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Die tausend Kirschbäume von Yoshitsune

DeiIta
von

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Dritter Teil

Wenn du die Wahrheit hören willst,

werd‘ ich sie dir versüßen,

werd‘ jeden Zweifel, den du hast

mit meinem Mund verschließen.

(Subway to Sally, „Niemals“)
 

Er hätte sein Schwert ziehen sollen.

Es war nicht, als wäre alles zu schnell gegangen. Itachi hatte seine Zeit gehabt, als die Türen der Schreibstube aufgestoßen worden war, der wortlose Aufschrei seines Herrn hatte ihn aufgeschreckt. Sie waren hier eingedrungen, als bereits Blut über die Matten aus Reisstroh floss. In der zähen, feuchten Sommerluft breitete der süßliche Gestank sich schnell und erstickend aus.

„Ihr seid festgenommen.“

Es bedurfte nicht vieler Worte. Entsetzen durchflutete Itachi, und er hätte dasselbe auf den Gesichtern der Männer um ihn gelesen, wenn er sie angesehen hätte. Während sie ihren Herrn anstarrten, auf seinen Befehl warteten und viel eher auf seine Beschwichtigung, sah Itachi nach draußen und sah das brillante Blau des Himmels. Das Fenster stand offen, und die Vorhänge bauschten sich träge, als klatschten sie lautlos Beifall.

Der Mann, den sie getötet hatten, lag auf dem Bauch, die Arme schlaff an den Seiten. Er war ironisch nutzlos für seinen Herrn gefallen, um ihn zu beschützen, und die Männer, die ihn niedergestreckt hatten, wollten ebenfalls ihren Herrn beschützen. Und sie waren dabei erfolgreicher.

Itachi hatte diese Situation schon oft erlebt, aber niemals auf der Seite der Haftbaren. In einem System wie diesem kam es wenig überraschenderweise nicht vor, dass ein derart hoher Justizbeamter wie ein Magistrat verhaftet wurde. Und doch erkannte Itachi den Sonderermittler und wusste, dass die Männer nicht für irgendjemanden gekommen waren, sondern für seinen Herrn.

Es roch bitter nach Angst. Die Männer des Magistrats schienen die gesamte Luft in ihren flachen, hektischen Atemzügen aufzunehmen, bis der alte Mann schließlich seine faltige Hand hob und ihnen bedeutete, ihre Schwerter niederzulegen. Er wandte Itachi den Rücken zu, doch dieser konnte erkennen, dass sein Herr nicht zu dem Leichnam schaute, sondern irgendwo in die Ferne, vielleicht zu demselben blauen Himmel, den Itachi vorhin betrachtet hatte.

Itachi entdeckte fassungslos, dass manche der Yoriki Tränen in den Augen hatten, als sie ihre Schwerter abschnallten. Bei den meisten der Schwerter handelte es sich um teure Lackarbeiten, aufwendig geschmiedete Klingen, nicht selten Erbstücke der Familie oder Geschenke zu wichtigen Ereignissen.

Itachi fühlte sich unbewegt, als er seine Schwerter vor sich ablegte. Aber als sich das Hanfseil um seine beiden Handgelenke straffzog, trübte sich seine Sicht wie von selbst.

Er verlor nicht nur seine Schwerter, richtig. Er verlor sein ganzes Leben.
 

Die Luft hier hatte nichts mehr gemein mit der süßen Sommerluft, die von Dichtern so gern besungen wurde. Der Gestank von Angst war längst in den Hintergrund getreten und war zermalmt worden unter anderen Gerüchen, Schweiß, Fäulnis, menschliche Ausdünstungen, es stank nach Verzweiflung und nach Hoffnungslosigkeit.

Die Fesseln hatte man ihnen gelassen. Itachi wusste, dass das nichts Gutes bedeutete, man hielt Männer in Fesseln, die ihre Ehre verloren hatten, deren Glaubwürdigkeit und Wert erschüttert war. Einem Samurai traute man zu, nicht gegen seinen Kodex zu verstoßen.

Aber Samurai kamen auch nicht ins Gefängnis.

Itachi, der nie Doshin gewesen war, empfand diesen Ort instinktiv als Grauen. Schreie und Stöhnen drangen von den unteren, noch scheußlicheren Gefilden des Gebäudes zu ihnen herauf, er hörte das Wimmern in seiner Nähe. Das Kratzen von Rattenkrallen auf dem schmierigen Stein klang dem Kratzen eines Federkiels nicht unähnlich, bemerkte Itachi dumpf.

Seine Schulter schmerzte, wo er vorhin einen Ruck bekommen hatte, die Muskeln hatten sich gezerrt, weil sie aus dem betäubenden Knoten des Hanfseils nicht herauskamen. Itachi hatte nicht mal an Flucht gedacht. Er dachte pausenlos daran, dass er hier wegwollte, aber wie das geschehen sollte, daran dachte er nicht. Er spürte seine Arme nicht mehr und es war heiß hier drinnen, die Luft dünn und zäh. Man musste flach atmen, fast hecheln, um Herr seiner Sinne zu bleiben. Es war ein Ort wie aus einem Alptraum.

Deidara hätte das sicher gefallen, erinnerte Itachi sich. Hier war es gerade morbid und menschenunwürdig genug, um ihn zu belustigen, genug Beweis, dass der Mensch auch nur ein intelligentes Tier war, das aus diesem Dreck herauskommen wollte. Es hätte Itachi nichts ausgemacht, auf dieser Elendsbühne zu landen, solange nur- solange er nicht allein war… Jeder hätte es getan, seine Eltern, sein Bruder, seine Kindheitsfreunde zu Hause, aber sie alle waren weit weg in Omi, Deidara war ihm schlichtweg räumlich näher.

Hier machte es keinen Unterschied. Itachis Kehle schmerzte vom hastigen Atemschöpfen, nicht er schöpfte diese Luft, sondern die Luft erschöpfte ihn. Er lehnte den Kopf gegen den massiven Stein und schloss die Augen.
 

Der Herr des grünen Bootes lauschte den Glockenschlägen des fernen Tempels, die gedämpft herüberdrangen, als hätte er nie einen faszinierenderen Laut gehört. Seine Miene drückte tatsächlich Faszination aus, doch mit den Glocken hatte das nichts zu tun. Er bewunderte menschliches Kalkül. Kaltblütigkeit um ihrer selbst willen.

„Die Frist ist verstrichen.“

Er lächelte zufrieden und ignorierte dabei scheinbar jeden im Raum. Das hier war keine ausschweifende Siegesfeier, nicht, bevor es nicht tatsächlich so weit war.

„Die Verhaftung war leicht. Aber den Termin auf den kommenden Morgen zu legen…“

Der Fächer in den Händen des Herrn ächzte, als er einen Moment zusammengepresst wurde, doch das lackierte Holz brach nicht.

„… das wollten sie nicht, typisch.“

Was nicht hieß, dass sie sich durchgesetzt hatten. Er bekam schon, was er wollte, früher oder später, der runde Fächer, mit dem er so ruhelos herumspielte, war Beweis genug dafür. Es war kein Familienwappen, er hatte gar keins – es war mehr ein Markenzeichen. In einem Schirm oder einer Sandale konnte man vielleicht eine Waffe verstecken, aber in einem Fächer? Da war es schon lächerlich.

Deidara schwieg. Er saß neben dem offenen Fenster und war höflich genug, nicht nach draußen zu starren, doch er langweilte sich offenkundig. Schauspieler waren schwer zu unterhalten, und nicht völlig zu Unrecht interessierten ihn politische Ränke nicht besonders. Für einen Ausländer hier war das ganze Leben Politik.

„In Ordnung“, sagte der Herr unbestimmt und stand auf. Er war noch jung, Mitte dreißig erst, mit langem schwarzem Haar, ohne eine traditionelle Haartracht dazu. Es rankte sich widerspenstig an seinem Rücken hinab wie eine stachlige Pflanze.

„Seine Söhne erscheinen nicht, zu schade. Dabei sind sie die nächsten auf dem Schafott.“

Ein paar Männer lachten, aber der Sprecher hatte keinen Scherz gemacht. Mit ruhiger Beiläufigkeit fuhr er fort: „Dann der ganze Rest. Wenn ich fertig bin, hole ich meinen Bruder aus der Verbannung. Das Schiff ist doch bereit?“

Er blickte einen seiner Gefolgsmänner fragend an, dieser nickte rasch. Natürlich. Die Inszenierung musste perfekt sein, und wehe, es fehlte eine Requisite.

„Es kann jederzeit auslaufen“, fügte der Gefolgsmann hinzu, sein Herr winkte ab.

„Ja, ja. Noch nicht. Strafe muss sein, das wird seinen Hitzkopf schon abkühlen. Er wird ja so wütend sein, wenn er erfährt, dass seine Rivalen ohne sein Beisein hingerichtet wurden!“

Er grinste übers ganze Gesicht und schlug zufrieden die Handflächen gegeneinander. Gelegentlich ließ er Gemütsregungen wie diese aufsteigen, vielleicht täuschte er sie manchmal auch nur vor, damit niemand etwas argwöhnte.

„Was denkst du?“, erkundigte er sich bei Deidara. Der Schauspieler schaute herüber; die Abendsonne ließ sein gelbes Haar glühen und verkleinerte die Pupille so stark, dass seine Augen wie pures Blau wirkten.

„Wie unangenehm es sein muss, sich von seinem kleinen Bruder retten zu lassen.“

Der Herr des grünen Bootes grinste immer noch.

„Wirst du lange so große Töne spucken?“

Izuna fand Respektlosigkeit in diesem Umfang unterhaltsam. Madara nicht.

Deidara funkelte ihn an und stützte seinen Ellbogen wieder auf den Fensterrahmen. Er schien nicht in Stimmung zu sein, jemanden zu amüsieren. Launenhaftigkeit war noch so etwas, das Izuna tolerierte. Womöglich auch zum Trotz. Noch war er hier der Herr, und er würde es bleiben. Er war derjenige, der es besser gemacht hatte, weil er geduldiger war. Gerüchte behaupteten zwar, die Brüder hätten eine zu enge Beziehung gehabt, aber wenn das überhaupt jemals wahr gewesen war, dann änderten Zeiten sich.

„Was ist also?“

Wie eine streunende Katze, nur mit etwas anzulocken, was sie haben wollte. Izuna lächelte voller Verachtung und schaffte es immer noch, es freundlich wirken zu lassen.

„Die Hinrichtung ist morgen, mit dir. Das ist wie eine…“

Er verharrte und schürzte nachdenklich die Lippen.

„Galionsfigur“, half Deidara fahrig aus. Izuna zuckte achtlos mit den Schultern, Begriffe, die seine Sprache nicht umfasste, waren ihm offenbar egal, solange der Inhalt klar wurde. Außerdem hatte er eine sonderbare Art, damit zu testen, wer es wagte, das Wort zu ergreifen.

„Was tragt ihr zu Beerdigungen?“

„Schwarz.“

„Und zu Festtagen?“

„Schwarz.“

„Hochzeiten?“

„Schwarz.“

Ein paar Männer lachten. Izuna zog lediglich die Augenbrauen hoch, das Lachen verstummte zeitversetzt. Im Zuschauerraum wurde kein Lachen geduldet, wenn es nicht beabsichtigt war – Izuna hätte einen guten Intendanten abgegeben, aber sich an ein so normales Leben zu klammern konnte anstrengend sein.

„Traurig“, bemerkte er eher gelangweilt als indigniert und schien zu überlegen. Dann zuckte er nur mit den Schultern.

„Dann such dir die Farbe aus, die du willst.“

Es war ein großes Zugeständnis. Izuna inszenierte immer detailliert, sein Sinn für Details war es überhaupt gewesen, der es ihn erfolgreich gemacht hatte. Er übersah nichts und übertrug anderen keine Aufgaben, weil er wusste, wie schnell ihn das aushebeln konnte.

Deidara blickte vor sich hin. Er wirkte wie eine weiße Leinwand, in der nichts vorging, eine Bühne, bei der gerade das Bühnenbild gewechselt wurde. Er schien ebenfalls nachzudenken, seine Augen schweiften dabei nicht suchend umher.

„Türkis“, sagte er schließlich. Einer der knienden Männer schrieb es mit flinken Bewegungen auf. Es wäre nicht überraschend, wenn das Kleidungsstück in letzter Minute noch erstanden oder verändert werden musste. Doch es folgten keine weiteren Anweisungen – natürlich nicht. Schauspieler waren Banausen, sie interessierte nur, wie sie in etwas wirkten, ob es sie in einem guten Licht darstellte. Bloß keine Einzelheiten.

Etwas an der Art, wie Izunas schwalbenflügelartige Brauen sich zusammenzogen, verhieß allmählich, dass er allein sein wollte. Es war seine Angewohnheit, alle wegzuschicken und jemanden, den er noch brauchte, erst nach gemessener Zeit holen zu lassen. Er erinnerte sie an ihren Platz im Zuschauerraum, und niemand setzte sich um.

Ob Deidara das Signal als Erster aufgefangen hatte oder er nur wieder die Diplomatiefreiheit von jemandem zur Schau stellte, der es sich erlauben kann, jedenfalls stand er auf. Mit erstaunlich wenigen Handgriffen drehte er sein gelbes Haar zusammen und stülpte die schwarze Perücke, die er wieder achtlos liegen gelassen hatte, darüber, bis sie saß. Er schlug den Blick nieder, damit seine Augen sich verbargen, seine Haltung wurde gezierter, mit gerundeten Schultern und bescheiden an den Seiten hängenden Armen. Er verwandelte sich schnell.

Izuna hatte wieder begonnen, mit seinem Fächer zu spielen; jetzt sah er auf. Seine Finger hatten nahezu von selbst die beiden Stäbe auseinander gefaltet und strichen nun gedankenvoll über die Bespannung aus Papier. Soweit man es erkennen konnte, gab es kein Motiv.

„Ach, Deidara?“

Obwohl der Schauspieler bereits in eine andere Rolle geschlüpft war, brach sich für einen Moment sein wahres Selbst Bahn, die Schultern strafften sich selbstbewusst, er hob trotzig das Kinn, als wollte er Izuna drohen. Sein Blick war wie üblich beschämend direkt.

Izuna lächelte nur und drückte gegen die Papierbespannung.

„Du darfst alles tun, was du willst. Ich… erwarte es sogar.“

Er wusste alles. Selbstverständlich, es war schließlich ein Detail. Und es klang wie das Angebot einer Belohnung.

„Werde ich… hm“, brummte Deidara nur und verließ den Raum.
 

Der Morgen der Hinrichtung war bewölkt – die Art von Bewölkung, bei der man nicht wusste, ob sie gleich für strahlenden Sonnenschein aufbrach oder sich zu einem kräftigen Schauer verdichtete.

Die zahlreichen Zuschauer störte das wenig, manche hatten in weiser Voraussicht Schirme mitgebracht, andere ließen es einfach darauf ankommen. Es war ohnehin drückend warm, und es gab Interessanteres zu sehen. Die Hinrichtung eines Magistraten.

Der Hinrichtungsplatz war selbst nichts weiter als eine freie Fläche festgestampfter Erde, um das man sich versammelt hatte. Da die Verurteilten durch den Sturz ihres Herrn ihre Ehre verloren hatten, stand ihnen Seppuku nicht mehr zu, sie wurden genauso gerichtet wie gemeine Verbrecher, enthauptet. Es sollte schnell gehen. Man musste bedenken, wie viele das waren.

Die Männer waren aufgereiht, kniend, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, die schmutzigen Gesichter nach unten gerichtet. Dann, in einem respektvollen Abstand, die Familie des Magistraten, Frauen, Kinder und Alte. Sie waren später dran. Erst die Samurai. Und als Letztes der Magistrat selbst. Dass Izuna ihn zum Publikum hatte bestimmen lassen, war nicht überraschend. Und doch war es kein Akt von perverser Freude am Leid oder an der Kaltblütigkeit. Izuna hielt es für nötig, damit nicht er es morgen schon war, der auf dem Schafott kniete und sich richten sollte.

Deidara betrachtete die Reihe der Samurai. Sie waren bleich, verzweifelt, es verschaffte ihm eine geheime Befriedigung. Das hatten sie von ihrer ewigen Todesverachtung, hier war der Tod. Es würde schnell gehen, und danach landeten ihre Körper namenlos in irgendeinem Erdloch und ihre Seelen im Nichts.

Deidara wusste, warum er auf Türkis bestanden hatte. Doch er glaubte nicht, dass Itachi es noch wusste.

Mit leichten Schritten schlenderte der Schauspieler an den gefesselten Männern entlang, als flanierte er durch einen Garten mit lauter Blumenbeeten. Seine Miene war mitleidslos (sie wollten es so, oder, musste man unbedingt auf sein Leben schwören?), er war nicht weiter erstaunt von ihrer Angst. Sie knieten zwei Armlängen voneinander entfernt, damit sie nicht miteinander reden konnten. Und damit das Gefolge größer aussah – Izuna hatte das bedacht.

Itachi kniete regungslos auf der festgestampften Erde. Trotz allem hielt er sich gerade, würdevoller als seine älteren Kollegen, er wirkte unbeugsam. Offensichtlich hatte man es versäumt, ihn dafür zusammenzuschlagen, aber vermutlich hatte Izuna das bereits bemerkt und ließ das an denen nachholen, die es nicht getan hatten. Zur Detailliebe konnte man schließlich erzogen werden.

Itachi sah nicht auf, als ein Schatten über ihn fiel. Sein Gesicht war schmutzig, die Haut stumpf von getrocknetem Schweiß. Er wirkte abwesend und erschöpft wie jemand, der erlebt hatte, wie ruhelos und schrecklich eine Nacht nur sein konnte, wenn man sie am richtigen Ort verbrachte. Und er blickte seinem Tod mit Furcht entgegen; Deidara schämte sich nicht dafür, eine gewisse Genugtuung dabei zu empfinden, ihn einen Polizisten genannt zu haben. Itachi war ein Beamter, kein Krieger. Vielleicht hatte er sich nie nach Ehre gesehnt. Und das machte ihn wieder zu einem tragischen Fall.

Die Hinrichtung hatte noch nicht begonnen. Priester brachten erst Gebete vor, in ihren gelben Roben gelang es ihnen beinahe, Deidaras Haarfarbe gar nicht mehr so ungewöhnlich erscheinen zu lassen. Und ihr Murmeln war weihevoll, sodass es beinahe unangebracht war.

Itachi hob den Blick, blinzelte in die trübe Morgensonne. Seiner ewig unbewegten Miene war nicht abzulesen, ob er überrascht war, seinen ehemaligen Geliebten vor sich zu sehen. Itachi war intelligent, zweifellos hatte er in seiner letzten Nacht einiges über diesen Staatsapparat begriffen. Wenn er das früher getan hätte… Nein, dann würde er auch hier knien. Es gab ja Ehre.

„Ich hab’s dir ja gesagt.“

Es schien eine pietätlose Bemerkung, so war sie jedenfalls gemeint. Itachis dunkle Augen schweiften beiseite, zum Schafott. Noch hielt er sich gut, unbewegt, aber noch war er auch nicht dort. Die letzte Chance, seine Ehre zu gewinnen, war der Moment, in dem er beim Sterben weder Schmerz noch Verzweiflung zeigte.

Itachi sah blank hinüber, erst als er dabei den Karren streifte, mit dem die namenlosen Leichen später abtransportiert werden würden, verkrampfte sich seine Kehle. Deidara fragte sich, ob er in Tränen ausbrechen würde, doch es war vielmehr ein Zug von absoluter Verbitterung. Dann senkte Itachi die Augen wieder.

Deidara kniete sich vor ihn, ohne auf den teuren Stoff des Sommerkimonos Rücksicht zu nehmen. Er wusste, dass Izuna ihm zuschaute, aber ohne das Interesse eines Zuschauers, sondern mit der Routine eines Wächters.

Es war alles erlaubt.

Deidara streckte die Hände aus und fuhr behutsam durch das strähnige schwarze Haar, betrachtete Schmutz und Ruß, die an seiner Haut haften blieben, sog den Duft von Gefängnis und Angst auf, Angst hatte Itachi auch, er wollte nicht sterben. Er schwieg, als Deidara sein Gesicht berührte, die Kante seines Kiefers und den Schwung seines Nasenbeins. Die Berührung hatte etwas Nacktes, Intimes, sodass sie die stickige Wärme des Hinterzimmers zu umfangen schien. Einen Moment zumindest.

Eine der Frauen, vermutlich eine Konkubine, brach in hysterisches Schluchzen aus, als ein Priester sie segnete. Ihr schrilles Wimmern erreichte den Magistraten und durchdrang seine steinerne Miene zu einem gequälten Ausdruck. Itachis Gesicht wurde weiß wie brodelnde Wut, Deidara wusste nicht, woran er dachte, aber dieser Schmerz, der anderen dem Tode Geweihten offenbar nicht im Geringsten galt, ließ Itachi hassen. Einen Moment zumindest.

Deidara schlang die Arme um ihn, presste Itachis Kopf gegen seine Schulter und Bahnen aus türkisfarbener Seide. Er roch nach Kampfer, kühl und passend.

Itachi konnte seine Arme nicht bewegen, aber es gelang ihm irgendwie, seinen Körper wachsweich in die Umarmung zu schmiegen, ohne dass sein Rückrat dabei seine würdevolle Steifheit verlor. Deidara strich darüber, über die hinten gefesselten Hände, die wundgescheuerte Haut, das eingetrocknete Blut unter den Fingernägeln. Itachi war außergewöhnlich in seiner unbeugsamen Verschlossenheit und wusste es nicht einmal, im Angesicht des Todes war er bestürzend schön, und das, weil er kurz vor seiner eigenen Vernichtung stand. Deidaras Herz übersprang einen Schlag, stolperte darüber hinweg.

Ein Theaterstück würde hier ein frivoles Zwischenspiel einschieben. Aber er verlor im wahrsten Sinne des Wortes die Lust daran.

„Solltest du nicht wenigstens ein bisschen verzweifeln?“

Die Frau schrie erneut auf, vielleicht war es auch eine andere. Das Raunen der Menschen ringsum war nicht anders als das stetige Plaudern im Zuschauerraum.

„Du bist doch kein Instrument.“

Es war das erste Mal, dass Itachi sprach, und seine Stimme hob sich fragend. Seine Wangen waren nicht mehr so bleich wie zuvor, kalter Schweiß schimmerte an seinen Schläfen und über seiner Oberlippe.

Deidara reckte das Kinn vor, als wollte er ihn herausfordern, gerade weil Itachi in einer Situation war, in der das absolut keinen Sinn mehr hatte.

„Und wie steht’s mit dir… hm?“

Itachi überging die Worte, er hörte die Gewohnheit heraus. Seine Lippen verzogen sich kurz zu etwas, das ein Lächeln sein mochte, leer, aber wenigstens nicht zynisch.

„Ich hatte keine Zeit… deiner überdrüssig zu werden.“

Zeit hatten sie ohnehin nicht gehabt. Das Gefühl, etwas nicht ausgereizt zu haben, wog schwer, vermutlich für alle beide.

Itachi löste sich von Deidara, lehnte sich zurück, auch wenn das seinen angespannten Muskeln Schmerzen bereiten musste. Der reservierte Ausdruck eines Polizisten war zurückgekehrt, und das Beten der Mönche war verebbt. Jetzt roch es nach Weihrauch und Holzfeuer.

„Noch etwas.“

Deidara schob eine Strähne seines gelben Haars über die Schulter, ignorierte die sich ändernde Kulisse wie jemand, der das einfach gewohnt ist. Er hatte seine Ärmel ordentlich heruntergezogen, wischte ein Stück fauliges Stroh dabei vom Stoff.

„Bring‘ dich jetzt nicht um.“

Deidaras kristalline blaue Augen schossen wieder hoch, gefüllt mit all dem Abscheu, den er immer empfunden hatte, wenn es um Schwüre ging wie diese, diese krankhafte Todesliebe, und was noch schlimmer war, dieser Wunsch nach Abhängigkeit.

„Hast du das ernstgenommen?!“, schnappte er erbost. Itachi reagierte nicht, seine Miene blieb gelassen, fast desinteressiert. Selbstmord aus Liebe ist längst verboten.

Es musste nicht zwingend Selbstüberschätzung sein. Manchmal wollte man es einfach so.

„Wofür hältst du mich, Polizist“, brummte Deidara, diesmal leiser, zupfte ein störendes Haar aus seinem weiten Ärmel.

Jetzt stimmten sie die Trommel an. Zwei Männer traten an den Anfang der Reihe, zerrten den ersten der Yoriki mit sich. Aufgeregt reckten die Menschen die Köpfe.

Itachi blickte nicht wieder auf, aber er lächelte versonnen. Und das war mehr als irgendetwas.

Deidara drückte seine Hand flüchtig gegen seine eigenen Lippen. Die Hinrichtung begann jetzt. Die Frauen und Kinder schrien entsetzt auf, das Richtschwert glänzte nicht, bis es herabsauste und sich mit Blut befleckte.

„Itachi.“

Es war das erste Mal, dass Deidara diesen Namen benutzte; es war rau, ein grober Klang, zu kurz für einen Theatercharakter, überhaupt zu kurz und zu flüchtig. All das, was auch auf Itachi zutraf.

Deidara beugte sich vor und presste seine Lippen gegen die des anderen. Sie begannen zu kribbeln und zu brennen, ein Gefühl, das sich in seinen ganzen Körper fortpflanzte und ihn mit Sehnsucht erfüllte. Es schien nichts zu geben, das ihn so ausdrückte wie der Kuss, der Itachi zuerst immer so mit Scham erfüllt hatte, dann mit Begierde. Es fühlte sich gut an, ihn zu schmecken, auch seinen Namen auf der Zunge zu fühlen.

Itachi ergab sich ihm widerstandslos, Deidara spürte das Zittern von Verzweiflung, das er vorhin noch verlangt hatte. Deidara spürte die Wärme seines Atems, den salzigen Schweiß über seiner Lippe, das Brennen der Blicke, den fliehenden Puls unter seinen Händen. Die Glätte der Wachskapsel, die er allzu beiläufig in Itachis Mund schob, bevor dieser sich dessen bewusst war.

„Beiß drauf. Wenn du mir vertraust, Itachi, hm…“

Einer der Henkershelfer zog Itachi auf die Füße, unbewegt und routiniert. Es roch süßlich nach Blut, und obwohl Itachi sich so gerade hielt wie jemals, zermalmten seine Kiefer lautlos etwas. Deidara musste zu ihm aufblicken, in sein überschattetes Gesicht, und er hatte das Bedürfnis, seine Arme um den anderen zu schlingen und ihn zurück auf den Boden zu zerren.

Einen Moment zumindest.

Dann stand Deidara elegant auf und klopfte staubige Erde von seinen Knien, wandte sich achtlos von der Szenerie ab, um seinen Platz neben Izuna wieder einzunehmen. Bis er dort war, konnte er noch alles mit ansehen.

Und tatsächlich war Itachis Ausdruck heiter und entrückt, als die Klinge auf ihn niedersauste. Ein wahrer Samurai, wirklich.

Ja, einen Moment zumindest, und der zählte schließlich.
 

Nachrichten bewegten sich langsam. Bis sie die Provinz erreichten, dauerte es quälend lange, und so war es mehr als einen Monat später, bis die Gewissheit über Itachis Tod endgültig war. Eine Zeit im heißen Sommer, in der seine Leiche ihren vorzeigbaren Zustand längst verloren hatte und vergraben worden war, namenlos und womöglich auch verstümmelt.

So war die große Stadt.

Die Familie Uchiha war nie sonderlich umfangreich gewesen, sie lebten allesamt verstreut. Es würde lange dauern, die Verwandten in Kenntnis zu setzen, was aus großen Hoffnungen wurde.

Mikoto presste schweigend den Ärmel ihres Kimonos vor die Lippen. Sie trug Trauer für ihren Sohn, das erste Mal im Leben, obgleich er keineswegs das Erste ihrer Kinder war, das starb. Sie hatte ganze vier Mal zuvor Kinder verloren, keins von ihnen dem Kleinkindalter entwachsen. Natürlich. Doch solche Verluste waren normal.

Ihr verbleibender Sohn wirkte steinern. Sie hatten Sasuke aus der nächstgrößeren Stadt geholt, damit er an den Feierlichkeiten teilnehmen konnte – er hatte dazu keine Zeit. Ob er berufliche Konsequenzen wegen der Familienschande zu fürchten hatte, wusste noch keiner so recht, es dauerte so lange, bis die Neuigkeiten aus Edo hier ankamen. So quälend lange, dass es schien, als sei Itachi schon seit Jahren tot.

Fugaku schwieg ebenfalls. Er begegnete dem stummen Vorwurf, von dem keiner so genau wusste, woher er kam, nicht. Obwohl sich bittere Linien um seinen Mund eingegraben hatten, war seine Haltung tadellos gerade, die Hände lagen ruhig und entspannt auf den Oberschenkeln.

Die Familie hatte sich versammelt und hatte sich nichts zu sagen. Die lange Dauer, der zäh und langsam eingetretene Verlust erfüllte sie mit Lethargie und hielt die Stille eisern fest.

Schließlich blickte Fugaku auf. Mikoto sah weg, zurück auf ihren Ärmel, Sasuke starrte durch seinen Vater hindurch, gelähmt oder vielleicht einfach nur erschlagen. Er wirkte fast verunsichert, was man von ihm erwartete.

Fugaku wandte sich wieder ab und schaute nach draußen. Hier zog bereits der Herbst herauf, der Ahorn vor dem Fenster hatte sich feuerrot gefärbt, die dünn gezahnten Blätter zitterten. Es war ein idyllisches Bild.

„Wenigstens“, begann Fugaku ungeahnt heiter, und sowohl seine Frau als auch sein Sohn sahen ihn aufmerksam an. Als erhofften sie etwas, das sie nicht resignieren ließ.

„Wenigstens“, wiederholte Fugaku leichthin, „den Körper meines Kindes… hätten sie mir ja lassen können.“

Sasuke lachte keuchend auf, und Mikoto vergrub die Lippen wieder im Ärmel ihres Kimonos.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Feuermal
2012-08-27T21:14:07+00:00 27.08.2012 23:14
Ah ja... ich muss gestehen, ich hab deine FF vor ein paar Monaten entdeckt, geradezu verschlungen- und dann völlig vergessen. Lange nicht mehr on gewesen und so, ist an sich auch egal. Ich finde es fürchterlich, dass eine so fantastische, wunderbare, einfach nur gelungene Geschichte kaum Reviews bekommt, und das allseits bekannte Genre der Sue-Badfic in Aufmerksamkeit ertrinkt. Urgs.

Was ich an dieser Geschichte so liebe, ist die Arbeit, die du reingesteckt hast. Man merkt, dass du dich auskennst, dass du recherchiert haben musst, und dass du die Welt, über die du schreibst, selbst kennst. Die Figuren sind wundervoll natürlich, und der Plot ist einfach... der Plot. Alles spielt schön zusammen, wie in einer Sinfonie. Das, und diese manchmal träumerische Art zu schreiben, fasziniert mich einfach. Ich habe selten eine Geschichte gelesen, in der eine Romanze vorkam, die derart unschnulzig, aufregend und bitter war. Wirklich, einfach toll.

Vielen, vielen Dank dafür, dass es dich gibt und dass du so großartige Geschichten schreibst. Du machst das Fandom ein ganzes Stück besser ;)

LG, die Gurke


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