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Der unerwünschte Mieter

von

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Kapitel 22

Kapitel 22
 

„Du hast was?“

Da ich nicht länger sitzen kann, stehe ich auf und laufe unstet durch meine Wohnung.
 

„Ich habe ein bisschen recherchiert und bin auf seine Handynummer gestoßen.“
 

„Und da dachtest du, hey, ich rufe ihn mal an“, meine ich sarkastisch.

Warum habe ich eigentlich nichts bei meiner Recherche gefunden? Habe ich so ungünstig gegoogelt oder einfach kein Talent, auf die entscheidenden Informationen zu stoßen? Anwältin scheidet somit als mögliche Berufalternative wohl glasklar aus.
 

„Du hast versprochen, mir zu verzeihen“, erinnert sie mich. „Du hast es versprochen“, kommt es fast schon kläglich aus der Leitung.
 

Na toll. Will sie mir jetzt ein schlechtes Gewissen machen? Ich greife nach der halbvollen Packung

Taschentücher auf dem kleinen Beistelltisch neben der Vitrine und pfeffere sie gegen die Wand. Sich ein paar Mal überschlagend landet sie auf dem Boden und bleibt dann regungslos liegen.
 

„Ich hatte immer dein Bestes im Sinn, du kennst mich doch“, fährt Jessi ihre Verteidigungstirade fort.
 

„Das gibt dir noch lange nicht das Recht, Joshua anzurufen! Und dann auch noch direkt an dem Tag, bevor ich ihn aufsuchen wollte! Du wusstest genau, dass ich heute zu ihm fahre! Wolltest du ihn vorwarnen? Hat er sich schon im Vorfeld diese Lügengeschichten ausgedacht? Kannst du mir das mal verraten???“
 

Ich bin so sauer, so verdammt sauer!

Erst fallen mir die beiden Kerle in den Rücken und nun auch noch meine eigene beste Freundin.

Wutentbrannt packe ich einen Kugelschreiber und schmeiße ihn der Packung Taschentücher hinterher. Krachend poltert er über das Parkett und rollt letzendlich unters Sofa. Ich wende meinen Blick von ihm ab und starre auf meinen Wandkalender. Knapp eine Woche nur, nur ein paar Tage kenne ich Joshua und schon ist mein ganzes Leben aus den Fugen geraten.
 

„Magst du dir nicht wenigstens anhören, warum ich das getan habe?“, fleht sie leise.
 

Ich zwinge mich dazu, meinen Atem abzuflachen und ein paar Mal tief ein- und auszuatmen. Dabei fahre ich mit einer Hand über den Kalender und kreise ein paar Mal um den 17. Mai – der Tag, an dem alles angefangen hat.

Will ich mir das anhören?
 

„Weil du es bist, Jessi“, seufze ich resigniert.

Nein, eigentlich will ich es nicht hören, doch kann man seiner besten Freundin so einen Wunsch abschlagen? Sie war immer für mich da, stand immer hinter mir, hielt immer zu mir, egal, was ich verbrockt habe, und egal, was mir widerfahren ist.

Und aus diesem Grund muss ich ihr zuhören.
 

„Ich danke dir, wirklich.“ Sie trommelt mit ihren Fingern kurz gegen den Hörer, holt tief Luft und meint dann: „Da ich einfach neugierig war, wer es geschafft hat, sich in dein Herz zu schleichen, habe ich, wie gesagt, gestern spontan ein wenig recherchiert. Es war nicht meine Absicht, seine Handynummer herauszufinden, und schon gar nicht, ihn dann auch noch anzurufen. Aber je später es wurde und je mehr Gedanken ich mir um dich gemacht habe, desto stärker wurde der Drang in mir, dir zu helfen. Ich wollte ihn mal sprechen, um mir selbst einen Eindruck von ihm machen zu können. Und ehe du mir nun an den Hals springst oder mich verfluchst, solltest du wissen, dass ich meine Identität nicht preisgegeben habe. Ich tat so, als ob ich mich verwählt hätte. Ich habe sogar extra meine Stimme verstellt und ich kam mir so kindisch dabei vor.“ Ich weiß haargenau, dass sie jetzt über sich selbst schmunzelt und den Kopf schüttelt. „Keine Sorge, selbst die Nummer meines Handys war unterdrückt, sodass er keine Möglichkeit hat, den Anruf nachzuverfolgen. Jedenfalls ...“ Als sie stockt, merke ich erst, dass ich stocksteif dastehe und angestrengt ihrer Stimme lausche. „Jedenfalls glaube ich, dass er nicht gemerkt hat, dass ich es bin. Wir haben auch nicht lange gesprochen, aber eines habe ich in der kurzen Zeit herausgefunden.“
 

Ja? Was? Sie kann doch jetzt nicht einfach schweigen!?

Nervös kaue ich auf meiner Lippe und spiele mit einer Hand an dem Reißverschluss meiner Hosentasche.

Es ist so still um mich herum, dass ich den Wind rauschen höre sowie ein leises Donnergrollen, das von den Flugzeugen stammt. Die Fenster meiner Wohnung sind so gut isoliert, dass ich diese Hintergrundgeräusche nur wahrnehme, wenn es wirklich totenstill hier drin ist.
 

„Jessi?“, frage ich zum einen voller Sorge, zum anderen voller Ungeduld.
 

„Also … Ich hatte damit gerechnet, dass er mich abweist, einfach auflegt oder wütend wird, doch stattdessen war er sehr freundlich und hilfsbereit. Und ich bezweifle, dass es daran lag, dass ich eine Frau bin. So wie er klang, war das eine normale Geste für ihn. Er versuchte sogar, mit mir gemeinsam herauszufinden, wo ich einen Zahlendreher in der Nummer haben könnte, obwohl das ein fruchtloses Unterfangen ist. Er war so ganz anders als letztens am Telefon, als er dich von der Stadt nach Hause gebracht hat. Und daher schockte mich deine SMS vorhin, als du meintest, dass er gelogen hat. Ich dachte wirklich, dass ...“ Sie seufzt.
 

„... er gut genug für mich ist?“, frage ich und rutsche an der Holztreppe angelehnt, die zur Galerie führt, zu Boden.
 

„Ich habe es dir so sehr gewünscht. Schon so lange wünsche dir einen Mann, der dich auf Händen trägt, mit dem du Spaß haben kannst und der auch seine eigene Meinung vertritt. Und ich verstehe einfach nicht, warum er dir nicht vergönnt ist.“
 

So allmählich steigen Tränen in mir auf, die ich aber wieder hinunterkämpfe.

„Meinst du, dass mich mein Gefühl doch nicht betrogen hat?“
 

„Zwar kann ich es dir nicht versprechen, aber ich denke nein. Doch das heißt jetzt natürlich noch lange nicht, dass er sich deshalb alles erlauben darf. Dein Vertrauen hat er jetzt erst mal gründlich verspielt.“
 

Oh ja, das hat er. Ich fasse mir an den Hals und sehe die von mir heißgeliebte Kette vor Augen. Warum muss sie auch bloß ein dummes Requisit sein? Er hatte mich fast so weit, ich hätte ihm beinahe blindlings vertraut, doch er hatte nichts besseres zu tun, als mir offen ins Gesicht zu lügen.
 

„Duhu?“
 

Ich verenge meine Augen. Wer so daherkommt, will irgendwas.

„Was musst du mir noch beichten?“

Bitte nicht noch mehr, ich habe wirklich genug für einen Tag.
 

„Auch wenn es gerade eigentlich total ungünstig ist und ich den neuen Fall nicht einfach schleifen lassen sollte, habe ich mir überlegt, dass ich spontan zwei Tage Urlaub mache und übermorgen zu dir fahre.“
 

Jessi hier bei mir haben?
 

„Nimmst du mich denn auf?“, fragt sie zweifelnd.
 

Eigentlich brauche ich nicht nachzudenken.

„Nur wenn du dafür sorgst, dass ich hier auch ein bisschen rauskomme.“

Ich brauche jetzt Ablenkung von der Ablenkung. Joshua hat mich von meinen Schmerzen und der dadurch ausgelösten Krise abgelenkt und nun muss ich mich von ihm ablenken. Naja, und von Aurel natürlich auch.
 

„Zu Befehl, Madame. Was hältst du davon, wenn du morgen deinen Chef fragst, auch kurzfristig Urlaub zu bekommen und wir übers lange Wochenende wegfahren? Ein Schloss besichtigen, Tretboot fahren und es uns so richtig gut gehen lassen?“
 

Wow!

WOW!

Das klingt großartig. Jessi weiß genau, dass sie damit bei mir punkten kann.

„Einverstanden, ich melde mich morgen, sobald ich weiß, ob das in Ordnung geht.“ Ich ziehe meine Knie heran und streiche mit meiner freien Hand über den kühlen Parkettboden neben mir. „Und jetzt versprichst du mir was.“
 

„Und was?“
 

„Ruf ihn nie wieder einfach so an, okay?“
 

„Kommt nicht wieder vor, versprochen.“
 

„Ach und noch was.“
 

„Ja?“
 

Ich nehme meine komplette Selbstbeherrschung zusammen und murmele: „Danke.“
 

„Für dich doch immer.“ Das Lächeln in ihrem Gesicht höre ich förmlich.
 


 

Obwohl ich es kaum glauben kann, laufe ich gerade mit einem Strahlen durch den langen Gang, gehe durch die Glastür und setze mich für einen Moment überglücklich auf meinen Drehstuhl. Mein Chef hat meinen Spontanurlaub genehmigt, ich fass' es nicht! Ich springe wieder auf, laufe wieder zurück und biege links in Marens Büro ab.
 

„Du glaubst nicht, was ich morgen mache!“, grinse ich sie an.
 

„Hey, schön dich zu sehen.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen deutet sie auf den leeren Stuhl neben sich. „Rikki ist krank, du kannst dich also setzen.“
 

„Ich trage dir die Ruhe davon, hm?“
 

„Irgendwie schon ja, also komm mach' es dir gemütlich und erzähl mir, was du morgen machst.“
 

Zwar bin ich gerade viel zu aufgeregt, um zu sitzen, aber ich tue ihr den Gefallen und lasse mich auf Rikkis Stuhl nieder. „Ich fahre kurzerhand ein paar Tage weg.“
 

Sie schaut mich mit ihren großen blauen Augen an und wirft mir einen zweideutigen Blick zu. „Doch nicht etwa mit ihm?“
 

Nein! Das würde mir gerade nicht mal im Traum einfallen!

„Mit Jessi. Und das allerbeste ist, dass Herr Kiplan eben auch noch eingewilligt hat.“ Da ich genau weiß, dass sie ohnehin fragen wird, füge ich ein „er ist ausgezogen“ an.
 

„Okay, jetzt hast du mich neugierig gemacht. Gestern sollte ich mich noch zwischen Rache und Vergeltung entscheiden. Nun sagst du mal nebenher, dass er ausgezogen ist. Was ist eigentlich los? Vor allem: Warum strahlst du so?“
 

Ich hebe einen Finger und lasse ihn wieder sinken. Die Freude, mit Jessi ein paar Tage wegzufahren, scheint noch viel größer als angenommen zu sein.

„Hach, ich freue mich einfach, mal ein paar Tage alles hinter mir zu lassen.“
 

„Das beantwortet meine Frage nicht.“
 

„Die letzte schon“, weiche ich aus. „Du, kann ich dir alles nächste Woche erzählen? Ich muss jetzt noch dringend ein paar Sachen fertig machen, nachdem ich die nächsten beiden Tage nicht hier bin.“
 

Als ich aufstehe, versperrt sie mir den Weg.

„So kommst du mir nicht davon.“
 

Einen Versuch war es wert. Geschlagen setze ich mich wieder hin. Bin ja selbst schuld, wenn ich freudestrahlend hereinspaziere und auf diese Weise Marens Interesse wecke. Aber bekanntlich denke ich ja erst, wenn es zu spät ist.

„Reicht dir die Kurzzusammenfassung?“
 

Sie legt den Kopf schief und ihre blonden Haare fallen nach vorne, die sie sich mit einer geübten Bewegung zurückwirft. „Darf ich das nach der Kurzzusammenfassung entscheiden?“
 

Und obgleich es meine Stimmung trübt, erzähle ich ihr kurz und bündig, was in den letzten Tagen vorgefallen ist.

„Und deshalb ist es so toll, morgen mit Jessi wegzufahren“, schließe ich.

Allerdings habe ich den Teil mit Aurel völlig außen vor gelassen.
 

„Wow...“ Sie lässt sich in ihrem Stuhl zurückfallen und sieht mich zweifelnd an. „Und du lässt dir das alles gefallen?“
 

„Ich habe ihm eine verpasst, schon vergessen?“ Wehmütig balle ich meine Rechte zur Faust.
 

„Das ist bei weitem nicht genug. Selbst wenn ich Vergeltung mittels durchdachter Reaktion umschrieben habe, so sollte Vergeltung immer noch Vergeltung bedeuten. Setz' ihn mir vor und ich mache ihn zur Schnecke. Der ist danach so klein mit Hut!“ Sie hält zwei Finger hoch, die knapp zwei Zentimeter voneinander entfernt sind.
 

„Noch so groß?“, grinse ich.
 

„Im Ernst, Alissa. Warum lässt du das mit dir machen?“
 

„Willst du mich hier jetzt zurechtstutzen?“ Das Lächeln schwindet aus meinem Gesicht und ich greife nach einem Stift von Rikkis Tisch, um meine Finger mit irgendetwas zu beschäftigen.
 

„Nein das will ich nicht und das weißt du. Aber dass Joshua dir nur was vorgespielt hat, ist in meinen Augen dermaßen pietätlos, dass ich ihn sogar am liebsten zum Teufel jagen würde, obwohl ich persönlich mit ihm nie was zu tun hatte. Ich an deiner Stelle wäre auch nie zu diesem Theater gefahren. Ich möchte hier nicht über dich richten, bei mir jedoch hätte er seine Chancen bereits alle verspielt.“
 

Im Grunde gebe ich ihr ja recht. Alles, was sie gesagt hat, würde ich sofort unterschreiben, wenn ich niemals die andere Seite in ihm gesehen hätte. Mein malträtiertes Herz klammert sich da an was, das es einfach nicht aufgeben möchte. Noch nicht.

„Ich hoffe, du denkst jetzt nicht, dass ich ihm einfach so vergebe, denn das wird gewiss nicht geschehen. Heute Nacht habe ich mir alle möglichen Sachen ausgemalt, die er tun könnte, um zumindest einen Teil dessen wiedergutzumachen, was er getan hat. Natürlich wird es anders kommen, das ist mir klar, aber nun ist eindeutig er dran, etwas zu unternehmen. Ich gehe nicht mehr auf ihn zu, ein bisschen Selbstachtung möchte ich mir ja schon noch behalten.“
 

„Schieß ihn in den Wind, er ist es nicht wert“, entgegnet sie resolut. „So jemand wie er wird es nie lernen. Er hat deine Menschenwürde bereits einmal missachtet, woher willst du wissen, ob er es nicht ein weiteres Mal tut?“
 

„Ich weiß es nicht“, gebe ich zu und fühle mich mit jeder Sekunde schlechter, in der ich ausgeliefert vor Maren sitze.

Es war wirklich keine gute Idee, hier vorbeizukommen.

Wenn ich nicht selbst involviert wäre, würde ich wohl genauso wie sie argumentieren, aber ich stecke nun mal mittendrin. Ich bin sozusagen die Hauptperson, die Hauptrolle, … ich beiße mir auf die Zunge. Mein Herz zieht sich zusammen und ich richte meinen Blick starr auf den Stift, der zwischen meinen Fingern hin- und herwandert.
 

„Hey, nein, das wollte ich nicht. Sorry, ich bin dir zu nahe getreten.“
 

„Passt schon“, erwidere ich leise. „Vermutlich würde ich nichts anderes sagen, wenn du mir so was erzählen würdest.“
 

„Der Kerl regt mich aber auch total auf!“ Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich, wie sie ein Blatt Papier zusammenknüllt und in den braunen Eimer unterm Tisch wirft.
 

Mich auch!
 

„Da sind Sie ja!“ Frau Stern, unsere Dame vom Empfang, kommt leicht außer Atem auf uns zu und lächelt mich freundlich an. „Unten wartet ein junger Mann auf Sie. Herr … Herr ... das tut mir ja so leid, jetzt ist mir der Name entfallen.“
 

Nein, … nein, das wagt er nicht!

Ich schlucke und versuche mich an einem höflichen Lächeln. „Lentile?“, frage ich vorsichtig an.
 

Sie verengt die Augen. „Ich hab's! Voss, Herr Voss hat nach Ihnen gefragt und wartet nun unten am Empfang. Er meinte schon, dass er unangemeldet hier vorbeischneit und inständig hofft, nicht zu stören. Unsere Autoren werden aber auch immer jünger.“
 

Äh, ich sollte ihr besser nicht sagen, dass Aurel kein Autor von mir ist. Dass Aurel einfach hier auftaucht, ist aber leider auch kein beruhigender Gedanke. Marens Blick verrät, dass sie ebenfalls an Joshua gedacht hat.
 

„Ich danke Ihnen.“

Unter Anspannung stehe ich auf, schlängele mich an Maren vorbei und folge Frau Stern nach unten. Ist wahrscheinlich nicht rechtens, dass ich erleichtert bin, Maren zu entkommen, aber das nächste Krisengespräch des Tages steht mir ja als Strafe schon bevor.

Ich betrete direkt nach Frau Stern den Empfangsraum und rempele Aurel fast an.
 

„Vielen Dank, Frau Stern. Das war sehr freundlich von Ihnen“, meint er, ehe ich ihn begrüßen kann. Es käme sicherlich nicht gut an, ihn zu ignorieren oder ihn mit einem was willst du denn hier? zu konfrontieren.

Aurel gibt Frau Stern die Hand und schenkt ihr ein charmantes Lächeln, das sie natürlich ebenso herzlich erwidert. Frau Stern ist die Seele unseres Verlags. So wie man sie einfach ins Herz schließen muss, schließt sie jeden fast sofort ins Herz.
 

Ohne ein Wort zu sagen, führe ich Aurel in einen Besprechungsraum. Er folgt mir gehorsam und sagt auch nichts, als ich endlich die Tür hinter uns schließe.

„Was willst du denn hier?“, platzt es nun aus mir heraus. Unten durfte ich das vielleicht nicht sagen, hier, wo uns keiner hört, aber schon! „Du kannst nicht einfach hier auftauchen, als ob es ganz normal wäre, mich eben mal von der Arbeit wegzuholen!“
 

„Das lag gar nicht in meiner Absicht, das kannst du mir glauben.“ Er lehnt sich an einen der vielen Stühle, die um einen langgezogenen Tisch stehen, und verschränkt die Arme vor der Brust. Seine eisblauen Augen sehen mich mit einer Mischung aus Entschuldigung und Entschlossenheit an. „Ich habe mich selbst unerlaubt von meiner Arbeit entfernt, doch die ganze Zeit spuktest du in meinem Kopf herum und ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Ich kann das von gestern nicht einfach so stehen lassen, wie es bei dir ankam. Ich muss das klarstellen und das geht nicht per SMS.“
 

„Ach und das hat nicht Zeit bis heute Abend? Vorher kurz eine SMS, um einen Treffpunkt zu vereinbaren?“
 

„Wärst du gekommen?“
 

Ich schaue ihm nun direkt in die Augen. „Vermutlich nicht.“
 

„Siehst du.“
 

Als ob das sein unangekündigtes Auftauchen hier entschuldigen würde. Können die beiden mich nicht mal wenigstens einen Tag in Ruhe lassen, sodass ich erst mal alles sacken lassen kann?
 

Er seufzt kurz auf, beginnt dann aber ohne Umschweife, sich zu erklären. „Es tut mir leid, dass du es so erfahren musstest. Als du damals immer dann auf Abstand gingst, wenn ich dir näher kommen wollte, war mir bewusst, dass du mich nur als guten Freund betrachtet hast. Und mir war auch klar, dass du nicht merktest, was ich für dich empfand. Ich wollte es dir nie sagen, um unsere Freundschaft nicht zu gefährden, aber als ich dich gestern nach so langer Zeit plötzlich wiedersah, flammten alte Gefühle in mir auf, mit denen ich nicht umzugehen wusste. Und als Joshua auch noch davon anfing, konnte ich dich nicht anlügen. Nur glaubst du jetzt, dass ich aus den falschen Gründen mit Lisa zusammengeblieben bin.“
 

„Bist du das nicht?“ Ich ziehe meine Brauen nach oben. „Hättest du dich von ihr getrennt, wenn ich für dich zu haben gewesen wäre, oder nicht?“
 

Er verzieht den Mund. „Ganz so einfach war das nicht.“
 

„Für mich hört sich das aber so an.“
 

„Ich habe euch beide geliebt.“
 

Hä? Die Antwort kam schnell und überzeugend.

„Sie fürs Bett, mich zum Reden?“

Die Worte sind schneller aus meinem Mund gekommen, als mir lieb ist. Gedacht habe ich sie aber trotzdem.
 

Geknickt wendet er den Blick ab und er gibt mir somit die Zeit, ihn mir genauer anzusehen. Heute trägt er ein dunkelblaues T-Shirt und darüber ein schwarzes offenes Hemd, das locker über eine weitsitzende Jeans fällt. Ein kleiner Bartansatz erstreckt sich über seine Wangen und sein Kinn, aber die hellbraunen Haare sitzen wie immer perfekt. Zu perfekt, wenn es nach mir geht. Ich wuschel dann doch gern mal durch Haare durch, doch bei seinen traut man sich das nicht.
 

„Kennst du mich wirklich so schlecht?“, fragt er nach langem Zögern bitter.
 

„Seit gestern glaube ich, dich gar nicht richtig zu kennen.“

Es tut weh, das zu sagen, doch es spiegelt leider das in mir wider, was ich fühle.
 

Und es schmerzt, dabei zuzusehen, wie er mit sich ringt und schließlich nickt. „Okay, du hast recht, ich hätte nicht herkommen sollen.“
 

„Nein, warte!“, rufe ich ihm hinterher, als er schon fast die Tür erreicht hat. „Bitte, geh nicht.“

Ich strecke eine Hand nach ihm aus und laufe auf ihn zu. Er dreht sich um und greift nach ihr, nimmt sie zwischen seine. Selbst habe ich mich nicht getraut, eine Berührung zwischen uns herzustellen.
 

„Ich wollte dich nicht verletzen“, haucht er.
 

„Und mir tut es leid, dass ich damals so unsensibel war. Ich ahnte wirklich nicht, was in dir vor sich geht.“

Ich kann Aurel nicht einfach gehen lassen. Die Gespräche mit ihm haben mir während meiner Studienzeit viel bedeutet, ich kann nicht einfach so tun, als ob sie niemals stattgefunden hätten. Wenn ich ihm jetzt den Rücken kehre, dann wäre das, als ob er mir egal wäre. Und das ist er nicht.
 

Nachdem er meine Hand wieder losgelassen hat, läuft er zur großen Glasfront und sieht hinaus.

„Wenn die Flugzeuge so auf einen zukommen, wird einem schon ganz anders zumute.“
 

„Man gewöhnt sich dran.“
 

„Ich werde euch nicht in die Quere kommen“, meint er nach einer Weile.
 

Mit Blick auf den Flughafen stehe ich neben ihm. „Würdest du … ich meine … Wenn du wüsstest, dass ich … Also, was ich sagen will ...“

Argh, muss ich so herumeiern? Was ist daran so schwer zu fragen, ob er sich zwischen Joshua und mich stellen würde, wenn ich ihm andeuten würde, dass er eine Chance hätte?
 

„Die Frage kann ich dir momentan nicht beantworten, weil ich es nicht weiß. Es ist viel Zeit vergangen und wir haben uns lange nicht gesehen. Ich muss mir wohl erst mal selbst darüber im Klaren werden, was ich fühle.“
 

„Verständlich.“

In drei Jahren ist viel passiert. Er hat sich verändert, ich habe mich verändert.
 

„Ich wollte nur sichergehen, dass du den gestrigen Abend nicht in den falschen Hals bekommst.“
 

Und warum schafft es Joshua nicht, so offen mit mir zu sprechen? Nein, der Herr erfindet ja lieber irgendwelche Geschichten und lässt das Loch zwischen uns immer tiefer klaffen.

„Aber du hättest sie für mich verlassen?“, bohre ich nach. Ich muss das wissen.
 

Es kommt ein schlichtes „Ja.“ über seine Lippen.



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