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Dienstag,15:18

Martins Mutter hatte sich aus England gemeldet: „Martin, dein Großvater ist verstorben.“ Er spürte den Kloß im Hals. „W…Wann denn?“ „Vor 3 Stunden. Es war ein Herzinfarkt.“

Es entstand eine Pause. Obwohl Martin nie ein emotionaler Mensch gewesen war, brach er in Tränen aus. Erst nach einiger Zeit, als er sich beruhigt hatte, fuhr seine Mutter mit dem Sprechen fort: „Die Beerdigung ist um 12 Uhr. Es würde mich freuen, wenn du kommen könntest.“

Martin wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und antwortete: „Ich komme, ganz sicher! Bis dann, Mum.“
 

Freitag,12:00

Die Standuhr im Wohnzimmer schlug. Grandfather clock nennt man sie in England, dachte Martin leise. Morgen um diese Zeit würde die Beerdigung statt finden. Er machte sich desto näher der Termin der Beerdigung kam, immer mehr Gedanken um seinen Großvater. Er erinnerte sich daran, dass Großvater ein wirklich toller Mensch gewesen war. Immer, wenn Martin ihn besucht hatte, konnte er mit ihm über alles reden. Martin wusste schon seit einiger Zeit, dass es sehr schlecht um den alten Herrn stand, doch trotz alledem hatte Martin es nicht für nötig gehalten ihn noch einmal zu besuchen.

Jetzt, wo er tot ist, ist es das Mindeste, dass ich zu seiner Beerdigung erscheine, dachte er sich und begann seine Sachen zu packen. Danach rief er seinen Chef an und nahm sich für die nächste Woche frei, denn nach der Beerdigung wollte er bei seiner Mutter sein um ihr in ihrer Trauer beizustehen. Mit ihr wollte er nicht denselben Fehler machen wie mit Opa. Ihm wurde klar, dass er bei seinem Großvater wohl keinen berauschenden Eindruck gemacht hatte.

Martin entschloss sich früh schlafen zu gehen. Die Fähre würde den Hafen um 4 Uhr morgens verlassen.
 

Freitag,23:54

Ein letztes Mal ging er alles durch um nichts zu vergessen. Als er sich sicher war alles dabei zu haben, hob er den Koffer vom Boden und brachte ihn zu seinem Auto. Er hatte alles genau berechnet. Von seiner Wohnung zum Hafen brauchte er genau dreieinhalb Stunden. Zwar fuhr die Fähre erst um vier Uhr los, doch Martin wollte rechtzeitig ankommen um kein Risiko einzugehen. Die Überfahrt würde vier Stunden dauern, in England drüben würde er zwei weitere Stunden fahren müssen bis zum Haus seiner Mutter
 

Samstag,02:09

Noch 84 Kilometer bis zum Zil, quäkte das Navi jetzt schon zum siebten Mal. Stau, sowas musste gerade Martin passieren und dieses verdammte Navi ging ihm auch schon die ganze Zeit auf die Nerven. Er hatte die ganze Zeit sein Radio angelassen und aufmerksam die Stauberichte verfolgt, doch kein einziges Mal wurde etwas von dem Stau auf der A 47 gesagt.

Nach mehr als einer Stunde war für Martin der Stau vorbei und er trat, so fest es nur ging, aufs Gaspedal. Schon nach wenigen Minuten wurde Martin geblitzt und mehrmals an gehupt, doch dies war Martin egal, ihm war nur wichtig rechtzeitig bei der Fähre zu sein und seinen Großvater nicht noch einmal zu enttäuschen.
 

Samstag,03:47

„Herr van der Saar ihr Pass ist abgelaufen, ich muss ihnen mitteilen, dass wir sie auf keinen Fall mit fahren lassen können“, sagte der Sicherheitsbeamte an der Passkontrolle mit einer Leichtigkeit als wäre es nichts. Ich könnte mich ohrfeigen, dachte Martin für sich. Er hatte alles durchdacht gehabt, doch diesen blöden Pass hatte er nicht genau angesehen. Doch diese Fähre, diese Reise, diese Beerdigung bedeutete für ihn im Moment alles. Also versuchte er es erneut.

„Herr…“, er schaute auf die kleine Plastik-Plakette an der Brust des Beamten, „Kalbfleisch, können Sie nicht diese eine Mal eine Ausnahme machen. Es ist sehr wichtig für mich nach England zu kommen“, sagte Martin mit flehender Stimme. Doch der Zöllner widmete Martin nur einen kurzen Blick, schüttelte seinen Kopf zweimal und gab ihm ein Handzeichen, das er zurück fahren sollte. Aber er fuhr nicht deprimiert zurück, Martin wollte nicht zurück fahren, nein, er rannte. Er rannte in Richtung Fähre. Beim Laufen bemerkte er das Blut an seiner Hand. Er drehte sich um und sah den Beamten bewusstlos am Boden liegen. Dass er dazu fähig war, wusste er selbst nicht. Martin war immer ein friedlicher Mensch gewesen. Einen Moment zögerte er, doch nun war er schon so weit gekommen. Er konnte jetzt nicht aufgeben.
 

Samstag,04:06

Es war eng und stank, doch wenigstens war er hier einigermaßen sicher. Nachdem er aufs Schiff gerannt war, einige Leute angerempelt hatte und einige Treppenstufen hinauf geklettert war, hatte er sich in einer Abstellkammer verstecken können. Hier war er vor dem Schiffspersonal sicher. Auf einmal vibrierte der Boden. Das Schiff hatte abgelegt. Martin war so froh, nun konnte ihn keiner mehr aufhalten. Er hörte eine Durchsage: „Liebe Gäste des Schiffes Ferry Tale! Wir wünschen ihnen eine angenehme Reise nach Mexico und viel Vergnügen bei unserer großen Sortiment an Unterhaltung und Verpflegung.“ Mexico? Das konnte nicht sein. Er musste sich verhört haben. Er rannte aus der Rumpelkammer und schrie förmlich das Ehepaar, das ihm entgegenkam, an: „Dieses Schiff fährt doch nach England, oder?“ Erschrocken schüttelten sie langsam den Kopf. Er rannte zur Reling und tatsächlich war wenige Hundert Meter entfernt ein weiteres Schiff zu sehen, das gerade den Hafen verließ. Es war vorbei. Martin sank schluchzend auf die Knie. Die Chance das Schiff nach England zu erwischen, die Chance als netter Nachbar zu gelten und die Chance sich von seinem Großvater bei seiner Beerdigung zu verabschieden zu können - alle abgefahren. Aber ohne Martin.



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