhin.“ Tatsächlich hatte ich mich nach dem ersten Schock wieder gefasst. Jetzt hieß es, mit den Jungs von Showdown zu reden und eine Lösung zu finden –aber nicht heute. Diese Diskussion würde etwas länger dauern. „Ich kann immerhin wieder klar denken“, meinte ich und sah ihn von der Seite an. Jedenfalls in dieser Hinsicht. Was Kai betraf…da war noch einiges durcheinander.

„Willst du jetzt nach Hause?“

„Ich…ähm…“, druckste ich. Von Wollen konnte nicht unbedingt die Rede sein. Aber es wäre schon an der Zeit, ja. Er drehte den Kopf zu mir und sah mich an. „Du könntest auch…einfach hier bleiben.“

Es verlangte mir alles ab, daraufhin den Kopf zu schütteln. „Nein…lieber nicht…“ Und er nickte. Entschlossen stand ich auf und ging in Richtung Tür. „Na dann werd ich mal.“
 

Kai kam mir nach und reichte mir meine Jacke. „Danke, dass du heute da warst“, sagte er leise, als wir uns vor der Tür gegenüber standen und ich schon eine Hand auf der Klinke hatte, sie aber einfach nicht herunterdrücken wollte, ohne noch etwas gesagt zu haben.

„Danke, dass ich heute mit hierher kommen durfte“, entgegnete ich daher. Doch noch immer nichts.

Würde er doch nur…, dachte ich, und mir schossen viele informelle Formen von Verabschiedung durch den Kopf.
 

Und dann tat er es. Er beugte sich vor und küsste mich. Ich ließ die Klinke los und hielt mich dafür an seinem Shirt fest, während ich das vertraute Gefühl genoss, das sich in meinem Bauch ausbreitete.

Eine ganze Weile standen wir so da, im Halbdunkel des Flures, bis er den Kuss irgendwann wieder löste. „Tut mir leid“, murmelte er, doch ich schüttelte den Kopf. „Muss es nicht.“ Einen Moment überlegte ich, doch dann fügte ich hinzu: „Wenn du willst, komm ich übermorgen wieder ins ‚Kaiser Wilhelm‘.“

„Du kannst mich abholen und wir gehen woanders noch was trinken“, ergänzte er.

„Ist das ein Date?“

„Wir sollten offiziell bei ‚einen Trinken gehen‘ bleiben.“

„Hm, ja“, stimmte ich zu.
 


 


 

Song: "Lying is the most fun a girl can have without taking her clothes off" *lufthol xD* von Panic! At The Disco



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Kommentare zu diesem Kapitel (8)

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Von: abgemeldet
2012-03-05T20:21:56+00:00 05.03.2012 21:21
Ich hab' gerade vor meinem Pc gesessen, mein Lied auf Replay gedrückt und erst einmal sacken lassen, was ich gelesen habe. Mal wieder bin ich von den Socken und muss feststellen - auch, mal wieder -, dass du ein herausragendes Talent dafür besitzt, Gefühle herüber zu bringen. Als Hiromi das mit Facebook herausgefunden hat, fand ich ihre Reaktion absolut treffend beschrieben und Kai war sowieso total knuffig und so. Aber naja. *grml* Das Ende *grml* Das ist schon wieder an einer so verflixt asozialen Stelle gesetzt worden :D Also geb dir einen hübschen Tritt in deinen Hintern und mach fix fix weiter, okay? *-*

Seeeeele :D
Von:  Scary_Mel
2012-03-05T08:27:35+00:00 05.03.2012 09:27
Ein superr kappi :) bin ja mal echt geepannt wie es weiter geht :)
Vorallm toll wie kai hiromi geküsst hat *schmacht*
also schön fleißig weiter schreiben xD

LG
Revi~
Von:  Catan
2012-03-04T22:00:24+00:00 04.03.2012 23:00
Super nettes Kapitel ^.^
Hat Spaß gemacht sich in das Gefühlschaos der beiden reinzulesen.
Ich freu mich auf mehr!

Gruß, Catan
Von:  man-chan89
2012-03-04T21:27:08+00:00 04.03.2012 22:27
hehe ich darf jetzt das 100. kommi abgeben ;D


das war ein echt schönes kapitel - das ist dir echt total gelungen
es ist toll zu lesen, dass kai zugab, dass hiromi ihm nicht ganz egal ist
mit dem fb ist wirklich böse, aber sie packt das schon - hoffe ich zumindest ;)
und das sie sich am ende näher gekommen sind, find ich echt klasse und jaja kein date ;D

und ich geb den anderen recht - die story ist vor allem so gut weil sie so real und modern ist :)

mach weiter so!
lg
manchan
Von:  Sashas_Universe
2012-03-04T11:26:13+00:00 04.03.2012 12:26
Oh ja, das Kapitel ist wieder sehr gelungen und endlich läuft wieder was zwischen Kai und Hiromi *___*
Aber sie tut mir so leid, wegen den bösen Beschimpfungen...
das ist aber auch das tolle an deiner Story, du bringst so viele reale Sachen mit ein, das find ich super x3
bin gespannt wies weitergeht
Von:  Cameo
2012-03-04T07:21:40+00:00 04.03.2012 08:21
Als ob, und wie das ein date ist xDD
Oh das kapitel war schön, ich bin froh, dass sie sich endlich versöhnt haben x3
Und dieser Stress mit Showdown wird sich für Hiromi auch schon klären^^ Und wenn nicht, dann will ich es lesen xD

Hat mir sehr gefallen :)
LG Cameo
Von:  SkyAngel
2012-03-04T01:06:12+00:00 04.03.2012 02:06
schnurr
Arg solche situationen kenne ich nur zu gut! ^^

Und ups... jetzt fängt das schon wieder von vorne an. haha ^^

perfekt wie immer <3 ich liebe diese story einfach ^^ vor allem weil sie so "modern" ist :)

grüße sky
Von:  FreeWolf
2012-03-03T22:08:12+00:00 03.03.2012 23:08
Erst mal: ich hab' gerade vorhin eine Englische Glee-Ff gelesen, in dem GENAU das Lied vorkam. Es verfolgt mich. O__o°
Ich glaube, ich sollte es mir tatsächlich langsam mal anhören.

Arme Hiromi, Facebook ist böse. Aber immerhin konnte sie Kai wieder.. in einer Art für sich gewinnen. (Als ob das nötig gewesen wäre.) Ich wette, er hat die Posts gemeldet.. *grins* ;)

wie immer tolle Arbeit!
Gruß und Kuss,
Wolfi


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