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Der unerwünschte Mieter

von

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Kapitel 11

Kapitel 11
 

Selbst fünf Minuten später sitze ich immer noch irritiert da und kaue auf meinem Nutellabrot herum.
 

„Du hast mir immer noch nicht geantwortet“, erinnert mich Joshua nun schon zum dritten Mal.
 

Ich weiß, aber es ist auch zu seltsam, dass gerade Joshua ganz plötzlich ein anderes Thema angeschlagen hat. Eben noch hat er sich über mich lustig gemacht und jetzt hackt er auf meinem Spitznamen herum. Man sagt ja, dass Frauen verquer denken, aber Männer können das offensichtlich noch viel besser.
 

„Milly kommt von Milly“, meine ich irgendwann beiläufig, während ich mein Frühstücksei anschlage und den obersten Teil mit einem Löffel ausnehme.

„Du hast das Salz vergessen“, stelle ich fest, nachdem ich erfolglos den Tisch danach abgesucht habe.
 

„Bleib sitzen“, wirft er ein, als ich aufstehen möchte.
 

Und tatsächlich holt er mir den kleinen Salzstreuer aus der Küche. Kann er mir mal verraten, was mit ihm los ist? So langsam komme ich wirklich nicht mehr mit. Als er mir den Streuer reicht, liegt in seinem Blick so viel Zuneigung, dass ich eine Gänsehaut bekomme, die allerdings einem fiesen Frösteln gleicht. Von Wollust kann hier keine Rede sein.

„Danke“, erwidere ich freundlich und meide jedwede Berührung seiner Finger.
 

„Milly, Alissa, besteht da irgendein Zusammenhang?“
 

Interessiert ihn das jetzt wirklich?

„Nein, es besteht keiner.“
 

„Warum wirst du dann von allen Milly genannt?“
 

„Werde ich nicht.“

Ich balanciere den weichen Dotter auf meinem Löffel. Das Ei ist auf den Punkt gekocht, das hat er super hinbekommen.
 

„Auf jeder Karte steht er.“

Mit einer Hand deutet er auf meine Magnettafel, an der die Postkarten von Jessi hängen.
 

„Ist ja auch nicht verwunderlich. Sie stammen alle von meiner besten Freundin und sie spricht mich nun mal so an. Naja und du auch, seitdem du sie unerlaubterweise gelesen hast.“
 

„Aber der Name muss ja irgendwo herkommen.“
 

„Natürlich. Joshua, was soll das jetzt eigentlich? Milly ist mein Spitzname, ja und? Du wirst vielleicht auch einen haben, wie zig andere Menschen dieser Welt. Spitznamen sind normal, üblich und nichts Außergewöhnliches.“
 

„Jeder Spitzname hat einen Ursprung und ich will wissen, welchen deiner hat.“
 

Ist der vielleicht hartnäckig.

Mir den letzten Rest Ei in den Mund schiebend runzle ich die Stirn und suche Joshuas Blick.

„Du musst nicht alles wissen.“

Vermutlich war das die falsche Reaktion, denn er schaut mich nun noch fordender an.
 

„Ich möchte es aber gerne wissen.“
 

Er möchte, das sind ja ganz neue Töne, zumal seine Worte voller Feingefühl sind. Wenn er so weiter macht, gibt er mir noch das Gefühl, dass ein ganz anderer Mensch hier mit mir am Tisch sitzt.

„Wie schade, dass du keine Wünsche hast“, entgegne ich mit einem charmanten Lächeln.
 

„Wie recht du hast, ich wüsste genau, was ich mit ihnen anstellen würde.“
 

Ich mit meinen auch, naja, zumindest halbwegs. Das mit der Schürze und dem Saubermachen ist ja schon mal ein gelungener Anfang, für die beiden anderen Wünsche wird mir bestimmt noch was Besseres einfallen. Es ist ja nicht nötig, gleich alle Wünsche auszuspielen, man weiß schließlich nie, für was die noch gut sein können. Zum Beispiel um ihm zu verbieten, jemals wieder das Wort Kuss in den Mund zu nehmen.
 

„Aber wie ich dich einschätze, verrätst du mir auch so, für was Milly steht oder woher der Name stammt.“
 

Bisweilen hat er seine übliche Arroganz abgelegt, was mich echt stutzig macht. Ist das der wahre Joshua, so wie er jetzt leibhaftig vor mir sitzt? Warum versteckt er sich dann immer hinter dieser übertriebenen Selbstherrlichkeit und diesen ekelhaften Sprüchen?

Ich weiß wirklich nicht, was ich von ihm halten soll. Mein Herz macht ohnehin, was es will, aber mein Verstand wehrt sich gegen so viel Unklarheit.

Wie kommt es, dass du plötzlich so nett bist, würde ich gerne fragen, aber ich will die angenehme Stimmung zwischen uns nicht zerstören. Wer weiß, wann ich wieder in den Genuss kommen darf, Joshua so zu erleben. Verstand hin oder her, mein Herz sagt, dass ich diesen Moment auskosten soll, mit allem, was dazu gehört.

„Meine Mama hat mir den Namen verpasst“, antworte ich deshalb wahrheitsgemäß.

Erwartungsvoll sieht mich Joshua weiterhin an.

„Reicht das nicht?“
 

Er schüttelt leicht den Kopf. „Kennst du das, wenn man auf den Grund der Dinge sieht und sich die wahre Bedeutung einem nach und nach offenbart? Das ist wie ein Geschenk. Die Wand, vor der man steht, droht Stück für Stück zu zerbrechen, und wenn sie letztendlich in sich zusammenfällt, sieht man sie – die Erkenntnis.“
 

Redet er weiterhin von meinem Namen oder habe ich irgendwas nicht mitbekommen?

„Äh ja, wie du meinst.“

Nicht dass ich Tiefgründigkeit nicht mögen würde, ganz im Gegenteil, aber ich kann gerade nicht mit seinen Gedanken Schritt halten.
 

„Jeder Name sagt über einen etwas aus. Und wenn Spitznamen dem wahren Namen so unähnlich sind, wie es bei dir der Fall ist, dann rührt er meist von einer bestimmten Angelegenheit her. Etwas, was du immer gemacht hast. Etwas, was du nicht aussprechen konntest. Oder etwas, das dich mit dem Namen verbindet“, beendet er fast schon träumerisch.
 

In den Anblick, den er mir bietet, könnte ich versinken. Das Grün seiner Regenbogenhaut glitzert, sein Blick ist völlig verklärt und auf seinen Lippen liegt ein schwärmerisches Lächeln. Wenn ich nicht schon so verknallt in ihn wäre, wäre ich es spätestens jetzt. Gerade dann, wenn ein Mensch von innen heraus strahlt, ist er am attraktivsten. Nun beginne ich selbst zu lächeln, seine Ausstrahlung in diesem Augenblick ist einfach so gewaltig, dass sie mich mit Haut und Haar gefangen nimmt. Ewig könnte ich mit ihm so dasitzen, doch er blinzelt kurz und kehrt nüchtern in die Gegenwart zurück und ich mache es ihm unfreiwillig nach.
 

„Es gibt nichts, in dem ich dir widersprechen kann“, meine ich relativ emotionslos. „Und meinen Namen habe ich wirklich dadurch erhalten, dass ich etwas einfach zu gerne gemacht habe.“

Es schadet nicht, ihn noch ein wenig zappeln zu lassen, ich muss ja nicht mit allem gleich hausieren gehen.
 

„Weißt du, meine Freunde nennen mich-“

Mitten im Satz bricht Joshua jedoch ab und springt wie von der Tarantel gestochen auf und stapelt das Geschirr zusammen. Kurz darauf verschwindet er damit einfach in der Küche und schließt hinter sich die Schiebetür.
 

Mir bleibt nichts anderes übrig, als völlig verwirrt sitzenzubleiben und den Stuhl anzustarren, auf dem Joshua eben noch gesessen hat. Vor meinem inneren Auge sehe ich genau vor mir, wie er eben noch zerstreut auf ihm saß und Dinge von sich gab, die in mir etwas auslösten, das ich nicht recht zu deuten vermag.

Ich versuche zu reflektieren, was in der kurzen Zeit, in der ich wach bin, alles vorgefallen ist: Meine Tanzeinlage im Bad, mein Gefasel von einem Kuss, seine Nähe und seine Finger an meinem Mund, und der plötzliche Gesprächswechsel hin zu meinem Spitznamen, der in einer philosophischen Anwandlung Joshuas endete, der sich jetzt in der Küche verschanzt hat.

Das alles in nicht mal einer Stunde. Reife Leistung.
 

Als ich seine Stimme gedämpft durch die Küchentür vernehme, horche ich neugierig auf. Mit wem er jetzt wohl reden mag? Und vor allem über was?

Obwohl es sich nicht gehört, möchte ich unbedingt lauschen. Ich kann mir ja einfach vorstellen, ich sei ein kleines Mäuschen, das sich zufällig in die Nähe der Küche verirrt hat, dann breche ich nur bedingt eine moralische Grundregel. Auch wenn das völliger Nonsens ist, stehe ich keine drei Sekunden später an der Küchentür und presse mein Ohr an das weiße Holz.
 

„Ich kann das nicht, es ist schwieriger als gedacht. Du weißt, dass ich die Sache vollkommen ernst nehme und all meinen Ehrgeiz hineinstecke, aber … Kai, das ist mir doch klar … natürlich, du kennst mich doch … nein, das geht eindeutig zu weit. Kann ich nicht einfach-“ Er stöhnt und stellt irgendwas mit Schwung ab. „Nein, Kai, hast du mir überhaupt zugehört? Bist du dir sicher, dass es das ist, was ich brauche? Ich wette mit dir, ich kann sie auch so verinnerlichen. Wenn ich nur noch ein paar Tage länger Zeit bekomme, dann kriege ich das hin, ganz ohne diese … also gut, okay … ja … ganz wie du wünschst, du bist der Boss … ja … geht ja nicht anders, du lässt mir keine Wahl … mir wichtig, du sagst es … alles, aber nicht wenn dabei jemand … ist ja schon gut, ich hab's ja verstanden … ja, ich habe es verstanden, verdammt noch mal! ... wir sehen uns.“
 

Kaum ist es still, gleitet die Tür auf und Joshua rennt in mich hinein. Ich stolpere rückwärts und wir landen an der Wand, gegen die ich hart mit dem Rücken knalle. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stöhne ich auf.

„Was stehst du auch im Weg rum? Hast du etwa gelauscht?“, fährt er mich wütend an.

Du hast mir doch nicht die Zeit gelassen, mich heimlich wieder auf meinen Platz zu schleichen. Au, ich verdrehe meinen Arm, um mit der Hand über meinen Rücken fahren zu können, der nachher bestimmt blau ist. Dabei werfe ich einen verstohlenen Blick auf Joshua, der, nachdem er mich über den Haufen gerannt hat, sofort dazu übergangen ist, geschäftig hin- und herzulaufen und alles Mögliche zusammenzusuchen.
 

„Mit wem hast du gesprochen?“, frage ich, als er an mir vorbeihastet.
 

Ruckartig hält er in allem inne, lässt seine Tasche fallen und sieht mich an. In seinem Blick liegt so viel Kälte, dass mir das Blut in den Adern gefriert.

„Erst lauschst du“, hartherzig stützt er beide Hände zu Fäusten geballt gegen die Wand, eine rechts und eine links von mir, „und nun besitzt du auch noch die Frechheit, mich danach zu fragen, mit wem ich telefoniert habe.“

Zornig stiert er mich an.
 

Ich merke, wie sich in mir Widerstand regt.

„Meine Wohnung, mein Reich, mein gutes Recht“, erwidere ich ebenso knallhart. „Wenn du damit nicht klarkommst, du weißt, wo die Tür ist.“

Wenn er glaubt, ich bin jemand, der alles mit sich machen lässt, dann ist er bei mir an der falschen Adresse. Meine Kindheit hat mich geprägt und ich lasse mit mir nicht mehr auf diese Weise umspringen. Wenn er Streit haben will, dann bittesehr. Wie du mir, so ich dir, sage ich nur.
 

Kann mir mal jemand verraten, warum er nun wieder vollkommen der Alte ist, egoistisch, blasiert und unausstehlich?

In meinen eigenen Gesichtszügen weicht die Härte trauriger Schwermut. Es war doch eben so schön mit ihm gewesen, so vertraut. Warum liegt in seinen Augen mit einem Mal so viel Unbarmherzigkeit?

„Was ist passiert?“, wispere ich und meine Stimme ist so leise, dass ich sie selbst kaum höre. Wer war das am Telefon, Joshua? Was hat er mit dir gemacht? Wer ist dieser Kai?

Zaghaft lege ich meine Hand an seine Wange, genau so wie letzte Nacht, als ich auf der Galerie vor seinem Bett kniete.

„Du kannst mir alles erzählen.“
 

Unter einem sachten Stöhnen schließt er die Augen und schmiegt sein Gesicht gegen meine Hand. In meinem Inneren tobt ein Sturm und doch fühle ich mich völlig entspannt. Er ist so nah und gleichzeitig so weit entfernt. Körperlich mag er ja hier sein, aber geistig ist er es ist.

Mich interessiert von ganzem Herzen, was das alles zu bedeuten hat. Was löst in ihm immer diese Ablehnung und diese Arroganz aus?

„Kann ich dir helfen?“, frage ich sanft.

Mein Blut pulsiert, mein Herz rast, in meinem Bauch fliegen hunderte Schmetterlinge wie wild herum, aber äußerlich bin ich immer noch vollkommen ruhig. Ich traue mich auch nicht, mich auch nur einen weiteren Zentimeter zu bewegen. Bedrückt betrachte ich Joshuas dunkle Wimpern, die immer wieder nervös zucken. Jeden Moment rechne ich damit, dass er seine Lider öffnet und ich wieder dieser Unerbittlichkeit entgegenblicken muss, aber selbst nach zwei Minuten stehen wir immer noch so da.

„Joshua?“, setze ich erneut flüsternd an. „Du kannst mir vertrauen.“

Warum sagt er nichts? Warum regt er sich nicht?

Wie aus weiter Ferne höre ich das Rauschen der Flugzeuge, die gerade im Begriff sind, sich in die Lüfte zu erheben.
 

So mir nichts dir nichts allem entrinnen, alles zurücklassen, verbannen,

frei und unbeschwert im sachten Hauch des Himmels.

Vergessen und verloren, vertrieben sind Menschsein und Physis.

Hüllenlos in unbekannte Sphären dringen, alles niederzwingen,

was der reinen Seele entgegenwirkt, sie verdirbt.
 

Nimm mich mit auf deine Reise, Joshua. Flieg mit mir und nicht allein davon. Ich halte dich auch ganz fest, damit du nicht plötzlich in die Tiefe fällst.

Wir können gemeinsam über allem hinwegschweben, über Wiesen, über Dächer, über Schmerz, über Zwist, über Trauer. Lass mich nicht zurück.

Als die Turmuhr zu schlagen beginnt und ihre tiefen Klänge an unsere Ohren dringen, öffnet er die Augen. Und sofort nimmt mich das tiefe Grün gefangen, so wie es das immer tut. Meine Hand ruht unablässig an seiner Wange.

„Sag mir, wo er wohnt, dann gehe ich hin und sag ihm gehörig meine Meinung“, meine ich aufrichtig. „Du hältst ihn fest und ich schleudere ihm die Worte ins Gesicht. Okay?“

Noch immer regt er sich nicht. Was soll ich denn noch machen, dass er aus seiner Starre erwacht?

„Ich nehme es wirklich mit ihm auf, wenn du das möchtest. Zwar mag ich klein und nicht ganz so wendig sein, aber meine verbale Schlagkraft kann gewaltig sein.“
 

Was fasele ich denn da? Joshua scheint das auch zu denken, denn mit einem Mal verziehen sich seine Mundwinkel und er beginnt zu grinsen.

„Du bist lustig, weißt du das?“, haucht er.

Ja, hat man mir schon öfter gesagt. Ich lächle verhalten.

„Wegen dir muss ich jetzt an diese uralte Batman-Serie denken, in denen immer in riesigen Sprechblasen bang, wham, pow und solches Zeug stand. Und ich habe mir gerade vorgestellt, wie du auf Kai lospreschst und diese Dinger aufleuchten, wenn die Worte nur so aus deinem Mund sprudeln und auf ihn eindreschen.“
 

Und ich mache mir Sorgen, was ich daherschwafele. Ich verziehe das Gesicht, denn nachdem ich mir genau vorstellen kann, wovon er redet, ist jedwede Romantik dahin, die ich eben noch verspürt hatte. Langsam lasse ich meine Hand sinken und schaue Joshua fest an.

„Wollen wir losfahren?“, frage ich.
 

Belustigte Laute dringen aus seinem Mund und er kommt mir ein Stück näher, sodass ich seinen warmen Atem auf meiner Stirn fühle. Und plötzlich ist es wieder da, dieses Kribbeln, das meinen Verstand benebelt.

„Ich kann nicht, Milly“, raunt er. „Es geht nicht. Es würde alles zerstören.“
 

„Was zerstören?“

Heute komme ich wirklich nicht mit ihm mit.
 

Mit einem gehauchten „Es tut mir leid.“ stößt er sich von der Wand ab, bückt sich nach seiner Tasche und läuft durch den Flur gen Wohnungstür. Ich laufe ihm nach, bleibe aber nach wenigen Schritten stehen und sehe ratlos dabei zu, wie er ohne einen Blick zurück durch die Tür verschwindet. Alles, was er hinterlässt, ist eine jähe Leere in mir.
 


 

„Hast du mir überhaupt zugehört?“

Fragend sieht mich Maren an und legt den Kopf schief.

„Du siehst heute ein bisschen blass um die Nase aus.“
 

„Kommt davon, wenn man die ganze Nacht wach liegt.“ Und an Joshua denkt, der nicht mehr heimgekehrt ist. Seitdem er einfach gegangen ist, habe ich nichts mehr von ihm gehört. Somit ist es nun siebenundzwanzig Stunden und zweiundvierzig Minuten her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen habe.
 

„Ja, das kenne ich“, nickt sie. „Immer wenn Vollmond ist, bekomme ich kein Auge zu.“
 

Wenn es nur am Vollmond liegen würde. Vielleicht hat er ja sogar einen geringen Anteil an meiner schlaflosen Nacht, doch hauptsächlich habe ich gegrübelt. Immer und immer wieder habe ich in meinem Kopf den gestrigen Morgen durchgespielt und bin immer zu demselben Ergebnis gekommen: Schiere Konfusion.

„Heute muss es aber auch so dunkel draußen sein“, klage ich. „Das hilft nicht gerade, munter zu werden.“

Ich schaue auf die tiefhängenden, grauen Wolken, die am Himmel entlangziehen und sich stetig verdichten.
 

„So wie es aussieht, braut sich da ein Gewitter zusammen.“ Maren tippt kurz was auf ihrer Tastatur und widmet ihre Aufmerksamkeit dann wieder mir. „Ich erzählte übrigens gerade, dass ich von meinem Problemautor endlich die Lösungen erhalten habe. Und das gerade mal fünf Tage über der Zeit. Ist das nicht toll?“

Sie grinst und freut sich sogar so sehr, dass sie einmal in die Hände klatscht.
 

„Meintest du nicht letzte Woche noch, dass du nicht vor Ende Juni mit seinem Manusktript rechnest?“
 

„Darum konnte ich vorhin ja meinen Augen nicht trauen, als ich einen Brief von ihm in meinem Postfach vorgefunden habe. Manchmal geschehen ja doch noch Zeichen und Wunder.“
 

Zeichen und Wunder. Die bräuchte ich jetzt auch. Eventuell verstehe ich ja dann, was gestern vorgefallen ist.

Im Schnitt schaue ich dreimal am Tag an Marens Arbeitsplatz vorbei. Ihr Büro liegt direkt auf dem Weg zur Küche beziehungsweise zur Toilette. Und immer dann, wenn sie nicht gerade total vertieft in ihren Monitor ist, lege ich bei ihr einen kurzen Zwischenstopp ein. Da noch vier weitere Kollegen in dem kleinen Zimmer sitzen, unterhalten wir uns immer recht leise. Wenn allerdings jemand gute Nachrichten hat, dann werden unsere Gespräche schon mal lauter, so wie heute.

„Na dann kannst du heute ja richtig loslegen und ihm zeigen, wie man Termine einhält und dass das Bearbeiten von Aufgaben auch schneller gehen kann“, lächle ich Maren an.
 

„Darauf kannst du Gift nehmen“, strahlt sie. „Wie war eigentlich dein Wochenende?“
 

Falsche Frage, die nächste bitte. Zwanghaft behalte ich mir mein Lächeln und spiele mit einem Stift herum, den ich eben von Marens Schreibtisch gepflückt habe.

„Ziemlich entspannend“, entgegne ich so neutral wie möglich. „Gestern habe ich nicht viel gemacht, war nur ein bisschen kreativ und ansonsten habe ich faul auf dem Sofa gelegen.“ Und an Joshua gedacht.
 

„Auch wenn ich es allein nicht aushalten würde, beneide ich dich ein wenig. Du kannst tun und lassen, was du willst. Mein Freund und ich waren doch auf sein Drängen hin in den Bergen. Ich sag dir, meine Beine schmerzen jetzt noch! Er hat mich allen Ernstes jede Steigung hochgescheucht, ohne Rücksicht auf Verluste. Hätte er mich abends nicht immer derart verwöhnt, hätte ich ihm das übel genommen.“
 

„Geht's deinem Knie gut?“
 

„Ja ja, das ist wieder in Ordnung. Die Operation ist ja nun doch schon eineinhalb Jahre her. Aber ich sollte eindeutig wieder mehr Inliner fahren, um meine Muskeln zu stärken. Noch so eine Tour und du kannst mich eine Woche lang vergessen.“
 

„Bring ihn nur nicht auf die Idee, sonst darfst du kommendes Wochenende wieder Hügel erklimmen und ihm hinterherhecheln.“ Grinsend lege ich ihren Stift wieder auf den Schreibtisch.
 

„Keine Sorge, ich habe ihm schon eingebleut, dass er mich frühestens in vier Wochen wieder deswegen anbetteln darf. Nächsten Samstag darf er als Gegenleistung mit mir shoppen. Sein Stöhnen hättest du hören sollen!“ Sie reißt den Mund auf und ahmt ihren Freund nach. „Eine Stunde lang hat er sich beschwert, aber ich bekomme immer, was ich will“, meint sie und beendet ihren Satz mit einem Zwinkern. Eine Geste, die ich gerne erwidere.
 

„Hehe, das musst du dann aber ausnutzen und extra viel Zeit in den Läden verbringen. Und ja alles anprobieren, was dir gefällt.“ Allein die Vorstellung, wie Joshua wie ein begossener Pudel hinter mir herlaufen und mich unentwegt mit ironischen Sprüchen bombardieren würde, bringt mich zum Lachen. Und noch im selben Moment spüre ich ein Ziehen in meiner Brust. Verdammt, er fehlt mir einfach!
 

„Natürlich, was denkst du denn! Er darf genauso leiden wie ich die letzten beiden Tage. Verlass dich drauf.“
 

„Mit diesen Worten“, ich ziehe einen unsichtbaren Hut vor ihr, „verabschiede ich mich erst mal wieder. Die Arbeit ruft.“
 

„Bis dann“, grinst sie.
 

Kaum sitze ich wieder an meinem Platz, starre ich die schwarzen Buchstaben auf meinem Monitor an. Die Szene, wie Joshua und ich gemeinsam shoppen, möchte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Sie hat sich dort eingebrannt, als ob wir wirklich mal zusammen durch die Stadt geschlendert wären. Ich kann sogar seine Stimme hören, wenn er mir zuraunt, dass ich das Oberteil bloß nicht auch noch anprobieren soll. Wäre sicher unterhaltsam, mit ihm durch die Läden zu streifen.

Nur noch eine Stunde bis zur Mittagspause und vier weitere bis zum Feierabend. Ob er schon in der Wohnung auf mich warten wird?
 

„Alissa?“ Lindas Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. „Kannst du dir das bitte mal ansehen?“

Sie hält mir ein Blatt Papier hin. „Mein Autor hat da was geschrieben, wo partout der Arbeitsauftrag fehlt, und ich kann nicht nachvollziehen, was die Schüler machen sollen. So allmählich zweifle ich an meinem Verstand.“
 

„Klar, zeig her.“ Ich schiebe das Blatt vor mich und lese die gezeigte Stelle. „Herr Luckendorf?“, frage ich Linda wissend und sie nickt bestätigend.
 

„Ja, der mag ja tolle und kreative Ideen haben, aber es wäre wirklich toll, wenn er sich mal durchlesen würde, was er da fabriziert, ehe er es uns schickt.“ Sie hört gar nicht mehr auf, die Augen zu rollen.
 

„Wir sollten langsam dran gewöhnt sein.“ Ich zücke einen Stabilo und streiche zwei Worte aus dem Satz und baue dafür einen Nebensatz ein. „Könnte er das meinen?“, halte ich ihr dann das Blatt hin. „Denn ich tippe auf einen Hypothesentest, bei dem die Schüler die Nullhypothese selbst formulieren sollen.“
 

Ihre Miene hellt sich auf. „Ich wusste, dass ich bei dir richtig bin. Wenn einer mit seinen abstrusen Passagen zurecht kommt, dann du.“
 

Verlegen zucke ich mit den Schultern. „War gerade nur geraten.“
 

„Dennoch! Ich danke dir.“
 

„Keine Ursache, schließlich gehe ich dir auch fast täglich mit irgendwelchen Problemen auf die Nerven.“
 

Voll neu gewonnenem Arbeitseifer stürmt sie durch die Tür und rechts hinter die Wand, die ihren Schreibtisch von meinem trennt.

Wenn nur alles so einfach wäre. Hier ein bisschen korrigeren, dort was löschen, und an anderer Stelle wieder etwas einfügen. Doch ich kann weder das Telefonat aus dem gestrigen Tag löschen noch das Fortführen unseres Gespräches über Spitznamen an seiner statt einfügen. Schön wär's. Dann wäre Joshua nicht aus der Wohnung gestürmt, ohne sich zu verabschieden und ohne mir mitzuteilen, wo er hin geht. Und folglich gäbe es nicht diese fiesen Stiche in meiner Brust, die mich schon den ganzen Tag piesacken.



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