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Kälte

Gedanken einer Mutter
von

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Kälte

For Frosty, the Snowman, had to hurry on his way,

But he waved goodbye, sayin' "Don't cry, I'll be back again some day."
 

“Sing es noch mal vor, Mummy! Bitte!“

Akemi hatte sich die Decke bis zu den Ohren gezogen und blickte ihre Mutter erwartungsvoll an.

Elena Miyano lächelte. Sie hätte das Lied von Frosty dem Schneemann gerne auch ein zweites oder drittes Mal vorgesungen, nein, sie hätte es etliche Male gesungen, nur um noch etwas länger bei ihrer fünfjährigen Tochter bleiben zu können. Rasch warf sie einen kurzen Blick auf die Mickey Mouse Uhr an der Zimmerwand.
 

„Schatz, ich muss mich jetzt fertig machen, sonst komme ich zu spät zur Arbeit.“, erwiderte Elena sanft.

„Och, menno ...“

Akemis trotziger Ausruf ließ die Frau erneut lächeln. Sie erhob sich von dem kleinen Hocker am Bett und ging zum Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen. Für einen kurzen Augenblick hielt sie inne. An den Scheiben des Fensters hatten sich bereits feine Eisblumen gebildet, sie waren ganz heimlich über den Tag aufgeblüht und entfalteten sich nun in ihrer ganzen Pracht.
 

Doch die Freude über dieses hübsche Geschenk des Winters wurde schnell getrübt. Sie schaute durch das Fenster zur anderen Straßenseite und Elenas Blick verdüsterte sich.
 

Sie beobachten uns immer noch ...
 

„Mummy?“
 

Mit ungetrübter Miene wandte sie sich zu ihrer Tochter um. „Was denn, Liebes?“
 

Akemi richtete sich in ihrem Bett auf, ein Stofftier unter dem Arm geklemmt, sah sie ihre Mutter mit hellwachen Augen an.
 

„Warum musst du und Papa immer soviel arbeiten?“
 

Warum? Das Warum war eine sehr gute Frage. Aber wie sollte sie das ihrer kleinen Tochter erklären?

Sie und ihr Mann kamen mit den Forschungen ihres aktuellen Projekts einfach nicht weiter. Schon seit Monaten waren etliche Versuche immer wieder gescheitert. Die Organisation machte ihnen Druck, sie wollten Ergebnisse sehen. Was würde nur geschehen, wenn sie versagten? Elena wusste es nicht, sie hat nur eine dunkle Ahnung. Und dieses Gefühl machte ihre Angst, furchtbare Angst ...
 

Seufzend ließ sie sich wieder auf dem Hocker nieder. Sie sprach so ungern mit ihrer Tochter über die Arbeit.
 

„Weißt du, Akemi ... in letzter Zeit gab es auf der Arbeit einige Probleme. Und bevor wir diese nicht gelöst haben, können wir einfach keinen Urlaub machen.“
 

Akemi verzog das Gesicht. Die Antwort gefiel ihr gar nicht, das Mädchen wurde von der Enttäuschung eingeholt und Elena wusste auch weshalb.
 

„Aber Papa hat versprochen, wir gehen auf Hokkaido Schlitten fahren!“ Sie verschränkte trotzig ihre Arme. „Ich hasse eure Arbeit!“
 

Elena warf einen weiteren Blick auf die Uhr. Sie musste gleich los und war noch nicht einmal umgezogen ...

Sie unterdrückte die aufkommende Wut und die quälende Verzweiflung. Wenn sie doch wenigstens Abends Zeit für ihre Tochter hätte!

Aber es blieb ihr keine andere Wahl, als die Umstände zu akzeptieren und zu hoffen, dass ihre Tochter es ihnen später nicht übel nahm.
 

„Schatz, es tut mir so Leid ... ich muss wirklich los ... wir sprechen morgen früh noch einmal darüber, in Ordnung?“
 

Widerwillig verzog das Mädchen ihr Gesicht, nickte jedoch und kuschelte sich wieder in ihre Decke.

Elena gab ihr einen Kuss auf die Stirn und strich ihr über die Wange. „Schlaf gleich gut, Liebes ... wir sehen uns morgen früh!“

„Gute Nacht, Mummy.“
 

Sie stand auf und warf einen letzten Blick auf ihre Tochter, bevor sie das Licht ausknipste.

Akemi hatte bereits die Augen geschlossen.
 

Leise zog sie die Zimmertür hinter sich zu und blieb kurz im Flur stehen.
 

Ich will nicht ... Gott, ich will wirklich nicht!!
 

Sie strich sich über den schmerzenden Kopf, als ihr Mann aus dem Nebenzimmer kam.
 

„Shiho hat lange gebraucht, um einzuschlafen.“, flüsterte Atsushi.
 

Elena blieb neben ihrem Mann stehen und linste durch den Türspalt. Tief und fest schlummernd lag die kleine Shiho in ihrem Babybettchen. Ihr Schlaf war noch so friedlich, ihre Welt noch unbekümmert und sorgenlos.
 

Shiho hatte schreiend und noch vom Fruchtwasser feucht in Atushis Armen gelegen und auch wenn Elena völlig erschöpft gewesen war, hatte sie die bedingungslose, reine Liebe in den Augen ihres Mannes gesehen.

Und auch Akemi hatte sich wahnsinnig gefreut, als vor vier Monaten ihre Schwester zu Welt gekommen war.

Für eine kurze Zeit waren sie eine glückliche, fast normale Familie.

Doch dann wuchs ein Gedanke in ihrem Kopf. Er wuchs und wuchs, wurde immer größer und überwältigend. Dieser kleine, primitive Gedanke war zu einer schmerzenden Erkenntnis geworden. Und diese Erkenntnis ließ ihr immer wieder das Blut in den Adern gefrieren.
 

Das schrille Geräusch der Türklingel riss Elena aus ihren Gedanken.
 

„Das wird das Kindermädchen sein ...“ Atsushi gab seiner Frau einen Kuss und lief eilig die Treppen hinunter.
 

Fröstelnd lehnte Elena die Kinderzimmertür an und begab sich ins elterliche Schlafzimmer. Auch hier schienen die Temperaturen nicht viel angenehmer und sie streifte sich einen Pullover über den Kopf.
 

Sie wusste, es war zwecklos. Elena hätte sich noch so viele Pullover überstreifen können, es würde ihr nicht wärmer werden.

Denn diese unbarmherzige Kälte kam aus ihrem Inneren. Diese eisige, schmerzende Kälte hatte ihr Herz überzogen und breitete sich immer weiter in ihrem Körper aus. Sie war für die zitternden Hände und die unsortierten Gedanken in ihrem Kopf verantwortlich.
 

Elena hatte zwei Kinder auf ihre Welt gebracht. Sie liebte ihre Kinder, ohne Frage. Und trotzdem wünschte sie sich, sie hätte Akemi und Shiho niemals geboren.

Der Gedanke versetzte ihr einen schmerzhaften Stich, er bohrte sich durch ihr verfrorenes Herz. Tränen schossen ihr in die Augen.

Sie würde für ihre Töchter sterben, tausend Tode würde sie für die Mädchen durchleben.

Doch genau hier lag die Problematik.
 

Schon seit Wochen war Elena bewusst; ihr Leben und das ihres Mannes würden schon bald enden.
 

Diese Erkenntnis schien wie aus dem Nichts zu kommen.

Und doch war sie sich gewiss, dass ihr Ende nah war. Da war dieses unbeschreiblich, schreckliche Gefühl, eine dunkle Vorahnung.
 

Elena hatte lange Zeit darüber nachgedacht. Schon als Kind war sie ein sehr kluges, vernünftiges Mädchen gewesen. Und plötzlich war aus der rationalen Wissenschaftlerin eine paranoide, nervöse Frau geworden.
 

Bin ich verrückt?
 

Diese Frage hatte sie sich ebenfalls sehr oft gestellt. Doch sie würde keine Antwort auf diese Frage finden, niemals. Denn Elena hatte Recht. Sie würde sterben.
 

Und ihr schlimmster Alptraum würde wahr werden;
 

Ihre Kinder würden elternlos aufwachsen. Sie würde Shiho niemals laufen sehen oder Akemis gute Noten in der Schule loben können.

Stattdessen gab es für die beiden Mädchen keinen anderen Weg, als den der Organisation.
 

„Elena?“
 

Die junge Frau schrak zusammen. Sie blickte in den Spiegel. Fahrig strich sie sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht und zog ihren Mantel über.
 

Reiß dich zusammen ...
 

„Ich komme.“ Ihre Stimme klang erschöpft. Sie räusperte sich und eilte die Treppen zum Korridor hinunter.

Atsushi sah sie an, blickte ihr direkt ins Gesicht. Er ahnte bereits länger, dass es etwas gab, das seiner Frau zu schaffen machte. Doch er sagte nichts. Er wusste, wenn es soweit war, würde Elena sich ihm öffnen und ihren Gedanken freien Lauf lassen.
 

Elena lächelte. Sie verstanden sich ohne Worte.
 

Liebe ...
 

Die Haustür ging auf und die Nacht empfing Elena mit einem eisigen Wind.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2011-03-15T18:40:57+00:00 15.03.2011 19:40
Super geschrieben.
Und richtig traurig =(
Ich habe mich richtig gefreut, als ich diese Geschichte gefunden habe, die in einer Zeit spielt, in der die Eltern von Shiho und Akemi noch gelebt haben. Schade, dass es so kurz war.
Denn diese traurige Geschichte von Shihos Familie ist eines der Dinge, die ich bei Detektiv Conan am meisten mag. Und man kann sich wirklich vorstellen, wie schrecklich Elena sich gefühlt haben muss, weil sie die ganze Zeit wusste, dass sie, ihr Mann und die beiden Töchter nie eine normale glückliche Familie sein können.
Deine Geschichte hat diese Gefühle sehr gut rübergebracht.


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