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Der Wandel mit dem Detective

von

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05. Oct. 2025 - Klavier

Heute war einer der Tage, an dem ich lieber im Bett geblieben wäre. Eine für L.A. untypisch beißende Kälte zog durch die Straßen, getrieben von einem peitschenden Regen, wie ich ihn hier seit drei oder vier Jahren nicht mehr erlebt hatte.

Ich steckte gerade eine Zapfpistole in das Tankrohr meines Aston Martins und hatte das dringende Bedürfnis wegen der Kälte im Kreis zu rennen, damit mir wärmer wurde.

Nachdem ich das Auto vollgetankt hatte, konnte ich nicht eilig genug den Shop betreten.

Ein junges Fräulein stand hinter der Verkaufstheke, das Gesicht in die Hände gestützt und in einer Zeitung vertieft. Ich schlenderte zur Getränkeabteilung und schnappte mir eine Flasche Wasser. Mein Blick ging nur zufällig zur Printauslage, umso mehr blieb er dort haften:

Irgendein Paparazzo zählte wohl gerade einen Haufen Dollars, weil er mich vorgestern Nacht beim Verlassen des Manilas mit seiner Kamera erwischt hatte. Selbstverständlich mit meinem brünett gelockten One Night Stand an der Hand.

Ich trat näher und meine Augen registrierten auf die Schnelle fünf oder sechs Zeitungen mit Titeln wie Ist sie die Neue an Gavins Seite? und Wer ist die schöne Unbekannte? Selbst die L.A.Times hatte es sich nicht nehmen lassen, mich als Tagesaufhänger zu missbrauchen.

Die "schöne Unbekannte" hieß Vivian Alvarado - letztendlich erfuhr ich doch ihren Namen, obwohl ich nie darum gebeten hatte.

Ich wandte mich von der Zeitungsauslage ab und trug meine Wasserflasche zur Kasse. Die Verkäuferin war immer noch mit Lesen beschäftigt. Über Kopf sah ich, dass sie sich brennend für den Artikel interessierte, der zu dem Foto mit mir und Vivian Alvarado gehörte. Sie seufzte schwer. Ich presste amüsiert die Lippen zusammen, weil ich in ihrem Beisein problemlos die Tankstelle hätte ausrauben können. Da ich nicht ewig Zeit hatte, stellte ich die Wasserflasche mittig auf die Zeitung, sodass sie endlich zu mir aufsah.

"Morgen", sagte ich und wartete die üblichen fünf Sekunden ab, die die Leute brauchten um meine Anwesenheit zu verdauen. Nachdem sie mit aufgerissen Augen mehrmals das Zeitungsfoto mit mir verglichen hatte, während ihr Mund ein lautloses O wie Oh, mein Gott formte, deutete ich mit dem Zeigefinger auf die Wasserflasche und dann nach draußen in Richtung meines Autos.

"Hi", hauchte sie.

"Hi. Säule fünf", erwiderte ich und versuchte dabei ihr zartes Stimmchen zu imitieren. Sie nickte wie fremdgesteuert, wobei ihr verträumter Blick dem Ganzen noch die Krone aufsetzte. Ich lehnte mich etwas nach vorn und sagte: "Wenn Sie es schaffen, mir noch zwei Kaffee Latte fertig zu machen, gehe ich hier als rundum glücklicher Kunde raus... versprochen."

"Zwei?" Sie reckte kurz den Hals nach meinem Wagen, als erwartete sie, dass ihr jemand vom Beifahrersitz zuwinken würde.

"Falls es möglich ist, noch vor der nächsten Sonnenfinsternis."

Ich hatte fast das Bedürfnis zu applaudieren, als sie sich endlich den Kaffeeautomat bediente und anfing eine Art Schachtel zu falten. Nach ein paar Handgriffen sah es dann wie ein Getränkehalter mit Trageschlauf aus. Wie praktisch. Als ich meine Brieftasche hervor holte, säuselte sie "Geht auf's Haus."

Es war immer wieder erstaunlich, dass die Leute einem alles Mögliche schenken oder erlassen wollten, wenn man ohnehin schon in Geld schwamm.

"Gehört Ihnen die Tankstelle?"

"Nein", hauchte sie zurück, wieder mit diesem verklärten Blick.

"Dann fände ich es sehr uncool, wenn das auf Sie zurück fallen könnte, ja?", sagte ich und schob ihr meine Amex zu. Ich hatte auf mein GavinSexNow©-Timbre verzichtet, sonst wäre sie noch an Ort und Stelle umgekippt.

Es war noch nicht ganz sechs Uhr, als ich den Motor vor Fräulein Skyes Apartement abschaltete. Ich nahm mir einen der Kaffeebecher und ließ das Navigationssystem die Route nach Fresno berechnen.

Die Haustür öffnete sich. Vermutlich gab es nicht viele Leute, die Sonntags in aller Herrgottsfrühe ihren Briefkasten beehrten – Mrs. Oldbag gehörte dazu. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, als kaffeetrinkend auf Fräulein Skye zu warten, genoss ich die kleine Show, die sich mir bot. In meinem Kopf spielte ich die Quinten des Pink Panther Themes, so wie Mrs. Oldbag mit einer Taschenlampe in einen der Briefkästen leuchtete. Das war ohne Zweifel nicht ihr eigener, denn den hatte sie zuvor geöffnet. Sie sah kurz nach links und rechts, und steckte dann etwas in den Briefkasten, das ich von meiner Position aus nicht wirklich erkennen konnte – ich tippte auf Papier. Eine Nachricht?

Die Haustür öffnete sich erneut. Mrs. Oldbag zuckte zusammen und verbarg die Taschenlampe hinter ihrem Rücken. Da es Fräulein Skye war, die die Tür geöffnet hatte, ließ ich kurz die Blinker aufleuchten. Es war immer noch dunkel und ich bezweifelte, dass sie mich hinter der Windschutzscheibe erkennen konnte, zumal ich kein Licht im Wagen angeschaltet hatte.

Mein Fräulein Detective ließ sich ohne Begrüßung auf den Beifahrersitz fallen und zog die Tür lautstark zu.

"Neugierige Gewitterziege!", fluchte sie in Richtung von Mrs. Oldbag, die mittlerweile das Kinn zur Straße gereckt hatte. Anscheinend war sie sehr erpicht darauf zu erfahren, zu wem Fräulein Skye ins Auto gestiegen war.

"Wir könnten ein bisschen auf- und abspringen", schlug ich vor und bei der Vorstellung, wie Mrs. Oldbag wohl auf einen wackelnden Wagen reagiert hätte, musste ich breit grinsen.

"Unterstehen Sie sich. Ich will hier noch eine Weile wohnen." Sie wuchtete den Anschnallgurt in das Gurtschloss.

Was gab es Schöneres als frühmorgendlich ein Fräulein Skye in Hochstimmung neben sich zu haben? Ich deutete auf den zweiten Kaffee, den ich in den Getränkehalter am Beifahrersitz gestellt hatte.

"Der ist für Sie, ja?"

"Danke", brummte sie. "Ich hab das Täterprofil erstellt. Hab den Ausdruck mitgebracht."

"Ich bin sehr gespannt."

Ich leerte meinen Kaffee, warf den Pappbecher auf die Rückbank und startete den Wagen.
 

Kurz nach zehn Uhr saßen wir in einem Fresnoer Café bei einem Frühstück. Mit Sicherheit war das kein Privatausflug, aber ich konnte mir vorstellen, dass ein ausgehungertes Fräulein Skye ein sehr unerträgliches Fräulein Skye war und außerdem wollte ich in Ruhe ihr Täterprofil begutachten. Der Kellner war so nett gewesen uns ein abgeschiedenes Plätzchen im zweiten Stock zu empfehlen, wo wir nicht Gefahr liefen, von ein paar kreischenden Fans überrascht zu werden.

Bevor ich einen genaueren Blick auf das Täterprofil werfen konnte, rief Madison – meine Pressesprecherin – an. Sie war nicht sehr erfreut, dass ihr Telefon aufgrund der Schlagzeilen ununterbrochen klingelte. Ich gab ihr die Anweisung, weder Stellungnahmen noch Dementi rauszugeben. In solchen Fällen ließ ich die Medien bevorzugt am langen Arm verhungern.

Sobald ich das Gespräch beendet hatte, schaltete ich mein Handy aus, damit ich ungestört das Täterprofil studieren konnte.

Laut Fräulein Skyes Überlegungen war der Täter ein männlicher Weißer und zwischen 20 und 40 Jahren alt. Des Weiteren stufte sie ihn als so genannten "Mischtyptäter" mit überdurchschnittlicher Intelligenz ein, der sowohl Hiller als auch Cadaverini kannte. In Zusammenhang mit der Nachricht, die der Täter mit der Mordwaffe verschickte, schlussfolgerte sie, dass er sich überlegen und kontrollierend fühlte und eventuell Versuche startete, die Ermittlungsarbeit zu verfolgen. Der Täter hatte wahrscheinlich einen Komplizen gehabt um den Abtransport von Cadaverinis Leiche zu gewährleisten. Als Helfer zog Fräulein Skye Louis Hiller in Erwägung und gab als mögliches Transportmittel einen Kleinwagen an, da sich in direkter Nähe des Tatorts eine Straße befand.

Ihre Schlussüberlegungen bestanden darin, dass Hiller und die unbekannte Person den Mord an Cadaverini geplant hatten und besagte Person X nach erfolgreichem Leichentransport Louis Hiller erstach und mit dem Auto flüchtete.

Das klang doch schon recht annehmbar, mit einer winzigen Ausnahme. Ich trank einen Schluck von meinem Orangensaft und beobachtete mein Fräulein Detective über den Rand des Glases, wie sie einen riesigen Blaubeerpfannkuchen zerhackstückelte. Nachdem sie mir netterweise eins von den ürsprünglich vier Croissants übrig gelassen hatte und ich die kläglichen Reste in der Schüssel mit Rührei betrachtete, tippte ich darauf, dass sie wirklich hungrig war.

"Wie viele Mägen haben Sie eigentlich?"

"Wollen Sie mir unterstellen, ich sei verfressen?"

"Wie könnte ich? Ich bewundere Ihren ausgeprägten Appetit. Und wenn Sie mich fragen, wiegen Sie kein Gramm zu viel."

Fräulein Skye massakrierte ihren Pfannkuchen noch ein wenig energischer. Ich war mir fast sicher, dass sie dabei mein Gesicht vor Augen hatte.

"Weshalb schließen Sie einen weiblichen Täter so kategorisch aus?", fragte ich. Sie zog eine Augenbraue nach oben und senkte die Gabel, die sie gerade in den Mund schieben wollte.

"Sie verdächtigen Viola nicht ernsthaft?"

"Natürlich verdächtige ich sie. Wieso auch nicht?"

Sie schüttelte den Kopf.

"Der Stich ging zwischen der elften und zwölften Rippe in die Milz. Es braucht mehr als nur ein bisschen Kraft um Rippen mit einem Messer zu durchstoßen. Eine Frau wie Viola? Ich bitte Sie, Mr. Gavin."

"Unterschätzen Sie sie bitte niemals. Wir reden hier von Viola, die auf gurgelnde Kehlen steht."

"Es ist für Frauen eher untypisch einen geplanten Mord mit Brachialgewalt zu begehen."

"Bravo, Sie klingen wie eine eifrige Musterschülerin, ja? Stand in Ihren Lehrbüchen, dass Frauen bevorzugt vergiften und ersticken? Oder lieber töten lassen? Dass sie einen starken persönlichen Bezug zum Opfer brauchen und fast immer im häuslichen Umfeld zuschlagen?"

Sie knallte die Gabel auf den Teller, stützte sich auf ihre Unterarme und sah mich herausfordernd an.

"Wenn Sie alles besser wissen, weshalb fragen Sie mich überhaupt nach meiner Meinung?"

Ein Grinsen konnte ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen.

"Gehen wir mal nach Lehrplan vor, ja?", sagte ich und langte fast gleichzeitig nach dem Brotkorb, bevor Fräulein Skye sich auch noch das letzte Croissant zu Eigen machte.

"Wann töten Frauen? Wenn sie sich aus einer misslichen Lage befreien wollen, aus einer Defensive heraus, um sich nicht beherrschen zu lassen, kombiniert mit dem psychosozialen Defizit, keine Problemlösungen entwickeln zu können."

Fräulein Skye schmollte leicht, aber murmelte dann: "Weiter."

"Sie haben Justin Case zugehört, nehme ich an. Viola stand unter massivem Hierarchiedruck innerhalb der Cadaverinis. Enzo stellte für sie ein Problem dar. Und dann tauchte auch noch ein übereifriger Cracker auf, dessen Fähigkeiten für den Clan zwar wertvoll waren, aber gleichzeitig eine Gefahr darstellten. Sie wird Louis Hiller für ihre Zwecke eingespannt haben."

"Fragt sich nur, wie Sie das beweisen wollen."

"Ich muss gar nichts beweisen. Sie hatte Zugang zum Tatort, sie hat ein Motiv, die Gelegenheit, die Mittel, stand mit beiden Opfern in Verbindung und der einzige Augenzeuge heißt Hiller und ist tot. Das reicht für eine Anklage."

Wenn ich ehrlich war, missfiel mir die amerikanische Prozessordnung, wonach nicht die Schuld des Angeklagten nachgewiesen werden musste, sondern seine Unschuld – aber in diesem Fall kam sie mir ausnahmsweise entgegen.

Ich leerte den Orangensaft und ließ mir mein Croissant schmecken, während ich Fräulein Skye dabei beobachtete wie sie schweigend in ihrem letzten Stückchen Pfannkuchen herum stocherte. Sie schmollte nicht mehr, aber wirklich überzeugt von meiner Lieblingstatverdächtigen schien sie nicht.

Etwa zehn Minuten später bat ich um die Rechnung. Ich hatte kaum dem Kellner meine Amex überlassen, als Fräulein Skye sich überdeutlich räusperte.

"Sie wollen nicht etwa für uns beide bezahlen?"

"Wo ist das Problem?"

"Ich hab selber Geld!"

"Könnten Sie noch den hübschen Schmollmund dazu ziehen? Das rundet das Bild ab, ja?"

Sie funkelte mich fuchsteufelswild an und ich hielt es für besser, einzulenken:

"Ich setze es auf Spesenrechnung, okay?"

Fräulein Skye ließ sich das augenscheinlich durch den Kopf gehen. Eins, zwei... fünf... sieben... zehn... zwölf...

"In Ordnung."

"Sie sind ein mutiges Fräulein. Rocken Sie weiter so."

"Rocken Sie einfach hier raus, Gavin."

Natürlich hatte ich nicht vor, eine Spesenabrechnung aufzumachen. Die machte ich nie, weil es mit lästiger Bürokratie verbunden war und es mich nicht interessierte, ob da 50 Dollar mehr oder weniger auf meinem Konto lagen.
 

Die Postfiliale, aus der die Mordwaffe abgeschickt worden war, lag gleich gegenüber. Eine ältere Dame und ein Mann mittleren Alters wurden gerade am Schalter bedient. Weiter hinten stand eine Tür offen und ich sah einen sehr übergewichtigen Mitarbeiter, der auf einem Tisch saß, Zeitung las und sich einen Donut schmecken ließ.

Fräulein Skye hatte ihn auch bemerkt. Mit einem stillen Abkommen gingen wir nach hinten und kassierten irritierte Blicke des Postbeamten am Schalter, die Fräulein Skye mit dem Ausklappen ihrer Polizeimarke beantwortete.

Ich klopfte an den Türrahmen des Hinterzimmers, damit der unbeschäftige Mitarbeiter uns seine Aufmerksamkeit schenkte. Leider sah er nicht mal von seinem Magazin auf, stattdessen biss er in seinen Donut.

"Is' Pause. Wenn Se was verschick'n woll'n, fragen Se mal besser Dwight."

"Kriminalpolizei", erwiderte Fräulein Skye. Der Klops zuckte zusammen. Im nächsten Moment rutschte das Magazin auf den Boden.

"Ich hab doch gesagt, dass ich nich' wusste, dass sie 'ne Prostituierte... HEY! Dich kenn' ich doch!"

Er quälte sich vom Tisch auf den Boden, watschelte ein paar Schritte auf uns zu und begutachtete mich von oben bis unten.

"Krass! Wo is'n mein Handy? Ich hab's voll verlegt. DWIGHT! Kannste mir mal dein Handy leihen? Ich will 'n Foto mit-"

"Könnten wir uns ein bisschen diskreter unterhalten?", unterbrach ich ihn und betrat den Pausenraum.

"Klaro, alles was du willst."

Fräulein Skye schloss die Tür hinter uns.

"Ich bin Howard. Kannst Howie sagen." Er grinste verschwörerisch über das ganze Gesicht.

"Wir haben ein paar Fragen bezüglich einer Postsendung, die am 3.Oktober in Los Angeles per Eilbote zugestellt wurde", sagte Fräulein Skye. "Das Päckchen wurde in dieser Filiale aufgegeben." Sie holte eine vergrößerte Fotografie des Poststempels aus ihrer Tasche und gab sie Howard. "Wir möchten gern wissen, wer am Tag zuvor hier gearbeitet hat."

Howard kratzte sich am Kinn und ich lehnte mich etwas zurück, bevor seine zahlreich sprießenden Pickel einen Würgereflex in mir auslösten.

"Am 2. Oktober? Da war ich hier ziemlich allein, weil's Dwight nich' so gut ging, ne? Jimmy war zwischendurch hier. Hat mir 'n bisschen geholfen, obwohl er Urlaub hat. Richtiger Freund, der Jimmy."

"Könnten Sie bitte nachsehen, um welche Uhrzeit die Sendung angenommen wurde und von wem?"

"Da müsst' ich an den Computer. Wartet hier."

Howard watschelte mit der Fotografie nach draußen und schloss die Tür, nachdem er er uns bestimmt drei oder vier Mal schmierig lächelnd zugenickt hatte.

Fräulein Skye schüttelte sich, als ob sie jemand gezwungen hatte, bittere Medizin zu schlucken. Mir ging es in etwa genau so.

Sie begann, sich im Pausenraum umzusehen. Durchsuchen durften wir zum jetzigen Zeitpunkt nichts, aber es konnte nicht schaden, hier und da einen oberflächlichen Blick zu riskieren. Leider geriet dieses heruntergefallene Magazin in mein Sichtfeld. Ich war weiß Gott kein Kind von Traurigkeit, aber die sexuellen Vorlieben so mancher Mitbürger wollte man einfach nicht auf's Auge gedrückt bekommen. Mit dem Fuß schob ich das Pornomagazin mit den nackten Omas unter den Tisch, damit mir weitere unfreiwillige Blicke erspart blieben.

"Die haben hier Mitarbeiter des Monats", hörte ich Fräulein Skye aus der anderen Ecke des Zimmers sagen.

Ich betrachtete die altersschwache Kaffeemaschine, die zuletzt wohl vor fünf Jahren gereinigt wurde.

"M-Mr. Gavin?" Ich drehte mich zu Fräulein Skye herum, die eine Reihe gerahmter Bilder mit einer Mischung aus Unglaube und Entsetzen betrachtete.

Ich trat neben sie und in jenem Moment, in dem ich sah, was sie sah, packte mich ebenso der Unglaube. Ich sah in das lächelnde Antlitz von Louis Hiller. Fräulein Skye deutete auf das Schild unter dem Portrait:
 

Mitarbeiter des Monats 25/08: James Lowery
 

Die Tür hinter uns wurde aufgerissen. Fräulein Skye und ich zuckten gleichzeitig zusammen.

"Musste dich irgendwie vertan haben. Steht nix im Computer. Es wurde nix gescannt und auch nix gebongt. Also wurde es nich' aufgegeben."

In diesem Moment war mir die Registrierung der Postsendung fast egal.

"Howard, dieser Mann hier..."

"Oh, du meinst Jimmy."

"Jimmy?"

"Is' nur sein Spitzname. Jimmy, Howie – verstehste? Nur Dwighty machen wir nich'. Dwight mag's nich' so."

"Wie lange arbeitet er hier schon?", fragte ich.

"Zehn Jahre. Oder nee, waren's elf?"

Howard ging zurück zur Tür und riss sie auf.

"DWIGHT! Wie lange arbeitet Jimmy schon hier?" Noch ein paar Dezibel lauter und die Filiale wäre in ihren Grundmauern erzittert. Ich ging ihm nach und drückte die Tür wieder ins Schloss.

"Also schon eine halbe Ewigkeit? Das heißt, er wohnt hier in Fresno?"

Meine Frage musste sich für ihn lächerlich anhören, denn er sah mich höchst irritiert an.

"Er hat 'ne Wohnung hier in der Nähe. Is' kürzlich erst umgezogen. Die Bude davor hatte er ziemlich lange. Klar, dass er 'n Tapetenwechsel wollte."

Gedankenfetzen in meinem Kopf schossen kreuz und quer. Sie zielten darauf ab, sich zusammen zu fügen und ein Puzzle zu formen, dessen Motiv ich nicht kannte. Oder besser nicht kennen wollte.

"Sie haben gesagt, dass James Lowery am 2. Oktober hier war, trotz seines Urlaubs."

"Hat mich auch ziemlich gewundert. Ich mein', er wollt' nach Hawaii. Jimmy hat immer von Hawaii geträumt. Hat ewig drauf gespart, ne?"

"Welchen Eindruck hat er denn auf Sie an dem Tag gemacht?", fragte Fräulein Skye, die näher zu mir und Howard getreten war.

"Jetzt, wo ich so drüber nachdenk'... 'N bisschen durch 'n Wind war er ja schon. Sagte, er hat sein' Flug verpasst und dass er's nich' mehr ändern kann. Aber hat ihn hart getroffen. Hab's gespürt. Der war so von der Rolle, dass er nich' mehr wusste, wo vorn und hinten is' hier im Laden."

"Also war er keine große Hilfe?", fragte ich.

"Nich' wirklich. Hab ihn zur Packstation geschickt. Irgendwann is' er dann gegangen."

"Bei dieser Packstation werden alle aufgegebenen Postsendungen gelagert?"

"Jup. Später werden se dann nach Örtlichkeit'n sortiert, gestempelt und verladen."

Für einen kurzen, bitteren Moment schloss ich die Augen. Das passte natürlich alles so wunderbar ins Bild und ich hätte mich am liebsten geohrfeigt, weil ich zu nachlässig gewesen war.

"Wofür is'n das überhaupt wichtig? Ich mein', hat er was ausgefressen? Wär' so gar nich' seine Art. Jimmy is'n prima Kerl. Würde nie 'n krummes Ding dreh'n."

Fräulein Skye kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Gab sie sich die Schuld, weil sie diejenige war, die Mrs. Hiller befragt hatte?

Ich schob alle frustrierenden Gedanken beiseite. Ich musste handeln und zwar so schnell wie möglich.

"Howard, bitte drucken Sie uns die Personalakte von James Lowery aus, inklusive Anschrift, Telefonnummer und Arbeitsvertrag. Des Weiteren eine schriftliche Auflistung der am Schalter abgegebenen Postsendungen und eine Liste mit den jeweils gestempelten, ja?"

Obwohl Howard nicht wusste, was hier vor sich ging, schien er begriffen zu haben, dass sein guter Kumpel Jimmy in ernsten Schwierigkeiten steckte.

"Dann bin ich noch mal weg, ne?", sagte er mit hängenden Schultern. Mir tat er ein wenig leid, so verunsichert, wie er den Raum verließ.

"Verdammter Mist!", fluchte Fräulein Skye. "Das ist doch idiotisch! Keiner hat gewusst, dass Hiller..."

"Einen Zwilling hat? Ich höre davon auch zum ersten Mal."

"Auf jeden Fall ist das kein Zufall. Das Problem ist, dass James Lowery über alle Berge sein wird!"

Sie kramte in ihrer Tasche und holte ihre Kekse hervor. Als nächstes sah und hörte ich sie ununterbrochen kauen.

"Ich frage mich, weshalb Mrs. Hiller nichts gesagt hat", murmelte ich.

"Ruhe, bitte! Ich esse."

"Ja, das sehe ich." Vermutlich meinte sie eher Ruhe bitte, ich muss nachdenken.

"Kontaktieren Sie Mr. Bennett und schildern Sie ihm die Lage. Er soll umgehend ein zweites Verhör mit Mrs. Hiller führen und die zuständige Adoptionsstelle ausquetschen. Ich rufe jetzt beim nächsten Bezirksgericht an", entschied ich kurzerhand.

"Wieso beim Gericht?!"

"Weil wir unter den Umständen nicht einfach vor Lowerys Tür aufkreuzen können. Ich brauche eine polizeiliche Einheit in der Rückhand."

Ich durfte zwar keine Zeit verlieren, aber vorerst war ich auf die Hilfe eines in Fresno ansässigen Richters angewiesen.
 

Knapp zwei Stunden später saß ich mit Fräulein Skye in Richter Spelfields Büro und beobachtete mit wachsender Ungeduld, wie er die digitale Fallakte aus Los Angeles auf seinem Rechner studierte. Mr. Bennett hatte auf meine Anweisung alle fallrelevanten Dokumente an ein verschlüsseltes Email-Fach gesandt.

Zuletzt besah sich Richter Spelfield die von Howard erstellten Unterlagen aus der Postfiliale.

Dann endlich – mir kam es wie eine quälend lange Ewigkeit vor – nahm er mit Sorgesfalten auf der Stirn seine Brille ab und griff zum Telefonhörer.

"Achtes Bezirksgericht, Richter Malcom Spelfield am Apparat. Bei mir sitzt Bezirksstaatsanwalt Gavin aus Los Angeles, dessen Ermittlungen im Zuge eines Mordes nach Fresno geführt haben.

In der aktuellen Sach- und Beweislage besteht dringender Tatverdacht und Gefahr im Verzug gegen einen Mann namens James Lowery. Schicken Sie unverzüglich eine bewaffnete Sondereinheit in die East McKenzie Avenue 5. Weitere Anweisungen wird Staatsanwalt Gavin vor Ort geben."

Nachdem Richter Spelfield aufgelegt hatte, atmete ich kurz durch. So kurzfristig eine Vorsprache bei ihm zu bekommen und obendrein festzustellen, dass er zu den Personen gehörte, die nicht lange fackelten, sondern Taten sprechen ließen, war ein absoluter Glücksfall.

"Vielen Dank", war alles, was ich gerade hervorbringen konnte. Er nickte und zog die Tastatur auf seinem Tisch zu sich.

"Ich stelle Ihnen noch schnell eine Durchsuchungsanordnung aus."
 

Die sechsköpfige Sondereinheit wartete zwei Straßen entfernt von Lowerys Wohnblock. Ich vereinbarte mit den Herrschaften, dass zunächst nur ich, Fräulein Skye und der Einsatzleiter, Detective Trawler, zur Wohnung vordringen würden. Die anderen sollten sich für einen möglichen Zugriff vor dem Haus bereit halten.

Nachdem wir alle potentiellen Fluchtwege überprüft hatten, konnten wir mit Sicherheit sagen, dass die Eingangstür unten die einzige Möglichkeit war, das Haus zu betreten und wieder zu verlassen.

Fräulein Skye stattete man mit einer Beretta 92 aus. Während sie den Gürtelholster anlegte, fragte ich mich, ob so ein zierliches Fräulein wirklich mit einer Waffe hantieren konnte. Der Gedanke war albern, aber in meiner Vorstellung passte es nicht zu ihr.

Indem wir bei einem Nachbarn klingelten, gelangten wir in das Treppenhaus. Fräulein Skye und ich postierten uns jeweils rechts und links von Lowerys Wohnungstür, Trawler etwas versetzt am oberen Treppenabsatz in unmittelbarer Zugriffsnähe.

Zunächst legte ich das Ohr an die Tür um vorab verräterische Geräusche ausmachen zu können. Ich vernahm nichts, also klingelte ich. Keine Reaktion. Nach einer halben Minute klingelte ich erneut. Als auch der fünfte oder sechste Versuch nichts brachte, musste ich die erste Warnung ausrufen.

"Kriminalpolizei. Mr. Lowery öffnen Sie bitte innerhalb einer Minute die Tür. Ansonsten sehen wir uns gezwungen, sie aufzubrechen."

Wir warteten fast zwei Minuten. Mein letzer Klingelruf folgte.

"Mr. Lowery. Letzte Verwarnung. Sie haben zehn Sekunden."

Ich gab Trawler ein Zeichen, der daraufhin zwei der fünf postierten Detectives via Funk zum Türaufbruch nach oben dirigierte. Sie kamen schnell und fast lautlos.

"Aufbrechen", entschied ich und wich zurück um den Detectives Platz zu machen. Die folgende Prozedur ging ziemlich flink und ich war der Einzige, der draußen stehen blieb, sobald die Tür offen stand und die anderen die Wohnung stürmten. Ich lauerte auf verräterische Zeichen, die nach Festnahme klangen, doch alles, was ich hörte, war ein zweifach krachendes Geräusch. Vermutlich Türen, die aufgetreten wurden.

"Mr. Gavin", hörte ich Fräulein Skye rufen. Das hieß dann wohl, dass Lowery aller Hoffnung zutrotz nicht zu Hause war. Als ich die Wohnung betrat, überrollte mich das nächste unschöne Desaster: Die Wohnung war leerstehend. Fassungslos durchstreifte ich die zwei Räume und betrat sogar überflüssigerweise das Badezimmer. Alles nur um mich vom Eindruck zu überzeugen, dass hier niemand wohnte.

Im Moment hatte ich verloren. Lowery war mir mindestens drei Schritte voraus. Diese Erkenntnis traf mich so sehr, dass ich die Badezimmertür mit einem frustierten Faustschlag signierte.
 

Es war fast 19 Uhr, als ich mit dem Wagen vor dem Präsidium in Los Angeles hielt.

Alles was ich innerhalb der letzten Stunden erwirken konnte, war, James Lowery auf die generalstaatliche Fahndungsliste Kaliforniens zu setzen. Natürlich hatten wir es uns nicht nehmen lassen, Lowerys Nachbarn auszuquetschen, von denen zwei der Meinung waren, dass er diese Wohnung bezogen und auch regelmäßig betreten hatte. Ein Telefonat mit dem Vermieter bestätigte, dass Lowery vor vier Monaten die Wohnung übernommen hatte.

Ich sah zu Fräulein Skye auf dem Beifahrersitz, die nicht einfach wortlos ausgestiegen war, sobald der Wagen stand. Tatsächlich machte sie einen recht geknickten Eindruck.

"Dieser Fall wird immer abstruser", sagte sie leise zum Amaturenbrett.

"Das trifft den Nagel auf den Kopf", erwiderte ich mit einem müden Lächeln. "Besprechen Sie mit Mr. Bennett alle Zwischenergebnisse. Ich werde morgen Früh weitere Entscheidungen treffen."

"Zumindest kann man wohl Ihnen eine erholsame Nacht wünschen, Mr. Gavin", sagte sie schnippisch und öffnete mit der Skyeschen Durchschlagskraft die Beifahrertür.

"Wenn Sie maßgeblich am Ermittlungserfolg teilhaben, winkt Ihnen ein Bonus." Sie hatte schon die Beine aus dem Wagen geschwungen, aber hielt dann doch in ihrer Bewegung inne.

"Pfff. Wie viel?"

"Dreihundert Dollar."

"Fünfhundert. Mit Gavinischer Nervpauschale siebenhundert."

Ich musste leise lachen.

"Vierhundert. Gute Nacht, Fräulein Skye." Ich kniff kurz die Augen zusammen, als die Beifahrertür krachend ins Schloss fiel. Das klang schmerzhaft.

Für mich stand noch der unbequeme Teil des Tages in Form dieser lästigen Wohltätigkeitsveranstaltung an. Ich hätte mich gern darum gedrückt und gehofft, dass meine fehlende Rückmeldung zur Einladung unbemerkt blieb, aber Mrs. Coltrane hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, Kristoph zu behelligen. Und mein Bruderherz bestand natürlich darauf, dass ich mich blicken ließ.

Zu allem Überfluss würde ich es nicht rechtzeitig auf die Veranstaltung schaffen. Der Empfang war für 20 Uhr angesetzt und ich musste nach Hause um mich umzuziehen. Da auf der Einladung um Abendgarderobe gebeten wurde und ich Mrs. Coltranes Vorliebe für pompös aufgezogene Festlichkeiten die letzten sechs Jahre ertragen durfte, wusste ich, dass keiner der geladenen Herrschaften ohne Smoking aufschlagen würde.

Als sich der Fahrstuhl zu meiner Penthousewohnung öffnete, stellte ich fest, dass überall Licht brannte. Hatte ich heute Morgen vergessen, es auszuschalten?

Doch dann sah ich, wie ein Wischeimer und ein Mopp aus meinem Badezimmer getragen wurden. Ich war nicht minder überrascht, meine Hauswirtschafterin um diese Uhrzeit noch anzutreffen. Normalerweise kam sie vormittags oder nachmittags an drei Tagen die Woche.

"Was machen Sie denn noch hier?", fragte ich Mereille. Sie stellte den Eimer ab, wischte sich über die Stirn und lächelte mich matt an.

"Sohn krank. Viel Fieber. Deshalb ich arbeiten heute spät."

"Ein Anruf hätte genügt, ja? Wenn Sie bei Ihren Kindern sein müssen, dann kann alles andere warten."

"Wenn ich sagen, ich arbeiten für Mr. Gahwien, dann ich arbeiten."

Ich musste über ihren Eifer schmunzeln. Mereille stammte aus Borginien und war vor drei Jahren mit ihren beiden Kindern nach dem Tod ihres Mannes in die USA ausgewandert, um ihrem Bruder näher zu sein, der wohl schon ein Jahrzehnt hier lebte.

"Wer kümmert sich denn jetzt um Ihren Sohn?"

"Seines Schwester passen auf."

Ich nickte nur. Dann erinnerte ich mich daran, dass ich eigentlich keine Zeit zum Plaudern hatte und steuerte das Schlafzimmer mit meinem begehbaren Kleiderschrank an. Mein Klamottenbestand war mehr als üppig, allerdings nicht, was die heutige Kleiderordnung betraf. Folglich hatte ich relativ schnell die Kleiderhülle mit dem Smoking zur Hand. Das einzige weiße Hemd mit Umschlagmanschetten, das ich besaß, musste ich allerdings eine Weile suchen. Dummerweise hing es leicht gequetscht auf der Kleiderstange zwischen all den anderen Hemden.

"Sie gehen für Tanz?", hörte ich Mereille hinter mir, als ich das Hemd heraus zerrte.

"So was in der Art", murmelte ich. Sie trat näher und begutachtete die kleinen Fältchen auf dem Stoff.

"Sie sich machen schön. Ich dampfen das für Sie."

Meine Rettung! Ich hatte in meinem ganzen Leben noch kein Bügeleisen angefasst. Und ich wollte nicht ausgrechnet an diesem Hemd meine Premiere feiern.

"Danke, Sie sind ein Schatz", sagte ich freudestrahlend. Mereille winkte nur ab, bescheiden wie sie war, und wuselte mit meinem Hemd davon. Ich nutzte das zweite Bad, das an mein Schlafzimmer grenzte, für eine Dusche und eine gründliche Gesichtsrasur.

Nachdem ich mich halb angekleidet und vorab schon meine Haare gerichtet hatte, ging ich mit dem Smokingjackett zurück ins Wohnzimmer, wo mir Mereille das frisch gebügelte Hemd reichte.

Es war noch warm, als ich es anzog. Gleichzeitig schrieb ich im Schnelltippverfahren eine SMS an Kristoph, dass ich mich um eine halbe Stunde verspäten würde.

Dann begann der alljährliche Kampf mit dieser grässlichen Fliege. Ich hatte bis heute nicht gelernt, wie man sie richtig band.

"Können Sie Fliegen binden?", fragte ich Mereille, in der Hoffnung, dass sie auch hier mehr Handfertigkeiten besaß als ich.

"Mann tragen für große Tag eines Tunika in Borginien."

Das hieß dann wohl nein. Bereits zum zweiten Mal öffnete ich den Fliegenknoten, weil meine Bindung schon wieder in einer Schieflage endete.

"Mr. Gahwien, ich müssen schimpfen mit Sie. Was sein das?" Sie zeigte anklagend auf meinen Küchenbereich, der offen im Wohnzimmer integiert lag. Ich sah sie fragend an, weil meine Küche so aussah wie seit vier Jahren schon.

"Ich nie müssen putzen. Immer leer. Niemand kochen."

Jetzt verstand ich, worauf sie hinaus wollte und kam nicht umhin zu lächeln.

"Brauchen gutes Frau für Mr. Gahwien zu kochen, damit essen richtig."

Ihre Sorge um mein Wohlergehen war niedlich, aber ich aß fast immer außerhalb und in den heimischen Momenten beanspruchte ich einen Lieferservice. Ich hatte keine Ahnung vom Kochen und zu wenig Interesse, es wirklich zu lernen. Meine freie Zeit konnte ich mit spannenderen Dingen zubringen.

"Ich werde mich bei Gelegenheit mal umsehen", schwindelte ich, um sie etwas zu besänftigen.

"Amerika immer Stress. Viel laut. Müssen mehr hören Lamiroir. Dann wissen, was sein Ruhe in Kopf."

Fast jedes Mal, wenn ich mich mit Mereille unterhielt, erwähnte sie diese Sängerin, die in Borginien wohl eine große Berühmheit war. So wie sie von Lamiroir schwärmte, kam mir der Gedanke, dass ich mir bei Gelegenheit wirklich mal ihre Musik anhören sollte.

Ich begutachtete mein Bindungswerk im Spiegel. Die Fliege saß relativ gerade.

"Lassen so. Sein gut."

Sie hatte Recht. Besser würde ich es wohl heute nicht mehr hinbekommen.

"Und jetzt Sie versprechen zu besorgen gutes Koch. In mein Sprache."

Natürlich ließ mich Mereille in ihrer Hartnäckigkeit nicht so einfach davon kommen. Sie arbeitete seit zwei Jahren für mich und um die Kommunikation etwas zu verbessern, hatte ich mich entschieden Borginisch zu lernen. Zum Einen machte sie das glücklich, weil sie immerzu in höchsten Tönen von ihrer Heimat sprach und zum anderen klang Borginisch auf eine ganz eigene Art exotisch und geheimnisvoll, mit einer wunderschönen Sprachmelodie. Leider war Borginisch verflucht kompliziert, deshalb musste ich einen Moment überlegen, bevor ich zum Sprechen ansetzte.

"ﮃⱦ ﮃ...ӝȜ...Ѭ₫₰ٶ" Ich war mir nicht sicher, ob das gerade richtig war. Die Gewissheit hatte ich, als ich einen leicht irritierten Blick von Mereille kassierte.

"Okay, was hab ich gesagt?"

"Sagen, dass Elefant nehmen Milch von Baum." Genau das war das Fatale an dieser Sprache: Der kleinste Fehler veränderte manchmal den gesamten Sinn. Ich ließ mir den Satz noch mal durch den Kopf gehen und hatte den Fehler dann ausgemacht.

"ﮃⱦ₫₰ٶ ӝ... ѬʆȜ"

"Jetzt Sie haben richtig. Werden besser mit Aussprache."

Mereille lächelte zufrieden und gab mir das Smokingjackett.

"Machen gutes Tanz jetzt. Ich wünschen Spaß."

Die nächsten Stunden hätte ich lieber über borginische Kochrezepte geplaudert als mich von Mrs. Coltrane belagern zu lassen, aber dann hätte Mereille wohl noch eine Diskussion über das Fehlen von amerikanischem Pflichtgefühl vom Zaun gebrochen.

Kristoph hatte auf meine SMS geantwortet: Kein Problem. Fahr vorsichtig.

Ich schnappte meine Schlüssel und mein Handy und verabschiedete mich von Mereille.

Die Veranstaltung war diesmal in die Walt Disney Concert Hall verlegt worden. Die Strecke kannte ich praktisch auswendig, weil die Gavinners im Zuge einer speziellen Konzertreihe mit den Philharmonikern vor drei Jahren ganze zehn Mal dort gespielt hatten.

Und der Aston Martin bekam heute seinen zweiten Einsatz, weil ich unmöglich mit dem Smoking auf meiner Vendetta anrauschen konnte.
 

Ein Portier öffnete mir die Tür zum Foyer.

"Guten Abend, Mr. Gavin."

"Guten Abend." Die Eingangshalle wirkte verlassen, mit Ausnahme meines Bruders, der mit gemäßigten Schritten und einem ebenso gemäßigten Lächeln auf mich zukam. Es überraschte mich nicht, dass er mich bereits hier empfing. Oder besser gesagt: abfing.

"Du hast sie schon wieder falsch gebunden", stellte er fest, wobei er alles andere als vorwurfsvoll klang. Kristoph hob beide Hände, zum Zeichen, dass er meine Fliege richten wollte. Ich trat näher und ließ zu, dass er den Knoten öffnete um die Bindungsprozedur von vorn zu beginnen.

"Du siehst müde aus, Klavier."

"Ich hab mich so sehr auf heute Abend gefreut, dass ich vor Aufregung die ganze Nacht nicht schlafen konnte."

"Natürlich", erwiderte er schmunzelnd. Ich bewunderte Kristoph für seine geschickte Fingerfertigkeit. Nach nicht mal einer Minute betrachtete ich das – natürlich perfekte – Ergebnis im spiegelnden Glas der Eingangstür.

"Da du ausgerechnet heute mit diesen unerfreulichen Schlagzeilen bedacht wurdest, halte ich es für angebracht, wenn du deine Unterredungen mit den weiblichen Gästen dezent gestaltest."

Eigentlich hatte ich nur darauf gewartet, dass Kristoph es zur Sprache brachte, schließlich war das der einzige Grund, weshalb er mich hier abgefangen hatte.

"Es ist nur ein gut gemeinter Rat, Klavier."

"Ich hab dich schon verstanden", sagte ich nicht minder freundlich, obwohl ich wusste, dass er nicht nur um meinen Ruf besorgt war.

"Vielleicht magst du gern vergessen, woher du kommst. Aber du solltest niemals vergessen, wohin du gehen möchtest." Kristoph sprach gern in der Familientradition der Gavins.

Ich ging einen Schritt auf ihn zu und nahm sein Gesicht in meine Hände, wie ich es als kleiner Junge schon bei ihm getan hatte. Nur musste ich ihn heute nicht mehr auf meine Augenhöhe zerren.

"Kristoph, keine Schlagzeile der Welt wird mich davon abhalten, mein Bruderherz glücklich zu machen."

Er lächelte und legte eine Hand auf meinen Kopf. Auch das war Tradition zwischen uns.

Die geladenen Gäste hielten sich natürlich nicht im Konzertsaal auf, sondern in einer der größeren Nebenaulen. Das Erste, was ich machte, nachdem Kristoph die große Portaltür aufgezogen hatte, war die Anzahl der Gäste zu schätzen.

Das mussten mehr als dreihundert Leute sein. Mrs. Coltrane war bekannt dafür, dass sie jeden belästigte, der Geld, Rang und Namen hatte, aber der heutige Empfang übertraf größentechnisch alle Jahre zuvor.

Kristoph nutzte diese Gelegenheit immer wieder auf's Neue um wichtige Kontakte herzustellen.

Und ich nutzte hier jedes Jahr die Gelegenheit, um mich im Versteckspielen zu üben. Eine Stunde musste ich bleiben, alles andere verstieß gegen die Etikette.

"Oooooh, da ist er ja!"

Meine Fleisch gewordene Nemisis rauschte in einem schwarzen Paillettenkleid auf mich zu.

"Klavier, es ist so wundervoll, dass Sie trotz aller zeitlichen Engpässe meine kleine Veranstaltung beehren", flötete Mrs. Coltrane und zwang mir links und rechts ein Bussi auf die Wange. Ich fragte mich jedes Mal, weshalb sie so viel Zeit in die Planung von rauschenden Festen investierte, aber sich nicht einmal fünf Sekunden über ihre gesellschaftlichen Fettnäpfchen Gedanken machte.

"Da Sie sich meine Anwesenheit so ausdrücklich gewünscht haben, konnte ich schlecht nein sagen", entgegnete ich mit einem gequälten Lächeln. Dummerweise hatte Mrs. Coltrane ihren Fanclub stets im Schlepptau – ein halbes Dutzend gackernder, schlecht beschäftiger Ehegattinen von Vorstandsvorsitzenden, die mich und Kristoph jetzt zum Fokus ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit gekrönt hatten.

"Sie sehen Ihrem Bruder immer ähnlicher. So wohlgeratene Mannsbilder. Ganz die Mama, alle beide. Sophie wäre sicher stolz. Sie war ja auch eine absolute Schönheit."

Ich musste aufpassen, dass mir das gequälte Lächeln nicht aus dem Gesicht rutschte.

"Das war sie", würgte Kristoph Mrs. Coltranes Versuch, zum xten Mal Anteilnahme am Tod unserer Mutter zu heucheln, ab. "Wie ich sehe, lassen Sie heute die Philharmoniker aufspielen."

"Aber ja, aber ja! Es hat mich Wochen gekostet einen geeigneten Termin zu finden. Diese Musiker sind immer so schrecklich ausgebucht, müssen Sie wissen. Aber es hat sich doch gelohnt, nicht wahr?"

Sie klimperte mit den Augen in die Runde und erhielt prompt seufzende Zustimmung ihres Fanclubs.

Mein Handy klingelte. Wer auch immer mich gerade anrufen wollte, hatte sich in meiner Gunst sehr weit nach oben gespielt.

"Sie entschuldigen mich", sagte ich zu den Damen und entfernte mich mit schnellen Schritten um das Gespräch entgegen zu nehmen.

"Ja?"

"Du siehst scheiße aus, Gavin." Lenny. Es überraschte mich nicht, dass er zugegen war. Nicht, weil er zu den Gavinners gehörte, sondern weil sein Name als Konzertpianist in gewissen Kreisen viel zu bedeutsam war, um ihn ignorieren zu können.

"Wo bist du?"

"Schau mal nach links."

Er stand draußen auf der Terrasse - natürlich rauchend - und winkte mir durch die verglaste Tür zu. In der Hoffnung, dass der Hühnerstall mich nicht dabei beobachtete, stahl ich mich auf die Terrasse um Lenny Gesellschaft zu leisten.

"Danke für deine Rettung", sagte ich. Er verzog den Mund nur zu einem spöttischen Grinsen und zog an seiner Zigarette. Wir stellten uns etwas abseits. Lenny schwang sich auf das Steingeländer, um obenauf zu sitzen, ich lehnte mich dagegen. Die kühle Luft prickelte auf meinem Gesicht und ich genoss die Stille, die hier draußen herrschte.

"Wusstest du, dass Daryan sich neuerdings als Tourmanager aufspielt?", unterbrach er das Schweigen, nachdem er seine Zigarette weggeschnippt hatte.

"Klär mich auf."

"Er hat mich heute bestimmt acht Mal angerufen. Jedes Mal mit einer anderen hirnrissigen Idee für die nächste Tour. Und jetzt fängt er an, mit Veranstaltern zu verhandeln."

"Lass ihn", meinte ich nur. "Er ist derzeit schlecht ausgelastet."

Daryan beklagte sich zwar nicht, aber ich wusste, dass er nur zähneknirschend seine Verbannung an den Schreibtisch ertrug. Folglich steckte er jetzt seine überschüssige Energie in die Band.

"Oh, ich vergaß! Du findest für alles eine Rechtfertigung. Konsequenzen werden ja nur gezogen, wenn dir etwas gegen den Strich geht." Ich wusste, worauf Lenny anspielte, ohne dass er das Kind beim Namen nannte.

"Du kannst du mir gern alles an den Kopf werfen, was du möchtest. Aber ich habe ihn damals nicht gebeten, zu gehen, ja?" Vor zwei Jahren hatte ich mich mit unserem damaligen Bassisten in einem Streit überworfen, was damit endete, dass Vincent wutentbrannt die Band verlassen hatte. Alle Versuche der Jungs, ihn damals umzustimmen, waren gnadenlos gescheitert. Ebenso ihr Bemühen, mich dahin zu kriegen, einen Schritt auf ihn zuzugehen. Auf seinen Austritt hatte ich mit einem Bassistencasting reagiert und das war es, was Lenny mir bis heute vorwarf. So stur ich damals auch gewesen war, heute konnte ich seinen Frust verstehen. Zwischen ihm und Vincent hatte eine ganz ähnliche Verbundenheit geherrscht, wie zwischen mir und Daryan und ich wusste, dass der Tag niemals kommen würde, an dem er Ike als vollwertiges Bandmitglied akzeptierte.

"Vielleicht sollte jemand Daryan ein wenig auf die Finger gucken", lenkte ich ein. "Bevor wir die Tour aus Jugendschutzgründen absagen müssen."

"Keine Playmates inmitten von bunten Wassersprengern? Jammerschade", frotzelte er und zündete sich eine neue Zigarette an.

"Das hat er nicht ernst gemeint, oder?"

"Und ob. Mein Favorit war allerdings seine Idee, die Zuckerschnecken vollkommen nackt auf die Bühne zu stellen und die zensurbedürftigen Körperstellen nur mit Laserprojektion des Gavinners-Emblems zu überdecken."

"Red es ihm aus, ja?"

"Weshalb sollte ich deine Drecksarbeit machen?"

Ich musste grinsen, weil ich erst jetzt registrierte, dass ich von Daryan herein gelegt worden war.

"Weil er mir vorgestern Nacht das Versprechen abgenommen hat, dass ich mich vorübergehend aus allen Entscheidungen raushalte."

"Clever von ihm."

Durch die Terrassentür sah ich etwas: Dunkelblondes, hochgestecktes Haar, das zu einer zierlichen Frau gehörte. Sie stand bei Kristoph. Zwar sah ich sie nur von hinten, aber ich war mir sicher, dass es Diane Freyer war. Mit einem Mal fand ich es gar nicht mehr so schrecklich, hierher gekommen zu sein.

"Gavin, du willst nicht ernsthaft wieder da rein", murmelte Lenny, kaum dass ich ein paar Schritte auf die Tür zugegangen war.

"Ich muss noch den Scheck ausstellen", versuchte ich mich zu rechtfertigen, obwohl ihm der Grund vermutlich egal war.

"Ich hau gleich ab. Viel Spaß noch", sagte er und schlug in meine Hand ein. Ich ließ Lenny zurück, der sicher noch aufrauchen wollte, und öffnete die Terrassentür.

Kristoph erblickte mich sofort und fast im gleichen Moment drehte sich auch Diane um und lächelte mir zu. Sie sah absolut umwerfend aus in diesem mintgrünen Kleid. Noch während ich mich den beiden näherte, änderte sich Kristophs Blick in eine stumme Frage und ich ahnte, dass ich anfing auf sehr dünnem Eis zu wandeln. Allein die Tatsache, dass ich Diane Blumen hatte zukommen lassen, musste ihn außerordentlich misstrauisch gemacht haben.

"Ich hab mein Scheckbuch vergessen. Könntest du mir aushelfen, Kristoph?", log ich.

"Natürlich. Der Garderobiere verwahrt meinen Mantel. Ich bin sofort wieder da", sagte er und entfernte sich mit einem Nicken. Das ging ja leichter, als ich dachte. Fast zu leicht. Ich hatte gerade meinen Blick auf Diane neben mir gerichtet, als die glockenhelle Stimme von Mrs. Coltrane in meinen Nacken wehte.

"Oooooohhh, Klavier! Hier sind Sie! Wir haben Sie schon überall gesucht."

Ein wenig verärgert drehte ich mich zu Mrs. Coltrane und ihrem Fanclub um. Kristoph hatte sie wohl kommen sehen und lachte sich wahrscheinlich gerade ins Fäustchen.

"Wir haben uns gefragt, ob Sie uns die Ehre erweisen würden, ein Stück zum Besten zu geben. Kristoph erzählte mir einmal in aller Vertraulichkeit, dass Sie ein kleiner Charmeur an den Tasten sind. Wir haben hier einen echten Bechstein. Das sollte Sie doch reizen. Kennen Sie Clair de Lune?"

Fast hätte ich mich bei meinem unterdrückten Lachanfall verschluckt und ich konnte es gerade noch in ein dezentes Husten verwandeln.

"Sicher kenne ich es, Mrs. Coltrane."

"Wie wunderbar! Sie würden mir ja solch eine Freude bereiten, wenn Sie es für mich spielen könnten. Wissen Sie, ich liebe Debussy."

Sie sprach den Namen vollkommen falsch aus, aber das kümmerte mich im Moment weniger. Fakt war, dass ich keine Lust hatte, für Mrs. Coltrane zu spielen und sie und ihre Anhängsel einfach nur loswerden wollte, damit ich ein paar Worte mit Diane wechseln konnte. Leider klimperte mich dieses Weib unbeirrt an und ich konnte ihr einfach kein schlichtes Nein an den Kopf werfen. Nicht unter diesen Umständen. Die Terrassentür öffnete sich und ein kleiner Teufel warf mir einen Rettungsanker zu.

"Ich würde wahnsinnig gern für Sie spielen. Aber warum ich, wenn mein geschätzter Bandkollege und Konzertpianist Lenarius Kamisic das viel besser könnte, ja?" Den letzten Teil des Satzes hatte ich etwas lauter als nötig gesprochen, sodass Lenny an der Tür zur Salzsäule erstarrte. Zum Einen hasste er es bei seinem richtigen Vornamen genannt zu werden und die Tatsache, dass ihn mittlerweile eine ganze Armee von Augenpaaren musterte, schien ihm auch nicht zu gefallen.

Ich ging auf ihn zu und führte ihn zu Mrs. Coltrane und den anderen.

"Gavin, was soll das?", zischte er mir leise zu, doch ich ignorierte es.

"Mrs. Coltrane möchte so gern Clair de Lune hören. Und wer könnte es besser spielen als du?", sagte ich für alle hörbar und mit einer affektierten Feierlichkeit, die Mrs. Coltrane in nichts nachstand. Sie machte große Augen.

"Ich wusste ja gar nicht, dass Sie gekommen sind, Mr. Kamisic. Ich habe Sie den ganzen Abend nicht gesehen!" Kein Wunder. Vermutlich hatte er die ganze Zeit seine eigene, private Nikotinparty auf der Terrasse gefeiert.

"Sie müssen unbedingt spielen! Ich werde den Musikern noch schnell sagen, dass sie einen Moment unterbrechen sollen."

Sie wuselte in heller Aufregung davon und ihre Anhängsel folgten ihr auf dem Tritt. Damit war ich wohl aus dem Schneider. Ich lächelte sogar noch zufrieden, als Lenny mich unsanft am Kragen gepackt hatte und mir das Hemd zerknitterte.

"Nenn mir einen Grund, weshalb ich dich nicht umbringen sollte. Ich hasse Debussy!"

"Und ich hasse diese Fliege. Du machst mir trotzdem nicht die Freude, sie einfach abzureißen, ja?"

Er ließ mich los. Ich fing Dianes Blick auf, die uns mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. Die Musik hörte auf zu spielen. Kurz darauf stand auch schon Mrs. Coltrane wieder neben uns.

"Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten!", bellte sie in die Aula, sodass alle Gespräche nach und nach verstummten. "Mit Freuden darf ich verkünden, dass der hochgeschätzte Lenarius Kamisic heute für uns spielen wird. Nämlich mein absolutes Lieblingsstück Clair de Lune-"

"Welches in Wahrheit nur ihr zweitliebstes Stück ist, wie sie mir in aller Bescheidenheit verraten hat." Mrs. Coltrane sah mich höchst verwundert an, weil ich ihr so einfach ins Wort gefallen war. "Und deshalb wird Mr. Kamisic auch ihrem guten Geschmack nachkommen und Fantaisie Impromptu von Chopin zum Besten geben."

Ich erntete den nächsten verwunderten Blick. Diesmal von Lenny. Ich wusste, dass er Chopin verehrte und seine Stücke als musikalisches Heiligtum betrachtete. Fantaisie Impromptu kannte er zudem auswendig. Auf der letzten Gavinners-Tour hatte er sich regelmäßig einen Spaß daraus gemacht, Daryan während der Soundchecks mit diesem Stück in den Wahnsinn zu treiben, weil dieser klassische Musik abgrundtief hasste.

Unter Applaus ging Lenny vor zum Flügel, gefolgt von einer immer noch irritiert wirkenden Mrs. Coltrane.

Ich sah Kristoph am anderen Ende der Aula. Aus der Entfernung konnte ich nicht deuten, wie er die Szenerie bewertete.

"Welches Problem gibt es eigentlich mit Clair de Lune?", fragte Diane zu meiner Rechten.

"Gar keins, schätze ich."

Leichter Spott zog sich um ihre Mundwinkel. Nach all dem Firlefanz kaufte sie mir das natürlich nicht ab. Ich beugte mich etwas zu ihr runter und sagte gedämpft: "Lenny kann diesem Stück nicht sehr viel abgewinnen. Er bezeichnet es als Hausfrauenklassik."

"Verstehe. Und als was bezeichnen Sie dieses Stück, Mr. Gavin?" Für einen Moment verlor ich mich in ihren grünen Augen.

"Als ein Stück, das ich lange nicht mehr gespielt habe", wich ich ihrer Frage aus.

"Spielen Sie so schlecht?"

"Für ein ungeübtes Ohr vielleicht nicht, aber es gibt keinen Grund, die Gäste mit meinem Amateurspiel zu belästigen, wenn wir einen so begnadeten Pianist wie Lenny hier haben."

Wie um meine Aussage zu unterstreichen, ertönten die ersten Klänge von Fantaisie Impromptu. Diane wandte sich in Richtung des Flügels und ich bekam einen sehr verführerischen Anblick ihres Rückens geboten. Das Kleid gab nicht viel Einblick, aber die bloße Haut ihrer Schulter- und Nackenpartie genügte, damit ich in Gedanken den Mann verfluchte, der sie eines Tages geheiratet hatte, bevor ich sie kennen lernen durfte.

Ich ging einen Schritt auf sie zu, sodass ich etwas dichter hinter ihr stand. Diane war das nicht entgangen, denn als nächstes bemerkte sie: "Er spielt fantastisch."

"Meine Rede", erwiderte ich nur, wobei meine Augen regelrecht an diesem Reißverschluss klebten, der nur dazu existierte, damit man ihn aufzog...

"Ich habe gehört, dass Ihre Mutter eine ganz ausgezeichnete Pianistin war."

Mit einem Schlag hatte sich mein Gehirn in die Gegenwart zurück gemeldet. Ich fragte mich, ob Kristoph ihr davon erzählt hatte. Immerhin waren die beiden gut befreundet.

"Ja. Allerdings hatte sie mit 20 Jahren einen Skiunfall und sich dabei die rechte Hand verletzt. Danach unterrichtete sie nur noch."

Diane wandte sich zu mir um, obwohl Lenny noch spielte und auf ihrem Gesicht spiegelte sich ein Hauch Betroffenheit wider. Ich war dankbar, dass sie es dabei beließ und keine überflüssigen Beileidsbekundungen aussprach.

"Die Blumen, die Sie mir geschickt haben, sind wunderschön. Vielen Dank."

"Nur eine kleine Aufmerksamkeit."

Wenn sie gewusst hätte, dass ich zuerst Rosen schicken wollte, wäre ich ernsthaft in Erklärungsnot geraten.

"Zwei Bouquets sind keine Kleinigkeit. Aber wie gesagt, vielen Dank."

Zwei? Hatte Hillary mich am Telefon missverstanden?

"Oh, und die Pralinen konnte ich leider nicht annehmen. Ich habe sie meinem Gärtner geschenkt. Der ist ganz vernarrt in süße Sachen."

Gerade jetzt war ich auch ganz vernarrt in etwas Süßes, trotzdem verwirrte mich ihre Aussage.

"Ich habe keine Pralinen geschickt. Ich weiß, dass Sie Diabetikerin sind." Das hatte sie mir mal bei einem gemeinsamen Dinner mit Kristoph verraten, als ich sie damit aufzog, dass sie das Dessert wohl aus Figurgründen verweigerte. Diane zuckte lächelnd mit den Schultern.

"Dann betrachte ich es als kleine Zugabe vom Floristen."

Bei Gelegenheit musste ich mich bei Hillary erkundigen, ob sie das Konzept ihres Unternehmens geändert hatte.

Lenny spielte die letzten Takte und kaum, dass er geendet hatte, sprang er vom Flügel auf, verneigte sich nur miminal für den anerkennenden Applaus und verließ schnurstracks die Aula. Ob es daran lag, dass er vor Mrs. Coltranes Lobhudeleien flüchtete oder vielleicht ungestört seine Rache an mir schmieden wollte, wusste ich nicht. Aber er würde sich heute nicht mehr blicken lassen, so viel stand fest.

"Jetzt, wo er weg ist, könnten Sie doch spielen." Diane sah mich herausfordernd an. Ich genoss das Gefühl, dass sie meine Gesellschaft mochte, aber auch jetzt wollte ich mich nicht an den Flügel setzen.

"Genau so gut könnte ich Ihr Kleid anziehen und versuchen darin hinreißend auszusehen, ja?"

Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet, und ich fragte mich, ob ich nicht doch einen Schritt zu weit gegangen war.

"Versuchen Sie gerade mit mir zu flirten?" Ihre Mimik wirkte nur gespielt argwöhnisch, was mich ein wenig erleichterte.

"Um ehrlich zu sein, kann ich mich nur schlecht zurückhalten, aber mein Bruder hat mir heute Flirtverbot erteilt. Schauen Sie mal: Er guckt schon ganz böse."

Ich wies in die Richtung von Kristoph, der uns tatsächlich beobachtete, obwohl er gerade in ein Gespräch mit zwei anderen Herrschaften verwickelt war. Und um ihn ein bisschen zu ärgern, winkte ich ihm zu.

Wenn Kristoph gewusst hätte, dass ich mir gerade in 3D und Dolby Surround vorstellte, wie sie nackt unter mir stöhnte, wäre er wohl nicht so großzügig gewesen, uns in Ruhe zu lassen.

"Ooooooooooohh, Klavier!"

Nicht schon wieder. Diane kicherte leise neben mir.

"Hat er nicht ganz wunderbar gespielt? Aber ich muss schon sagen, dass ich fast einen Herzinfarkt erlitten habe. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie beide sich auf ein anderes Lied geeinigt hatten. Das nächste Mal müssen Sie mich vorwarnen, Sie Schlingel!"

Weshalb ihr Fanclub in haltloses Gegacker ausbrach, war mir schleierhaft, deshalb lächelte ich auch nur müde.

"Aber jetzt müssen Sie Clair de Lune spielen. Ich sage nur: Der Bechstein!"

Auch meine Geduld hatte irgendwann ein Ende.

"Wie konnte ich nur den Bechstein vergessen, ja? Vorher müsste ich allerdings die Toilette aufsuchen. Sie entschuldigen mich?"

Ich schob Diane außer Hörweite des Hühnerhaufens.

"Ich werde jetzt gehen. Danke für den kleinen Plausch und Ihnen noch einen schönen Abend."

"Wie schäbig von Ihnen. Wenn Mrs. Coltrane feststellt, dass Sie sie angelogen haben, wird es ihr das Herz brechen", zog sie mich auf.

"Ich sagte, dass ich die Toilette aufsuche. Wo ich das tue, ist mir überlassen."

"Kommen Sie gut nach Hause."

Diane wandte sich lächelnd von mir ab und ich sah noch, wie sie zwischen einer Traube anderer Gäste verschwand, bevor ich mich in die Richtung von Kristoph bewegte. Als ob er nur darauf gewartet hatte, stand er allein in der Nähe der Portaltür. Er reichte mir sein Scheckbuch.

"Wie es scheint, amüsierst du dich gut."

Ich schrieb einen Scheck über 100.000 Dollar aus, obwohl ich mich nicht einmal erkundigt hatte, für welchen Zweck das Geld gesammelt wurde. Ich tippte darauf, dass Mrs. Coltrane sich wie üblich auf Kinder in der Dritten Welt festgelegt hatte, weil sie sich mit den mitleidserregenden Geschichten mehr Anerkennung erhoffte. Dass sie mit dieser Veranstaltung jedes Jahr mehrere zehntausend Dollar in den Wind schoss, schien sie dabei zu vergessen.

"Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich mich heute früher davon stehle", sagte ich und gab Kristoph den Scheck, damit er ihn später Mrs. Coltrane aushändigte. Er schüttelte dezent den Kopf und ich wusste, dass er mein plötzliches Verschwinden angemessen entschuldigen würde.

"Soll ich dich noch zu deinem Wagen begleiten?"

"Nicht nötig." Ich öffnete die Portaltür.

"Lass uns bald wieder auf ein gemeinsames Mittagessen treffen", schlug Kristoph vor.

"Ich ruf dich an, ja?"

Als ich den Aston Martin rückwärts ausparkte und in die Auffahrt lenkte, zerrte ich die Fliege von meinem Hals.
 

Dingelingelingelinglingling.

Ich murrte halb benommen, aber hielt die Augen geschlossen.

Dingelingelingelinglingling.

Großer Gott...! Ich blinzelte verschlafen zum Wecker auf meinem Nachttisch. Es war kurz nach vier Uhr.

Dingelingelingelinglingling.

Wer auch immer mich um diese Zeit aus dem Bett klingelte, würde sein blaues Wunder erleben, wenn das kein Notfall war. Noch etwas schlaftrunken ging ich aus dem Schlafzimmer in Richtung des Fahrstuhls und schaltete den kleinen Monitor ein um zu sehen, wer unten stand.

Ich sah zwei Polizisten, die ich nicht kannte, aber sie waren uniformiert. Ich drückte auf die Sprechtaste.

"Es ist vier Uhr morgens, Gentlemen."

"Lassen Sie mich da ran. Gehen Sie weg!", hörte ich eine quäkige, unfreiwillig komische Stimme.

Bebrillte Glubschaugen schoben sich in das Sichtfeld der Kamera. Ach, war das nicht der Typ aus der Staatsanwaltschaft, den alle nur den Kükenstreichler nannten? Wie hieß der noch gleich – Wilfried Blame?

"Mr. Gavin, hier ist Staatsanwalt Winston Payne. Öffnen Sie sofort die Tür!"

Ich hatte keine Ahnung, was diese Witzfigur zur nachtschlafenden Zeit von mir wollte, aber bevor ich mit ihm an der Sprechanlage darüber disktutierte, konnte ich ihm das auch ins Gesicht sagen.

"Nehmen Sie den Fahrstuhl ganz rechts und drücken Sie bitte keinen der Knöpfe", wies ich ihn an und schickte den Fahrstuhl mit einem digitalen Rückholbefehl nach unten.

Bevor sie oben eintrafen, bequemte ich mich in mein Schlafzimmer um mir ein T-Shirt überzuwerfen, weil ich nur eine Boxershorts trug.

Payne empfing mich mit einem selbstgefälligen Grinsen, sobald er den Fahrstuhl verlassen hatte.

"Vielleicht möchten Sie sich etwas anziehen, bevor Sie uns begleiten, Mr. Gavin?"

"Gern, wenn Sie mir verraten, was dieser Auftritt zu bedeuten hat."

"Jetzt stellen Sie sich mal nicht dumm, Mr. Gavin. Sie sind natürlich verhaftet."

Bitte was? Ich stieß ein unamüsiertes Keuchen aus.

"Falls das ein Scherz sein soll, dann versuchen Sie es einfach noch einmal zu einer angemessenen Uhrzeit, damit ich auch darüber lachen kann, ja? Ansonsten möchte ich Sie bitten, jetzt zu gehen."

"Ich dachte mir schon, dass Sie alles abstreiten werden." Er zog aus der Innentasche seines Jacketts einen Brief und gab ihn mir. Genervt faltete ich das Papier auseinander und überflog die Zeilen... las dann langsamer... dann noch langsamer... und dann noch einmal den Brief gänzlich, weil ich einfach nicht glauben wollte, was da stand.
 

Das hier war ein Haftbefehl. Zweifellos echt. Und man beschuldigte mich des zweiffachen Mordes an Vivian Alvarado und Blake Morris. Vivian...!
 

"Sie wurde ermordet?", murmelte ich fassungslos und mehr zu mir selbst.

"Jetzt tun Sie nicht so überrascht. Sie haben Pralinen mit Cyanid an dieses arme, junge Ding geschickt und obendrein das Gleiche bei Oberstaatsanwältin Freyer versucht. Nur blieb diese verschont, weil sie unwissend die Pralinen ihrem Gärtner gegeben hat. Ihr schmutziger Mordplan hat den Falschen getroffen, Mr. Gavin."

In meinem Kopf breitete sich eine quälende Leere aus und ich war nahe einer Ohnmacht. Ich wusste nicht, ob ich bestürzt, wütend, verstört oder alles gleichzeitig sein sollte.

Im Moment wusste ich gar nichts mehr.



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