Zum Inhalt der Seite

Zirkelarbeiten: Assoziatives Schreiben

Ungefilterte Tintenbrühe für den gleichnamigen Zirkel.
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Tabula rasa [Opus Anima-Universum ]. Zu Satz 28.

Der eine oder andere würde ihm Glauben schenken, wenn er ihn anspräche, und ihm helfen.
 

Das würde aber implizieren, dass er sich bloßstellen müsste; zeigen, dass und was etwas mit ihm nicht stimmte. Und das konnte er sich nicht leisten. Zu groß die Wahrscheinlichkeit, dass er auf jemanden treffen würde, der ihn nicht nur nicht verstehen, sondern ohne auch nur einen Gedanken an Mitleid ein Urteil fällen und als unbescholtener Schelfberger Bürger dafür sorgen würde, dass er dem Arm der Institution übergeben werden würde, die ihm doch sicherlich am besten würde helfen können - der kaum verschleierte Subtext, der Grund für die schlecht verhohlene Abneigung im Gesicht besagten unbescholtenen Schelfberger Bürgers wäre selbstverständlich, dass jemand wie er ein Schandfleck war . Das Versagen eines gewöhnlichen Menschen war schon peinlich genug, aber das eines Universitätsprofessors? Ein Skandal, das und nicht weniger. Zudem - die Art seines Versagens war einfach nur lächerlich und ihm selbst unendlich unangenehm. Es musste ein kosmischer Witz sein, von jemandem, der über einen schwärzeren Humor verfügte, als er es jemals für möglich gehalten hätte. Hier saß er, Claudius Jolander Austerbruch, allem Anschein nach Doctor habilitatus der Kaisertreue und Philologie, auf seiner Bettkante, in der Hand ein amtliches Dokument der Universität von Baiyat-Sophia, auf dem zusammen mit allerlei anderen Angaben zu (wohl) seiner Person genau diese akademischen Grade verzeichnet waren. Er hatte die kleine Porträtzeichnung im Kopf des Dokumentes mit seinem Bild im Spiegel über der Waschschüssel vergleichen; bis auf eine frische Schramme über seiner Nase sah das Bild ihm zum Verwechseln ähnlich.

Anders gesagt, es hätte ihm zum Verwechseln ähnlich gesehen, wäre da nicht die völlig andere Persönlichkeit gewesen, die aus ihm sprach. Wo der gezeichnete Claudius Austerbruch offensichtlich ein Mensch in der Blüte seiner Jahre und seines Wissens gewesen war, mit einem würdevollen Gesichtsausdruck und einer Haltung, die zeigte, dass er sich seines Wertes durchaus bewusst war und und seine Position in der Gesellschaft mit Anstand zu bekleiden verstand - da war der lebende, atmende Claudius Austerbruch vor dem Spiegel ein Bild des Elends gewesen. Ein Mann mit zerzaustem Haar, noch in Nachthemd und Nachtmütze, mit tiefen, dunklen Ringen unter den vom Weinen oder von Schlafmangel rotgeränderten, stumpfen Augen, die fast schon panisch hin und her huschten. Zwei tiefe Furchen zogen sich von den Nasenflügeln zu den zitternden Mundwinkeln. Die Haut war blass, beinahe teigig, die Stirn voller feiner Linien, die davon zeugten, dass sie zu oft aus Kummer und Grübelei in Falten gelegt wurde.

Claudius war im ersten Augenblick fürchterlich erschrocken, doch nach einigen Minuten, die er mit panisch das eigene Gesicht betastenden Fingern in die Betrachtung seines Spiegelbildes versunken war, war in ihm ein seltsames Gefühl aufgestiegen, das sich vielleicht noch am ehesten als Déjà-vu-Moment beschreiben ließ. Dieses Gesicht im Spiegel war ihm vertraut, und es schien schon seine Richtigkeit zu haben. In dem Moment, in dem er beschlossen hatte, dem Gefühl Glauben zu schenken und es anzuerkennen, dass diese Person auf dem Schein und im Spiegel offensichtlich er war, hatte er eine Art Schleier in seinem Geist zerreißen gespürt. Er hatte mit einem Mal gewusst, dass er Recht hatte; es nicht nur als Prämisse angenommen, sondern mit tiefer Erleichterung als wahr erkannt.

Dieses winzige Stückchen Gewissheit in einer Welt, die ihm nicht im Geringsten vertraut vorkam, hatte ihm etwas seiner inneren Stärke zurückgegeben.

"Wenn ich herausgefunden habe, wer ich bin und wie mein Name ist, dann kann ich vielleicht auch noch mehr herausfinden. Diese Wohnung scheint meine zu sein oder doch zumindest ein Ort, an dem ich mich öfter aufhalte. Und der erste und wichtigste Hinweis ist dieser Universitätsausweis in meiner Hand ..."

So saß er nun auf der Bettkante, betrachtete seine eigene verschnörkelte Handschrift und den ordentlich gesetzten Druck und las gierig, dass er in Schackim gebürtig war, an der dortigen Universität promoviert hatte, danach nach Baiyat-Sofia gekommen war, sich hier seine Habilitation erworben hatte und nunmehr seit zehn Jahren einen Lehrstuhl für Kaisertreue und klassische Philologie innehatte. Viel mehr gab das Dokument allerdings nicht her.

Der Gedanke an Hilfe von anderen war rasch und gründlich verworfen. Nein - mit dieser Situation musste er allein fertig werden. Er hatte doch schon einmal von derartigen Zuständen gehört; von wem war das bloß gewesen? In seinem Geist stieg schemenhaft das Gesicht eines bebrillten Abaras mit scharf gezeichneten Knochenwülsten auf, mit dem er keinen Namen verband. Claudius legte den Ausweis beiseite und begann sich in dem kleinen Raum umzusehen. Bis auf das Bett, das Waschgeschirr und einen kleinen, sehr niedrigen Tisch war er fast leer - wenn man die wild verstreuten Papierfetzen, aufgeschlagenen Bücher und zerknickten Federkiele übersah. Ein Tintengläschen war umgefallen und hatte seinen dunklen Inhalt über ein paar zusammengeheftete Bögen und ein zufällig sichtbares Stückchen Dielenboden verteilt.

Claudius hob einen der Papierfetzen auf.

"Grauer Anzug gehört mir, Geschenk; Weste mit Stickerei muss (unleserlich)bracht werden. Pünktlich 25. Jullar!"

Seine eigene Handschrift.

Er konnte sich nicht erinnern, so etwas jemals geschrieben zu haben.

Neben seinem linken Fuß fiel ihm ein halbes Notizheft auf; die gekritzelte Zeichnung eines Gesichtes auf der ersten Seite weckte sein Interesse.

Eine Brunad mit schwerem Kiefer und einem Schönheitsfleck über dem rechten Mundwinkel. Darunter, ebenfalls in seiner eigenen Handschrift, kleine Notizen.

"Dr. Christina Hellgewied, Ätherologin. Treffen uns einmal wöchentlich nachmittags zum Teetrinken. Kennen uns aus dem Patrickfried-Kütterich-Diskussionsforum. Gute und zuverlässige Freundin; ledig; befleißige dich bester Manieren. Freundlich, wenn auch manchmal etwas schroff; nicht davon ablenken lassen. Sehr intelligent; stellt sich aufgr. ihrer Forschungsergebnisse Fragen über den Zustand der Welt außerhalb der Schollen & disputiert gern über solche Fragestellungen. VORSICHT: Hartnäckig, bohrt nach. Kein Wort zuviel verlieren!"

Der Rest des Notizbuches war mit Ähnlichem gefüllt. Hastige Zeichnungen von Gesichtern, gekritzelte Anmerkungen über Freunde, Bekannte, Kollegen, Vorgesetzte, ausgewählte Studenten. Und bei jedem, bei ausnahmslos jedem stand eine Mahnung zur Vorsicht im Hinblick auf das eine oder andere Thema.

Offensichtlich war, was auch immer mit ihm passiert war, nicht zum ersten Mal geschehen. Und er war darauf vorbereitet gewesen, hatte in Form dieser Merkzettel Vorkehrungen für sich selbst getroffen - weil er irgendwoher wusste, dass er wieder mit einem leergewischten Gehirn aufwachen würde.

Aber was war es, was bei allen verrosteten Schrauben Ryonts war mit ihm geschehen? Woher kam dieses Vergessen? Und was sollte er nur tun, um es zu verbergen? Sicher, heute konnte er sich hier verstecken, behaupten, er sei krank, wenn jemand fragte - aber für länger als ein paar Tage würde das nicht funktionieren.

Und er konnte es niemandem sagen. Er würde es irgendwann müssen - aber was würde man tun? Er würde sicherlich an irgendwelche Ärzte überwiesen werden, und früher oder später bei den Psychiatern landen.

In einer Anstalt. Die Schande! Der Gedanke allein ließ ihm Schauer über den Rücken laufen. Er wusste nicht genau, was dort vorging, aber die Gerüchte, die er gehört hatte, reichten mehr als aus, um zu wissen, dass er auf keinen Fall in einer landen wollte. Und selbst, wenn er wieder herauskäme - sein Ruf, sein gesellschaftlicher Stand und damit sein gesamtes Leben wäre für immer ruiniert.

Die Zettel.

Seine Augen huschten hektisch von links nach rechts.

Vielleicht, vielleicht hatte er sich auch für diesen Fall eine Nachricht hinterlassen.

Er fiel auf die Knie, mitten in den Papierwust, und begann wie ein Verdurstender die zufälligen Informationen in sich aufzusaugen. "WICHTIG: Vor dem Ausgehen Faliansblüte (blau) anstecken", "der Name meiner Mutter ist Marie Austerbruch", "nicht auf dreimaliges schnelles Klopfen reagieren", "Verbindungsmann zu Adriano" - wer war Adriano?! - "ist Schustergeselle in Bergheim; abgetragene Kleidung, nicht viel Geld mitnehmen" ... wirre Bruchstücke eines Lebens, das er nicht als seines erkannte. Er fühlte sich wie ein zum Tod Verurteilter, der, ohne das Stück und den Rest der Truppe zu kennen, eine Stunde vor der Premiere eines Theaterstückes für den Hauptdarsteller eingesprungen war und nur dann eine Chance auf Begnadigung hatte, wenn er dem zerfledderten, unvollständigen Rollenbuch zum Trotz spielte, als hätte er nie ein anderes Leben geführt.

Claudius schlug die Hände vors Gesicht. Wie sollte er das nur schaffen?



Fanfic-Anzeigeoptionen
Blättern mit der linken / rechten Pfeiltaste möglich
Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Black_Taipan
2011-06-15T19:37:16+00:00 15.06.2011 21:37
Mir ging es ähnlich wie Naudhiz - am Anfang dachte ich auch, die Sätze seien etwas zu kompliziert, zu verschachtelt. Aber als ich mich reingelesen hatte und herauskam, dass es ein Professor mit Amnesie ist, machte der Schreibstil plötzlich viel mehr Sinn und es ging auch leichter. Ich finde die Umsetzung des typischen Amnesiethemas sehr gelungen. Es hat viel kleine Details drin und Spuren, denen man nachgehen kann. Und auch die Idee, dass ihm das immer wieder passiert und er sich mit wirren Zetteln versucht darauf vorzubereiten, finde ich spannend.

Von:  Ekolabine
2011-06-13T19:22:08+00:00 13.06.2011 21:22
Also ich finde es genial =D Am Anfang dachte ich, dass du viel zu verschachtelt schreibst und die Sätze viel zu lang sind. Aber als man dann erfuhr, dass es um einen Professor geht, fande ich es doch sehr passend. Mich würde ja jetzt interessieren wie es weiter geht und warum er das Gedächtnis verloren hat.
Aber: Da steht im Titel Opus Anima Universum. Das lässt mich annehmen, dass du die Geschichte in eine bestimmte Welt reingeschrieben hast. Ist es eine eigens erfundene oder von einem bekannten Autor? Ich konnte die vielen Namen und Orte nicht so recht verbinden, aber sie gaben deiner Kurzgeschichte ein besonderes Flair =)
Von:  vanilla_quicksand
2011-04-14T11:07:22+00:00 14.04.2011 13:07
Irgendwie hab ich das hier verkorkst o.o Aber ist ja nur šmirák.


Zurück